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2022-03-23 12:58:01 +01:00
Terrorismus im Spielfilm
Bernd Zywietz
Terrorismus im Spielfilm
Eine filmwissenschaftliche Untersuchung über Konflikte, Genres und Figuren
Bernd Zywietz Mainz, Deutschland
Zgl. Dissertation an der Universität Tübingen, Institut für Medienwissenschaft, 2013 (Ursprünglicher Titel: „Terrorismus(-)Erzählen im Spielfilm: Einzelkonflikte Genres Figuren“)
Gutachter: Prof. Dr. Susanne Marschall Prof. Dr. Jens Eder
ISBN 978-3-658-12160-0
ISBN 978-3-658-12161-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-12161-7
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
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Danksagung
Ein Buch wie dieses verdankt seine Existenz nie nur dem Autor. Viele großartige Personen gäbe es zu erwähnen, doch an erster Stelle danke ich aus ganzem Herzen meiner Promotionsbetreuerin bzw. „Doktormutter“ Prof. Dr. Susanne Marschall (Eberhard Karls Universität Tübingen). Fachlich und menschlich hat sie dieses Buch und die zugrunde liegende Dissertation, die final am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen enstand, sowie generell meinen wissenschaftlichen Werdegang in der Form überhaupt erst ermöglicht und über jedes erwartbare Maß hinaus mich inspiriert, begleitet, unterstützt und gefördert.
Ebenso zu größtem Dank bin ich Prof. Dr. Jens Eder (Universität Mannheim) für seine herzliche wie überaus kompetente, geistig scharfe und zugleich immer freundliche Hilfe, seine konstruktive Kritik und die stets überaus geduldige Unterstützung als Zweitbetreuer verpflichtet.
Herzlich danken möchte ich auch meinen Eltern, Helmut und Ilse Zywietz, den Kollegen und Mitgliedern des Netzwerk Terrorismusforschung e.V., aber auch den hilfreichen und nachsichtigen Freunden und Kollegen in der und um die Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, namentlich und ganz besonders PD Dr. Andreas Rauscher, außerdem Peter Stuppert und Steffen Görtz vom Medienzentrum (MZ) der Universität Mainz.
Weiterhin danke ich der Landesgraduiertenförderung Rheinland-Pfalz, die die Entstehung der Dissertation unterstützt hat.
Bernd Zywietz September 2015
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 11 Länderkürzel ....................................................................................................... 13 Abkürzungsverzeichnis........................................................................................ 15
Einleitung .......................................................................................................... 17
I. Grundlagen und Begriffe........................................................................ 29
1 Terrorismus ............................................................................................. 31
1.1 Legitimität und Wertung ................................................................... 32 1.2 Höhere Werte und Ideologie ............................................................. 34 1.3 Unterlegenheitsposition und Substaatlichkeit ................................... 35 1.4 Kommunikation und Symbolik ......................................................... 36 1.5 Terrorismus als Strategie................................................................... 37 1.6 Personalisierung, Psychologisierung und Individualisierung ............ 39
2 Erzählen und Erzählungen..................................................................... 45
2.1 Bedeutung, Elemente, Aspekte ......................................................... 45 2.1.1 Story und Plot ........................................................................... 48 2.1.2 Fiktional und non-fiktional ....................................................... 49
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen .......................................... 52 2.2.1 Typen von Terrorismus-Erzählungen ....................................... 54 2.2.2 Terrorismus-Rhetoriken............................................................ 60
2.3 Spielfilm-Erzählen ............................................................................ 63 2.3.1 Gesellschaftliche und individuelle Aufgaben und Funktionen von Terrorismus-Spielfilmen................................. 64 2.3.2 Dramaturgie des Erzählfilms .................................................... 66 2.3.3 Figuren, Figurenanbindung und -bewertung ............................ 68 2.3.4 Stereotype ................................................................................. 72 2.3.5 Genres....................................................................................... 75
8
Inhaltsverzeichnis
II. Terrorismuskonflikte und ihre Filme .................................................... 79
3 Der Nordirlandkonflikt und die IRA im Film ...................................... 81
3.1 Konflikt- und Filmgeschichte der „Original“-IRA............................ 83 3.2 Der Nordirlandkonflikt und seine filmische Thematisierung ............ 95
3.2.1 Zensur, Fanatisierung und Kriminalisierung der 1970erund 1980er-Jahre ...................................................................... 99
3.2.2 Investigationen, Soziodramen und Thriller der 1980erund frühen -1990er-Jahre........................................................ 107
3.2.3 Entspannungs- und Post-„Troubles“-Kino ............................. 117 3.2.3.1 Historisierungen und Aufarbeitung................................ 119 3.2.3.2 Loyalisten und der tragische IRA-Rebell Hollywoods .. 137
3.3 Fazit: Framingstrategie des IRA- und „Troubles“-Kinos ................ 145
4 Die RAF und der Linksterrorismus im deutschen Spielfilm ............. 153
4.1 Medialer und filmgeschichtlicher Kontext ...................................... 155 4.2 Vor-, Früh- und Hauptphase des RAF-Terrorismus(films) ............. 159 4.3 Exkurs: Terrorismuskritik Rainer Werner Fassbinders ................... 170 4.4 Der RAF-Film der 1980er-Jahre Analytische Spurensuche ......... 175 4.5 Der RAF-Film seit 1990.................................................................. 184
4.5.1 Grotesken, Satiren und Komödien.......................................... 185 4.5.2 Krimis und Thriller................................................................. 191 4.5.3 Familiendramen Untote Vergangenheit............................... 194 4.5.4 Historisierungen Erinnerungsauf- und -umarbeitung .......... 202 4.6 Fazit: RAF-Filme als Selbstbefragungen und Vergespensterung.... 219
5 „Evil Arabs“: Palästinensischer und islamistischer Terrorismus in Hollywood .......................................................................................... 223
5.1 Der internationale palästinensische Terrorismus der 1970er- und -80er-Jahre....................................................................................... 226
5.2 Dschihadistische Terroristen im Hollywood der 1990er ................. 248 5.3 Exkurs: Das Motiv des Blowbacks .................................................. 262 5.4 Der 11. September........................................................................... 264
5.4.1 Bilddissonanz ......................................................................... 267 5.4.2 „9/11“ als Katastrophe im Film .............................................. 271 5.5 Post-„9/11“: Der globale „Krieg gegen den Terror“ im Film.......... 282
Inhaltsverzeichnis
9
5.5.1 Post-„9/11“ außerhalb Amerikas ............................................ 283 5.5.2 Kritik und Reflexionen der Folgen des „War on Terror“ ....... 290 5.5.3 „War on Terror“-Thriller und -Actionfilme............................ 296 5.6 Exkurs: Palästinensischer Terrorismus in aktuellen
Nahost-Filmen................................................................................. 311 5.7 Fazit: Muslim-Held und „Tragic Arab“ neue Terroristenbilder ... 317
6 Terrorismus im populären indischen Hindi-Kino .............................. 325
6.1 Bollywood Charakteristik und soziokulturelle Bedeutung ........... 328 6.2 Spannungen und Konflikte .............................................................. 334 6.3 Naxalismus, Sikh-Separatismus und der Sri-Lanka-Konflikt
im Film ............................................................................................ 341 6.4 Der Kaschmir- und Hindu-Muslim-Konflikt im Film
seit den 1990ern .............................................................................. 352 6.4.1 Terrorismusfilmklassiker: Mani Ratnams Trilogie Roja,
Bombay und Dil Se ................................................................. 353 6.4.2 Tragische und melodramatischer Gewalt ............................... 357 6.4.3 Gerechte Gewalt ..................................................................... 364 6.4.4 Schurkische Gewalt ................................................................ 370 6.4.5 Standard-Variationen und Genre-Spiele der 2000er-Jahre ..... 377 6.4.6 Exkurs: Konfliktkino als indisches Arthouse-Drama ............. 383 6.5 Fazit: Bollywood und das ideologische Projekt Hindustan............. 385
7 Nationalkinematografien und Einzelkonfliktvergleich Grenzen und Erkenntnisse ................................................................... 395
III. Terrorismusfilm-Genres und -Figuren............................................... 405
8 Zur Konzeption des Terrorismusfilm-Genres .................................... 407
9 Actionfilm und Thriller ........................................................................ 413
9.1 Zur Politik des Terrorismus-Actionfilms ........................................ 414 9.2 Der Terroristen-Schurke.................................................................. 420 9.3 Gegenbild: Nichtterroristischer Held und „Terroristen“-Held......... 425
10
Inhaltsverzeichnis
10 Drama..................................................................................................... 437
10.1 Der tragische Terrorist .................................................................... 439 10.2 Erzählansätze, Perspektiven und Politik des Terrorismus-
Dramas ............................................................................................ 443 10.3 Sonderfall: Das Antiterrorismus-Drama.......................................... 451
11 Politthriller und Politischer Film ......................................................... 455
11.1 Paranoia-Komplex und Problematik des Politthrillers .................... 461 11.2 Politik, emotionale Legitimation und Rationalität des Politfilms.... 465
12 Sonstige Genre-Formate und -Formationen ....................................... 473
12.1 Historienfilm ................................................................................... 473 12.1.1 Zum Wirklichkeitsbezug des Terrorismus-Historienfilms ..... 473 12.1.2 Tragisch-historische Terroristen: Zwischen Drama und Geschichtspropaganda ............................................................ 477
12.2 Satire und ihr Humor ....................................................................... 485
13 Zur Emotionalität und Angemessenheit von Terrorismusfilm-Genres ....................................................................... 493
Zusammenfassung und Schluss ..................................................................... 501
Anhang: Zeittafeln Ereignisse und Filmstarts ............................................... 525 Filmografie ....................................................................................................... 535 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 547
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: H3 ........................................................................................... 133 Abbildung 2: Der Baader Meinhof Komplex................................................ 216 Abbildung 3: Gavrić (Marcel Iureș) in The Peacemaker.............................. 253 Abbildung 4: Unthinkable ............................................................................ 309 Abbildung 5: Ayad Akhtar in The War Within ............................................. 321 Abbildung 6: Tango Charlie......................................................................... 326 Abbildung 7: Theeviravaathi........................................................................ 351 Abbildung 8: Rang De Basanti..................................................................... 368 Abbildung 9: Anwar ..................................................................................... 385 Abbildung 10: Terrorismusfilm-Genres ..................................................... 409 Abbildung 11: V for Vendetta .................................................................... 432 Abbildung 12: La battaglia di Algeri ........................................................ 468 Abbildung 13: A Prayer for the Dying ...................................................... 470 Abbildung 14: Gewaltkreislauf .................................................................. 503 Abbildung 15: Fokussierung des Spannungsfilms ..................................... 512 Abbildung 16: Fokussierungen des Dramas und des
Antiterrorismus-Dramas..................................................... 513 Abbildung 17: Fokussierungen des Politfilms ........................................... 514
Länderkürzel
AUS BRD
BE CAN CH CL CZ D DDR
DZ EGY ESP F HK I IND IRL IRN ISR J LB Ö MA MEX NL PAL
QA R RP TR SWE UK
UAE UdSSR
USA ZA
Australien Bundesrepublik Deutschland Belgien Kanada Schweiz Sri Lanka Tschechische Republik Deutschland Deutsche Demokratische Republik Algerien Ägypten Spanien Frankreich Hongkong Italien Indien Irland Iran Israel Japan Libanon Österreich Marokko Mexiko Niederlande Palästinensische Autonomiegebiete Katar Russland Republik der Philippinen Türkei Schweden Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland Vereinigte Arabische Emirate Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Vereinigte Staaten von Amerika Republik Südafrika
Abkürzungsverzeichnis
ASU BBC BJP CAIR CIA CIRA d.h. ebd. ETA EU f. FBI ff. Fn. GSG 9 HUM INLA IRA IRB ISI JeM LeT LTTE LOC Mossad
NATO PATRIOT Act
o.J. o.O. PFLP PLO PIRA R RAF RIRA
Active Service Unit British Broadcasting Corporation Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei) Council on American-Islamic Relations Central Intelligence Agency Continuity Irish Republican Army das heißt ebenda Euskadi Ta Askatasuna (Baskenland und Freiheit) Europäische Union [und] folgende Seite Federal Bureau of Investigation [und] folgende Seiten Fußnote Grenzschutzgruppe 9 Hizb-ul-Mujahideen (Partei der Gotteskrieger) Irish National Liberation Army Irish Republican Army Irish Republican Brotherhood Inter-Services Intelligence (Pakistanischer Geheimdienst) Jaish-e-Mohammad (Armee des Mohammed) Lashkar-e-Taiba (Armee Gottes) Liberation Tigers of Tamil Eelam) Line of Control Merkazi leModi'in uLeTafkidim Mejuchadim (Allgemeiner Nachrichten- und Sicherheitsdienst; israelischer Auslandsgeheimdienst) North Atlantic Treaty Organization Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe Popular Front for the Liberation of Palestine Palestine Liberation Organization Provisional Irish Republican Army Regie Rote Armee Fraktion Real Irish Republican Army
16
RSS
RTÉ RUC RZ s. s.a. SAS SWF TWA u. u.a. u.a.O. u.U. UDA UFF UN UNO UVF vgl. WDR ZDF
Abkürzungsverzeichnis
Rashtriya Swayamsevak Sangh
(hinduistische „Nationale Freiwilligenorganisation“)
Radio Royal
Telefís Éireann (Radio Ulster Constabulary
[and]
Television
of
Ireland)
Revolutionäre Zellen
siehe
siehe auch
Special Air Service
Südwestfunk
Trans World Airlines
und
unter anderem
und anderen Ortes
unter Umständen
Ulster Defence Association
Ulster Freedom Fighters
United Nations
United Nations Organization
Ulster Volunteer Force
vergleiche
Westdeutscher Rundfunk
Zweites Deutsches Fernsehn
Einleitung
Spielfilme helfen uns, mit Terrorismus ebenso wie mit anderen Problemen, Ängsten und Nöten umzugehen. Nicht obwohl, sondern gerade weil es sich um Fiktionen handelt, also um ausgedachte Handlungen und erfundene Figuren. Spielfilme greifen etwa in ihrer ganz eigene Art bestehende Deutungen zu Hintergründen und Zusammenhängen auf und spielen diese auf eine Art und Weise durch, wie es anderen Medien, Ausdrucks- und Äußerungsformen (so) nicht vermögen. Sie geben uns emotionale und moralische Raster an die Hand, mit denen wir Ereignisse, Taten und Menschen sozial, politisch und psychologisch einsortieren können. Sie eröffnen imaginäre Räume der Auseinandersetzung, nicht zuletzt mit dem Schrecklichen. Was geht in jemandem vor, der sich in die Luft sprengt und dabei Unschuldige mit in den Tod reißt? Handeln Freiheitskämpfer mit dem Sturmgewehr in der Hand aus edlen Motiven heraus, sind sie selbst bemitleidenswerte Produkte größerer, trauriger Um- und Missstände oder lediglich blutrünstige Fanatiker und Kriminelle? Aber auch: Wie gehen wir um mit der finsteren Faszinationskraft, die von solch unbedingten Radikalen, die am Fundament des zivilen Zusammenlebens rühren, ausgeht? Welche kulturelle und gesellschaftliche Rolle spielen sie, ihre Opfer und allgemein die Bilder von ihnen jenseits der konkreten zeitgeschichtlichen Konfliktlagen? Selbst (oder gerade) reine Unterhaltungsfilme ohne sonderlich politischen und künstlerischen Anspruch geben auf derlei Fragen selbst wenn nur unterschwellig Antworten oder legen zumindest die Fragen frei.
In dieser Arbeit geht es dementsprechend und sehr allgemein formuliert um das, was Terrorismus im Spielfilm ist zu was diese Form der Gewalt im Film wird, wie sie es wird und warum. Unbenommen bleibt, dass das Verhältnis von Terrorismus und Film auch anderweitig untersucht werden kann; etwa was Videobotschaften von Terroristen oder Dokumentationen über Anschläge, ihre Hintergründe und Folgen und wie sie die Vorstellung von Terrorismus prägen, anbelangt. Der Umstand, dass Lichtspielhäuser Ziele von Anschlägen werden oder sich terroristische Organisationen durch den Handel von raubkopierten Filmen kofinanzieren (vgl. Treverton et al. 2009). Oder dass Spielfilme zu Propagandazwecken und als Anschauungsmaterialien eingesetzt werden, z.B. La battaglia di Algeri (I/DZ 1966; Gillo Pontecorvo) über den urbanen Widerstandskampf im Algerien der 1950er-Jahre (s. 12.1.2) oder Black Hawk Down (USA 2001; Ridley
B. Zywietz, Terrorismus im Spielfilm, DOI 10.1007/978-3-658-12161-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
18
Einleitung
Scott), der von der Niederlage der US-Streitkräfte in Somalia 1993 handelt und der im Irak nach der Invasion 2003 großen Anklang in militanten Kreisen fand. Diese Aspekte stehen hier nicht im Mittelpunkt, dieses Buch geht aber zumindest am Rande, punktuell oder indirekt darauf ein oder liefert Beispiele für sie.
Grundlegend für der hier nachgegangenen Frage nach der Verarbeitungsleistung von Terrorismusfilmen ist, dass Spielfilme eine erhebliche sozial-symbolische Funktion erfüllen und kulturelle wie politische Aussagekraft besitzen, wobei das Wechselverhältnis zwischen Film und Gesellschaft komplex und dynamisch ist. Zum einen sind Spielfilme Reflexion insofern, als dass sie Terrorismus ebenso wie andere Phänomene und Mentalitätslagen aufgreifen, auf sie reagieren, zugleich auf unsere Vorstellung zurückwirken. Schon Kracauer (1987 [1947]) konstatiert eine solche reflektierende Bezüglichkeit in seiner Analyse des Weimarer Kinos, in dem sich ihm zufolge der „Hitlerismus“ vorankündigte.1 Spielfilme diskutieren zudem Folgen von Handeln, skizzieren mögliche Situationen. Sie sind vielleicht nicht unbedingt Indoktrinationsmittel wenigstens nicht im Sinne bewusst eingesetzter, zielgerichteter Manipulation und Agitation, und auch wenn etwa das russische Revolutionskino und die NS-Propaganda Beispiele für solche Filme und Filmeinsätze bieten. Spielfilme können jedoch stets als „Medien der Politischen Kultur [sic]“ (Dörner 1998: 206) (selbst-)regulierenden Einfluss auf Wissen, mehr aber noch auf den „Modus der Wahr-nehmung [sic]“ (ebd.) haben.2 Spielfilme tun dies mit weiteren, autonom künstlerischen Zielen ihrer Macher, die ökonomische Interessen verfolgen, zum Denken anregen oder mit einer tragischen oder spannenden Geschichte das Publikum rühren und fesseln wollen. Als Prozesse wie Ergebnisse von Umformulierungen und Extrapolationen, Sinngebungs- und Integrationsarbeit fragen Filme, beantworten, beschwichtigen und spekulieren, berücksichtigen oder testen die Grenzen des Erlaubten und Gebotenen affektiv, affirmativ oder kritisch, mal mehr, mal weniger kreativ und originell. Sie können dementsprechend in zweifacher Hinsicht instrumentell aufgefasst werden: als eine Art Werkzeug der Welterschließung und (Selbst-)Verständigung, der individuellen wie kollektiven Orientierung und Entlastung, zugleich als eine Art Seismograph, der tieferliegende Zustände, Spannungen und Bewegungen misst (oder an dem diese, symptomatisch, ablesbar werden) (vgl. Zywietz 2012a).
1 Kracauer selbst steht mit diesem Ansatz als Gewährsperson für verschiedene Studien zum Terrorismusfilm, siehe etwa McSweeney (2014, S. 1). 2 Eine weitere in dieser Arbeit ebenfalls, wenn auch nur am Rande relevante instrumentelle Verständnis- und Vorstellungs(unter)art wäre die des gezielt eingesetzten pädagogischen Tools (vgl. Winter 2006: 91, m. Bezug auf Giroux 2002) sowie der Propaganda und Indoktrination.
Einleitung
19
Terrorismus als eine besondere ethische, politische und ideologische Provokation wird in Spielfilmen in seiner charakteristischen Widerständigkeit aufgegriffen, interpretativ umgearbeitet und übersetzt, um ihn individuell wie kollektiv verständlich und konsumierbar (oder verdaulich) zu machen. Für die narrativen Um- und Anverwandlung bieten sich filmfiktionale Techniken, Strategien und Erzählmuster an, die sich etwa in Filmgenres ausentwickelt haben und etablierte, erfolgserprobte Einpassungsformen zur Verfügung stellen. Terrorismus wird folglich in doppelter Hinsicht be- und verarbeitend eingeordnet: Zum einen in das je spezifische diskursive Streitfeld einer Gesellschaft, in dem es darum geht, verschiedene Deutungen von Taten und Belange politischer Gewalttäter samt ihrer Motive und (seelischen, geistigen oder sozialen) Konstitutionen quasi auszuhandeln, zum anderen in die allgemeinen Formate und Konventionen des Kinos. Es lassen sich entsprechend eigene Genres des Terrorismusfilms als Ensembles von Deutungs- und Bewältigungsschemata herausarbeiten, die über das Kino hinausverweisen.
Theoretischer und methodischer Rahmen
Dieses Buches ist nicht nur als rein filmwissenschaftliche Untersuchung gedacht, sondern wendet sind auch an Politologen, Soziologen oder Historiker3 sowie an eine nicht-akademische, interessierte Leserschaft. Dies insofern, als Spielfilme mit ihren Storys in Relation gesetzt werden zu dem, was mit Klein und Martínez (2009) allgemein „Wirklichkeitserzählungen“4 oder mit Willy Viehöver „öffentliche“ oder „diskursive“ Erzählungen (vgl. Viehöver 2001; 2012) bezeichnet werden kann. In Kapitel 2 wird ausführlicher auf den Erzählbegriff eingegangen, hier möchte ich kurz den theoretischen Rahmen, der sich an Viehövers sozialwissenschaftlichem Erzähl-Ansatz orientiert, skizzieren.
Unter Bezug auf u.a. Paul Ricœr (u.a. 2007a, 2007b, 2007c), Margaret R. Somers (1992, 1994) und James Phelan (1996, 2005) schlägt Viehöver eine Narrations- als Diskursanalyse in Anschluss an Michel Foucault vor. Generell
3 Werden Personen(gruppen)bezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Kürze lediglich in der männlichen (etwa: „der Terrorist“) oder weiblichen Form verwendet, so schließen sie das jeweils andere Geschlecht mit ein. 4 „Wirklichkeitserzählungen“ sind „sprachliche Darstellungen von (...) einer zeitlich organisierten Abfolge von Ereignissen“ (Klein und Martínez 2009: 6) mit „konkretem Bezug auf reale Begebenheiten, auf Wirklichkeit“ (ebd.), wobei sich als drei Typen deskriptive, normative und voraussagende Wirklichkeitstypen bestimmen lassen (vgl. ebd.).
20
Einleitung
kann mit „Diskurs“ Unterschiedliches gemeint sein.5 Reduziert auf die zwei Hauptverständnislinien sind dies „der historisch sich wandelte Gebrauch von Sprache“ (Viehöver 2012: 83, Herv. i. O.) oder die institutionalisierten „Arrangements verstreuter Aussagen“ (ebd., Herv. i. O.). Wichtig im Kontext dieser Arbeit ist, dass Diskurse regeln (oder eben ausdrücken), was in einer Gesellschaft zu einem historischen Zeitpunkt gewusst wird und gesagt werden kann. Diskurse als Reglements wie als Formationen manifestieren sich in (oder lassen sich analytisch herauspräparieren aus) Formen und Formaten wie Gesetzestexte, wissenschaftliche Abhandlungen, journalistische Beiträge, aber auch institutionelle Zuständigkeiten (z.B. Terrorismusbekämpfung als polizeiliche oder militärische Aufgabe; die fachdisziplinäre Verortung von medienöffentlichen Terrorismusexperten). Was Erzählungen anbelangt erscheinen auch diese in unterschiedlichen literarischen Gattungen: als „Mythen, Epen, Romane, als folkloristische Darstellungen, als biografische Selbsterzählungen, als soziologische Modernisierungserzählungen, als antike Dramen oder moderne, skandalträchtige News-Stories in den Massenmedien, aber auch als wissenschaftliche, historische Narrative“ (ebd.: 66, m. Verweis auf Phelan 2006: 285). Spielfilme lassen sich dieser Aufzählung hinzufügen.
Wie sind nun („literarische“) Erzählungen und Diskurse theoretisch zusammenzuführen? Viehhöver geht davon aus, dass ein Teil von Diskursen narrativ ist und entsprechend analysiert werden kann (vgl. Viehöver 2013: 82). Narrationen sind aber nicht bloß eine Untermenge von Diskursen (die eben auch nicht-narrativ sein können). Vielmehr betrachtet Viehöver im Einklang mit der „narrativen Wende“ auch und vor allem in den Sozialwissenschaften Erzählen als zentralen, gar konstitutiven Modus v.a. der gesellschaftlichen Generierung von Wissen und der Wahrnehmung oder Konstruktion von Wirklichkeit. Dabei verbleibt Viehöver an diesem Punkt gar nur auf der Ebene der zwischenmenschlichen bzw. kollektiven Äußerungen so spricht er von Äußerungsmodalitäten (vgl. ebd.: 84) , lässt also die psychologisch-kognitive Ebene außen vor (Näheres dazu in Kapitel 2).
5 Was den Begriff „Diskurs“ anbelangt, reicht das Spektrum der Bestimmungen von einer „(...) zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten notwendige[n], geregelte[n] Verknüpfung und Formierung von Aussagen“ (Fellner 2006: 27), „konkreten, imaginären Textcorpora“, „Texte eines gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhangs“, über „kommunikative Handlungsgefüge“ bis zu „kollektiven Wissenssystemen“ (Gardt 2007: 24 f.). Bisweilen ist mit „Diskurs“ auch einfach die öffentlichen Debatte zu einem bestimmten Thema gemeint. Insofern hier Viehövers Ansatz im Zentrum steht, verzichte ich auf weitere Ausführungen zu diesem komplexen Begriff (der auch von Viehöver nach eigenem Bekunden nur grob umrissen wird) und seinem Forschungsgebiet. Zu der Diskursforschung, den unterschiedlichen Ansätzen, die u.a. Diskurslinguistik, die Kritische oder die wissenssoziologische Diskursanalyse umfassen, siehe überblicksweise und einführend Keller (2011).
Einleitung
21
Erzählen als kommunikativer Akt bringt andere sprich: nicht-narrative „Texte“ wie Statistiken, Experimente oder Chroniken „erst zum Sprechen“ (ebd.: 84). Individuelle und kollektive Akteure setzen in diesem Sinne narrativisierende Schemata bewusst oder unbewusst ein, um ihren Sichtweisen und Handlungen „Kohärenz, Bedeutung und qua Wiederholung eine gewisse Regelmäßigkeit“ (Viehöver 2001: 178) zu verleihen. Dies erfolgt in Einklang mit bestimmten Aussageregelungen (z.B. in Talkshows oder den Textgattungen in Tageszeitungen) und oftmals in Konkurrenz zu Erzählungen anderer Akteure.
Narrationen weisen so einen Doppelcharakter analog zur bereits angesprochenen zweifachen Instrumentalität von Spielfilmen auf: Sie sind in Diskursen Kommuniziertes wie Prozess der soziostrukturell und kulturell bedingten Narrativisierung (vgl. ebd.: 179). Dynamisch reproduzieren sie nicht bloß Diskurse, sondern bringen diese als Äußerungszusammenhänge ebenso hervor oder prägen sie, wie sie von diesen selbst hervorgebracht werden und ihn ihnen eingebettet sind. Erzählungen sind mithin übersituativ und intertextuell zu verstehen, damit abzulösen von den einzelnen Texten.
Für die theoretische Verortung ist die Erweiterung und Abstrahierung des Erzählbegriffs relevant, vor allem hinsichtlich klassischer erzähltheoretischer (und speziell: narratologischer6) Ansätze, die ausschließlich oder in erster Linie (schrift-)sprachliche Texte (z.B. Romane und Gedichte) mit ihren Tiefen- wie Oberflächenstrukturen in den Blick nehmen. Seit den 1980er-Jahren und der Etablierung poststrukturalistischer und postklassischer Positionen (vgl. u.a. Nünning 2003), der Fokussierung des Lesers und Zuschauers bzw. ihrer kognitiven Operationen beim Verstehen und Einordnen von Inhalten, der Hinwendung zu Phänomenen des Medientransfers sowie mit der Übernahme der Konzepte narration und narrativity (also das, was eine Erzählung konstituiert vgl. Abbott 2009) in andere geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen erweiterte sich das Verständnis von Erzählungen und des Erzählens und damit die Verwendung der Begriffe massiv (vgl. u.a. Meuter 2009).
Dies hat bisweilen zur Kritik in Narratologenkreisen geführt: Der Terminus „Narration“ und damit verbundene Analysekonzepte würden verwässert, unsystematisch bzw. lediglich metaphorisch genutzt.7 Derlei lässt sich auch bei dem aktuellen, oft unspezifizierten Modebegriff „counternarratives“ („Gegenerzählungen“) feststellen, mit denen radikalem Gedankengut und terroristischer Propaganda begegnet werden soll (vgl. u.a. Goodall et al. 2012). Inwiefern derlei
6 Zur Unterscheidung des (v.a. wissenschaftsgeschichtlich) engeren Begriffs der Narratologie von der allgemeineren (v.a. deutschen) Erzähltheorie (die sich u.a. mit Komponenten wie typischen Erzählsituationen befasst) s. Nünning (2003) sowie Cornils und Schernus (2003). 7 Vgl. dazu für einen Überblick und als Beispiel den empfehlenswerten Text von Heinen (2009).
22
Einleitung
Vorwürfe Viehövers Ansatz zu machen sind, sei dahingestellt. Die hier vorgelegte Studie jedenfalls versteht sich in diesem Kontext als eine der Zwischenposition oder Schnittstelle, da sie eher klassische (freilich: audiovisuelle) Erzähltexte (nämlich Spielfilme) betrachtet, diese aber zugleich als besondere Art diskursiver Erzählungen zu dem Thema Terrorismus bzw. zu einzelnen Terrorismuskonflikten auffasst.
Bei der Analyse dieser Spielfilme gehe ich hermeneutisch-interpretativ vor, um weniger die Strukturen der Gestaltung (auch wenn dies hinsichtlich Figuren und Dramaturgien geschieht) als die umfassenderen Bedeutungsebenen und Sinnpotenziale aufzuzeigen (vgl. Hickethier 2001: 32). Diese Methode ist geeignet angesichts der kunstwerklichen und medialen Komplexität des Spielfilms. Mein Interesse gilt dabei den Ausbildungen, Reproduktionen und Variationen von hier heuristisch produktiv zu beschreibenen Mustern und Mechanismen v.a. auf der Ebene der Story, des Plots und der Figurenzeichnungen. Diese erachte ich als bedingt einerseits durch nicht-filmische themenspezifische (terrorismusdiskursive) Narrationen und Narrativisierungen bzw. medien-, text- und situationsübergreifende Narrative und, andererseits, durch überthematische Standards und Konventionen des filmfiktionalen Erzählens. Entsprechend erfolgt die Interpretation unter Berücksichtigung sowohl historischer und politischer Zeitumstände, in denen die Filme entstanden sind oder auf die sie sich beziehen, als auch mit Blick auf filmgeschichtliche (nationalkinematografische) bzw. intertextuelle (v.a. generische) Zusammenhänge. Angesichts dieses Erkenntnisinteresses und als explorative Studie, die einen möglichst großen Filmkorpus statt nur einzelne, ausgewählte Produktionen behandeln möchte, geht dieses Buch nicht oder nur stellenweise auf Details der discourse-narrativen Oberfläche (z.B. die erzählerische Organisation von Zeit oder Erzählperspektiven) der einzelnen Werke ein. Auch muss es zu einem gewissen Grad variabel und heterogen im theoretischen Rüstzeug mit seinen Begriffen und Konzepten bleiben oder zumindest größere theoretische Fragen und Freiräume zu- und zugleich offenlassen, etwa wenn filmpragmatische Aspekte zur Sprache kommen. Dies gilt letztlich auch für den Terminus der Erzählung und seiner metaphorischen (oder fuzzy) weil eben breiter gefassten Verwendung. Der Erkenntnisgewinn dieses Vorgehens erscheint solche pragmatische Unschärfe aufzuwiegen, zumal ich mich auf eine Fülle von einzelnen Studien als Vorarbeiten stützen kann (und dies kritisch tue), welche hier zum ersten Mal in diesem Umfang und in dieser Form zusammengeführt werden.
Einleitung
23
Zum Aufbau der Arbeit
Nach den beiden Einführungskapiteln, in denen es um Grundbegriffe und -aspekte des Terrorismus und des (allgemeinen, diskursiven und filmischen) Erzählens geht, befasse ich mich in Teil 2 mit vier Nationalkinematografien und ihren Gewaltkonflikten:
Kapitel 3 widmet sich den (nord-)irischen „Troubles“ und der Irish Republican Army (IRA), Kapitel 4 dem bundesrepublikanischen Linksterrorismus und der Roten Armee Fraktion (RAF) im deutschen Kino. Kapitel 5 behandelt den internationalen palästinensischen und islamistischen Terrorismus im Hollywoodfilm, wobei überwiegend (qua Angebot) Actionfilme bzw. Actionthriller und das Stereotyp des „Evil Arabs“ im Mittelpunkt stehen. Zudem geht es hier um die filmische Verarbeitung der Anschläge des 11. September 2011 sowie um das Post-„9/11“-Kino auch aus/in anderen Ländern. Der Terrorismus im populären indischen Hindi-Kino („Bollywood“) seit den 1990er-Jahren ist Thema von Kapitel 6. Das kulturelle Umfeld, Zensurbestimmungen sowie andere historische, gesellschaftliche, kulturelle und filmkünstlerische Einflüsse, Kontexte und Entwicklungslinien sollen in diesen Kapiteln mitberücksichtigt und damit auch hier nicht behandelte Filmwerke einordbar werden. Um Gemeinsamkeiten gerade in den Unterschieden und Eigenheiten herauszustellen, wird in Kapitel 7 ein vergleichendes Fazit der Einzelkonfliktbetrachtungen gezogen. Diese Auswahl der Konflikte und ihres Kinos soll eine große Bandbreite an unterschiedlichen Terrorismen (nach Art oder kultureller oder geschichtlicher Nähe), aber auch von Terrorismusfilmen abdecken, Material erschließen und Ergebnisse präsentieren. Zur Orientierung finden sich im Anhang chronologische Übersichten als Zeittafeln mit zentralen historischen (Konflikt-)Ereignissen und Filmen nach Erscheinungsjahr. Diese Filmauflistungen erfassen nur behandelte bzw. erwähnte Werke; sie sind ausdrücklich nicht zu verstehen als Gesamtheit der Produktionen zum jeweiligen Terrorismuskonflikt. Auch können aus diesen Übersichten keine Häufigkeitsverteilungen der kinematografischen Terrorismusthematisierungen abgeleitet werden.
Unter Einbezug weiterer filmgeschichtlich oder -generisch relevanter Filmwerke werden im dritten Teil (Kapitel 9 bis 13) die bis dahin erarbeiteten Erkenntnisse generalisiert und systematisiert. Ziel ist die Entwicklung einer spezifischen Genresystematik (Actionfilm und Thriller, Drama und Politfilme und zwei nachgeordnete Genre-Formate, Historienfilm und Satire). Dabei werden verschiedene dramaturgische und emotive Schemata, narrative Frames, Terroristen-Figurentypen und letztlich ideologisch bezeichnende Erklärungen und Vorstellungsmuster von Terrorismus und seinen Ursachen herausgearbeitet so-
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wie Modi des (Ver-)Handelns ausgewiesen. Diese Klassifizierungen offerieren Beschreibungskategorien und sollen ein Analyseraster bieten, das es ermöglicht, weitere, auch kommende Terrorismusfilme detaillierter und fundierter als heute in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und systematisch zu untersuchen; dies auch mit Blick auf künftige Weiterentwicklungen und Variationen (z.B. durch Kombinationen bzw. Hybridisierung). Darüber hinaus soll der am Ende dieser Arbeit stehende Modellentwurf hilfreich dafür sein, Terrorismus nicht nur im Spielfilm, sondern generell, im Reden über ihn und Denken von ihm, in seiner kommunikativen Charakteristik und entsprechenden narrativen Konstitution und Wirkung begreifbarer zu machen.
Filmauswahl
Angesichts ihrer großen methodischen wie theoretischen Bedeutung noch einige Bemerkungen zur Filmauswahl dieser Arbeit. Die hier vorgestellten und behandelten Werke sind überwiegend, nicht aber ausschließlich Vertreter des populäre Mainstream-Unterhaltungskinos. So findet sich kulturell eher gering geschätzte kommerzielle B-Movie-Unterhaltung neben High-Concept-Blockbustern und anspruchsvollen und geachteten (d.h. etwa: festivalprämierten) Werken des Independent-, Arthouse- oder Weltkinos. So unterschiedlich, gar gegensätzlich die Filme in Art, Herkunft, (unterstellter) ideologischer Wirkabsicht und Realitätsbezug sein mögen, erscheint das gesamte Spektrum es wert, berücksichtigt zu werden, unabhängig von (zubemessener) künstlerischer Qualität oder Kassenerfolg, denn was zählt,
(...) ist weniger die statistisch erfaßbare Popularität von Filmen, als die Popularität ihrer bildlichen und erzählerischen Motive. Beharrliche Vorherrschaft dieser Motive kennzeichnet sie als äußere Projektionen innerer Bedürfnisse. Und sie haben offensichtlich am meisten symptomatisches Gewicht, wenn sie in sowohl populären wie unpopulären Filmen, in als zweitrangig eingestuften Filmen wie Superproduktionen auftauchen (Kracauer 1987 [1947]: 13 f.).
Leider kann jedes Buch nur auf eine begrenzte Menge von Spielfilmen eingehen. Dem vorgestellten Korpus liegt eine langjährige Auseinandersetzung mit Terrorismusspielfilmen sowie Filmen zur politischen Gewalt allgemein zugrunde: die Sichtung von über achthundert Filmen und eine umfassende Literaturrecherche und -auswertung, die neben der filmkritischen Rezeption akademischer Texte zu den einzelnen Filmen auch Studien zu damit verbundenen Themenkomplexen (wie Landeskinematografien, Genre- oder Motivanalysen) umfasst, sodass eine Voreinschätzung durchaus erfolgte. Die vorgestellten Filme bilden somit nicht die Grundgesamtheit einer Untersuchung, deren Gegenstandsproben zwangsläu-
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fig und zweckdienlich vorsortiert sind, sondern sie sind in erster Linie exemplarisch, dienen als Anschauungs- und Belegmaterial, wobei ich mich hier freilich an ihrer Popularität (auch in wissenschaftlichen Schriften) orientiere, mich aber nicht darauf beschränke, sondern auch bewusst eher unbekannte(re) Filme herangezogen habe. Es geht also darum, die (mögliche) Bandbreite der vorhandenen Filme und Erzählarten vorzustellen wie die Dominanzen darin herauszuarbeiten.
Allerdings kann ich nicht in Anspruch nehmen, alle jemals gedrehten Spielfilme zum Thema Terrorismus gesehen und ausgewertet zu habe. Das bedingt u.a. die schiere Zahl der Filme, mehr aber noch schlechterdings der Umstand, dass keine definitive Liste (und damit Summe) von „Terrorismusfilmen“ existiert und existieren kann. Zwei Gründe wirken dabei zusammen. Der forschungspraktische ist, dass es vielleicht noch eine halbwegs belastbare, weil noch recht übersichtliche Anzahl von Spielfilmen zum (west-)deutschen Linksterrorismus auszumachen ist, auch wenn die einzelnen Autoren ihren Korpus unterschiedlich weit fassen. Doch schon was Werke zum Nordirlandkonflikt anbelangt, ganz zu schweigen von indischen Produktionen zur politischen Gewalt auf dem Subkontinent, erscheint jede zahlenmäßige Angabe willkürlich. Dies liegt nicht nur am Fehlen entsprechender Auflistungen, sondern und das ist der zweite, theoretische Grund auch daran, dass die inhaltliche Grenzziehung zweifach (also in der Definition wie in deren Anwendung) idiosynkratisch und, mehr noch, für das Ziel dieser Arbeit kontraproduktiv wäre. Wenn, überzogen formuliert, nahezu jeder Film in Nordirland die „Troubles“ aufgreift (und damit am Rande oder zentral die IRA) oder die Hindu-Muslim-Problematik in Indien derart gravierend ist, dass sie in allen möglichen Filmen behandelt wird, ist eine Gesamtübersicht belanglos, insbesondere, wenn zusätzlich aus dieser eine definitive, gar ultimative Zahl an Terrorismusfilmen zu einem bestimmten Zeitpunkt destilliert werden soll.
Wieso also nicht als praktikable Lösung das übliche Vorgehen empirischer medien- und kommunikationswissenschaftlicher Untersuchungen wählen, entscheidende Charakteristika zur Bestimmung des Gegenstands (der Filme) sowie begründete Auswahlkriterien für die Zusammenstellung einer Stichprobe (als relevanter Ausschnitt aus der Gesamtheit) zu definieren und anzuwenden? Zweifellos hat eine solche Methodik große Vorteile, aber auch Nachteile, ist schließlich unhaltbar für die spezifische Fragestellung dieser Arbeit: Eine derart starre Vorauswahl und Reduktion oftmals rein aus empirisch-wissenschaftlicher Bringschuld heraus konstruiert nämlich erst den Untersuchungsgegenstand auf Basis nur scheinbar objektiver, signifikanter und valider Selektionskriterien. Zur Illustration dieser Grenzen des Objektiven möge Helena Vanhalas an der University of Oregon entstandene Dissertation (2005) dienen, ohne diese und ihre Ergebnisse herabsetzen oder in irgendeiner Weise methodologische Verfehlungen
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vorwerfen zu wollen. Für ihre Arbeit über den internationalen Terrorismus im Hollywood-Blockbusterkino greift Vanhala auf die Definition des US-Außenministeriums als Kriterienkatalog für die Präparation ihres Untersuchungsgegenstandes zurück. Ein weiteres Merkmal ist, da es Vanhala um die vermutete ideologische Wirkmacht von Filmen geht, das Einspielergebnis als Kennzeichen für die Reichweite der Filme. Fraglich ist allerdings nicht nur, ob die Kasseneinnahmen hinsichtlich des weltanschaulichen Einflusses sonderlich aussagekräftig sind: Der kommerzielle Erfolg als Maß hängt nicht notgedrungen mit der „politischen“ Ausrichtung oder Wahrnehmung eines Films zusammen (sondern mit eventuell davon relativ unabhängigen Faktoren wie z.B. der star power bzw. der Besetzung oder dem Marketing8) und ignoriert andere, möglicherweise für eine Ideologisierung wesentliche Unterschiede jenseits des bloßen Zuschauerkontakts. Ein fast cartoon-artiges Arnold-Schwarzenegger-Spektakel weist etwa allzu andere Qualitäten, Sinngehalte und Rezeptionsmuster auf als ein eher ernst gehaltener Politthriller wie The Siege (USA 1998; Edward Zwick), der mögliche Folgen und Reaktionen auf eine Bombenkampagne in New York City durchspielt. Gerade hier offenbart sich die vorab geführte Genre-Bestimmung einzelner Filme als zu breit und pauschal, zugleich als zu rigide, wobei die Konzentration auf ein Genre (das „action-adventure“) bereits Vanhalas Arbeit auszeichnet viele Arbeiten berücksichtigen nicht einmal diese Art der weitreichenden Differenz. Die möglichst genaue Auswahl der Filme als „Terrorismusfilme“ liefert zudem eine Schein-Objektivität, welche jener von Terrorismus-Begriffsdefinitionen ähnelt, die bedeutungsoffene Sinneinheiten lediglich aufteilen und in andere klärungsbedürftige Begriffe verschieben. Vanhala bezieht beispielsweise aufgrund der State-Department-Bestimmung den Film Iron Eagle (USA/CAN 1987; Sidney J. Fury) in ihre Untersuchung mit ein, weil der Schurke des Films, Diktator eines namenlosen Nahoststaates, als Anspielung auf den damaligen libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi, der Ende der 1980er-Jahre als Terrorismus-Förderer galt, interpretiert werden könne (vgl. Vanhala 2005: 296 ff.). Die Aufnahme von Die Hard (USA 1988; John McTiernan) und der Fortsetzung Die Hard: With a Vengeance (USA 1995; John McTiernan) in den Korpus begründet sie wiederum mit einem im Film nur kurz erwähnten biografischen Terrorismus-Background der Antagonisten, der Tatsache, dass diese Ausländer sind, Zivilisten terrorisieren und zum Ziel ihrer Gewalt machen. Vanhala gesteht aber ein, dass es sich in beiden Filmen nur um vorgetäuschten Terrorismus handelt, insofern es den Schurken in dem Film lediglich ums Geld geht (vgl. ebd.: 314 ff.).
8 Zu den Erfolgskriterien des Kinos siehe auch Simonton (2009).
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Wie bei Vanhala spielt in diesem Buch Die Hard eine Rolle, doch nicht obwohl, sondern gerade weil es darin um Fake-Terrorismus geht (im Gegensatz zur Romanvorlage), Terrorismus also auf einer anderen, reflexiven Ebene thematisiert wird. Die Entscheidung, wann man es in der Realität mit Terrorismus zu tun hat, ist prekär und strittig, und die inhärente Ambivalenz muss bei der Bestimmung und dem Nachspüren von Terrorismus im Film wenn nicht erhalten bleiben, so doch im Ansatz als Gegebenheit mitberücksichtigt werden. In diesem Buch befasse ich mich nun mit Terrorismus und was aus ihm zwischen (scheinbar) entleerender Exploitation und sublimer metaphorischer Referenz im Spielfilm wird. Ausgangspunkt und Vergleichsfolie müssen daher vorfilmische Umstände mit relativ konkreten Hintergründen, ihrer Zeitlichkeit, Historizität und einem Verbund an narrativen Deutungsrahmungen sein. Dies bedeutet weniger, sich in dem hier vertretenen explorativen Ansatz auf Filme zu beschränken, die Terrorismus bereits beinhalten, sondern auch Randbereiche und die entsprechenden Werke in den Blick zu nehmen, die zum erzählerischen Umfeld des Terrorismus gehören jene, die etwa Erzählungen präsentieren, auf die Terroristen legitimierend zurückgreifen. So ist zwar nicht die Gefahr eines Zirkelschlusses gebannt, die Vorabdefinitionen und -selektion begleiten (als Terrorismusfilm wird untersuchend bestimmt, was als Terrorismusfilm ausgewählt wurde), verringert sie aber. Vor allem wird dieses Vorgehen dem Gegenstand, eben dem Terrorismus an sich, gerechter, denn es berücksichtigt das Diffuse und politisch Sprachlich-Instrumentelle seiner Bestimmung als Wesenszug. Realer ebenso wie filmfiktionaler Terrorismus verbleiben so stärker innerhalb des diskursivnarrativen Zusammenhangs, der sie umgibt, hervorbringt und formt und auf den sie selbst reagieren und wieder zurückwirken. Schließlich gestattet diese Herangehensweise, eben jene markanten Leerstellen zu berücksichtigen, die ansonsten vernachlässigt würden sprich: nicht nur Auskunft zu geben, wann und wie in Spielfilmen Terrorismus aufgegriffen und behandelt (oder konstruiert) wird, sondern auch, wann und auf welche Weise (vielleicht auch: weshalb) Spielfilme dies nicht tun wie sie Terrorismus vermeiden oder aber so transformieren, dass von ihm nichts oder nur mehr ein (spürbarer) Rest übrig bleibt. Hierbei muss und will ich mich mit dieser Arbeit jedoch insofern stark beschränken, als dass ich den Interpretationsrahmen in puncto filmisch-thematischer Metaphorik relativ eng halte: Nicht alles, was als Anspielung oder kaschierte Reaktion auf Terrorismus aufgefasst werden kann, muss notwendigerweise als eine solche tatsächlich behandelt werden. Generell wird daher der Korpus weitgehend aus Filmen bestehen, die gemeinhin als Terrorismusfilme gelten, diskutiert und untersucht wurden, sodass sich dahingehend keine allzu großen Abweichungen von bereits vorliegenden Beschäftigungen ergeben. Wichtig ist aber, dass der konzeptionelle Ausgangs- und Blickpunkt ein prinzipiell anderer ist.
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Abschließend noch einige Worte zur Ergebnispräsentation, die diese Untersuchung darstellt: Vieles hätte dafür gesprochen, das Thema der TerrorismusfilmGenres vorzuziehen und die Filme zu den Einzelkonflikten auf Basis der so vorabentwickelten und vorgestellten Einteilung bzw. auf diese hin zu untersuchen. Aus verschiedenen Gründen habe ich mich dagegen entschieden; kurz zu den wichtigsten:
Da die Genre-Kategorien in ihrer Einteilung eben der Beschäftigung mit den verschiedenen Ländergewaltkonflikten und den dazugehörigen Filmen entspringen, soll diese Arbeit auch den dahinterstehenden Forschungs- und Erkenntnisprozess in gebotenem Maße nachzeichnen. Klarer und konziser hätte über die Umkehrung der Schritte eine Klassifikation belegt oder zumindest exemplifiziert werden können, nur wäre so der erste Schritt hin zur Klassifikation selbst unterschlagen worden, die eine bottom-up-Modellierung darstellt, insofern sie aus dem Untersuchungsmaterial entwickelt ist. Unbenommen bleibt, dass die GenreSystematik schließlich auf zugrunde liegende sowie weitere Filmgesamtheiten und ihre Kinematografien (rück-)gespiegelt und so überprüft werden kann; dies hätte aber den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Darüber hinaus ist die Genre-Kategorisierung ein, nicht jedoch alleiniges Forschungsziel dieser Arbeit. Die Ergebnisse in und aus den Betrachtungen der einzelnen Konflikte und ihrer filmischen (Re-)Präsentationen in Teil II stellen einen Informations- und Erkenntniswert für sich dar einer der so nicht zu haben gewesen wäre, hätte diese Arbeit methodologisch enggeführt, jedoch blickverengend lediglich zum Ziel gehabt, generische Formen und Muster an konkreten Beispielen zu untersuchen und zu veranschaulichen.
I. Grundlagen und Begriffe
1 Terrorismus
Praktisch kein Buch zum Thema Terrorismus kommt ohne Begriffsdefinition und vor allem ohne Verweis auf die Begriffsproblematik aus. Dies ist auch hier der Fall, zumal „Terrorismus“ explizit im Mittelpunkt steht. Aus mindestens drei Gründen muss eine letztgültige allgemein akzeptierte Definition unerreicht, mithin „Terrorismus“ als Bezeichnung umstritten bleiben. Erstens ändert(e) sich nicht nur über die Jahrzehnte und Jahrhunderte das, was als Terrorismus benannt wird, sondern auch die Bezugnahme selbst hat sich im Laufe der Zeit bisweilen ins Negative verschoben. Angesichts dieses doppelten diachronen Wandels ist eine etymologische Annäherung, etwa der Verweis darauf, dass der Begriff sich aus dem jakobinischen régime de terreur unter Maximilien de Robespierre (vgl. u.a. Laqueur 1982: 11) entwickelte, auf den heutigen Verwendungszusammenhang bezogen informativ, aber definitorisch eher ornamental. Zweitens ist das Etikett Terrorismus unvermeidlich unscharf, weil es sich auf selbst wiederum vage, unterschiedliche ausgelegte, konkretisierte und eingesetzte Begriffe wie „Politik“, „Opposition“ und „Legitimität“ stützt, auf sie verweist oder gar zurückführt. Drittens erweist sich je nach Gebrauchskontext jede der möglichen und existierenden Bestimmungen als zu weit oder zu eng gefasst, da sie „(…) ihre Nützlichkeit jeweils für spezifische Fragestellungen erweisen müssen“ (Hißnauer 2002: 249). Diese kann von der handfesten juristischen und polizeilichen bis zur abstrakt-philosophischen (etwa zum Wesen menschlicher Gewalt) reichen.
Selbst wenn es bis heute keine allgemeingültige und -akzeptierte Terrorismusdefinition gibt und Ungenauigkeit oder gar ein praktischer Bedeutungsverlust v.a. im (bzw. dank) Gebrauch des Terminus in den Medien konstatiert wird9, gilt: „Deshalb aber zu argumentieren, man könne das Phänomen Terrorismus nicht untersuchen, solange eine solche Definition nicht vorliege, ist absurd“ (Laqueur 1982: 10). Tatsächlich besteht kein Mangel an unterschiedlichen bis widersprüchlichen Bestimmungen akademischer wie staatsexekutiver Couleur.10
9 Vgl. beispielhaft Hoffman (2006: 21 u. 62 ff.) und Richardson (2007: 27). 10 Schmid (vgl. 2004: 376 f.) und Hoffman (2006: 66 f.) verweisen auf die verschiedenen Begriffsbestimmungen staatlicher Stellen der USA, derweil Schmid sich über die Jahrzehnte hinweg intensiv
B. Zywietz, Terrorismus im Spielfilm, DOI 10.1007/978-3-658-12161-7_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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1 Terrorismus
Überhaupt kann bereits aus der Bezeichnungsproblematik Eigenschaften des mithin problematischen, gar kritischen Gegenstandes für eine Begriffsklärung abgeleitet werden. Entsprechend sei in dieser Arbeit „Terrorismus“ verstanden als
 Bezeichnung für als illegitim bewertete  politisch-ideologische Gewalt, die  im Namen höherer (z.B. ethisch-moralischer, historischer, religiöser) Ziele  substaatlich aus dem Untergrund und aus einer Unterlegenheitsposition
heraus mit  dominant symbolischem bzw. kommunikativem Charakter  strategisch eingesetzt wird.
Diese Punkte werden im Folgenden näher erläutert.
1.1 Legitimität und Wertung
Die Bezeichnung Terrorismus kennzeichnet Handeln als nicht nur illegal, sondern auch (v.a. ethisch, mit überindividuellem Gültigkeitsanspruch) als illegitim: Sie ist im gemeinen Gebrauch eine Etikettierung für Wert- und Normverletzungen, damit abhängig davon, wie man Personen bzw. Gruppen und ihren Zielen gegenübersteht.11 Auch Terroristen lehnen dieses Label heutzutage ab und verlegen sich auf Bezeichnungen wie „Freiheitskämpfer“ und „Soldaten“ zur Aufwertung und Rechtfertigung (vgl. u.a. Hoffman 2006: 52 ff.).12 Folglich liegt dem Begriff ein Streit um die Gewalt als Mittel und die Mittel der Gewalt zugrunde, die sich maßgeblich nach dem Ziel und den gegebenen Umständen bemisst.13 Dass Terrorismus zuallererst eine Form der Gewalt darstellt, sei hier als
mit der Begriffsfrage auseinandergesetzt hat u.a., indem er aus einer Sammlung von über hundert Definitionen deren Quintessenz herauszuarbeiten suchte (vgl. u.a. Schmid und Jongman 1988, Schmid 2012). 11 Zu diesem Aspekt vgl. u.a. Richardson (2007: 31); Hoffman (2006: 54 f.); Juergensmeyer (2004: 30 f.); Daase (2001: 55). 12 Gerassim Grigorjewitsch Romanenko als Theoretiker des russischen sozialrevolutionären Terrorismus im 19. Jahrhundert pries diesen noch als humanitär, da er angesichts einer ohnehin als unvermeidlich erachteten Auseinandersetzung weit weniger Menschenleben kosten würde als ein Kampf großer Massen (vgl. Laqueur 1976: 46). 13 Zur Begründbarkeit oder Berechtigung von Gewalt und ihrem Unterschied zur Legitimität (Punkte, die in dieser Arbeit selbst nicht weiter verfolgt werden) vgl. u.a. Held (2008: 132 ff.).
1.1 Legitimität und Wertung
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trivial gesetzt und nicht weiter thematisiert.14 Allerdings: Gewalt gilt in einer zivilisierten Welt gemeinhin, vor allem, wenn sie nicht von einem wie auch immer legitimierten Rechtsstaatswesen und dessen Organen (also jenen Instanzen, an die das Gewaltrecht, wenn nicht gar -monopol reglementiert und allgemeingültig delegiert wurde) regulierend ausgeht, zunächst als prinzipiell negativ, als eine inakzeptable Störung der Ordnung (u.a. im Sinne einer unkontrollierten Selbstermächtigung). Speziell terroristische Gewalt bedarf darüber hinaus jedoch eines besonderen denotativen Elements etikettierender „Abwertung“, weil sie nicht affektiv aus dem Moment heraus, opportunistisch (gewinnorientiert-kriminell) oder irrational und unkontrolliert (pathologisch) ist auch wenn dem Handeln von Terroristen derlei unterstellt werden mag. Stattdessen geht es im Falle von Terrorismus um politische oder ideologische (s. 1.2), zumindest derartig begründete, kalkulierte und instrumentelle Gewalt (vgl. u.a. Hoffmann 2006: 23; Schneckener 2006: 21 ff.; Imbusch 2006: 489 u. 498 ff.). Mit dem Begriff „Terrorismus“ wird diese Gewalt nicht diffamiert, kann es auch nicht, da das, worauf sich das Wort bezieht, kategorisch zu unterscheiden ist von seiner dysphemistischen Verwendung. Das macht sprachpraktisch Terrorismus im hier vertretenen Verständnis zu einem besonders metakommunikativen Begriff. So bedeutet der Terminus „Terrorismus“ nicht „illegitimer Gewalt“ (also eine spezifische Art), sondern Gewalt, die als schrecklich, unmoralisch, als abzuwerten und abzulehnen gemeinhin gilt und gelten soll(te). Etwas als Terrorismus zu bezeichnen, heißt (aus analytischer Perspektive) folglich weniger, Akte von Gewalt per se moralisch zu verdammen (Zuweisung der Eigenschaft „illegitim“), als sich mit seiner Einschätzung in einer moralisch-politischen und kulturellen Sphäre zu positionieren, in der bereits eine solche Sichtweise vorherrscht (eine Vorstellung von „illegitimer Gewalt“). Der geläufige Aphorismus „Des einen Freiheitskämpfer ist des anderen Terrorist“ ist folglich sowohl treffend, als er auf das Sprachspiel Terrorismus abhebt, analytisch jedoch unsinnig, wenn er rein auf den Sprachgegenstand (die Gewalt) bezogen wird. Generell lassen sich also zwei Begriffsverwendungen (re-)konstruieren: die des Alltags, auch der Politik, sowie die des möglichst neutralen wissenschaftlichen bzw. theoretischen Diskurses. Letztere kann versuchen, Terrorismus wertneutral zu beschreiben, als eine bestimmte Form der Strategie von Untergrundkämpfern etwa (s. 1.5). Die negative Färbung des Begriffs im heutigen gängigen Sprachgebrauch sollte aber dabei
14 Zum Wesen und Begriff von Gewalt siehe Heitmeyer und Schröttle (2006), Kunczik und Zipfel (2006: 21 ff.). Der Aspekt der glaubhaften Gewaltandrohung, der oftmals ebenfalls mit Terrorismus assoziiert wird, spielt in dieser Arbeit keine Rolle, zumal derlei Gewaltandrohungen in der Regel mit realisierter Gewalt einhergehen oder mit solcher unmittelbar verbunden sind. So geht der erpresserischen Ankündigung, man würde Geiseln oder Entführte töten, notgedrungen voraus, dass Terroristen diese „in ihrer Gewalt“ haben.
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1 Terrorismus
mitberücksichtigt werden. Um sich ihrer zu entledigen, wird daher oft ergänzend oder ersatzweise auf unspezifischere Ausdrücke wie „politische Gewalt“ zurückgegriffen.
1.2 Höhere Werte und Ideologie
Die besondere Notwendigkeit der Abwertung, die mit dem Terrorismus-Etikett erfolgt, resultiert aus dem Anspruch der Täter (also dem zukunftsgewandten, formulierten Ziel und dem tendenziell vergangenheitsorientierten Auftrag) sowie in ihren Beweggründen (Situation) ihres Handelns. Terroristen selbst agieren im Namen und zum Wohle anderer (der Klientelgemeinschaft), um ein metaphysisches Ideal mit konkretem „höherem“ Ziel zu verwirklichen und gegen eine herrschende Ordnung durchzusetzen im Gegensatz zu Söldnern, Milizen oder aber Kriminellen, die auf ihren eigenen (ökonomischen) Vorteil aus sind.15 Das heißt auch, dass Terroristen durchaus (rein) kriminell agieren mögen, diese entsprechenden Taten sind jedoch dann kein Terrorismus (bzw. nicht terroristisch) (vgl. Kaschner 2008: 31). Die Abgrenzung ist freilich oft strittig, etwa wenn es um vorbereitende Kriminalität geht (z.B. Banküberfälle zur Finanzierung von Waffenkäufen).
Über den Rückbezug auf einen höheren Auftrag (geschichtlich, religiös) oder einen überrechtlichen, mithin von den tangierten Werten und Rechten her überzeitlichen, gleichzeitig relativ akuten Notstand (Notwehr oder Nothilfe) verorten sich die Täter in einem poltisch-ideologischen Handlungsrahmen. So ist etwa von sozialrevolutionärem, national-separatistischem oder religiösem Terrorismus die Rede (vgl. u.a. Straßner 2008; Schneckener 2006: 28, 40 ff; Beermann 2004: 53 ff.). Sie heben jeweils auf „historische“ und vor allem moralische und altruistische Ziele und Vorstellungen ab, denen ein konkretes Welt- und Konfliktbild samt Selbst- und Fremdverortung darin zugrunde liegt. Der Begriff der Ideologie ist zwar insofern ein schwieriger, als er je nach Autor und Kontext „eine ganze Reihe von Bedeutungen trägt, die sich zum Teil ausschließen“ (Eagleton 2000: 7). Unter Ideologie sei hier jedoch vereinfacht eine weltanschauliche Ideenlehre gemeint, die Werte, Wertmaßstäbe, Ideale, Ziele, Sichtweisen, Überzeugungen bzw. soziale Wahrnehmungen, Vorstellungen, Bedeutungen und Wissensbestände bedingt, beeinflusst und (wenn auch unterschwellig, d. h. ohne dezidierte Programmatik) durchzusetzen sucht, folglich auch auf Machtfragen abhebt (vgl. ebd.: 12). Ideologie bietet einen (u.a. naturalisierenden)
15 So sei der Terrorist laut Hoffmann prinzipiell eine Art Altruist, der einer „guten“ Sache diene (vgl. Hoffman 2006: 76). Vgl. auch Elter (2008: 42).
1.3 Unterlegenheitsposition und Substaatlichkeit
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Vorstellungsapparat (z.B. Menschenbilder), aus dem sich überindividuelle Ansichten wie solche zur Organisation des öffentlichen Lebens ableiten lassen. Entsprechend drückt sich Ideologie in Politik konkret aus und schlägt sich nieder z.B. in Rechten und Pflichten im Rahmen der Gesetzgebung und ihren Normen oder im Verhältnis von Gruppenidentitäten innerhalb eines Staatswesens und der Machtverteilung zwischen ihnen. Für eine solche, hier angewandte Definition von Ideologie ist es unerheblich, ob Ideologie als Weltanschauung16 die (vor-)herrschende ist, inwiefern sie eine „falsche“ oder „verzerrte“ Realitätswahrnehmung darstellt oder worin sie begründet liegt (vgl. dazu ebd.: 40). Auch Islamismus ist demgemäß eine „moderne politische Ideologie ähnlich dem Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus oder gar Faschismus“ (Berger 2007: 32), ebenso wie jede Religion, insofern sie einen Gestaltungsanspruch des Zusammenlebens („von ihrer gesellschaftlichen Funktion her“ Bohleber 2003: 166 f.) konstituiert.
1.3 Unterlegenheitsposition und Substaatlichkeit
Terroristen wollen den politischen Status quo ändern (vgl. auch Beermann 2004: 74) und dies aus einer politischen und militärischen Unterlegenheitsposition heraus (vgl. Richardson 2007: 36). Terrorismus ist Gewalt von „unten“, was neben den vorgeblich hehren Ansprüchen einen Vorteil für das moralische Ansehen bedeutet. Die Asymmetrie setzt allerdings das Vorhandensein einer solchen herrschenden Ordnung voraus. Entsprechend wird zumindest in dieser Arbeit vigilantische, sprich ordnungsverteidigende Gewalt weitgehend vernachlässigt. Darüber hinaus ist diskutabel, inwieweit in failed states oder Bürgerkriegsregionen im Einzelnen von Terrorismus die Rede sein sollte und nicht von Terror (terrorisierende Gewalt von oben). Die Unterscheidung von Terror und Terrorismus ist ebenfalls umstritten. So plädiert Beermann dagegen, da staatliches Gewalthandeln nicht mit anderen Maßstäben als nichtstaatliches zu bemessen sei (vgl. Beermann 2004: 34). Jaggar (2003: 178) hingegen votiert für den Begriff des „Staats-Terrorismus“ mit Verweis auf die Schreckensherrschaften z.B. im Lateinamerika der 1970er und -80er-Jahre, die nicht- bzw. substaatliche Politge-
16 Der Begriff der „Weltanschauung“ mag durch die Nationalsozialisten ein vorbelasteter Begriff sein, ich verzichte in seiner Verwendung allerdings darauf, diese „Spannung“, wie es Lorenz Engell (2010: 9) formuliert, „mitzuführen“, also etwa durch Anführungszeichen zu kennzeichnen. Dies gilt in dieser Arbeit auch für manch andere, möglicherweise diskutable Termini, da in dieser Arbeit nicht jeder mögliche historische und politische Verwendungs- und Bedeutungskontext mitzuberücksichtigen ist, geschweige denn referiert werden kann.
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1 Terrorismus
walt in puncto Opferzahlen und Unterdrückung deutlich in den Schatten stellten. Es besteht allerdings „(...) die Funktion von Definitionen nicht darin, für die gerechte Verteilung moralischer Anklagen zu sorgen, sondern heuristisch fruchtbar zu sein“ (Neidhardt 2006: 126). Zudem weisen Terror und Terrorismus besonders hinsichtlich der Mittel und Ziele (Lähmen des Widerstandes statt Provokation der Macht; Erhalt und Stabilisierung vs. Veränderung und Destabilisierung) sowie in den einhergehenden Wirkmechanismen (simpel und effektiv vs. komplex und hoch riskant) relevante Differenzen auf (vgl. Scheerer 2002: 31), als dass man sie analytisch gleichsetzen oder völlig ineinander blenden sollte. Allerdings verschwimmen die Grenzen, etwa wenn Gruppierungen wie die terroristische IRA mit ihrer Schattenjustiz Terror in ihren eigenen Communitys ausüben (vgl. Bittner und Knoll 2000).
1.4 Kommunikation und Symbolik
Die politische und militärische Unterlegenheit von Terroristen verhindert die offene Konfrontation, weshalb sich Terroristen auf hochgradig zeichenhafte Gewaltaktionen verlegen. Terrorismus ist eine „Kommunikationsstrategie“ (Waldmann 2005: 7), „a form of costly signalling“ (Kydd und Walter 2005: 50). Osama bin Laden selbst bezeichnete 1997 Terrorismus als „message with no words“ und die Anschläge des 11. September als „speeches that overshadowed all other speeches” (zit. n. Abrahms 2006: 65, Fn. 86). Dabei zielt Terrorismus wie das Wort bzw. sein lateinischer Herkunftsbegriff (terrere) schon andeutet auf das Erzeugen und Erregen von Furcht, Schrecken und Entsetzen ab, beschränkt sich jedoch nicht darauf: Terroristen wenden sich an verschiedene Zielgruppen als Publika, insbesondere an die breite Öffentlichkeit (seien es Volksgruppen, die Bevölkerung eines Landes oder der ganzen Welt), Regierung(en), an Mitstreiter, (potenzielle) Sympathisanten und Unterstützer sowie die Massenmedien als Mittler. Der primäre Akt der Gewalt, die Bombe in einer belebten Einkaufsstraße oder in einem Stadtbus, die Entführung eines Linienflugzeuges sie dienen als brutaler Einbruch in die Normalität eines Alltags (jenem derer, die von Terrorismus sprechen werden) und damit zur Aufmerksamkeitsgewinnung. Der klassische Terrorist propagiert darüber (hinaus) seine Idee, will auf Konfliktlagen aufmerksam machen, demonstrativ Satisfaktion üben und/oder abschrecken, einen Staat erpressen (etwa: die Freilassung von Inhaftierten), herausfordern oder bloßstellen (als machtlos, repressiv oder „faschistisch“). Kurzum: Terroristen als Terroristen handeln symbolisch (vgl. u.a. Elter 2008; Hoffman 2006: 68 ff.; Waldmann 2005: 33 ff.) und kalkulieren dementsprechend „(...) ihre Schadenswirkung nicht als physische Beseitigung derer, die sie töten;
1.5 Terrorismus als Strategie
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diese sind ihnen in der Regel unbekannt und persönlich gar nicht gemeint“ (Neidhardt 2006: 127), sondern spekulieren auf „(…) weitreichende psychologische Auswirkungen (...), die über das jeweilige unmittelbare Opfer oder Ziel hinausreichen“ (Hoffman 2006: 79). Nur ausnahmsweise oder extrem nachrangig bestehen zwischen direkten Opfern und den Terroristen also unmittelbar Beziehungen, was letztlich so nachhaltig irritiert: Verbrechen aus Rache oder Habgier mögen ebenfalls verwerflich sein, erscheinen aber verständlicher und emotional nachvollziehbarer.17 Die unmittelbaren Toten und Verwundeten des terroristischen Aktes sind als solche hingegen instrumentalisiert (vgl. Jackson 2008: 29). An diesem Charakteristikum setzt maßgeblich die Verdammung von Terrorismus bzw. die negative Bedeutungsaufladung der Bezeichnung „Terrorismus“ an: Terroristische Aktionen wirken hinterhältig und auf untragbare Weise entmenschlichend, da sie in der Regel „unschuldige“, d. h. nicht mit dem Täter über eine gemeinsame Geschichte verbundene Opfer treffen (vgl. Neidhardt, F. 2006: 125) und sie zu „Kollateralschäden“ herabwürdigen.18
1.5 Terrorismus als Strategie
Bei allen affektiven, spektakulären oder grausamen Aspekten der (Schock-)Wirkung sowie den durchaus möglichen irrationalen Beweggründen von Todesschützen und Selbstmordattentätern ist Terrorismus geprägt durch ein klares Kalkül, das sich nicht zuletzt aus der Langfrist- und Größendimension des avisierten Ziels und der Unterlegenheitsposition ergibt. Terrorismus ist folglich zu verstehen als strategisch. „Strategie“ bezeichnet hier nach der verkürzten Erläuterung des US-Verteidigungsministeriums „[a] prudent idea or set of ideas for employing the instruments of (...) power in a synchronized and integrated fashion to achieve (...) objectives“ (United States Department of Defense 2009: 521) und damit eine übergreifende Planung (oder Methodik). „Taktik“ meint dagegen den jeweiligen kurzfristigeren Einsatz der Mittel.19 Das Verständnis von Terrorismus als Strategie bietet eine pragmatische Entspannung des Definitionsproblems dahingehend, dass moralische Relativität ein Stückweit umgangen wird. Das Sprichwort „Des einen Freiheitskämpfer ist des anderen Terrorist“ verliert an Pointiertheit, betrachtet man „Freiheitskämpfer“ als Bezeichnung, die auf das
17 Mehr zum Kommunikationsaspekt des Terrorismus in 2.2. 18 Unbenommen bleibt, dass sich terroristische Gewalt auch gegen Sachen richten kann. 19 Zum Strategiebegriff vgl. u.a. auch Howard (1979), vor allem seine Diskussion zu Clausewitz Verständnis des Gefechtsgebrauchs zum Zweck des Krieges. Zur Unterscheidung von strategisch, operational und taktisch bei Terroristen (hier jenen der al-Qaida) s. Jessee (2006).
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1 Terrorismus
Ziel verweist (z.B. Separatismus), und „Terrorist“ als eine, die auf die Art des Handelns bzw. die eingesetzten Mittel abhebt. Nicht jeder Freiheitskämpfer ist mithin ein Terrorist und nicht jeder Terrorist ein Freiheitskämpfer.
Ein weiterer Vorzug des Strategie-Gedankens ist, dass er eine „Vergegenständlichung“ von Terrorismus (nicht zuletzt in der Betrachtungsweise von Gesellschaftswissenschaften) und sein Ablösen von je konkreten Individuen, Gruppen, Anliegen, Konflikten, Plänen erschwert. Gerade der Begriff „Global War on Terror“ bzw. „War on Terrorism“20 der ehemaligen US-Regierung unter George W. Bush21 wurde dahingehend aus gutem Grund kritisiert eine Strategie bekriegen zu wollen sei unsinnig (vgl. z.B. Burke 2004: 49).22 Auch mit Blick auf den „urbanen“ Guerillakampf mit seinen fünf Stadien (Stadium der gewalttätigen Propaganda, des organisatorischen Ausbaus, der Offensive, der Mobilisierung der Massen und des urbanen Aufstands) (vgl. Jenkins 1971) lässt sich Terrorismus als eine Strategie innerhalb der Guerillakriegsführung verstehen.23
Terrorismus als Strategie zu betrachten bedeutet allerdings eine stark instrumentelle Sichtweise, gegen die sich u.a. Jerold M. Post wendet, da sie die individuellen psychologischen Gründe und Dispositionen der Täter weitgehend ausblende (vgl. Post 1998). Dies ist freilich zu vernachlässigen, wenn es primär um die Begriffsbestimmung geht. Posts Einwand verweist aber auf einen relevanten Punkt, der für das Terrorismuserzählen vor allem im Spielfilm von großer Bedeutung ist: die Frage der seelischen und geistigen Verfasstheit von Terroristen. Sie ist deshalb von Belang, weil über sie die Provokation, die Terrorismus darstellt bzw. die Dissonanz, die er hervorruft, narrativ behandelt wird durchaus auch in therapeutischem Sinne. Auf die Frage nach der Täterpsychologie geht das folgende Unterkapitel ein.
20 „CIA & The War on Terrorism“ ist z.B. noch ein Unterpunkt auf der CIA-Website in der Rubrik „News & Information“ https://www.cia.gov/news-information/cia-the-war-on-terrorism/index.html (letzter Zugriff: 21.06.2015). 21 Nach der Amtsübernahme durch Präsident Obama wurde der Begriff „War on Terror“ von der USAdministration nicht mehr verwendet (vgl. u.a. Reuters 2009). 22 Argumente bzw. realpolitische Vorteile für das Verständnis der Bekämpfung des aktuellen internationalen oder transnationalen Terrorismus als „Krieg“ bietet dagegen Bobbitt (2008), für die Begriffsdefinition sind diese jedoch unerheblich. 23 Ansonsten zielt der Guerillakampf eher klassisch militärisch auf die Eroberung und Verteidigung von Territorien ab (vgl. dazu u.a. Schneckener 2006: 36 ff.; Hoffman 2006: 72). Freilich versuchten sozialrevolutionäre Terroristen (z.B. über die Bezeichnung „Stadtguerilla“ vgl. Laqueur 1976: XI), sich in eine bestimmte, historisch legitimere und erfolgreiche Tradition zu stellen (der des linken „Befreiungskampfs“ in Mittel- und Südamerika). Letztlich überschneiden sich die Kategorien, z.B. bei etablierten terroristischen Gruppen wie der LTTE in Sri Lanka oder der libanesischen Hisbollah (vgl. Hoffman 2006: 73).
1.6 Personalisierung, Psychologisierung und Individualisierung
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1.6 Personalisierung, Psychologisierung und Individualisierung
Die Suche nach Erklärungen von Terroristen, die Fragen nach ihren biografischen Hintergründen, den äußeren Bedingungen oder psychologischen Prädispositionen und Handlungsmotiven sind im Rahmen dieser Arbeit weniger wegen der (dürftigen) vorliegenden Erkenntnisse selbst interessant, sondern weil sie als Ausdruck für das starke kollektive Bedürfnis zu werten sind, Terrorismus sowohl intelligibel zu machen als auch ihn emotional einzuordnen, damit zumindest in der individuellen Vorstellung und der gesellschaftlichen Kommunikation zu kontrollieren und zu beherrschen, etwa durch Ausschluss. Terrorismus ist nicht nur „Provokation der Macht“ (Waldmann 2005), sondern auch „Irritation der Ordnung“ (vgl. Hitzler und Reichertz 2003) eine krisenhafte Herausforderung des integrativen Kollektivs, seiner Werte und Normen, die sich mit einer moralischen Dissonanz konfrontiert sieht. Denn so illegitim Terroristen qua Selbstermächtigung und Grausamkeit agieren, so rechtmäßig, vorbildlich, gar womöglich „heldenhaft“ erscheinen sie, appellieren zumindest an die Sympathie, wenn es um Faktoren wie Aufbegehren und Idealismus geht, die stets (zumindest potenziell) das Motiv der selbstlosen Aufopferung für ein höheres allgemein akzeptiertes Gut und gegen Missstände wie Unrecht und Unterdrückung aus einer Unterlegenheitsposition heraus begleiten. Das grundlegende neuzeitliche Dilemma um die Ethik der Gewalt und ihrer Anwendung findet sich hier wieder jenes der Grenzziehung und -definition zwischen inakzeptabler Aggression und gebotener Selbstbehauptung (wenn nicht gar -verteidigung) oder dem Schutz und der Rettung von Hilflosen, Leidenden, Stimmlosen, vielleicht gar von physischer und psychischer Vernichtung Bedrohter. Dieser Widerstreit bringt uns in die Notlage, zwischen moralischem (und eben auch: kulturell-ideologischem) Absolutismus und Relativismus einen Standpunkt suchen und finden zu müssen, zwischen rigoros dogmatischem Universalanspruch samt Totalitarismusgefahr (wie er schließlich auch die ideologischen Terroristen kennzeichnet) und der Bedrohung „(...) to intellectual certainties, on the one hand, and to moral seriousness, on the other“ (Lukes 2008: 1), also der Identitätsaufgabe, Selbstverleugnung und Kapitulation vor den Gewalttätern, was andere ermutigen könnte, es ihnen gleichzutun.
Wenig verwundert daher das große Interesse nicht nur der Terrorismusbekämpfung oder der Präventionspolitik an den extremen Persönlichkeiten der Täter, deren Psyche, Motive und Motivationen, über die oder in der die generelle Ordnungsstörung aufs Individuelle heruntergebrochen werden. Eine schier unüberschaubare Zahl an Texten unterschiedlichster Gattungen, von Autobiografien und Lebenslaufanalysen bis zu psychiatrischen Untersuchungen, Studien zur Gruppendynamik und Aspekten wie dem des (biologischen wie kulturell-gesell-
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1 Terrorismus
schaftlichen) Geschlechts sind das Resultat.24 Die „menschliche“ Neugier am Terroristen findet sich analog im Kino, das sei es Faszination, sei es wohliger Schauer mit und über die Täter entsprechend dramatische Figuren findet, als tragische Gestalten oder sinistere Schurken. Hinzukommt, dass Spielfilme in erster Linie von einzelnen Figuren und ihrem Tun handeln, ihre Aktionen, Reaktionen und Interaktion audiovisuell präsentieren, und auch die Kausalitäten der Handlungen bevorzugt daraus ableiten. Dem gegenüber steht die Schwierigkeit, abstraktere soziale, politische und historische Zusammenhänge, Kräfte, Verhältnisse und Strukturen darzustellen. Auch hier setzt das Erzählkino mit seinem Hang zum Darstellerisch-Konkreten vor allem auf (reduzierende) Personalisierung und ein entsprechendes „Storytelling“ etwas, das auch im Journalismus verstärkt zu finden und dort kritisiert wird, so wenn Renner (2008: 7 f.) von einer „Personalisierungsfalle“ spricht.25
Was aber macht nun einen Terroristen und was macht ihn aus? Versuche, Terrorismus auf Eigenschaften und Konstitutionen des Einzelnen analog einer Bestimmung des Verbrecherwesens und seiner Determinanten zurückzuführen, gab es früh, doch bei aller Erklärungsarbeit, die spezifische Persönlichkeiten, Eigenschaften, Syndrome oder sonstige soziale oder kulturelle Defizite und Profile zu identifizieren sucht, besteht Einigung einzig darin, dass Terrorismus keine geistige Krankheit zugrunde liegt (vgl. Bouhana und Wikström 2008: 16).
Verschiedene Perspektiven und Vorstellungen, mithin Erklärungsangebote unterschiedlicher Reichweite und Erfassungsbreite lassen sich unterscheiden: Neben multikausalen Konzepten sind folgende Einzelansätze auszumachen:26 Der politische Ansatz sucht nicht im Individuum, sondern im geformten Umfeld und darin herrschenden Weltvorstellungen den Ausgangspunkt für Terrorismus (der Terrorist als Produkt seiner Umwelt bzw. eines Milieus, die auch ökonomisch geprägt sind). Auf einer tiefer gelagerten Ebene lässt sich gemäß dem Organisationsansatz Terrorismus über die terroristische Gruppierung, ihre Rationalität, Dynamiken, Funktionen, Strukturen, Angebote und Zwänge erklären. Schließlich suchen der physiologische (neurobiologische) und der psychologische Ansatz Gründe und Ursachen für die Entstehung von Terrorismus im Ein-
24 Zur Biografie von Terroristen s. beispielsweise Lützinger (2010), Waldmann (1993) oder Band 2 der vom deutschen Bundesminister des Inneren zwischen 1981 und 1984 herausgegebenen Analysen zum Terrorismus, der sich eingehend mit den deutschen Linksterroristen und ihren Lebensläufen befasst (Jäger et al. 1981). Zur Psychologie siehe etwa der Überblicksartikel von Crenshaw (2000) oder die Textsammlung von Reich (1998) und von Victoroff und Kruglanski (2009), zum Thema Gender McDonald (1993), Sjoberg und Gentry (2011). 25 Näheres zur Filmfigur in 2.3.3. 26 Vgl. im Folgenden Hudson (1999: 15 ff.) u. Bouhana und Wikström (2008: 16 ff.).
1.6 Personalisierung, Psychologisierung und Individualisierung
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zelnen, wobei ähnliche Lebensläufe und mehr noch „seelische“ Dispositionen indikativ und ausschlaggebend sind.
In letzterem Fall wird Terrorismus u.a. auf Frustration zurückgeführt, die zur Gewalt führt (Frustrations-Aggressions-Hypothese), oder auf eine narzisstische Störung, aufgrund derer die negativen bzw. unerwünschten Seiten der Persönlichkeit nicht integriert, sondern abgespalten und auf andere projiziert („externalisiert“) werden (vgl. Post 1998: 26 f.). Für Post sind „(...) political terrorists (...) driven to commit acts of violence as a consequence of psychological forces“ (ebd.: 25), wobei sie über ihre Psycho-Logik ihre Taten rationalisieren. Nach Martha Crenshaws (1998) strategischem (bzw. organisatorischem) Ansatz mögen hingegen Terroristen (möglicherweise mit taktischen Hintergedanken) irrational erscheinen, tatsächlich aber liege ein rationales strategisches und politisches Kalkül der Gewalt zugrunde, selbst wenn dies das Phänomen Terrorismus in Gänze nicht restlos erkläre.
Dass es „die“ terroristische Persönlichkeit nicht gibt, liegt nun neben unterschiedlichen Aufgaben und hierarchischen Positionen innerhalb von Terrororganisationen nicht zuletzt daran, dass es „den“ Terrorismus auch in Hinblick auf die Art des Ziels, die Form der Bewegung, die kulturelle und historische Situation nicht gibt. Sozialrevolutionärer Extremismus weist andere Dynamiken auf als eine national-separatistisch orientierte Bewegung. Hinzu kommen Unterschiede etwa in der sozialen Herkunft der Terroristen: Zwei Drittel der linksrevolutionären Terroristen der 1970er in Deutschland entstammte der Mittel- und Oberschicht (so rekrutierten sich achtzig Prozent der RAF-Mitglieder aus dem universitären Umfeld), wohingegen Mitglieder der großen paramilitärischen und Guerilla-Gruppen wie der LTTE oder der beiden Lager im Nordirlandkonflikt sich vor allem aus der Arbeiterklasse rekrutierten. Arabische terroristische Organisationen wiederum weisen eine hohe Zahl an Personen der Unterschicht auf (oft Arme und Heimatlose), derweil die Führungsriege fast ausschließlich der Mittel- und Oberschicht entstammt (vgl. Hudson 1999: 49 f.). Daraus resultieren auch divergente Angebote an Story- und Figurenmaterial für das Spielfilmerzählen.
Unabhängig von sozialer Herkunft, biografischer Erfahrung, Habitualisierung, Sozialisierung und Persönlichkeitsmerkmalen ähneln sich die Prozesse und Wege der Radikalisierung und schließlich der Einstieg in den Extremismus (vgl. Richardson 2007: 304; Sageman 2004), etwa über entsprechende „Biotope“ wie Gefängnisse (vgl. Hannah et al. 2008), Koranschulen (Madrassas) oder Heimatmilieus mit Gewalttradition. Es lassen sich wiederkehrende Motive und Verheißungen (etwa der identitären Zugehörigkeit), die auf bestimmte soziale und politische Kontexte verweisen, ausmachen. So braucht laut Richardson Terrorismus dreierlei: „(...) ein entfremdetes Individuum, eine gutheißende Gemeinschaft und
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eine legitimierende Ideologie“ (Richardson 2007: 70). Dabei sind langfristige politische bzw. religiöse Ziele der „cause“ von unmittelbaren und individuelleren zu unterscheiden. Letztere sind „oft allen möglichen Terrorbewegungen gemeinsam“ (ebd. S. 113), jedoch:
Die meisten Terroristen motiviert (...) nicht der Wunsch oder die Erwartung, die von ihren Führern formulierten primären politischen Ziele zu erreichen, sondern vielmehr das Verlangen und die begründete Hoffnung auf Rache, Ruhm und Reaktion (ebd.: 126).
Diese drei „R“s verweisen auf die Erfahrung von Erniedrigung, aus persönlichen (z.B. durch Sicherheitskräfte) oder kollektiven Demütigungen, die den Wunsch nach Vergeltung entstehen lassen und die oft radikalisierender als das objektiv selbsterlebte Ausmaß der Missstände wirken. Die gesamte Populärkultur der Intifada sei z.B., so Richardson, durch Rachedurst durchdrungen; ebenso motivierten Satisfaktionsbegehren die Anschläge und Morde der IRA, beispielsweise nach dem „Bloody Sunday“ (s. 3.2.3.1). Auch al-Qaida begründet ihre Taten als Vergeltungsmaßnahmen, als Reaktionen auf Frevel und Kränkungen durch die USA und Israel (vgl. ebd.: 126 ff. u. 142 ff.). Neben dem individuellen Narzissmus kann mit Erich Fromm also von einem „Gruppennarzissmus“ (und dessen Kränkung) gesprochen werden; der einer Gruppe, die Absolutheitsantworten und Sicherheit, Identität, Werte, Vorbilder und Geborgenheit offeriert (vgl. Miller und Landau 2008: 108 ff.).
Das Motiv Ruhm ist eng mit der Rache verbunden: „(...) [D]en Nimbus von Ruhm, Größe und Prestige wollen Terroristen für sich und ihre Sache, um die Erniedrigungen wettzumachen, die sie ihrer Ansicht nach erlitten haben“ (Richardson 2007: 133). Auf nationaler und immer mehr auf internationaler bzw. globaler Ebene streben Führer nach Anerkennung, während es den Anhängern zumeist genügt, von ihrer Gemeinschaft verehrt zu werden (vgl. ebd.: 133 ff.). Palästinensische oder tamilische Selbstmordattentäter werden mit Ehren bedacht, z.B. mit Helden-Postern, auf denen sie wie Popstars gefeiert werden. Ehrenhaft ist es, für Allah zu sterben hier zeigt sich der Einfluss von Propaganda und Dogmatik auf das Individuum. Aber allein schon einer terroristischen Organisation anzugehören, kann, wie im Falle der IRA, einen Prestige- und Selbstwertzugewinn bedeuten, freilich auch konkrete soziale und ökonomische Vorteile.
Der dritte Punkt, Reaktion, hebt auf das Element der Provokation, das der „Propaganda der Tat“27 ab sei es, um einen „finalen“ Krieg zwischen den USA und der islamischen Welt anzuzetteln, den Kapitalismus in die Knie zu zwingen,
27 Für den Begriff der „Propaganda der Tat“ aus der anarchistischen Tradition um Johannes Most, Michail Bakunin und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, der noch heute überaus prägnant für einige Aspekte terroristischer Logik in manchen Konflikten ist, s. Elter (2008: 63 ff.).
1.6 Personalisierung, Psychologisierung und Individualisierung
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die Israelis aus dem Nahen Osten, die Briten aus Nordirland oder die HinduInder aus Kaschmir zu vertreiben. Dabei hegen Terroristen, was Wirkung und dementsprechend die eigene Bedeutung betrifft, Machtfantasien, die umso optimistischer ausfallen, je stärker sie von der Gesellschaft isoliert sind (vgl. ebd.: 138 ff.).
Wenn nun Terrorismus auf diese und ähnliche Weise erklärt wird, erfolgt das auf narrativisierende Weise. Entsprechend widmet sich das folgende Kapitel Erzählungen und Erzählen.
2 Erzählen und Erzählungen
Spielfilme können Erzählungen zum oder des Terrorismus hervorbringen oder bestehende, kursierende aufgreifen, sie in ihre eigene „Sprache“, ihre ästhetischen Ausdrucksmittel und (v.a. generischen) Dramaturgien übersetzen, sie dabei weitertragen, reinterpretieren, anreichern, mit neuen Schwerpunkten versehen, sie aber auch umkehren oder Gegen-Erzählungen präsentieren. Dabei ist Terrorismus hier zu verstehen als ein Thema (bzw. wird in dieser Arbeit als solches untersucht). Zum Unterschied zwischen Motiv, Stoff und Thema gilt:
Der Stoff ist an feststehende Namen und Ereignisse gebunden (...), während das Motiv mit seinen anonymen Personen und Gegebenheiten lediglich einen Handlungsansatz bezeichnet, der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt (Frenzel 1980: VI).
Themen hingegen sind „vom spezifisch Inhaltlichem, Situationsgebundenem abstrahiert“ (ebd.: VIII). „Um ein Motiv vom Thema abzuheben, bedarf es eines einschränkenden und präzisierenden Zusatzes: Nicht Freundschaft, aber Freundschaftsbeweis ist ein Motiv“ (ebd.). Themen können folglich als Einheiten impliziter Bedeutung identifiziert werden, im Sinne von „Problemen“, „Themen“ oder gedanklichen „Gegenständen“ (vgl. Bordwell 1989: 9).
2.1 Bedeutung, Elemente, Aspekte
Der Mensch als homo narrans, der narrative turn in den Wissenschaften: Ausgehend von der Literaturwissenschaft haben die Begriffe, Konzepte und Theoreme des Erzählens und der Erzählung (bzw. der wissenschaftlichen Beschäftigung damit) Karriere auch in anderen Disziplinen gemacht, von denen als für den Gegenstandsbereich dieser Arbeit mit als wichtigste die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Psychologie genannt sein sollen. Insofern als „anthropologische Universalie“ (Lahn und Meister 2008: 2) Erzählen allgegenwärtig ist, hat sich der Begriff der Erzählung vom v.a. literarischen, schriftlich fixierten Text (z.B. Roman) und seiner kommunikativen Situation immer weiter abgelöst, wurde unabhängig von der Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität (vgl. Ryan 2007: 26; Kuhn 2011: 69), auf anderen Medien und Aus-
B. Zywietz, Terrorismus im Spielfilm, DOI 10.1007/978-3-658-12161-7_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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2 Erzählen und Erzählungen
drucksformen von Kunst (vgl. Klassen 1999) und Kultur sowie ins Innere des Menschen insofern übertragen, als die kognitive Konstruktionsleistung in den Blick geriet sei es, was das Erschließen und Verstehen von Erzählungen betrifft, sei es, was eine generelle Weltmodellierung und Identitätsbildung anbelangt.28 Letzteres wiederum ist nicht nur als erkenntnis- und wissensmodaler individuell-mentaler Prozess zu verstehen, sondern auch als ein kollektiv-sozialer, der auf gemeinsamen Erzählungen aufbaut und sie zugleich (re-)produziert (vgl. Jacobs 2002: 206). Eine solche Aufbereitung von Zugehörigkeit und Gemeinschaft mitsamt ihren Ordnungsprinzipien ist nicht zuletzt Voraussetzung für die Anschlusskommunikation oder zur Aushandlung, Bestätigung und (Selbst-) Vermittlung von Werten, Zielen, Identitäten. Kurzum: Erzählungen sind ordnend und orientierend, integrativ, sinnstiftend (v.a. angesichts von Handlungen und Ereignissen) und somit realitätsbildend. Prominenter Wegbereiter dieses Makroebenen-Ansatzes des sozialen und kulturellen Erzählens ist Hayden White (u.a. 1991 [1973], 1991 [1978]). Unter Bezug auf Northrop Frye (1957) definiert er Geschichte nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas, „dass durch sprachliche Repräsentationsformen (Erzählstrukturen, die Wahl der Tropen figurativer Rede, also rhetorischer Mittel, wie Ironie, Metaphern, Metonymien etc.) und stilistische Entscheidungen (...)“ (Viehöver 2001: 180) im Prozess des emplotments (Narrativisierung bzw. Einsatz narrativer Frames) strukturiert wird.29 Dementsprechend vergleicht White die Arbeit des Historikers mit der eines Poeten:
Wenn der Historiker im Verlauf der Erzählung seine Geschichte mit der Handlungsstruktur einer Tragödie ausstattet, dann pflanzt er ihr eine bestimmte Erklärung ein; strukturiert er sie als Komödie, so setzt er damit eine andere „Erklärung“ (White 1991 [1973]: 21).
Solcherart ausgedehnte und umfassende Konzeptionen von Erzählung als „flexible tool“ (Mittell 2007: 156) mit ihrer Vielfalt an Perspektivierungen werfen jedoch die Frage auf, was genau unter Narration nun zu verstehen ist. Dementsprechend wurde „narrativity“ (mithin die Frage nach dem, was Erzählungen eignen und konstitutieren) „the central term (...) in postclassical narratology“
28 Vgl. dazu etwa Eder (2003) oder die Unterkapitel „Identität als Narration(sarbeit)“ und „Konstruktionsregeln für eine wohlgeformte Narration“ in Keupp et al. (2013 [1999]: 207 ff.; 229 ff.). Siehe dazu für den hier gebotenen Überblick u.a. Abbott (2009), Heinen (2009), Scheffel (2009), Nünning (2003). Generell sei auf die Publikationsreihe Narratologie: Contributions to Narrative Theory des Verlags Walter deGruyter (Berlin, New York) verwiesen. Eine Einführung in die Erzähltheorie kann darüber hinaus aufgrund der Breite des Felds und der Differenziertheit, allein was die Literaturwissenschaft anbelangt, hier nicht gegeben werden 29 Der Rückgriff auf literarische Gattungseinteilungen (z.B. Tragödie) als erzählerische Grundformen oder masterframes deutet dabei die Relevanz von Genres in dem hier vorliegenden Buch an.
2.1 Bedeutung, Elemente, Aspekte
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(Abbott 2009: 309; Herv. i. O.) dies nicht zuletzt angesichts von transgenerischen und transmedialen Ansätzen, „where words are no longer central to narration and where readers become viewers and even active participants“ (ebd.). Folge ist etwa ein Verständnis von Narrativität weniger im kategorialen denn im graduellen Sinne (vgl. ebd.: 310 f.).
Bei allen poststrukturalistischen und postmodernen Einwänden und Erweiterungen hinsichtlich (Inter-)Textualität oder (Mit-)Autorenschaft (des Lesers, der Ideologie) handelte es sich bei den meisten untersuchten Erzählungen allerdings um weitgehend stabile, relativ fest umgrenzte und manifeste Textphänomene wie literarische Werke, Computerspiele oder eben Spielfilme. Auch was diskursive, soziale oder „Wirklichkeitkeitserzählungen“ (Klein und Martínez 2009) anbelangt, befassen sich Forschende oft mit konkreten schriftlichen (z.B. Gerichtsprotokolle, Zeitungsartikel, Historiografien) oder mündlichen Texten (Äußerungen aus Interviews und Befragungen). Herausforderungsreicher dagegen gerät die abstraktere Vorstellung von Erzählungen als etwas, das sich zwar in einzelnen, distinkten „Mediatisierungen“ niederschlägt oder aktualisiert, das sich jedoch ebenso wenig (etwa kanonisch) darauf beschränkt wie sich die Konkretationen nicht in der Präsentation oder Repräsentation der Narrative erschöpfen. Solche Narrative flottieren und zirkulieren frei, werden immer wieder neu und anders (wie ein Musikstück) interpretiert und zum Ausdruck gebracht.30 Derart abstrakte Kollektiv(meta)erzählungen können u.a. (spezifiziert) „Mythen“ genannt werden31; im Folgenden belasse ich es bei dem Allgemeinbegriff „Erzählung“ bzw. Narrative (gegenüber dem der, etwa filmischen, Narration im Sinne eines realisierenden, handlungs- und prozessbezogenen „Erzählten“). Näher mit derlei Narrativen befasst sich Unterkapitel 2.2, wichtig hier ist, dass ein Erzählbegriff, der relativ konkrete Erzählungen (z.B. Spielfilme) samt u.a. ihren fiktionalen Welten (Diegesen) mit solchen abstrakten zusammendenkt, sich für eine Begriffsbestimmung (oder eben der narrativity) an letzteren, weil unspezifischeren zu orientieren hat.
Weniger relevant sind daher klassische formale Elemente und Aspekte, die abstrakte Narrative nicht, nur bedingt oder bloß metaphorisch aufweisen (bzw. zugesprochen bekommen). Beispiele hierfür sind Organisationformen von Zeit, etwa das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, oder die Erzählper-
30 Alternativ lassen sich diese Erzählungen als (Schnittmengen-)Ergebnisse der Gesamtheit der einzelnen konkreten Texte konzipieren sowie eine komplexe dynamisch-relationale Kombination beider Vorstellungen; die Frage ähnelt jener zum Verhältnis zwischen Plot und Story (s. 2.1.1), übersteigt jedoch den Rahmen dieses Buches. 31 Dabei kann der moderne Begriff des „Mythos“ (prominent etwa von Barthes 1964 verwendet) selbst wiederum Unterschiedliches bezeichnen; verwiesen sei hier lediglich auf Baumann (2012: 31 ff.), deren Mythos-Begriff in Kap. 4 eine Rolle spielt.
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2 Erzählen und Erzählungen
spektive (vgl. Niederhoff 2009), die mit Blick auf Eigen- und Fremd-Rollen- und -Positionsunterscheidungen zwar hier wie da eminent sind, für Romane oder Filme in ihrem showing und telling jedoch weit differenzierter modelliert werden. Zentraler hingegen sind (auch unter Berücksichtigung der kollektiven, sozialen, kulturellen und politischen narrativen Wahrnehmungsmodalität und sinngebenden Wirklichkeitskonstruktion) folgende strukturelle und funktionale Elemente in ihrem Zusammenspiel:
 eine (kategorisierende, identifizierende) kohärente,  überwiegend kausal verknüpfte  Ereignis- und Handlungskette oder -situation mit  handelnden Entitäten (v.a. Einzel-, aber auch Kollektiv-Akteuren sowie bis-
weilen abstrakten Kräften: „der Islamismus“, „der Kolonialismus“).
Wichtig speziell für das Thema Terrorismus ist dabei, dass zwischen den Akteuren ein antagonistisches Verhältnis (v.a. hinsichtlich des Handlungsziels) besteht (Konflikt). Als Instrument der Analyse, das zugleich quasi Bindeglied zwischen konkreten (Filmen) und abstrakten Erzählungen (Narrativen) darstellt, können Schemata oder Frames (Deutungsrahmen) dienen (vgl. Viehöver 2001: 188 ff. s. 2.2). Ehe ich nun zu Terrorismusnarrativen komme, sei hier sehr kurz auf zwei generell für Narrationen und besonders für den Terrorismusfilm und seine Diskussion wichtige Unterscheidungspunkte eingegangen.
2.1.1 Story und Plot
Die grundlegende Geschichte (der Geschehenszusammenhang), die von der erzählenden Instanz vermittelt wird, kann als fabel, story oder histoire bezeichnet werden, derweil sujet, plot oder discourse die jeweilige erzählerische Ausgestaltung (in Auswahl, Anordnung und Organisation) darstellt (vgl. u.a. Martinez und Scheffel 2002: 22 ff.). Für den Film unterscheidet Eder Sujet und Fabula:
Mit der Fabula ist die Geschichte des Films gemeint, die kausalchronologisch geordnete Folge dargestellter Ereignisse, die ein Zuschauer im Filmverlauf rekonstruieren kann (...). „Sujet“ bezeichnet die Abfolge der Ereignisse, wie sie in einer bestimmten Auswahl und Anordnung im Film vorliegt (...) (Eder 2009 [1999]: 12).32
32 Hickethier gibt allerdings zu bedenken, dass „(...) im deutschen Sprachgebrauch Sujet in der Regel anders, im Sinne des Themas oder des Gegenstands verwendet wird“ (Hickethier 2001: 113).
2.1 Bedeutung, Elemente, Aspekte
49
Die zentrale Bedeutung von Dramaturgie in Sachen populärer Spielfilm ist für Eder wiederum der Aufbau des (filmischen) Textes, also die „strukturelle Eigenschaft von Erzählungen“ (ebd.: 11). In der Vielfalt der Begriffe sollen im Folgenden für das filmische Erzählen von der Story (im Sinne der Fabel oder Fabula) und dem Plot (als dem Sujet) gesprochen werden.
Die Unterscheidung von Story und Plot kennzeichnet und begründet nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an Erzählungen, Erzähltes und etwa stilistisches Erzählen, so wenn sich Kuhn (2011) mit der Darbietung der Erzählung, dem filmischen Erzählen und seinen u.a. formalen Mitteln widmet, damit quasi der Oberfläche, von der aus man auf die abstraktere, eher strukturalistische Schicht der histoire oder der Story Zugriff erhält. Die Unterscheidung Story-Plot verweist auch darauf, dass dieselbe Geschichte unterschiedlich erzählt werden kann, etwa durch Auslassungen (Ellipsen) oder dem Aufbrechen der Chronologie des Geschehens qua (Um-)Arrangement von Szenen (etwa durch eingeschobene Rückblenden). Dies ist relevant für die Terrorismus-Spielfilmnarration und -rezeption, weil durch Hervorhebung oder Auslassung etwa des prägenden traumatischen Hintergrunds eines politischen Gewalttäters das (v.a. emotionale) Verhältnis des Publikums zu diesem stark beeinflusst werden kann. Generell wird zudem qua Unterscheidung Story und Plot der proaktive Status des Zuschauers deutlich, der die Story über die gegebenen Plot-Informationen rekonstruiert oder interpretiert. Mit Abbott (2007: 41) etwa lässt sich nun kritisch einwenden, dass die Story und mithin deren fiktionale Welt mit dieser Unterteilung als etwas konzipiert wird, das unabhängig von (bzw. „vor“) ihrer Darstellung existiert, obwohl das Erzählen den primären Zugang dazu darstellt, es folglich erst kreiert. Dies kann aus pragmatischer Sicht aber vernachlässigt werden, u.a. weil wir als Rezipienten eine solche eigenständige Erzählwelt gleichwohl imaginär erfahren oder andere Geschichte fiktive storyworlds erweitern können. Abbotts Einwand verweist aber auf eine andere relevante Leitdifferenz, die des fiktionalen und des non-fiktionalen Erzählens, insofern etwa Historiografien oder Reportagen sich stets auf vorgegebene, von ihnen unabhängige Ereignisse beziehen etwas das rein fiktionale Erzählungen zumindest potenziell nicht (in der Weise oder in diesem Maße) tun.
2.1.2 Fiktional und non-fiktional
Walsh bemerkt zwar: „(...) all narrative, fictional and nonfictional, is artifice: narratives are constructs, and their meanings are internal to the system of narrative“ (Walsh 2005: 151). Doch zugleich bestehen natürlich wesentliche (etwa politisch- oder religiös-praktische sowie epistemologische) Unterschiede zwi-
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2 Erzählen und Erzählungen
schen einer Story, die etwa von erdachten Figuren und Geschehnissen handelt, und dem Erzählen von (oder mit) historisch realen Personen und Ereignissen etwa weil ersteres generalisierte, gar universelle „Fälle“ präsentiert. Walsh selbst schlägt denn auch einen pragmatischen Ansatz vor, scheidet Fiktionalität von Narrativität, verweist auf die Sprechakttheorie und untermauert somit u.a. Arriens (1999), nach dem Spielfilme schlicht nicht „lügen“ oder täuschen können, insofern es ihnen am (illokutionären, also sprachlich-agierenden und vom Inhalt unabhängigen) Akt des Behauptens, faktische Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, fehlt.33 Inwieweit dies freilich für die Filmrezeption jeweils eine Rolle spielt, ist eine andere Frage.34 Über die Pragmatik oder das kommunikative bzw. rhetorische Handeln hinaus interessiert der Unterschied zwischen konkreter Filmfiktion und bestimmter „realer“ Narrative Historiker, Soziologen und Politologen. Sie widmen sich ihm nicht (oder nicht nur) aus theoretischen Gründen, sondern weil es ihnen darum geht, Spielfilme oder fiktionale Fernsehsendungen als pädagogisches Instrument einzusetzen.35 Filme sind zwar „(...) keine Protokolle der sozialen Wirklichkeit, enthalten keine unvermittelte Spur in die vorfilmische Wirklichkeit“ (Wulff o.J. [2003]), doch versorgen Kino und Fernsehen Zuschauer oftmals mit Details und historischen Fakten „(...) where they did not exist beforehand“ (Sorlin 1988: 3). Verschiedene Arten und Grade des Verwischens der Grenze zwischen Fakten und Fiktion lassen sich auf unterschiedlichsten Ebenen unterscheiden, z.B. auf der der Gattungen und Formate, etwa mit unterschiedlichen Hybridformen der Doku-Fiction im Fernsehen (vgl. Hißnauer 2011) oder auf der Rezeptionsseite mit ihren mentalen Operationen: Dort können Erdachtes und Reales auf unterschiedlichen Stufen der Imagination und Abstraktion (von konkreten Bildern bis allgemeineren Erzählstrukturen und Figurentypen) in der Erinnerung ineinanderfließen oder es wird die Welt der Fiktion mit der unseren, aktualen (bzw. dem Modell, das wir uns davon machen) gleichgesetzt, solange es keine gegenteiligen Hinweise dahingehend gibt Unbestimmtheitsstellen der Fiktion werden mit Alltagswissen und Annahmen über die Wirklichkeit (von gültigen Naturgesetzen bis zur Psychologie der Handelnden) aufgefüllt (principal of minimal departure vgl. Ryan 1991: 51).
33 Auch Plantinga (1997) macht den Unterschied zwischen erzählerischer Fiktion und Nicht-Fiktion an sozialen Funktionen sowie Zuschauerwartungen und Konventionen fest. 34 Wie dieser Sprechakt selbst formalästhetisch ausgewiesen sein kann, zeigen sogenannte Mockumentaries wie die fiktive TV-Liveberichterstattung Special Bulletin (USA 1983; Edward Zwick) über eine terroristische Atombomben-Erpressung in den USA. Derlei Filme spielen mit den Gattungskonventionen und ihren erzählerische Standards und Codes z. Β. von Nachrichtensendungen , die mit einer Wirklichkeitsbeziehung und entsprechenden Adressierung des Zuschauers assoziiert sind. 35 Siehe z.B. Engert und Spencer (2009), Carnes (2004), Davis (2003), Toplin (2003), Beavers (2002), Weinstein (2001), Dowd (1999), Rosenstone (1988).
2.1 Bedeutung, Elemente, Aspekte
51
Kurzum: Fiktionen mit ihrer „second-order relation to the real world“ (Walsh 2005: 150) bilden eine spezifische Untermenge von Erzählungen, wobei, wie narrativity, auch der Status fiktional oder non-fiktional weniger kategorisch als graduell ist. Dies ist nicht nur bedeutsam, weil Dokumentarfilme und Spielfilme wie Romane und Sachbücher theoretisch und methodenpraktisch von einer gemeinsamen Ausgangsbasis aus untersucht werden können (selbst wenn die Unterschiede immer noch erheblich und zu berücksichtigen sind), sondern auch weil umgekehrt innerhalb der Menge der Fiktionen (hier eben der des Spielfilms) sich gerade in Hinblick auf ihr Bezugsverhältnis zur vorfilmischen Wirklichkeit Einzelwerke voneinander differenzieren lassen.
So können sich Filme erkennbar und dezidiert (etwa vermittels Paratexten wie Titel, Texttafeln oder Begleitaussagen der Filmemacher) bei allen künstlerischen Freiheiten (Umänderungen, Ergänzungen) überlieferte Begebenheit und ihre Akteure nacherzählen und darstellen, z.B. das Geiseldrama von München in 21 Hours at Munich (USA 1976) oder die Jagd auf und Tötung von Osama bin Laden in Zero Dark Thirty (USA 2011).36 Sie können derlei verbürgte Ereignisse und Personen lediglich als Rahmen nutzen, um darin erfundene Geschichten und mit entsprechend fiktiven Figuren zu erzählen; lediglich den Konflikt als historisches Setting nutzen oder gänzlich frei und, ggf. hoch abstrakt, sich ihren eigenen Terrorismus „erfinden“ (etwa nebst eigener „Welt“ wie in der animierten Science-Fiction-Dystopie Jin-Roh [J 1999] über eine Untergrundgruppe, die mit Selbstmordattentaten gegen ein faschistisches Regime in Japan kämpft). All diese Fälle eignet aber das Vermögen, Auskunft darüber zu geben, was Terrorismus ist.
36 Gerade das Beispiel Zero Dark Thirty illustriert, wie brisant Wirklichkeitsbezug und Detailtreue werden können: Vor den US-Präsidentschaftswahlen 2012 kam es von Seiten der republikanischen Partei zu Vorwürfen, der Film mache Wahlwerbung für Amtsinhaber Barack Obama und seine Demokraten-Regierung; diese hätte den Filmemachern Zugang zu geheimen Informationen gewährt. Die konservative Stiftung Judical Watch (www.judicalwatch.org) veröffentlichte im August 2012 durch den Information of Freedom Act zugänglich gemachte Dokumente der CIA und des US-Verteidigungsministeriums, die keinen Geheimdienstverrat belegen, gleichwohl einen selten detaillierten Einblick in die (weitreichende) Unterstützung der Behörden für sowie den Austausch mit Regisseurin Kathryn Bigelow und Drehbuchautor Mark Boal bzw. deren Mitarbeitern gewähren. Dabei ging es u.a. um den Plan von bin Ladens Haus in Abbottabad. Die Dokumente finden sich online unter: https://de.scribd.com/collections/3784927/New-Bin-Laden-Movie-Docs (Zugriff: 12.05.2015); für eine Übersicht s. Judical Watch (2012).
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2 Erzählen und Erzählungen
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
„The narrative paradigm (...) can be considered a dialectical synthesis of two traditional strands in the history of rhetoric, the argumentative, persuasive theme and the literary, aesthetic theme“ (Fisher 1984: 2). Erzählen hat demnach nicht nur, was den Spielfilm betrifft, eine Komponente des unterhaltenden Kunstgenusses (der zugleich unter dem Gesichtspunkt des kognitiv-emotionalen Lernens, Übens u.Ä. zu betrachten ist), sondern auch eine der Wissens- und Erkenntnismodalität mit ganz praktischen sozialen und politischen Relevanz.
Generell ist Terrorismus als Abstraktum nichts, was man direkt selbst erlebt. Man kann durch die Bilder von einer entsprechend deklarierten Tat in der Zeitung oder im Fernsehen schockiert sein, sogar unmittelbarer Zeuge und sogar Opfer der Gewalt werden, doch „Terrorismus“ bleibt ein kategorisierender und sinnbildender Begriff: Die jeweilige Gewalt muss als Terrorismus (also gemäß den Kriterien, die Gewalt dazu machen) interpretiert und erzählt, also etwa über die Bildung einer Kausalitätsereigniskette und Figuren konstruiert werden. Das Framing (die Applikation von Frames) von Taten als besondere Form politischer Gewalt also das Framing als Terrorismus bedeutet eine Einbindung in das Geflecht oder Netzwerk aufeinander bezogener, sich überlagernder, mal ergänzender, besonders aber widerstreitender Erzählungen. Terrorismus ist Form und Ausdruck eines Eroberungs- und Besetzungswettkampfs um und mit konkurrierenden narrativen Rahmungen und rhetorischen Statements (vgl. Heath und OHair 2008: 33), selbst mithin selbstreferenziell, eine Erzählung zweiten Grades, und Terrorismusakte nach Bowen (2005: 66 ff.) unter massenmedientheoretischen Gesichtspunkten denn auch „Pseudoereignisse“.
Frames sind in diesem Zusammenhang „attached to issues through communicators information selection, names and labels, adjectives and verb choices, inflection, and semiotics, in a complex collage of communication regarding an issue“ (Bowen 2008: 342).37 Anders als bei Viehöver, der Frames als „Elemente einer Narration“ (Viehöver 2001: 189) bezeichnet, seien sie hier eher als narrative Grundmuster oder „Schablonen“ aufgefasst, wobei auf einer übergeordneten Stufe Narrativisierung oder emplotments selbst als Form des Framings begreifbar ist. Wiederum in Einklang mit Viehöver lässt sich festhalten, dass die Konzepte Frames und Narrationen eine Reihe von Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. ebd.),
37 Generell zum v.a. medienwissenschaftlichen Begriff des und der Wirkungs- und Wesenskonzeption von Frames s. u.a. Entman (1991), Dahinden (2006), Potthoff (2012). Nach Potthoff öffnet der Framing-Ansatz „den Blick dafür, dass Medienangebote (und evtl. auch andere Texte) ganze Netzwerke bedeutungstragender Einheiten enthalten, die gemeinsam einen Bedeutungshorizont konstituieren“ (Potthoff 2012: 22).
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
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allerdings nicht nur was die Interpretation von Diskursen anbelangt: „Beide Modelle gehen davon aus, daß die Einheit der Botschaft durch die Form und die Bildung von Relationen zwischen Elementen strukturiert wird“ (ebd.); narrative Strukturen wie Frames sind „für die Prozesse der Bedeutungskonstitution ebenso wichtig wie für die (...) Rekonstruktion“ der „Sinn-“ und „Wertestrukturen“ (ebd.). Die handlungskommunikativen oder quasi ins Werk gesetzten Frames (in Abgrenzung zu dem nahen, aber eher kognitiven, rezeptionsfokussierenden Schema) nehmen demnach eine funktionale Zwischen- und Transitposition zwischen Narrativen und Narrationen ein. Sie stiften und vermitteln Handlungen, Ereignissen, Kausalitäten und Akteuren Kontext, Position und Bedeutung auf Basis allgemeingültiger Grunderzählungen. Andersherum kann Erzählen als Form thematischen Framings betrachtet werden, als sinngenerierende, (re-)strukturiende, gewichtende Einfassung (vgl. u.a. Prince 1992: 19). Dabei muss, auf die Ebene von Diskursen bezogen, nicht jeder Frame notgedrungen selbst erzählerisch sein, zumindest nicht im engeren Sinne. Ansonsten sei noch einmal an Hayden White erinnert, der Geschichtsschreibung etwa auf ihre quasi generischen Framings (eben die Anwendung und mithin Weiterverbreitung bzw. Stabilisierung etablierter narrativer Schablonen oder Raster) hin untersucht.
Zahlreiche Untersuchungen haben Frames und Framing der Berichterstattung über Krieg und Terrorismus (u.a. im Medien- oder Ländervergleich) herausgearbeitet.38 Als maßgebliche interpretatorische Narrativschablone dient vor allem der „David-gegen-Goliath“-Rahmen Terroristen dazu, den Kampf aus ihrer Sicht und in ihrem Sinne zu beschreiben und sich und ihre Gegner darin zu situieren. Dieser Frame definiert gemeinhin, vom Nahostkonflikt über die Black Panther Party Ende der 1960er-Jahre bis zur Konfrontation von Umweltaktivisten und Ölfirmen, einen konfrontativen Konflikt als einen asymmetrischen, der zugunsten des kräftemäßig Unterlegenen entschieden wird, dabei den Stärkeren als Aggressor bzw. Unterdrücker kennzeichnet, den Schwächeren als Selbstverteidiger, folglich positive und negative Rollen den Akteuren zuweist (vgl. Dahinden 2006: 14 ff.; Gatchet und Cloud 2013). Der „David-gegen-Goliath“Frame impliziert über die Ereignis- und Handlungsdramaturgie einen durch die Vergangenheit bestätigten und auf die Zukunft projizierten Ausgang des Konflikts inklusive einer lehrhaften „Moral“: Eigenschaften wie Intelligenz, Kreativität, Flexibilität gleichen Unterlegenheit aus, verhelfen zum Sieg über militärische, ökonomische oder politische Übermacht und führen zur Verbesserung der Situation (vgl. Dahinden 2006: 15) Leitidee terroristischen Handelns.
38 Siehe etwa Famy (2010), Papacharissi und Oliveira (2008), Ruigrok und van Atteveldt (2007). Für eine Überblickseinführung und die Bedeutung des Framing-Konzepts für soziale Bewegungen und ihre Erforschung siehe Benford und Snow (2000).
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2 Erzählen und Erzählungen
2.2.1 Typen von Terrorismus Erzählungen
Neben dem Framing bzw. Erzählen- von Gewalt als Terrorismus lassen sich Er-
zählungen von Terroristen sowie von ihren Gegnern unterscheiden. Viehöver (2001: 183ff.; 2012: 74 ff.) differenziert mit Somers (1994: 618
ff.) nicht strikt zu trennende Typen sich aufeinander beziehender, sich überlagernder oder ineinander geschachtelter Erzählungen: (Sozial-)Ontologische Narrative, die Identitäten in Relation zu anderen Akteuren und einen Platz in (und anderen: außerhalb) einer Gemeinschaft zuweisen, Öffentliche Erzählungen, die sich „auf größere soziale Einheiten und Gebilde beziehen“ (Viehöver 2012:76) wie die Familie, Kirche, Bewegungen und Institutionen (etwa: die Nation), Meta-Narrative als zentrale religiöse wie säkulare Großerzählungen mit Gegensatzoder Konflikt-Plots („Kampf der Kulturen“, „Kapitalismus vs. Kommunismus“) sowie Konzeptuelle Narrative. Letzteres sind wie Meta-Narrative übergeordnete Erklärungsmodelle mit weitreichendem Deutungsanspruch, jedoch wissenschaftlicher Couleur (etwa soziologische oder psychologische Paradigmen, Theorien und Konzepte).
Eine ähnliche Unterscheidung sei nachfolgend speziell auf Terrorismus hin vorgeschlagen, wobei auch hierfür gilt, dass Akteure und Akteursnetzwerke eine Arena oder einen sozialen Raum brauchen, in dem sie als legitime Sprecher auftreten und ihre Erzählungen ggf. in Koalition mit anderen gegen konkurrierende zu etablieren und durchzusetzen trachten (vgl. Viehöver 2001: 183).
Was die Narrative von Terroristen und ihrer Gegner anbelangt, lassen sich zunächst terroristische Gewaltakte selbst quasi als Sprechakte verstehen39: Mit ihnen soll neben illokutionärer Symbolhandlung (z.B. Demonstration der Stärke, Ausdrücken der Verzweiflung, die zur Gewalt greifen lässt) u.a. perlokutionär Aufmerksamkeit (für die eigene Lage, für Verfehlungen des Gegners) erzeugt, Regierungen herausgefordert bzw. provoziert, etwas demonstriert (Entschlossenheit, Fähigkeit, Wut, Verzweiflung), gewarnt, erpresst, mobilisiert werden. Neben der Tat als solcher, die für sich schon oder im allgemeinen Konfliktwissenskontext relativ aussagekräftig sein kann wie das Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo 2015, sind die Gewaltaktionen oftmals mit expliziter Begleitkommunikation (vgl. u.a. Heath und OHair 2008: 33 f.) wie Erpresserforderungen, Bekennerschreiben oder Videostatements versehen, die die Tat
39 Zur Theorie der Sprechakte vgl. u.a. Austin (2002 [1962]).
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
55
einordnen und ergänzen. Solche anlassbezogene oder demonstrative taktische Kommunikation von Terroristen verknüpft die Taten mit drei Arten von in zahllosen Formen, Formaten und Quellen zirkulierenden Erzählungen, die zwar ineinanderlaufen, mit denen sich jedoch Reichweiten und narrative Felder unterscheiden lassen.
Allem übergeordnet sind die historischen oder mythischen Großerzählungen, die die einer tiefgreifenden grievance, eines Missstands, einer Benachteiligung, Unterdrückung und Kränkung ist und den umfassenden geschichtlichen oder religiös-transzendentalen Bezugsrahmen bieten, in den sich alle weiteren Narrative einordnen. Diese Großerzählungen verweisen in die Vergangenheit, aber auch auf das Langfristziel der Terroristen, egal wie utopisch oder inkonkret dieses ist. Beispiele sind der Widerstand gegen den faschistischen Unrechtsstaat und die Wehr gegen den ausbeuterischen Imperialismus und Kapitalismus im Fall der RAF, die Befreiung und geeinigte Selbständigkeit der Nation Irland für die IRA40 oder das Postulat eines zeit- und kulturübergreifenden „kosmischen Krieges“ diverser religiöser Gruppen (vgl. Juergensmeyer 2004: 201 ff.): Für islamistische Dschihadisten sind ihre Aktionen eine Pflicht gegenüber Gott und Teil einer gerechten Abwehrschlacht und damit Reaktion auf die Repression, Ausbeutung, Verfolgung und Schmähung der Rechtgläubigen bzw. ihres Glaubens u.a. in Saudi-Arabien, im Sudan oder in Kaschmir wie im bzw. durch den „Westen“. Ziel ist die Installation einer Ordnung der Umma, die auf dem Recht der Scharia gründet, in der Tradition des Propheten Mohammed, dessen Schlacht sie u.a. gegen US-Präsident George W. Bush oder Barak Obama als neuen „Pharao“ weiterführen (vgl. Casebeer und Russel 2005; Musharbash 2006: 19 ff.). Aktuellere und zeitpolitische Entscheidungen wie eine Militärintervention gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien und Irak werden als konkreter Ausdruck dieses Gesamtkonflikts interpretiert und eingeordnet.
Wiederkehrende Grundmuster lassen sich in massiv ethisch grundierten Terroristen-Erzählungen entsprechend ausmachen, die sich aus den vier Ursachen für den Dschihadismus nach Leuprecht et al. (2009) ableiten und selbst wiederum auf Richardsons drei „R“ der Radikalisierung Rache, Ruhm und Reaktion (s. 1.6) verweisen: (1) sozio-ökonomische sowie (2) sozial-identitäre Marginalisierung, (3) Fanatismus und (4) politische Beeinträchtigungen (vgl. Leuprecht et al. 2009: 30).41 Diese (legitimatorischen) Gründe sind praktisch auf
40 So betont(e) die IRA rhetorisch „(...) the notion of 800 years of rebellion and the idea that every generation of Irish men and women has thrown up a valiant few who will not rest until the invader has been driven from the countrys shore“ (OBoyle 2002: 29). 41 Zur Bedeutung von sozialer (Un-)Gerechtigkeit für soziale Bewegungen siehe auch Tyler und Smith (1998).
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2 Erzählen und Erzählungen
alle Terrorismuskonflikte übertragbar bzw. werden von Terroristen für sich in Anspruch genommen. Zumindest die ersten drei „rationalen“ Gründe deklarieren Terroristen zu Opfern von Missständen und erklären ihre Gewalt zur Gegengewalt.42 Vertreten wird ein zirkuläres Verständnis des Konflikts und seiner Dramaturgie, die Vergangenheit und Zukunft verbindet. „Fanatismus“ lässt sich auch neutraler beschreiben als überzogene Hingabe an die mythische Großerzählung mit nach herrschenden Standards irrationalen oder unerfüllbaren idealistischen Ansprüchen, Begründungen Visionen und Zielen (der mythohistorische Essenzialismus von Volk und Nation; die „Weltrevolution“). Allerdings ist auch diese Großerzählung je als grievance-Narrativ zu verstehen. Generell macht der im Ansatz nachvollziehbare Verweis von Terroristen auf Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Benachteiligung u.Ä. so moralisch herausfordernd. Ein politund diskurspraktisches Problem ist folglich, Terrorismus mit vielleicht statthaften und nachvollziehbaren Anklagen und Ansprüchen, aber intolerablen, illegitimen Mitteln hinreichend abzusondern von breiten friedlichen sozialen und politischen Bewegungen, die sich mit den Gewalttätern zu einem gewissen Maß dieselben kollektiven Narrative als „crucial strategic resource“ (Jacob 2002: 206) teilen. Der jeweilige Plot solcher sozialen Erzählungen ist „[p]erhaps the most important feature (...), which refers to the selection, evaluation, and attribution of differential status to events“ (ebd.: 213) und damit u.a. geeignet, antagonistisches Potenzial der einzelnen Mitgliederidentitäten zu verdecken, also Anschlussfähigkeit und Geschlossenheit herzustellen und konkurrierende Narrative zu entwerten (vgl. Davis 2002).43
Unterhalb der Groß- bzw. Kollektiverzählungsebene finden sich spezifischere Gruppierungserzählungen oder corporate narratives (vgl. Heath et al. 2005: 145 ff.).44 Mit ihnen präsentieren sich einzelne Zusammenschlüsse (etwa in Abgrenzung zu anderen), analog wirtschaftlicher Unternehmen mit ihrer Marke, sie stilisieren und rechtfertigen sich als Avantgarde auch gegenüber gegnerischen Teilen einer Bewegung (so im Fall der RAF vgl. Smith, M.L.R. 1995: 10). Mit solchen Erzählungen berufen sich Gruppierungen auf historische Vorbilder und stellen sich und ihren Verbund in eine entsprechende Tradition, proklamieren Gemeinsamkeiten, Kameradschaft und allgemeine Solidarität mit
42 Auch in der differenzierteren Systematik der Gründe nach McCauley und Moskalenko (2008), die Leuprecht et al. (2009) präferieren, finden sich neben den antiterroristisch-narrativ „nützlichen“ Erklärungen diese Opfer-Motivationsmodelle. 43 So vertreten in Indien muslimische Zeitschriften die Ansicht, Muslime seien Opfer der terroristischen USA und „Zionisten“ (aufgrund der israelischen Grenz- und Siedlungspolitik) als den wahren Terroristen (vgl. Ahmad 2004). 44 Zur entsprechenden Bedeutung und Funktionsweise von „Storytelling“ für moderne Marken und Unternehmen s. auch Herbst 2008.
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
57
ähnlichen Gruppen. So etwa wenn freilich über die reine IRA-corporate-narrative hinausreichend Mauerbilder in der Belfaster Falls Road das Schicksal des irisch-republikanischen „Freiheitskampfes“ mit dem der PLO im Nahen Osten oder dem der ETA im Baskenland beschwören.
Neben dieser Makro- und Mesoebene schließlich finden sich auf der Mikroebene einzelne (ggf. eigene) Heldentaten, Märtyrer- und Opfergeschichten Individualerzählungen als die konkretesten und vielleicht emotionalisierendsten Arten der Erzählung bzw. des Erzählens. Diese werden allerdings gerne in corporate narratives integriert oder in solche überführt, etwa wenn Selbstmordattentäter im syrischen Bürgerkrieg als heroische Vorbilder verklärt (wie mit dem hagiografischen Propagandavideo des „Islamischen Staats“ über Abu Muslim alKanadi alias André Poulin) oder Hungerstreiktote in Nordirland (v.a. Bobby Sands) oder in Deutschland (Holger Meins) als Märtyrer individualisiert und zugleich als Teil der Gruppe oder Gemeinschaft herausgestellt werden.
Die hier beschriebenen Narrativkomplexe finden sich analog auch auf Seiten der Terrorismusgegner. Neben der Möglichkeit, „to starve terrorists and the hijacker of the oxygen of publicity on which they depend on“, wie es Margaret Thatcher, vielfach kolportiert, einforderte (Thatcher 1985)45, können von Terroristen Attackierte so aktiv antworten und dabei quasi spiegelbildlich kommunikativ dagegenhalten. Neben sicherheitspolitischen, polizeilichen oder militärischen Maßnahmen (etwa Vergeltungsschlägen) sollen „counter narratives“46 das Abdriften Entfremdeter oder Wütender in den Extremismus unabhängig von den tatsächlichen „root causes“ verhindern (vgl. Casebeer und Russel 2005), generell die eigene Lage im Land und die (symbolische) Ordnung wiederherstellen oder stabilisieren. Der Kampf um (Be-)Deutungen wird auch hier ein Kampf mit ebensolchen.47 Dieser begründet und laut Arnold ist es „vielleicht die wichtigste
45 Bowen (2005; 2008) sieht ebenso die Berichterstattung der Medien unvermeidlich pro-terroristisch, weil sie im Sinne des Agenda-Settings Terroristen und ihre Anliegen zum Gegenstand der öffentlichen Wahrnehmungen machen und den Gewalttätern damit zwangsläufig zuarbeiten würden. Entsprechend konsequent argumentiert sie für eine (Selbst-)Zensur der Medien. 46 Zu Konternarrativen allgemein sowie zu denen des aktuellen weltweiten Antiterrorismuskrieges s. Leuprecht et al. (2009), zu Reaktionen der bundesdeutschen Regierung auf den Terrorismus der RAF de Graaf (2009). 47 In dem Kontext sind die populären Hindi-Filme zum Thema Terrorismus (wie auch zu allgemeiner Radikalität) in ihrer „erzieherischen“ Funktion bemerkenswert (s. 6.4.2). Weil andererseits Beeinflussungsversuche kontraproduktiv sein können, da sie als eben solche gebrandmarkt und damit gegen den Konterredner gerichtet werden können, empfiehlt Cowley auch die vorsichtige Unterstützung von moderaten Muslimen (Crowley 2002: 44 f.): „The development of a counternarrative is primarily a challenge for Islam itself“ (ebd.: 44), wobei diese nicht in die Rolle des Kollaborateurs geraten dürften. Siehe dazu auch Ashour (2009).
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2 Erzählen und Erzählungen
Eigenschaft von Erzählungen (...) ihre Fähigkeit, etwas Gegebenes in etwas Begründbares zu verwandeln“ (Arnold 2012: 18) nicht nur die eigene Position, sondern identifiziert, definiert (und diffamiert) andere und ihre Rolle in der Geschichte; dies spiegelverkehrt zu den terroristischen Feinden, die hierbei zu den Aggressoren deklariert werden, die die Eskalation angefangen haben.
Neben den strategischen delegitimierenden, präventiven und deradikalisierenden Interpretationen von Terroraktionen werden die eigenen (attackierten48) ideologisch-historischen Selbstvorstellungen gestärkt und verteidigt, grand narratives ins Feld geführt und bekräftigt z.B. die Demokratie und westliche Freiheit oder die nationale Einheit Indiens (Hindustan). Diese Verteidigung selbst kann nach außen provozieren49 und nach innen diskursiv dominante Formen annehmen.50 Diskurs-Verstöße werden schnell als Schwächung der Verteidigungslinie, als Sympathisantentum oder gar Komplizenschaft aufgefasst, wie die Reaktionen auf Heinrich Bölls Äußerung zur RAF zeigen (s. 4.2). Bedenkliche (Über-)Reaktionen finden sich auch im Zuge des Charlie-Hebdo-Anschlags 2015 wie die Verhaftung des Polemikers Dieudonné Mbala Mbala oder das Verhör eines achtjährigen Schülers in Nizza, der sich weigerte, an einer Schweigeminute für die Opfer teilzunehmen.
Corporate narratives (des Staates, der Regierung, der Geheimdienste, des Militärs und seiner Spezialkräfte) finden sich auch auf dieser Seite der Konfliktfraktionen und Diskurskombatanten, die den eigenen Vorkämpfereinheiten Rolle, Ruhm und Relevanz zuschreiben (die heldenhaften Profis der GSG 9, die CIA als Beschützer der Bürger) und Ziele definieren. Dazu hier ebenfalls: individualisierende Erzählungen von Helden und Opfern von Terroristen; auch im Kino, z.B. in A Mighty Heart (USA 2007) die autobiografische Geschichte von Mariane Pearl, deren Ehemann Daniel 2002 in Pakistan entführt und enthauptet wurde.
48 So schreibt Bin Laden in seinen „Taktischen Empfehlungen“ (vermutlich vom Dezember 2002) zu den Anschlägen des 11. September: „Der Mythos der Demokratie ist eingestürzt! (...) Der Mythos vom Land der Freiheit ist eingestürzt! (...) Der Mythos von der CIA ist zerfallen! Gott sei Dank dafür!“ (zit. n. Kepel und Milelli 2006: 111). 49 „The main political and media discourses stress an epic struggle between (Western, democratic, modern) civilization and (jihadic, Muslim, primitive) barbarism a self-serving, hypocritical grand narrative that sees political violence as a monopoly of cultural/national Others whose modus operandi, mostly local attacks, contrasts with the institutional military actions of power governments launching long distance missile strikes and bombing raids“ (Boggs und Pollard 2007: 189). 50 Burney (2002) zeigt z.B. auf, wie sich in den USA nach dem 11. September 2001 das „hegemonic, state-oriented manufacturing of nationalism“ in einem großen semiotischen Spektrum (bildhaft, sprachlich, ikonisch, rituell) von der Erinnerungsarbeit, Werbung und Vermarktung in den Medien und in der Unterhaltungsindustrie erstreckt hat.
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
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Erzählungen von Seiten Dritter (hier zu verstehen besonders u.a. der Medien, der Kunst, betroffener oder neutraler Zivilisten) mögen nun mit Konternarrativen zusammenfließen, da es stets einen Grenzbereich gibt, in dem Politiker und Aktivisten, Bürger und Presse aufseiten der attackierten Ordnung konform gehen. Sie können aber auch eine kritische Gegenposition einnehmen und diese verteidigen. Dritte müssen nach ihren eigenen Möglichkeiten und Anforderungen (im Falle der Medien z.B. nach den Nachrichtenwerten51) entscheiden bisweilen tun sie es unbewusst oder automatisch , welches die für sie richtige Story des bzw. hinter dem Terrorismus ist, d.h., welchen Teil des narrativen Gewaltkreislaufs sie auf welche Art berücksichtigen oder ob sie beide Seiten kombinieren und miteinander vereinbaren. Sie können dafür auf eine höhere Erzählebene wechseln und untersuchende (oder eben mit Viehöver „konzeptionelle“, „analytische“, hier: Meta-)Erzählungen52 produzieren, akzeptieren und integrieren wie jene von der islamistischen Modernitätskrise als Hintergrund für den Dschihadismus bzw. dessen Deutung als anti- oder postkolonialistische Reaktion. Sie können den Gewaltzirkel narrativ aufbrechen oder sich auf „Nebenhandlungen“ konzentrieren: Hinsichtlich der RAF-Erzählungen im Alltag und der Literatur arbeitet Jennifer Clare beispielsweise mediale Standardnarrative heraus, die u.a. das Bild von Terroristen als Privatpersonen verbreiten, daraus (relativ unpolitische) Wahrheiten ableiten und historische Figuren kreieren (vgl. Clare 2010: 26). Zu diesen Individual- und Privaterzählungen gehören die Geschichten von RAFTerroristen als Eltern und dabei vor allem der Akt des Verlassens der Kinder (im Falle von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof). Der Blick von der politischen Agenda wird auf den persönlichen Charakter und die moralische Integrität gelenkt. Dabei kommen etwa etablierte Geschlechter-Zuschreibungen zum Tragen. Solcherlei Human-Interest-Storys manifestieren sich u.a. in Illustrierten und Magazinen oder Biografien, gegen die sich Terroristen mit autobiografischen Äußerungen eigen- und gegenpositionieren. Diese Erzählungen des Privaten bilden mit ihrem Aufmerksamkeitsfeld einen indirekten Kampfschauplatz außerhalb der offiziellen (ggf. bereits abgekühlten) politisch-ideologischen Arena. Wie Terroristen und der Staat bzw. die Regierung folgen Dritte dabei einer eigenen Agenda, eigenen Regeln und Bedürfnissen, orientieren sich jedoch dabei an vorgegebenen Formaten, grundlegenden Frames und Schemata und (re-) produzieren ein eigenes Wissen.53 Massenmedien sind damit zumindest nicht per se als
51 Zur Nachrichtenwert-Theorie der Medien vgl. Wilke (1984); Staab (1990). 52 Meta-Erzählungen sind zu verstehen als Erzählungen von oder über Erzählungen; sie behandeln distanzierter den Aspekt der Kommunikation und sind somit selbstreflexiv (vgl. Kaschner 2008: 167 f.). 53 Zum RAF-Terrorismus als Medienereignis 1977 schreibt Steinseifer beispielsweise: „Die Berichterstattung der Massenmedien findet bezogen auf konkrete unerwartete oder erwartbar relevante
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2 Erzählen und Erzählungen
passive Komplizen von Terroristen (oder des Staates) zu verstehen, sondern mit ihren Textsorten und Gattungen samt deren Ausdrucksmustern und unterschiedlichen kommunikativen Ansätzen, Logiken und Ethiken aktiv daran beteiligt, wie und als was Terrorismus dargestellt und (v)erklärt wird. Hier, in diesem Bereich der „Dritterzählungen“ lassen sich weitgehend Terrorismusspielfilme einsortieren. Unbenommen bleibt, dass es auch „propagandistische“ Fiktionen in jedwedem Medium gibt, die die offizielle reflektierende Position und ihre „Sprache“ teilen. Was dies konkret bedeutet, zeigt ein Blick auf die unterschiedlichen Rhetoriken im Diskurs- bzw. Erzählungskampf.
2.2.2 Terrorismus-Rhetoriken
Terrorismus als diskursiv-narrative Auseinandersetzung verschiedener Sprecherpositionen ist zweckhaftes Erzählen im Gebrauch sie ist rhetorischer Art und ebenso sind auch Erzählungen rhetorisch. Leeman beispielsweise betrachtet „Counterterrorism as Rhetorical Response“ (Leeman 1991: 17), wobei die „Redekunst“54 die narrative Weltsicht wiedergibt bzw. auf die Übernahme ihrer hinwirken soll. Die Rhetorik realisiert und präsentiert auf der discourse-Ebene das Framing einzelner Ereignisse, Gruppen, Akteure, Taten und (v.a. aktuelle) Situationen. Drei grundlegende Rhetoriken (Rhetorik-Postionen samt eingesetzten Mitteln) sollen hier vorgestellt werden, weil sie die erzählerische Oberflächenstruktur betreffen und für die Analyse von Filmen in Hinsicht auf die emotionale wie rationale Überzeugung(skraft) auch von Spielfilmen maßgeblich sind.
Die Rhetorik der Terroristen ist geprägt von einer dichotomen Weltsicht, die weitgehend nur Freunde oder Feinde kennt. Ihre Gewalt richtet sich gegen ein „unmenschliches“ System, den Staat oder andere monolithische Antagonisten („Imperialismus“). Deren Stellvertreter werden entsprechend entmenschlicht („Schweine“), müssen es gar: Nach Bandura (1998) ist Dehumanisierung einer der psychologischen Mechanismen des moral disengagement, der es erlaubt, die internalisierte Kontrolle auszuschalten, die Terroristen ansonsten davon abhalten
Anlässe statt sie hat eine diskontinuierliche Dynamik , geht aber darüber hinaus, indem sie neue Ereignisse mit bereits bekannten verbindet und dabei bestimmte Themen hervorhebt“ (Steinseifer 2006: 357). 54 Gemäß Knape „(...) geht es bei der Rhetorik um Operationen, Maßnahmen und Strukturen, die auf kommunikative Effektivität im Sinne einer ganz bestimmten kommunikativen Zielsetzung ausgerichtet sind, insbesondere auf Persuasion“ (Knape 2005: 124 f.). Chatman (1990: 184 f.) verweist darauf, dass mit „Rhetorik“ sowohl die pragmatische Anweisung („the use of verbal means“ [ebd.: 184]) und die allgemeinere Analyse (bzw.: „the study of such means“ [ebd., Herv. i. O.]) gemeint sein kann.
2.2 Terrorismus-Erzählungen und -Erzählen
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würde, selbst unmenschliche Taten zu begehen und damit in ihrer Selbstwahrnehmung zu Unmenschen zu werden. Auch die übrigen mentalen Schutzmechanismen und Positionierungen spiegeln sich in der terroristischen Rhetorik wider: Selbstlegitimierung und -erhöhung erfolgt, indem Terroristen z.B. in juristischer Terminologie Anklage erheben („Verbrechen des Staates“) oder eigene Aktionen beschönigen („Exekution“, „Volksgefängnis“ oder „-gericht“) bzw. mit militärischen Vokabeln einen „Kriegszustand“ beschwören („Feind“, „militärische Aktionen“, „Armee“), dadurch den Griff zur Waffe rechtfertigen, historisieren und glorifizieren. Übertreibungen, Superlative und emotionalisierende Metaphern, das Verweisen auf scheinbare Offensichtlichkeiten und „Beweise“ (Dogmatismus) sowie geschichtliche Aneignung und Selbstverortung sollen ermahnend wirken, potenzielle Unterstützer mitreißen und die Notwendigkeit und Gebotenheit des Handelns offenkundig machen. Neutralität kann es nicht (mehr) geben.
Quasi als Gegenwehr und Erwiderung kann die Gegenseite mit einer antioder konterterroristischen reflektierenden Rhetorik reagieren (vgl. Leeman 1991: 27 ff.), d. h. Argumentationsstruktur und Stil der Terroristen dialogisch aufgreifen und spiegelverkehrt zurückgeben: Politiker verfallen ebenso in bipolare Argumentationsformen, überhöhen die eigene Seite (den Staat, die Bevölkerung, ihre Werte), setzen Terroristen herab („sadistisch“, „feige“, „Barbaren“), lehnen Neutralität oder Zurückhaltung als inakzeptabel ab (vgl. ebd.: 80). Auch hier wird an Gefühle appelliert und vor allem Furcht, Abscheu und Ärger erzeugt, indem Macht und Zerstörungskraft der Terroristen überzogen dargestellt und damit schnelles Handeln und (Gegen-)Gewalt propagiert werden (vgl. ebd.: 71). Dieses antiterroristische Erzählen skizziert den tit-for-tat- bzw. Täter-OpferKreislauf gegenläufig bzw. setzt an anderer Stelle der Gewaltspirale an, bestimmt also Terroristen, bei aller grievance, als Angreifer und Aggressoren, bleibt aber ebenso dramaturgisch-zirkulär. Um Terroristen die Legitimität ihrer Forderungen und Mittel abzusprechen, wird deren Rollenselbstzuschreibung (Verzweifelter, Unterdrückter, Befreier, Selbstverteidiger, Gotteskrieger etc.) zumindest in Frage gestellt und ihre Zweck-Mittel-Rechtfertigung verworfen. Es werden ihnen (v.a. amoralische) illegitime Motive, fragwürdige Motivationen und unedle Eigenschaften zugeschrieben und der Vertretungsanspruch für die entrechtete Klientelgemeinschaft bestritten, wobei man sich dafür ebenfalls aus einem differenzierten Angebot an (z.B. individuell, gruppenspezifisch und gesamtöffentlich) erklärenden Radikalisierungsmechanismen oder -erklärungen bedient. Statt der „personal“ oder „group grievance“ wird etwa eine interne Selbstradikalisierung („slippery slope“), die Suche nach Gruppensicherheit, Status, Geld oder thrill kurzum Hass, Habgier, Verblendung, Unvernunft, Maßlo-
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2 Erzählen und Erzählungen
sigkeit, Irrationalität und Bosheit unterstellt (vgl. McCauley und Moskalenko 2008).55 Bei den Tendenzen der Pathologisierung (der Terrorist als Wahnhafter) oder Kriminalisierung (der Terrorist als Heuchler, der potenziell achtenswerte Ziele, Ansprüche, Glaubens- und Lebensweisen zur eigenen profanen Bereicherung missbraucht) kann in Anbetracht der hier vorgeschlagenen Definition von Terrorismus, die den ethischen und politischen Zielanspruch hinter der Gewalt zum maßgeblichen Charakteristikum macht, von Versuchen der Entterroristifizierung innerhalb des Diskurskonflikts Terrorismus (unter Beibehaltung des politischen Begriffs, der den Punkt der Ächtung selbst nicht reflektiert s. 1.1) gesprochen werden, die auch die moralische Dissonanz zwischen niederer Gewalt und höheren Zielen strategisch auflöst.
Die pluralistische, vermittelnde oder nicht-reflektierende demokratische Rhetorik (vgl. Leeman 1991: 91 ff.) lässt hingegen sprachlich Raum für Kompromisse und impliziert eine gemeinsame Verständigungsgrundlage. Im Sinne der demokratischen (Diskurs-)Ethik wird das Individuum mit seinen Positionen und (auch die zur eigenen Einstellung konträren) Ansichten akzeptiert und seine Anliegen bzw. Bedürfnisse ernst genommen, ebenso die politischen Ziele, selbst wenn die Mittel zu ihrer Verwirklichung (eben der Terrorismus) abzulehnen sind. Eine Dämonisierung von Terroristen verbietet sich damit; ihnen werden dieselben Rechte, Pflichten und Verantwortungen zugestanden wie allen anderen auch. Zusammen mit anderen Einstellungen wie dem Offenlegen der Entscheidungsfindung oder dem aufrichtigen Einsatz von statistischen Daten oder geschichtlichen Vergleichen werden keine verhärteten Fronten aufgebaut, sondern einer Eskalationsspirale entgegengewirkt und der zu verteidigende demokratische Prozess gestärkt, statt die Zielgruppe (das eigene Volk) populistisch und vor allem emotional überzeugen oder überreden zu wollen (vgl. ebd.: 91 ff.).
Leemans Untersuchung stammt von 1990, geht in den Fallstudien auf die Rhetoriken US-feindlicher Gruppen sowie den konterterroristischen wie demokratischen Antworten der Nixon- und Reagan-Administration ein (vgl. ebd.: 159 ff. u. S. 119). Doch auch Berberich (2007: 56 ff.) hat für den medialen Umgang mit Linksterrorismus in Deutschland analoge „Diskursstrategien“ aufgezeigt: Die (so von ihr benannte) konservative Linie (vgl. ebd.: 104 ff.) entspricht Leemans counterterrorist rhetoric (oder genauer: bedient sich ihrer auf einer diskursiven Ebene)56, die liberale Diskursstrategie (vgl. ebd.: 107 ff.) der demokratischen
55 Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass derartige Differenzierungen und Beschreibungen stets auch immer schon vorgefundene Erklärungen und Begründungen beschreiben können. 56 „So wurde seit Beginn der 1970er Jahre versucht, die Angehörigen der RAF sowie ihres Umfeldes in den Bereich des rein Kriminellen und mehr noch, in den des (Psycho-)Pathologischen zu verweisen, wofür die extensive Verwendung von Zuschreibungen wie wahnsinnig, tollwütig, die Be-
2.3 Spielfilm-Erzählen
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Rhetorik.57 Für diese Arbeit ist die Unterteilung verschiedener Rhetoriken vor allem deshalb interessant, weil sie sich auf unterschiedliche Genres übertragen lässt, in und mit denen Terrorismus im Film aufgegriffen, verwendet oder verhandelt wird.58
2.3 Spielfilm-Erzählen
Bei allen möglichen Unterschieden etwa hinsichtlich der verwendeten Zeichentypen (ikonisch, symbolisch, indexikalisch) und -systeme (Farbe, Gesten, Sprache, Musik etc.), den besonderen Wahrnehmungssituationen und Haltungen zum „Text“ (z.B. Fiktionalität statt intentional assertativem Gestus etwa von Reportagen oder Dokumentation) können Spielfilme zu übrigen Terrorismuserzählungen ins Verhältnis gesetzt werden.
Was das Erzählen des Spielfilms betrifft, so veröffentliche Markus Kuhn (2011) seine umfassende „Filmnarratologie“ als ein „erzähltheoretisches Analysemodell“ (so der Untertitel). Auf die Entwicklung einer Erzähltheorie des Films wird hier daher verzichtet, zumal angesichts des umfangreichen Filmkorpus, wie vor allem in Teil III dieser Arbeit vorgestellt, keine eingehende Erzählanalyse einzelner Werke vorgenommen werden kann und keine (v.a. Diskurs-)Narratologie des Terrorismusfilms mit dieser Arbeit angestrebt ist. Es werden in den folgenden Abschnitten lediglich einige Grundlagen filmischen Erzählens und Aspekte und Elemente filmnarrativer Vermittlung vorgestellt, weil sie explizit und implizit für weitere Untersuchungen eine Rolle spielen und auch über diese Arbeit hinaus für eigene Rezeption, Analysen und Interpretationen signifikant sind bzw. sein können. Zuvor sei jedoch auf den allgemeinen Nutzen oder Gebrauch spezifisch von Terrorismus-Spielfilmen eingegangen.
schreibung des Linksextremismus als Krankheitskeim etc. symptomatisch waren [sic]“ (Berberich 2007: 104). 57 Andere Beispiele für derartige „binäre“ Frames und Sprachregelungen bieten Ryan und Swizter (2005) im Rahmen des US-Militäreinsatzes in Afghanistan ab 2001. 58 Für Begriff und Analyse von Filmrhetorik s. generell u.a. Kanzog (2001).
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2 Erzählen und Erzählungen
2.3.1 Gesellschaftliche und individuelle Aufgaben und Funktionen von Terrorismus-Spielfilmen
Generell lassen sich Kunst und ihr ästhetischer Genuss auf entwicklungsgeschichtliche Aufgaben und Funktionen zurückführen: das Modellieren möglicher Beziehungen, mentales Training für zukünftige Ereignisse, Konstruktion von kollektiven Wertewelten, Spannungsausgleich oder das Elaborieren von Informationsverarbeitung (Intuitionsschulung, Schemabildung, Wahrnehmungs- und Beurteilungskoordination etc.) (vgl. u.a. Wulff 1999; Wuss 1999: 32 ff.). Fiktionale Erzählungen dienen als Simulationsmodelle der Realität, sind Übungseinheiten in Sachen Empathie und bieten Verständnis-, Abstraktions- und Alternativmodelle der sozialen Wirklichkeit, ihrer Strukturen und Regeln (vgl. Mar und Oatley 2008)59 dies vor allem auch, was Terrorismus betrifft, in ethischmoralischer Hinsicht. So üben Spielfilme speziell zum Thema Terrorismus nicht zuletzt deshalb einen Reiz aus, weil sie die bestehende, durch die Politgewalt „irritierte Ordnung“ (Hitzler und Reichertz 2003) bestätigen und die gemeinschaftliche Weltsicht stabilisieren helfen. Neben der quasi antizivilisatorischen terroristischen Bedrohung und Gewalt, die oft als Hauptstörungsaspekt des Terrorismus angeführt wird (Einsatz und v.a. Art der Gewalt für politische Zwecke), lassen sich weitere ideologisch-diskursive Zumutungen durch Terroristen ausmachen. Etwa, indem sie im Gestus des Heroischen postheroische Gesellschaften attackieren, für die Tod v.a. in Kriegen (nicht) mehr mit positiven Werten assoziiert ist, z.B. insofern die Vorstellung vom Opfer des Krieges und der Gewalt(herrschaft) (victima) das heldenhafte Opfern für König, Führer, Vaterland oder gar Gott (sacrificium) ersetzt hat.60 Terrorismus mit seinem konkreten Leibund Lebensinvestment kann als unmittelbarer, körperlicher, mutiger, damit männlicher präsentiert werden als etwa der aus der Ferne geführte, feige Einsatz von Kampfdronen.61 Die ideologische und ethische Rückversicherung bzw. Restabilisierung etwa duch Deheroisierung oder Irrationalisierung der Täter (vgl. Klimke und Lautmann 2003) in Spielfilmen kann um auf konkrete terroristi-
59 Konkret urteilt etwa Tania Puschnerat, Historikerin und Referatsleiterin im Bundesamt für Verfassungsschutz bezüglich islamistischer Radikalierungsprozesse: „Kaum eine wissenschaftliche Analyse beschreibt diese Gruppenprozesse präziser und anschaulicher als der vom britischen Fernsehsender Channel 4 produzierte und 2004 ausgestrahlte dokumentarische Spielfilm The Hamburg Cell (Puschnerat 2006: 222). 60 Vgl. dazu u.a. Münkler (2008: 176). Den Begriff des „Post-Heroischen“ wurde maßgeblich von Luttwak (1995) in diesem Themenrahmen eingeführt. 61 Vgl. zu diesem Thema u.a. Enemark (2014).
2.3 Spielfilm-Erzählen
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sche Gewalt zurückzukommen als Teilaspekt einer Art Heilung verstanden werden.
The idea, that violence and catastrophes hurt the soul in a way which does not or not easily heal, is maybe as old as human consciousness itself. Every culture and every historical time has possibly developed its own knowledge, language and techniques to deal with suffering caused by violence and hurt. These were long consigned to the realm of religion, spirituality, ritual, myth and art (Kopf 2009: 43).
Neben kommunikativen und rhetorischen Elementen übernehmen Spielfilme also davon wird in dieser Arbeit ausgegangen eine gesellschaftliche bewältigende, verarbeitende (mithin im weiteren Sinne neben der ethisch-moralischen Fallentscheidung) psychologisch schützende wie regenerative Funktion, indem sie Erzählungen an die Hand geben oder eigenes Erzählen unterstützen. Erzählen ist ein maßgeblicher therapeutischer „Mechanismus“: Gesunde Individuen sind in der Lage, eine bedeutungsvolle, kohärente und dynamische Selbstnarrative zu bilden; integrative Storys, die Zusammenhänge und eine Bewertung liefern, sind für die psychische Verarbeitung traumatischer Erlebnisse wichtig und beugen Folgen wie posttraumatischen Belastungsströmungen vor. Umgekehrt ist das Unvermögen, einen entsprechenden ordnenden Bericht schockierender Ereignisse zu verfassen, für ein Trauma kennzeichnend (vgl. Tuval-Mashiach et al. 2004: 281; Kopf 2009: 43). Die narrative „Schließung“ lässt sich dabei mit der Art der geschlossenen Dramaturgie vergleichen (s. 2.3.2). Doch selbst wenn nicht immer ein Trauma im eigentlichen Sinne vorliegt62 oder es statt um die Wiederherstellung lediglich um den Erhalt, die Stabilisierung oder die Aktualisierung und Bestätigung von identitätsstiftenden Kollektivnarrativen geht, bleibt dieser Verständnisansatz erhellend, wenn es auch um den überindividuellen Umgang mit Terrorismus geht.
Die integrative Bedeutung des Erzählens beschränkt sich jedoch nicht auf einzelne Personen oder eine Gesellschaft insgesamt im Sinne eines KollektivIndividuums und dessen „Heilung“: Das Kino und vor allem das des populären Films kann bisweilen auch als Schau-Platz eines ständigen narrativen Aushandelns und der Kompromisssuche dienen, in puncto Interessen und (u.a. Deutungs-)Hegemonien, von An- und Einsprüchen unterschiedlicher, auch konkurrierender und antagonistischer Teilmengen dieser Gesellschaft (etwa im Sinne eines sich auf Antonio Gramsci beziehenden Cultural-Studies-Ansatzes, vgl.
62 „From psychoanalytical theory the concept of trauma has spread into other domains such as history and cultural theory, where it serves as an interpretive pattern for mental, social, and cultural processes linked with the experience of violence and loss on a collective level“ (Kopf 2009: 41). Zu den Gefahren sowie den unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen des Terrorismusrisikos auf die öffentliche Gesundheit vgl. u.a. Rogers et al. (2007: 279 f.).
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2 Erzählen und Erzählungen
Willis 1995: 180 f.). Dass dies auch und vor allem im Terrorismuskino der Fall sein kann, wird in dieser Arbeit anhand der verschiedenen untersuchten Konflikte und ihrer filmfiktionalen Behandlung aufgezeigt.
2.3.2 Dramaturgie des Erzählfilms
Wie können erzählende bzw. Spielfilme verfasst sein? Bordwell (1985) unterscheidet als zwei (idealtypische) Arten des Erzählens das des klassischen, kanonischen Kinos sowie das der „art-cinema narration“. Erstere zeichnet sich durch ein quasi ungestörtes etabliertes Erzählen mit seinen Regeln der „Unsichtbarkeit“ aus, sowohl auf der Ebene der Inszenierung als auch auf der der StoryKonstruktion.63 Diese Filme handeln von eindeutigen, psychologisch definierten Charakteren mit stabilen Eigenschaften und Zielen, wobei das Prinzip der Kausalität dominiert. Die klassische Narration erzeugt eine scheinbar stark eigenständige Realität (vor allem im Raum-Zeit-Zusammenhang), tendiert zur allwissenden Erzählhaltung und ist bestenfalls moderat selbstreflexiv. Die Handlung ist aufgrund von einfachen weil eingeübten, tradierten und normierten schemata cues und einem hypothesis-framing für den Zuschauer leicht zu verstehen; der Verstehensfluss im Sinne der Storykonstruktion bleibt weitgehend unangetastet und eine Desorientierung wird vermieden (vgl. Bordwell 1985: 156 ff.). Das „Kunstkino-Erzählen“ kann hingegen in seiner Extremform als antiklassisch beschrieben werden, insofern es sich durch stilistische und handlungsspezifische Selbstreflexivität auszeichnet und die künstlerische Materialität und Synthetizität des Films bewusst macht.64 So können Leerstellen in der Geschehensfolge oder Kausalitätsbrüche auf den Vorgang des Erzählens selbst und der Konstruiertheit der Narrative hinweisen, Innenwelten von Figuren oder Traumsequenzen veräußerlicht werden und das Verweigern eines abschließenden Endes den Film betont offen lassen. Formal spielerisch fordert dies ein engagierteres Sehen und provoziert besondere Lese- bzw. Kognitionsleistungen des Zuschauers (vgl. ebd.: 205 ff.). Ein Beispiel dafür ist Jean-Luc Godards La Chinoise (F 1967) (s. IV.4). Das
63 Bordwell freilich betrachtet beschreibende Begriffe wie „Unsichtbarkeit“ oder „Transparenz“ insgesamt als wenig hilfreich (vgl. Bordwell 1985: 159 f.), für eine grobe Charakterisierung der ohnehin idealtypisch präsentierten Erzählform erscheinen sie jedoch ausreichend und zweckdienlich. 64 Bordwells Unterscheidung wird hier etwas überspitzt, insofern er auch (neo-)realistische Neuerungen einer neuen Verisimilitude von z.B. Raum und Zeit, die sich u.a. in Location- statt Studio-Drehs oder dem Verzicht auf die klassische Ausleuchtung ausdrücken, als Merkmale des art-cinema-Erzählens anführt. Derlei stilistische Entscheidungen haben sich heutzutage erheblich mit dem klassischen Hollywoodstil vermischt; Außendrehs oder gar der Einsatz der Handkamera können mittlerweile als ebenso konventionell betrachtet werden wie gelegentlche Story-Plot-Erzählexperimente.
2.3 Spielfilm-Erzählen
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(Kino-)Erzählen selbst wird also mit ästhetisch-erzählerischen Mitteln befragt, aus- oder gar zur Disposition gestellt.
Nicht die „art-cinema narration“ steht in dieser Arbeit im Vordergrund, sondern das (als vorgelagert angenommene) klassische Erzählen und, damit verbunden, das, was Eder als die „Dramaturgie des Populärfilms“ untersucht und herausgearbeitet hat. Dabei umfasst der „populäre“ oder „Mainstream-Film“ „als Gattung (...) alle Spielfilme, die durch die Verwendung konventioneller Mittel auf Popularität bei einem großen Publikum und auf kommerziellen Erfolg hin angelegt sind“ (Eder 2009: 9).65 Zu den Merkmalen gehört das Sujet als Geschichte des Problemlösens (vgl. ebd.: 33 ff.), figurenzentrierte Kausalität (vgl. ebd.: 65 ff.), spezifisch kompositorische Eigenschaften der Dramaturgie wie die klassische Dreiaktstruktur (vgl. ebd.: 83 ff.), Linearität und Spannungsorientiertheit (vgl. ebd.: 61 ff.)66, kognitive und emotionale Steigerung und ein (kausaler, inhaltlicher, emotionaler und/oder viszeraler) Höhepunkt am Ende (vgl. ebd.: 75 ff.). Konfliktstoffe werden „vereinfacht und stilisiert, so daß Überschaubarkeit und Orientierung gewährleistet sind“ (vgl. ebd.). Der Hauptkonflikt ist am Ende klar gelöst (vgl. ebd.: 91), sodass typischerweise eine geschlossene Dramaturgie bzw. Narration geboten wird. „Die Geschlossenheit entlastet den Zuschauer von der Aufgabe, die noch vorhandenen Lücken selbst zu schließen oder einen Abschluss zu finden“ (Christen 2002: 57). Geschlossenheit bedeutet jedoch nicht unbedingt eine „hermetische Abschottung“ (ebd.): „In vielen Filmen, die der klassischen Narration zugerechnet sind, ist eine Perspektive in die Zukunft möglich, auch wenn sie für die Handlung nicht von primärer Bedeutung ist“ (ebd.). Ein Beispiel für eine solche bedeutende relative Offenheit bietet The Kingdom (USA/D 2007) mit seinem Ende (s. dazu 5.5.3), ein Film, der sowohl ein Beispiel für einen populären Film (an der Zuschauerzuwendung bzw. den Einspielzahlen bemessen), als auch für eine erzählerisch populäre Kinonarration bietet.
65 Statt von populärem Erzählen ließe sich mit Thorburn (1987: 167 f.) auch von „consensus narratives“ sprechen, „(...) to achieve a clearer neutrality and to identify as a chief feature of consensus narrative the ambition or desire to speak for and to the whole of its culture, or as much of the whole as the governing forces in society will permit“ (ebd. S. 167). 66 „Die Anordnung der Teile im kanonischen Story-Schema und im Problem-Lösungs-Bogen deutet auf eine lineare Entwicklung der Handlung hin: Das Sujet beginnt mit der Exposition und der Entstehung des Problems, es folgen konfliktreiche Lösungsversuche, aus denen sich am Ende des Films eine bestimmte Auflösung ergibt“ (Eder 2009 [1999]: 61).
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2 Erzählen und Erzählungen
2.3.3 Figuren, Figurenanbindung und -bewertung
Figuren und vor allem Figurenkonstellationen als zentrales Element des Spielfilmerzählens bzw. -verstehens (vgl. Smith 1995: 21) sind im Kontext dieser Arbeit von besonderer Bedeutung, da mit ihnen ein begründendes, erklärendes Bild von Terroristen hinsichtlich Handlungsmotivation, psychologische Konstitution u.Ä. gezeichnet wird, wie es ansonsten kaum ein Medium vermag.67
Filme im populären Sinn funktionieren über Identifikationsvorgänge; gesamtgesellschaftliche Phänomene werden beispielhaft an den Konflikten einzelner Helden oder Antihelden, auf individueller Ebene, nachvollziehbar gemacht insofern ist es dem Medium eigen, zu entpolitisieren. Auch aus diesem Grund ist Film Popkultur (Kraus et al. 1997: 8).
Die Figur ist für eine Analyse eminent, weil sich Spielfilme gemeinhin gegen die Darstellung abstrakter sozialer, politischer und historischer Strukturen, Kräfte und Regeln sperren, und so die Verhandlung dieser Aspekte in Figuren etwa metaphorisierend oder allegorisierend verlagern. Derlei wurde und wird auch im Journalismus beobachtet und kritisiert, so wenn Renner (2008) konstatiert, Storytelling halte immer mehr Einzug in der Berichterstattung, es drohe eine „Personalisierungsfalle“ (ebd.: 7 f.), mithin die Reduktion struktureller Zusammenhänge auf individuelles Handeln einzelner Personen.68 Gleichwohl bietet ein solch personales Erzählen Vorteile, wenn es andere Wahrhaftigkeits- und Wirklichkeitsbereiche erschließt: „[T]here is something TV news can never express personal ambivalence that is not the equivalent of moral ambiguity“ (Peretz 1998).
Individualisierung und Psychologisierung sind nicht per se unsachlich, zumindest teilt sich das Filmerzählen den Erlebnis- bzw. Erkenntniszugang mit der biografischen Methode zur Erforschung von Terrorismus, dessen Ursachen und Hintergründen. Der Vorteil eines solchen Personenzugangs liegt im Verdeutlichen des Zusammenspiels von „objektiven“ (z.B. gesellschaftlichen Bedingungen, zeitgeschichtlichen Konstellationen) und „subjektiven“ Faktoren (z.B. Lebenserfahrungen, Alltagswissen) einer Kombination mikro-, meso- und makrosozialer Betrachtungen (vgl. Waldmann 1993: 9). Neben der Verlässlichkeit der
67 Ausführlich zur Filmfigur, ihren Aspekten, ihrer Konstruktion und den Möglichkeiten, sie zu analysieren, widmen sich u.a. Smith (1995) und vor allem umfassend Eder (2008), daher beschränke ich mich hier auf Punkte, die für diese Arbeit von besonderer Bedeutung sind. 68 Auch Haußecker stellt eine „Überführung der Ereignisse in narrative Strukturen“ (Haußecker 2007: 7) in den von ihr untersuchten deutschen Fernsehnachrichten über den Doppelanschlag in Kenia am 28. November 2002 fest.
2.3 Spielfilm-Erzählen
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Quellen (v.a. Selbstaussagen von Terroristen) stellt sich allerdings die Fragen, inwieweit man bei der innerlichen und äußerlichen Biografie in puncto Einflussfaktoren ausgreifen kann und muss: Was spielt eine Rolle, was darf als entschuldigend für das Handeln zugestanden werden und welches Menschenbild (u.a. in Hinsicht auf die Selbstverantwortlichkeit) ist alledem unterlegt? Diese Herausforderung findet sich wiederum gespiegelt in Spielfilmen, die überwiegend selbst gemäß dem Bedarf nach konsistenten Terroristenfiguren um ein nachvollziehbares oder zumindest plausibles Innenleben bemüht sind oder, im anderen Extrem, sich auf die pauschal-unergründbare Anti-Logik (z.B. des „Wahnsinns“) des Antriebs- und Motivationshaushalts der Figur oder einer entsprechenden interpretativen Attribution durch das Publikum verlegen so denn der Terrorist nicht gleich ganz als Personifikation politischer, historischer, sozialer Verhältnisse und Kräfte zu verstehen ist. Wie nämlich reale Terroristen ebenso als Individuum wie als Repräsentanten bestimmter Gruppen, Klassen und Produkte politischer, kultureller oder sozioökonomischer Umstände in der Terrorismusforschung aufgefasst werden, lassen sich Figuren in Spielfilmen nicht nur als „analogues of persons“ (Smith 1995: 29) verstehen: Figuren sind nach Eder (2008) als fiktive Wesen innerhalb einer fiktionalen Welt, jedoch ebenfalls als Artefakte, Symbole oder Symptome interpretier- und analysierbar.69 Je nach Genre oder Art der Filmkunst kann in den jeweiligen Terrorismusfilmen die eine oder andere Lesart oder deren Angebot dominieren. Während beispielsweise das Drama Es kommt der Tag (D 2009) (s. 4.5.3) in der Auseinandersetzung zwischen der vielschichtig gezeichneten Ex-Terroristin und „Rabenmutter“ (Iris Berben) mit ihrer von ihr einst verlassenen und nun erwachsenen Tochter (Katharina Schüttler) eine Konzentration auf die Figuren als fiktionale Individuen mit Biografie und Seelenleben nahelegt, ist der relativ eindimensionale und überzeichnete Terrorist Salim (Art Malik) in der Actionkomödie True Lies (USA 1994) (s. 5.2) kaum als „realistisch“ zu betrachten, sondern vielmehr etwa als generisches Stereotyp oder als Ausdruck genereller zeitgebundener US-amerikanischer Ressentiments gegenüber Muslimen und Arabern. Figuren sind zwangsläufig nie komplett ausgestaltet; das Filmerzählen baut entsprechend darauf, dass der Zuschauer u.a. durch den Rückgriff auf kulturelle Modelle, auf Wissen um Erzählstandards oder generelles Alltagsverständnis von Menschen, ihrem Handeln, ihrer Psychologie und ihren sozialen
69 Figuren „können als Thementräger, Metaphern, Personifikationen oder Exempla fungieren, kurz: als komplexe Zeichen“ (Eder 2008: 124). Filmfiguren als Symptome zu betrachten heißt, sie als „Kulturphänomene, Einflussfaktoren oder Anzeichen für Sachverhalte in der Realität“ (ebd.) zu begreifen, während Figuren als Artefakte unter dem Gesichtspunkt der Präsentation und des ästhetisch-strukturellen Gemachtseins analysiert werden.
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2 Erzählen und Erzählungen
Rollen die Lücken dynamisch füllt (vgl. Smith 1995: 18 ff.). Über Charaktere und ihr Agieren kann ein Wertesystem vermittelt werden, denn
(...) our assessments of the plausibility of texts depend on the degree to which the particular text conforms to a set of beliefs about reality, rather than an objective world standing outside of all beliefs and values (ebd.: 45).
Was unser Verhältnis als Zuschauer zu den Figuren als quasi „echte Menschen“ anbelangt, arbeitet Eder (2008: 561 ff.) Faktoren wie die emotionale Anteilnahme70 oder das Perspektiv-Verhältnis heraus. Figuren kann man demnach raumzeitlich, kognitiv durch Verstehen und Perspektivübernahme , sozial durch Vertrautheit oder Gruppenzugehörigkeit, durch emotionale Nähe sowie parasoziale Interaktion nahe sein.71 Dabei ist die wahrnehmungssubjektivierende Anbindung an eine Figur (die blickperspektivische bzw. einstellungstechnische „Subjektive“, auch: „Point of view shot“72) nicht mit der emotionalen Teilhabe, Wahrnehmung und Bewertung des Geschehens durch die Figur zu verwechseln. Hinsichtlich der emotionalen Anteilnahme unterscheidet Eder (ebd.: 663 ff.) zwischen der Außenperspektive auf die Figur, der Außenperspektive auf die Situation und der emotionale Perspektivübernahme der Figur. Auch hierbei können Figuren nach intersubjektiven z.B. moralischen Werten eingeschätzt werden und Empörung, Verachtung sowie Bewunderung und Wohlwollen hervorrufen. Es besteht allerdings ebenso die Möglichkeit, gegenüber un- oder amoralischen Figuren „(...) eine positive, parteiisch-sympathisierende Einstellung, die moralisch neutral, ambivalent oder sogar unmoralisch ist“ (ebd.: 670) einzunehmen. Dies führt bei Terrorismusfilmen oft zu einer diffus formulierten Kritik, die trotz aller charakterlicher Negativ-Zeichnung Terroristen-Figuren zu „Helden“ gemacht sieht, sobald sich der Film auf sie konzentriert.
Bedeutsam ist bei der Wahrnehmung und Einschätzung von Figuren, mithin der Geschichte des Films das Motiv der Gerechtigkeit und die entsprechende Dramaturgiestruktur, nicht zuletzt, weil die Legitimität des Gewalthandelns in der Auseinandersetzung des und mit dem Terrorismus so zentral ist. Sie finden sich aufgrund ihrer universellen Signifikanz für den Menschen (wegen des emotionalen Potenzials sowie dank der Aufmerksamkeit, die das Thema entsprechend erregt) sehr häufig in faktualen und fiktionalen Erzählungen in Western, Krimis oder auch Kinderfilmen (vgl. Schmitt und Maes 2006: 275 f.). Dabei gilt:
70 Zum komplexen Begriff der Emotion vgl. u.a. Eder (2008: 647 ff.). Zum Unterschied von Empathie und Medienempathie s. Früh und Wünsch (2009). 71 Zusammenfassung nach Eder (2008: 643). 72 Zur „visuellen Perspektivierung“ vgl. Eder (2006: 606 ff).
2.3 Spielfilm-Erzählen
71
Unser moralisches Urteil besteht nicht in einem schematischen Abwägen bekannter Informationen, sondern wird vielfach durch filmische Mittel der Perspektivierung, des Hervorhebens und Herunterspielens beeinflusst (Eder 2008: 671).
Im Sinne von Smiths „allegiance“ veranschlagt Lüdeker ein „(...) Konzept der relationalen Moral, bei dem davon ausgegangen wird, dass die Anteilnahme des Zuschauers durch die moralische Attribuierung der Figuren gesteuert wird“ (Lüdeker 2010: 44 Herv. i. O.).
In erster Linie führt der Vergleich der moralischen Eigenschaften der Figuren im Film untereinander, der nach den Maßstäben der fiktionalen Welt und unter Miteinbeziehung der eigenen Überzeugungen und außerfiktionalen Maßstäbe stattfindet, zu emotionaler Anteilnahme an oder Aversion gegenüber bestimmten Figuren (ebd.: 45).
Bei dem Querschluss von Gerechtigkeit und Rechtfertigung ist allerdings die Verhältnismäßigkeit zu beachten, was Gewalt und was Gegengewalt betrifft:
Avengers who retaliate insufficiently leave the sense of justice disturbed and risk losing the respect of their audience. Avengers who overact and ignore normative constraints fail to satisfy the audiences need for justice as well (Schmitt und Maes 2006: 277).
Freilich spielt auch hier nicht nur der individuelle Standpunkt für die Einschätzung von Handlungen hinsichtlich Fairness und Angemessenheit, sondern auch die generische Einfassung des Filmgeschehens, mithin die Ernsthaftigkeit eine eminente Rolle. Dies setzt freilich auf einer übergeordneten Betrachtungsebene an. Parodistische Überspitzungen etwa sind im Kontext entsprechenden GenreVorwissen rezeptionsmarkiert, weisen das Erzählen als spielerisch, ironisch, selbstreflexiv und bewusst realitätsfern aus bzw. werden in der Hinsicht wahrgenommen und legen andere Bewertungsmaßstäbe nahe als realistisch-repräsentative Werke. Besonders Filme zum Thema Terrorismus sind in diesem Sinne zwangsläufig, zumindest implizit oder aber von einer übergeordneten Position aus (Film als kulturelles und künstlerisches Produkte), sozialethische Erzählungen, sei es qua inhaltlichem Framing, sei es durch die standpunkthafte GenreWahl (s. Teil III).
Da in dieser Arbeit u.a. aufgrund der großen Menge an Filmen keine detaillierte Analyse einzelner Erzählperspektiven73 vorgenommen werden kann, wird im Folgenden ein eher allgemein gehaltener (und im Einzelnen spezifizierter) Begriff, der der Figurenanbindung, verwendet, wobei die emotionale wie die auch
73 Vgl. zur Erzählperspektive, zu Erzählermodellen und -konzepten wie der Enunziation oder des mindscreens u.a. Chatman (1990: 124 ff.), Kessler et al. (2003), Kawin (1978).
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2 Erzählen und Erzählungen
moralische (und implizit ideologische) Einstellung gegenüber dem Geschehen und der Figur darin gemeint ist. Nicht nur die einzelnen Faktoren der Anbindung sind hierbei von Bedeutung, sondern auch ihre mögliche Divergenz, über die z.B. als Spannung zwischen Figurenmitleid und Moral rhetorisches Potenzial generiert werden kann. Ein Beispiel für eine solche vereinheitliche perzeptive und emotionale Anbindung (bzw. eine entsprechende Filmanalyse- und -interpretationsmöglichkeit) liefert The Siege (USA 1998): Kamera, Schnitt und Ton machen das Schock-Erleben des FBI-Agenten Hubbard (Denzel Washington) erfahrbar, der von der Explosion eines von Suizidterroristen gesprengten Stadtbusses zu Boden geworfenen wird. Mühsam, aus Nase und Ohr blutend, richtet sich der Held auf, derweil ihn langsam die wankende Kamera umkreist (die also subjektiviert ist74). Polizisten, Rettungspersonal und FBI-Agenten laufen in Zeitlupe auf das Wrack zu- und an Hubbard vorbei. Geräusche sind keine zu hören, entsprechend der Hörschädigung der Figur infolge der Explosion. Ganz tonlos ist der Moment jedoch nicht: Bedrückende extradiegetische Flötenmusik unterstreicht das Tragische des Augenblicks, das Entsetzen, das Gefühl des Versagens und der Ohnmacht. Würde dieselbe Szene mit Hubbards Kontrahenten, dem negativ gezeichneten, kalt auf die strategische Herausforderung des Terrorismus reagierenden Generalmajor Devereaux (Bruce Willis) durchgespielt, wäre eben auch aufgrund eines anderen Verhältnisses zum Terrorismus und Devereaux rigider Haltung eine andere emotionale Folgewirkung (Wut oder auch relative Gleichgültigkeit angesichts einer taktischen Niederlage) und damit eine andere Gestaltung der Szene anzunehmen. Deutlich wird hier allerdings auch, dass über das Zusammenspiel unterschiedlichster Gestaltungsmittel und -ebenen ein Erzählen stattfindet, das neben argumentativen Gedankenentwicklungen das Publikum in einer Weise anspricht und einen ethischen und ideologischen, mit Story, Plot und Dramaturgie kombinierten Standpunkt vermittelt, sodass mit Phelan (1996) insgesamt von „Narrative as Rhetoric“ gesprochen werden kann.
2.3.4 Stereotype
Gerade, da es in diesem Buch auch um die Frage der Beurteilung oder Einschätzung von Terroristen-Repräsentationen geht, ist hier gesondert auf ein spezielles erzählökonomisches Mittel oder Phänomen einzugehen: das Stereotyp. Die Unterteilung der Figuren in Charaktere und Typen ist gemeinhin gebräuchlich (vgl. Schweinitz 2006: 45). Charaktere sind
74 Vgl. für eine derartige Unterscheidung (Subjektiv Subjektivierung) und ihren charakteristischen Einsatz im „modernen film noir“ Sellmann (2001).
2.3 Spielfilm-Erzählen
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(...) Figuren, die erst im Zuge der erzählten Handlung sukzessive erkennbar werden, im Wechselspiel mit Handlung Entwicklungen erleben und ein individuelles und vielschichtiges geistigpsychologisches Profil besitzen (ebd.).
Am anderen Ende des Spektrums liegt der Figuren-Typ als ein auf schematische Art reduziertes und „sofort an wenigen markanten Attributen“ (ebd.: 46) erkennbares Konstrukt.75 Dieses ist auf die Wahrnehmung einer Funktion abgestimmt und folgt definierten Handlungsrollen.
Ein einmal in einem Text entwickelter Typ wird erst dann zum narrativen Topos und damit zu einem Figurenstereotyp , wenn er sich durch Wiederholung im intertextuellen Raum der Narration als konventionelles Figurenmuster etabliert hat (ebd.: 47 Herv. i. O.).
Als „Verfestigung“ ist das Stereotyp (von griechisch stereós, „fest“, „hart“ und týpos, „Schlag“, „Typ“) ein „konventionelles Artefakt der narrativen Imagination“ (ebd.) und eine „feststehende Symbolgröße“ (ebd.). Kognitionsökonomisch sind Stereotype oder zumindest die dahinterstehenden Mechanismen der Kategorisierung von hohem Nutzwert, weil sie eine notwendige mentale Arbeitsentlastung darstellen, schneller, wenn auch gröbere Ordnungsoperationen erlauben und ein Mittel sind, um mit Gefahren, Ambiguitäten und Unsicherheiten effizient umzugehen (vgl. Miller und Landau 2008: 101). Gleichwohl überwiegen die negativen Konnotationen des Stereotypisierungsprozesses und seines Ergebnisses, denn nicht nur gelten sie künstlerisch als unoriginell, uninspiriert und simplifizierend: Stereotype sind sie, wenn es um menschliche Individuen geht, Grundlage von Vorurteilen, Sexismus oder Rassenhass. Eder verweist auf diese Zwiespältigkeit, wenn er zwischen nützlichem „funktionalem Typ“ und realweltlichem Stereotyp als „ideologisches soziales Schema (bzw. als Figur, die einem solchen Schema entspricht)“ (Eder 2008: 379) unterscheidet.
Stereotype sind normativ und affektiv aufgeladen, dienen bestimmten sozialen Interessen und sind immer Stereotype für jemanden, d. h. in einem soziokulturellen Kontext verortet (ebd.: 349 Herv. i. O.).
Funktionale Typen dagegen sind bewusst als solche zweckhaft angelegt und müssen nicht als solche innerhalb des Erzählkosmos extra etabliert werden. Das Erzähltempo lässt sich mit ihnen steigern; eine stärker plot-orientierte Narration,
75 Neben das Personenschema, das Smith für das Ausmachen von Figuren als menschenanalog durch den Zuschauer konstatiert (vgl. Smith 1995: 21), treten hier also, im nächsten Schritt, Figurenschemata hinzu.
74
2 Erzählen und Erzählungen
ein Mehr an Attraktionen und Spektakel wird möglich (vgl. ebd.: 378).76 Noch deutlicher auch hinsichtlich der Funktionalität von Stereotypen im und für das filmfiktionale Erzählen, wozu das Bloßstellen z.B. in Satiren wie Team America: World Police (USA/D 2004; s. 12.2) gehört unterscheidet Lacey Stereotype und generische Typen. „(...) [S]tereotypes can both be generic types und exist in reality; generic types only reside in texts“ (Lacey 2000: 137). Der Unterschied wird vor allem klar, begreift man generische Typen als Einzelfiguren-Typen, wohingegen Stereotype (Stell-)Vertreter einer (vor allem extradiegetisch existenten) Gruppe darstellen, denen bestimmte Eigenschaften und Merkmale zugewiesen sind. So ist die Figur (oder eben: die Figuren) des „Evil Arabs“ eher ein Stereotyp, das, in einem großen kulturellen und sozialen Rahmen und Raum über einen langen Zeitraum aufgebaut, auch außerhalb des Kinos und seiner Diegesen zu finden ist, wohingegen der überbordende Geheimagent Tasker in True Lies (USA 1994) als tradierter, aber singulärer souveräner Superheld der Erzählung ein generischer Typ ist (z.B. insofern er an die Erfolgsfigur James Bond anknüpft).77 Laceys Abgrenzung des generischen Typs von Stereotyp ist allerdings problematisch, weil die lapidare Trennung zwischen Text und Realität allzu kategorisch ist und das ausschließliche „Residieren“ in Texten nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass rein fiktionale Textfiguren ein Eigenleben entwickeln und in die Realität quasi hineindiffundieren können. So ist der Actionheld Jack Bauer, Hauptfigur der Fernsehserie 24 Twenty Four, im öffentlichen Diskurs in den USA nicht nur zum Synonym, sondern gar u.a. für Politiker im Wahlkampf zur quasi-realen Gewährsperson einer kompromisslosen wie effektiven Linie in puncto innerer Sicherheit und Terrorismusabwehr geworden (vgl. Nacos 2011).78
Die Differenzierung zwischen primär generischen Typen und sozialen Fremdstereotypen (und von diesen wird im Folgenden meistens die Rede sein) macht aber nicht zuletzt deshalb Sinn, weil mit ihr die generisch-funktionale Seite (z.B. der „Evil Arab“ als beliebig einzuwechselnder Schurke im Actionfilm) von der politisch-symbolischen (das kollektive Feindbild und seine Ausgestaltung in der Verwendung) klarer analytisch ablösbar wird. Das ist eminent, weil neben der grundlegenden Kritik am künstlerischen Wert vor allem im Kontext des (essenziell negativ konnotierten) Terrorismus Figurenstereotype brisant sind: Schnell entzünden sich an ihnen Diskussionen um rassistische oder kultur-
76 Für eine ähnliche Unterscheidung s. a. Schweinitz (2006: 51). 77 Zu dem Stereotyp des „Evil Arabs“ s. Kap. 5. 78 Man mag einwenden, dass Jack Bauer weniger ein Figurentypus ist als eine distinkte Typen-Figur, doch: „The success of Jack Bauer and other fictional heroes in foiling horrible terrorist plots in record time encourage the general public and public officials to expect rapid and successful outcomes in the real world of terrorism prevention and response“ (ebd.: 281 Herv. B.Z.).
2.3 Spielfilm-Erzählen
75
nationalistische Vorurteile, Diskriminierung und politische Propaganda, sodass jede Darstellung von Terroristenstereotypen von vornherein Gefahr läuft, ethisch und politisch überdeterminiert zu sein. Propaganda nutzt die kognitive Einfachheit von solchen (insbesondere Fremd- oder Hetero-)Stereotypen und setzt auch hier auf Simplifizierung: „Das Bild der Propaganda vom Gegner, der Feind, muß durch Vereinfachung gekennzeichnet sein“ (Folke und Fuhrhammer 1974: 362). Es werden dazu Signalelemente des Gegners mitgeteilt und versucht, die Reaktion darauf zu lenken (vgl. ebd.). Burns-Bisogno betrachtet Stereotypisierung gar als ein Mittel der Zensur (vgl. Burns-Bisogno 1997: 6):
Stereotyping allows the viewer to drop his controlling sense of conscience. This result is diminished concern for specific individuals or groups and contributes to a progressive insensitivity and lack of empathy for the “character” and the people he or she represents (ebd.).
2.3.5 Genres
Stereotype bezeichnen nicht nur Figurenschemata, sondern auch feste Handlungswelten, die u.a. als Handlungssituationen und -abläufe konventionalisierten und schematisierten Reduktionstendenzen unterliegen (vgl. Schweinitz 2006: 53 ff.). Solche „Erzählstereotype“, Story-Schemata (vgl. dazu u.a. Wuss 1999: 147 ff.)79 oder „Stereotypenstrukturen zweiter Ordnung“ (ebd.: 313) bilden Genres. Diese sind gekennzeichnet durch die „Wiederholung von Handlungsmotiven, wiederkehrende Bildmuster, standardisierte Erzählbausteine und voraussehbare Rezeptionsmuster“ (Altman 2006b: 254). Genretypische Handlungsmuster und Erzählungen wirken inter- und transtextuell auf das Arrangement der Erzählelemente sowie etwa durch paratextuelle Hinweise auf die Erwartungen und Hinwendung des Publikums zu einem Film, seine Dekodierungsleistung, das Verstehen und die Rezeption der Erzählung (vgl. Hickethier 2002: 63). Braidt spricht in dem Zusammenhang von dem „Schema der Generizität“ (Braidt 2008: 8).
79 Darunter erfasst er neben genrespezifischen Erzählmustern auch Mythen, Archetypen und kanonisierte Erzählformen (vgl. Wuss 1999: 147). Diese Erzählkonstanten erleichtern die Informationsverarbeitung, kanalisieren die Rezeption (vgl. ebd.) und „sind als Resultat sozialisationsgeschichtlicher Entwicklung ins kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft eingegangen (...)“ (ebd.: 148). Stereotypen fungieren als „mentale Repräsentationen komplexer und hierarchisch organisierter struktureller Beziehungen“ (ebd.).
76
2 Erzählen und Erzählungen
„Genre“, aus dem Französischen bzw. Lateinischen (genus) abgleitet, bedeutet so viel wie „Gattung“80 oder Art und ist vor allem für die Produktion und Vermarktung von Spielfilmen wichtig (vgl. Altman 2006b: 253 f.). Filmgenres bzw. Genrebezeichnungen sind „Verständigungsbegriffe“ (Hickethier 2002: 63) und als solche eine Grobkategorisierung, die Publikum und Filmemacherinnen intuitiv teilen (vgl. Bordwell und Thompson 1997: 52). Solches kommunikative Aushandeln und das Intuitive in der Kreation und Verwendung von Genre-Labels im Alltag stehen einer (vor allem historisch) fixen Klassifizierung von essenziellen Invarianten entgegen. Gleichwohl zeichnen sich Genres bei aller Standardisierung durch ein Wechselspiel von Stereotypenwiederholungen und Variationen, Brechungen und Einbettungen aus (vgl. Hickethier 2002: 80). Um diesem Fluiditätsproblem bei der theoretischen Konzeptualisierung und Analyse Herr zu werden, gibt es Ansätze, Genres etwa über ihre Semantik (Atmosphäre, Charaktere, technischen Elemente wie Kameraeinstellungen) und der Syntax bzw. Strukturiertheit und Kombinatorik aufzuschlüsseln (vgl. u.a. Altman 1986: 31; Schatz 2009 [1981]).81 Eine weitere Möglichkeit ist, Genres auf Ebene der Praxis auf ihre quasi sozialanthropologische bzw. mythische Bedeutung und auf ihre rituelle Funktion hin zu untersuchen (vgl. Grant 2007a: 29 ff.). So haben die „klassischen“ (Wuss 1999: 315) Filmgenres Komödie und Tragödie ihren Ursprung in den attischen religiösen Festen (vgl. Altman 2006a: 188). Wie Rituale Ausdruck und Stärkung einer Weltsicht und des Kollektivs sein können, können Filme, vor allem aber auch Genres in ihrer Verfestigung von dramaturgischen Abläufen, von Gut-Böse-Konstellationen, Richtig-Falsch-Lösungswegen, gesellschaftlichen Werten, Topoi und sozialen Strukturen ideologisch sein bzw. wirken, kulturelle Überzeugungen kräftigen und Identitäten mitformen und stärken (vgl. Schneider 2008: 37 ff.). Es liegt damit nahe, Genrefilme als Unterstützung dominanter Weltanschauungen, politischer Programmatiken und des Erhalts herrschender Zustände und Machtstrukturen zu begreifen (vgl. u.a. Grant 2007a: 33; Grant 2007b; Hess Wright 2007 [1974]). Zugleich besteht die Möglichkeit der Genre-Umdeutung z.B. in Form von Parodien (vgl. ebd.) so wenn sich Genres erschöpft haben und ihre Elemente zu Klischees erstarrt sind. Solche Genre-Brüche und -Beugungen funktionieren denn auch ähnlich wie, auf übergeordneter Ebene, das anti-klassisches Erzählen gegenüber dem traditionellen
80 Im Filmbereich hebt der Begriff Gattung analog Textsorten eher auf die grundlegende Unterteilung der audiovisuellen Darbietungsformen wie (fiktionale) Spielfilme und Dokumentarfilme ab, denn auf eine Unterscheidung inhaltlicher Art (wie es die Bezeichnung Genre innerhalb von Gattungen tun). 81 Nach Braidt lässt sich die kategorische Unterscheidung von semantischen und syntaktischen Elementen bereits bei den russischen Formalisten, genauer: bei Piotrovskij (1974 [1927]) finden (vgl. Braidt 2008: 21 ff., v.a. S. 23).
2.3 Spielfilm-Erzählen
77
populären, das landläufig mit dem des Hollywoodkinos begrifflich assoziiert ist: Im Spiel mit den Genreformeln und -erwartungen lassen sich Konventionen erweitern und bewusstmachen, z.B. durch Zitate, inside-jokes und generische Intertextualität. Auf diese und andere Weise wird der Zuschauer über seine Lesekompetenz und sein Regelwissen angesprochen oder lässt sich überraschen, lustvoll manipulieren und in die Irre führen (vgl. Braidt 2008: 37 ff.; Klinger 2007 [1984]; Buscombe 2007 [1970]). Doch auch zwischen Genres bestehen tendenziell ideologische Gefälle oder zumindest unterschiedliche ideologische Funktionen, Kapazitäten und Positionen. Populärkultur, so Grant (2007a: 32), tendiere zwar dazu, dominierenden Ideologien verhaftet zu bleiben. Horrorfilme, Melodramen und der Film noir stellten jedoch mitunter sozial Akzeptiertes gerade im Rahmen des Genres in Frage und wirken potenziell subversiv (vgl. ebd.).
Im Folgenden wird von zweierlei ausgegangen: Jeder erzählende Terrorismusspielfilm lässt sich einem Genre (genauer: einer Genrekategorie) zuordnen selbst wenn es sich nicht um einen klassischen industriellen Genrefilm im engeren Sinne handelt oder als Genremix beschreiben.82 Damit sind zweitens Nutzungskategorien erfassbar und formulierbar, die Auskunft darüber geben, welcher Art die Inhalte (Plot, Handlungs- und Spannungsdramaturgie, Figuren und ihre Konstellationen), das intellektuelle Investment, kognitive Anforderungen und emotionale Potenzial sind kurz: welches Ziel das jeweilige Genre verfolgt bzw. welche Funktion es auf Basis welcher Rezeptionspraxis erfüllt, denn „[d]ifferent types of film emphasize different types of mental processes“ (Grodal 1994: 15). Erzählungen sind „(...) darauf ausgerichtet, gewisse Zuschauer-Emotionen zu erzielen“ (Wulff 2006. S. 19) und Genres stellen „Stimulationsprogramme für die Erzeugung von Zuschaueremotionen dar“ (Hickethier 2002: 58). Das evozierte oder zumindest intendierte Gefühlsmuster impliziert dabei einen eigenen Standpunkt gegenüber dem Geschehen, den Figuren und ihren Handlungen, indem dem Zuschauer über die emotionale Adressierung Skripte für die Interpretation des Genrefilms bereitgestellt werden (vgl. Smith 2003: 48). Die jeweilige Emotionalität oder Tonalität geht nämlich mit einer spezifischen emotionalen Nähe sowie einer gewissen intellektuellen Anforderung einher (vgl. dazu u.a. Carroll 2004: 166 ff.).83 Schließlich hängt der (ideale) Affekt eines Films „(...) eng mit der Bestimmung der eigenen Position zum Gesagten zum Inhalt, zur inhaltlichen Ausrichtung, zum Umgang mit Wertvor-
82 Eine entsprechende Genre-Systematik des Terrorismusfilms wird ab Kapitel 8 dieser Arbeit entworfen. 83 „Tonalität“ kann dabei durchaus unmittelbar musikalisch verstanden werden: Soundtracks unterscheiden sich bisweilen historisch bemerkenswert konstant je nach Genre messbar voneinander (vgl. Austin et al. 2010; Brownrigg 2003).
78
2 Erzählen und Erzählungen
stellungen und ähnlichem zusammen (...)“ (Wulff 1999). Und wichtig für den Terrorismusfilm ist der Aspekt der Emotion, insofern dieser für die ethisch-moralische Beurteilung eine Rolle spielt, die wiederum politisch und ideologisch relevant ist.84
Das hier vertretene funktionalistische Verständnis von Genres, Genrefilmen und ihres Emotionsspektrums bzw. einer entsprechenden dominanten Valenz erscheint sinnvoll, weil es kultur(kreis)übergreifende Aspekte und weiterführende Modelle (z.B. die indische nicht-aristotelische Dramen- und Ästhetikkonzeption der rasas s. 6.1) stärker mit einbezieht als rein oder primär textfokussierte Ansätze. Zugleich negiert dieser Ansatz nicht die herkömmlichen Vorstellungen von Genres als durch Inhalte, Darbietungen und Strukturierung bestimmt, sondern geht lediglich einen Schritt weiter, indem er die emotionale und intellektuelle Ansprache des Publikums, dessen Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse einbezieht. Motivationspsychologische Theorien der Mediennutzungsforschung wie der Uses-and-Gratification-Ansatz (vgl. Meyen 2001: 11 ff.; Palmgreen 1984), das Konzept der Stimmungsregulierung (mood management) oder des sensation seeking85 werden anschlussfähig und erweitern das theoretische Modell hin zu einer empirisch untersuchbaren Genre-Praxis.
84 Vgl. dazu etwa Prinz (2006), der eine „sentimentalist theory“ vertritt, gemäß der „theory that moral judgments are generally motivating because emotions have motivational force“ (ebd.: 41 f.). 85 Vgl. dazu u.a. Zillmann (2006); Zuckerman (1996). Zu den Nutzungsansätzen speziell in Hinblick auf Gewaltdarstellung in den Medien s. Kunczik und Zipfel (2006).
II. Terrorismuskonflikte und ihre Filme
3 Der Nordirlandkonflikt und die IRA im Film
Die Wurzeln des Nordirlandkonflikts reichen weit zurück und über die Anfangsjahre des irischen Kinos hinaus. Während jedoch um die Wende zum 20. Jahrhundert der irisch-katholische Nationalismus erstarkte und sich eine eigene gälische Identität in Dramen, Prosawerken und Lyrik (z.B. eines W. B. Yeats) künstlerisch und kulturell entwickelte und verankerte, konnte sich der irische Film, auch nachdem sich die Iren einen eigenen Freistaat im Süden erkämpft hatten, lange nicht als eigene Nationalkinematografie etablieren. Filme, die in oder über Irland gedreht wurden, waren weitgehend englische und US-amerikanische Produktionen (vgl. Rockett 1996, zit. n. Pettitt 2000: 31).86 So dominierte für den Großteil des 20. Jahrhunderts ein „kolonialistischer“ und für und von den irischen Emigranten in der Neuen Welt idealistisch-verklärter Blick von außen auf die Grüne Insel, der Entsprechungen in anderen Medien und Kunstformen fand. Das kinematografische Irland selbst war als Fremd- wie kulturnationalistische „keltische“ Eigenimagination kaum mehr als eine malerische Kulisse oder ein nostalgischer Bezugspunkt, bis sich schließlich ab den 1970ern und vor allen in den 1990ern ein eigenes irisches Filmsystem entwickelte, das alternative oder gar gezielt gegenläufige Perspektiven und Ansätze suchte.
Angesichts des komplexen geopolitischen Dreiecksgeflechts IrlandNordirlandEngland/Großbritannien fällt es jedoch nach wie vor schwer, von einer distinkten irischen Nationalkinematografie zu sprechen, sei es, weil über Filmund Fernsehkoproduktionen oder persönliche Verbindungen die Grenzen stark aufweichen, sei es, weil Irland als Staatsgebilde, Imagination und Projektion mit seiner Teilung in Nord und Süd und der Unterscheidung von Republik, Nation und Territorium standpunktabhängig, widersprüchlich, komplex und umkämpft bleibt.87 Ähnlich heikel war und ist eine zuordnende Definition des Nordirlandkonflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese traditionsreiche Aus-
86 Zur Diskussion um eine spezifische Irishness und das Bestimmungsproblem eines irischen Kinos vgl. u.a. Gillespie (2008, v.a. S. 29 ff.). 87 Zum (nord-)irischen Kino, zu seiner Bedeutung, Identität und Industrie vgl. u.a. McLoone (2009); Hill (2006); Barton (2004); Pettitt (2000: 28 ff.).
B. Zywietz, Terrorismus im Spielfilm, DOI 10.1007/978-3-658-12161-7_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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3 Der Nordirlandkonflikt und die IRA im Film
einandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken in der Region „Ulster“88 war nur bedingt Fortführung eines antikolonialistischen Separatismus gegen das britische Empire, jedoch von diesem Kampf um Selbstbestimmung geschichtlich und politisch auch jenseits der republikanischen Propaganda und Ideologie nicht abzulösen. Die „Troubles“, wie der Kampf gegen die britischen „Besatzer“, mehr aber noch die Unruhen zwischen Katholiken, Protestanten, Polizei und Soldaten des Vereinigten Königreichs von 1969 an etwas ironisch-verharmlosend genannt wurde, erwuchsen aus einer jahrhundertealten Siedlungs- und Kolonialpolitik. Und ebenso, wie das Eingreifen der britischen Truppen in der nordöstlichen Provinz der Insel einen besonderen historischen Symbolgehalt hatte, stellte die Radikalität vor allem in der katholischen Minderheit für gesamte Region ein Rühren in den Wunden der Vergangenheit und des staatlich-nationalen Selbstverständnisses dar.89
Filme über die Irish Republican Army (IRA) und ihrem Terrorismus bilden darüber hinaus eine schwer zu umreißende und abzugrenzende Menge. Jede Zählung von „IRA-Filmen“ bleibt arbiträr; auf eine solche wird deshalb verzichtet. Der Grund: Die IRA die alte wie die neuere Provisional IRA (die PIRA oder die „Provos“) , ihre Mitglieder, Splittergruppen und assoziierten Organisationen, „have been a feature of Irish life for a century“ (Connelly 2012: 5). Sie war und ist eng verwoben mit der irisch-katholischen Politik, Gesellschaft, Volkskultur (etwa mit den rebel songs) und Geschichte (samt deren Präsenz in der Gegenwart), was es schwierig macht, sie für eine Untersuchung in der filmfiktionalen Repräsentation herauszupräparieren, zumal die „Troubles“ zentrales Thema oder Hintergrund des Nordirland-Kinos sind (vgl. Hill 2006: 242). So taucht die IRA darin in unterschiedlichen gesellschaftlichen und narrativ-dramaturgischen Rollen auf: Neben Bombenanschlägen oder Entführungen agierten die radikalen Republikaner als Miliz, Guerilla- und kriminelle Untergrundorganisation, die mit verschiedenen Taktiken und im Verbund mit der politischen Republikanerpartei Sinn Féin einen politischen Kampf führte. Dazu finden sich unterschiedliche narrativ-dramaturgische Gewichtungen. Mal stehen IRA„Volunteers“ im Mittelpunkt, mal sind sie nur Randerscheinungen, so wie die „Troubles“ eben eine bisweilen stereotype Kulisse (schwerbewaffnete Patrouillen in Flecktarngrün, Straßenkontrollen und Panzerwagen; von Einschusslöchern und mit Polit-Parolen versehene Reihenhausstraßen; mit Sandsäcken, Stachel-
88 Die politisch nicht unbelastete, hier jedoch wertungslos und synonym gebrauchte Bezeichnung Ulster für Nordirland erfasst ein Gebiet, das nur bedingt deckungsgleich ist mit der (geografisch größeren) historischen Provinz. 89 Zur allgemeinen Frage des irischen, nicht nur kulturellen Nationalismus und der postnationalistischen Verfasstheit Irlands in der Gegenwart sei hier u.a. auf English (2007) und Kearney (1997) verwiesen.
3.1 Konflikt- und Filmgeschichte der „Original“-IRA
83
draht und Stahlplatten gesicherte öffentliche Gebäude) für vielfältige Schwerpunktsetzungen bot.
Diese Herausforderungen bei der Untersuchung zur filmischen Darstellung der IRA spiegelt sich auch im Forschungsstand: Die Beschäftigung mit der Porträtierung der politischen Gewalttaten und -täter erfolgte fast ausschließlich im Kontext von Untersuchungen der filmischen Nordirlandkonflikt-Repräsentation.90 Erst 2012 legte Mark Connelly eine umfassende Studie speziell zur IRA in Kino- und Spielfilmproduktionen vor. Obwohl sein Buch allerdings mit seinem Untertitel („A History“) eine chronologische Betrachtungsweise verheißt und er auch umfänglich geschichtliche Hintergründe des Konflikts referiert (wenn auch nur bedingt mit einbezieht), dominieren Schwerpunktsetzungen wie „Klassiker“, die „US-amerikanische Perspektive“ oder der „IRA als kriminelle Organisation“. Dazu verführt allerdings der Gegenstand, da die verschiedenen Ansätze, von und mit der IRA zu erzählen sich parallel durch die Filmgeschichte ziehen und andere Ordnungsgrößen (etwa thematische, generische und ideologische) bisweilen dominanter und erhellender scheinen. Gleichwohl und stärker als bei Connelly wird im Folgenden eine chronologische Betrachtungsweise gewählt, um die Filme im historischen und politischen Kontext zu verorten, entsprechende Einflüsse, Rückbezüge und Muster (auch der der Entwicklung) aufzuzeigen und darauf gründend einzelne Aspekte wie die Figuren genauer zu behandeln.
3.1 Konflikt- und Filmgeschichte der „Original“-IRA
Die anglo-normannische Invasion Irlands unter Heinrich II. datiert auf das 12. Jahrhundert. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde Irland der englischen Krone unterstellt und eine Epoche begann, in der die Ansiedlung protestantischer Bauern nachdem die flächendeckende Protestantisierung fehlschlug im Nordosten Irlands (im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert) einen Grundstein für den Nordirlandkonflikt legte. Quasi als Ausgangspunkt der irischen Souveränitätsbestrebungen und des Republikanismus kann der Aufstand der United Irishmen von 1798 unter Theobald Wolfe Tone gegen die Briten gelten (vgl. Neumann 1999: 18 ff.), wobei es in jener Zeit vor allem die protestantische irische Ober-
90 So etwa bei Hill 2006; eine seltene u. spezialisierte Ausnahme bilden McLoone (2001) u. McIlroy (1999).
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3 Der Nordirlandkonflikt und die IRA im Film
schicht war, die mit dem aus Frankreich importieren Begriff des Republikanismus für mehr Freiheiten und Rechte gegenüber England eintrat. Nach dem paneuropäischen Katholizismus, der zu den Zeiten der Religionskriege als Bedrohung für das protestantische England angesehen wurde, kam nun die (begründete) Befürchtung, Rebellen in Irland würden sich mit dem Erzfeind Frankreich verbünden. Mit dem Act of Union (1800) verlor Irland seinen Status als eigenständiges Königreich.
Die als Fenians bezeichneten Mitglieder der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Geheimgesellschaft Irish Revolutionary Brotherhood (später Irish Republican Brotherhood IRB) und der USA-amerikanischen Fenian Brotherhood waren radikale Nationalisten und arbeiteten auf die befreiende Revolution und ein demokratisches Irland hin, beflügelt von den Hungerkatastrophen, die die irische Bevölkerung radikal (auch durch Emigration) dezimierten und das irische Geschichtsbewusstsein nachhaltig prägten. In der „Dynamitkampagne“ verübten die Fenians in den 1880ern Bombenanschläge in England u.a. auf Bahnhöfe und Untergrundbahnen und trafen dabei auch Zivilisten (vgl. Neumann 1999: 24 f.; Hoffman 2006: 33 ff.). Im Streit um die begrenzte Selbstverwaltung Irlands („Home Rule“), die im englischen Parlament mehrmals scheiterte und deren Umsetzung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückgestellt wurde, traten die „Unionisten“91 (vor allem Protestanten) vehement für den Verbleib im Vereinigten Königreich ein. Die Ulster92 Volunteers, in Ablehnung der „Home Rule“-Politik, gründeten sich als protestantischer Heimatschutz und benannten sich bald in Ulster Volunteer Force (UVF) um. Wie ihr militanter republikanisch-nationalistischer Gegenspieler, die Irish Volunteers (gegründet 1913), begannen sie, Waffen nach Irland zu schmuggeln.
91 Gemäß McIlroy (2001: 19 ff.) unterscheidet „Unionisten“ und „Loyalisten“, dass Letztere der englischen Krone (nicht aber unbedingt der Regierung) und ihrer Religion treu ergeben sind. „[T]hey give conditional allegiance to Great Britain as long as their Protestant religious and civil freedoms are supported and protected“ (ebd.: 22). Auf der anderen Seite vertreten „Nationalisten“ die „Ein-StaatTheorie“ eines geeinten Irlands. Sie sind jedoch bereit, auf die Verwirklichung der Einheit aufgrund demografischer oder anderer Umstände zu warten, während „Republikaner“ eher dazu tendieren, dieses Ziel auch durch (notwendig erachtete) Gewalt zu forcieren. Bei derlei vereinfachenden Einteilungen (so gibt es auch katholische Unionisten) gilt: „[W]hen the terms Protestant and Catholic are used, they refer beyond religious affiliation to include cultural, historical and political resonances“ (ebd.: 19). Entsprechend geht es in Nordirland nicht um einen „Gottes-“ oder Glaubenskrieg (vgl. Neumann 1999: 9). „Beide Seiten verfolgen rein politische Ziele, die Religion verschärft nur die Differenzen“ (Richardson 2007: 97). Zum Status der Religion vgl. auch Morrow (1994), zum irischen Republikanismus Patterson (1994) u. English (2007), zu den Loyalisten Bruce (1994). 92 Die Provinzbezeichnung Ulster wird häufig und auch in dieser Arbeit weitgehend synonym für „Nordirland“ (als Teil des Vereinigten Königreichs) verwendet, die historische Provinz selbst ist jedoch größer und umfasst auch Gebiete in der Republik.
3.1 Konflikt- und Filmgeschichte der „Original“-IRA
85
Schon in dieser frühen Zeit finden sich Filme, die ein republikanisches bzw. nationalistisches Gedankengut wenn auch romantisiert und entschärft feierten. Louisa Burns-Bisogno (2007) beschreibt, wie seit der Stummfilmzeit und den Produktionen der New Yorker Kalem-Company, die vor allem auf die große Zahl nostalgisch gestimmter irischstämmiger Auswanderer in den USA abzielten, pro-nationalistisches Gedankengut in den meist direkt in Irland gedrehten Filmen aufgegriffen und wie neben der Selbstzensur Hollywoods, die den wichtigen englischen Markt und dessen Regulierer im Blick hatte (vgl. BurnsBisogno 1997: 59 ff.) diese Filme dementsprechend von den britischen und irischen Behörden mit Schnittauflagen versehen oder ganz verboten wurden, z.B. Sidney Olcotts Bold Emmett, Ireland Martyr / All for Old Ireland (USA 1915) über Robert Emmet, Anführer des United Irishmen-Aufstands von 1803 (vgl. Burns-Bisogno 1997: 26 ff.).93 Die Anliegen und Ideale der nationalistischen Helden der Stummfilme (und darüber hinaus) galten als edelmütig und waren von einem „typisch irischen“, von Katholizismus und Hungersnöten mitgeprägten Leidens- und Opfer-Verständnis durchdrungen. Politische Stoffe und nationalistisches Pathos waren eingebettet in eine breite kulturelle und politische Erweckungsbewegung des gaelic revival, die mitsamt der irischen Sprache und entsprechend geprägten Künsten ein imaginäres rurales Idyll der Grünen Insel und eine (vermeintlich) genuin keltische Irishness als inspiratorische Leitvorstellung propagierte. Die Verlegung der Sujets in die Vergangenheit erlaubte „patriotisches“ Gedankengut im Deckmantel des Historienstücks und bot Schauwerte mit den (freilich auf der Leinwand schwarzweißen) Rotröcken der englischen Krone neben touristisch reizvollen, betont als authentisch vermarkteten Drehorten für das US-irische Emigrantenpublikum. Diese frühen Filme griffen auf melodramatische Typen und Story-Versatzstücke v.a. des Volkstheaters zurück: die Liebe des edelmütigen Bauern-Heroen zu seiner Maid, oft einer sittsamen engagierten Farmerstochter in bukolischer Landschaft, der patriotisch gesinnte Ortspriester, aber auch der verschlagene Verräter und Spitzel (Informer). Diese letztgenannte politisch-folkloristische Standardfigur diente dazu, das Scheitern der meist schlecht geplanten und ausgerüsteten freilich auch tatsächlich durch Spitzel unterminierten Rebellionen in der irischen Geschichte zu entschuldigen. Der Informer agierte allein und familienlos, funktio-
93 Weitere zeitgenössischere Stoffe bzw. Ereignisse und Personen wurden schon in der Entwicklungsphase gestoppt wie ein Film über Sir Roger Casement, der bei der Lieferung deutscher Waffen für den Osteraufstand 1916 (s.u.) abgefangen, wegen Hochverrats hingerichtet und als irischer Nationalheld gefeiert wurde (vgl. Burns-Bisogno 1997: 95 ff.).
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3 Der Nordirlandkonflikt und die IRA im Film
nierte als Kritik am internen Dissenz und illustrierte die Gefahren des Egoismus und etwa finanzieller Geldinteressen gegenüber den Idealen der Gemeinschaft, den Entbehrungen und der Hingabe an den Freiheitskampf (vgl. ebd.: 22). Die Briten hingegen waren in jenen Filmen weniger rücksichtslose Feinde als ehrenhafte Gegner, lediglich unverständig und fehl am Platz in Irland. Diese konziliante Haltung lässt sich, neben der Rücksicht auf die Zensoren, auf USbritische Solidarität während des Ersten Weltkriegs zurückführen (vgl. Barton 2004: 21), in dem im Namen der Krone viele Iren kämpften, was die Hoffnung auf Zugeständnisse in Sachen irischer Freiheiten schürte.
Wenig Rückhalt in der Bevölkerung hatte in dieser Situation der Osteraufstand von 1916, „Dreh- und Angelpunkt republikanischer Geschichtsschreibung“ (Neumann 1999: 37).94 Bewaffnete Einheiten der Irish Volunteers und der gewerkschaftlichen Irish Citizens Army besetzten strategische Punkte in Dublin, vor allem das General Post Office. Obwohl er in einer Niederlage für die Republikaner endete, erwies sich The Rising nicht zuletzt durch die Exekution von Anführern, die so zu Märtyrern wurden im Nachhinein als emotionaler und psychologischer Erfolg (vgl. ebd.: 37, Tieger 1985: 47 f.). 1918 benannten sich die Irish Volunteers in die Irish Republican Army um, die „offizielle“ Streitmacht der ersten selbstproklamierten, später von den Briten verbotenen Regierung Irlands (Daíl Éireann). Schrittweise eskalierten die Übergriffe auf die Sicherheitskräfte, deren (para-)militärische „Black and Tans“- und „Auxillary“Einheiten als Unterstützung der irischen Polizei brutal für Ordnung zu sorgen suchten. Der irische Unabhängigkeitskrieg (19191921) wurde als Guerilla- oder Untergrundkampf gegen die britischen „Besatzer“ geführt. Das Kino geriet darin mit seinen Spiel- und Nachrichtenfilmen (news reels) zum Schauplatz von Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Waffen nicht nur auf der Leinwand, sondern auch handgreiflich wie fiskalisch: „British authorities, wary of cinematic propaganda in the wake of the Rising, cracked down on cinemas by introducing an entertainment tax and curfew to discourage attendance“ (Burns-Bisogno 1997: 31). Republikaner wiederum warben mit eigenen kurzen Filmen für Anleihen zur Finanzierung ihres Unabhängigkeitskampfes, störten Aufführungen britischer „Propagandafilme“, verbrannten deren Kopien und schüchterten Kinobetreiber ein (vgl. Rockett 2004: 319). Der asymmetrische Krieg endete in einem Friedensvertrag dem Treaty , den die Delegierten der Sinn Féin95 unter Füh-
94 Für die Bedeutung des Osteraufstands in der irischen (Erinnerungs- und Identitäts-)Kultur und Politik s. Hartmann (2003). 95 Sinn Féin („Wir selbst“), gegründet 1905, trat für ein politisch und wirtschaftlich eigenverantwortliches Irland ein (vgl. Neumann 1999: 28). Im Kontext des Nordirlandkonflikts gilt die Sinn Féin, seit 1983 unter dem Vorsitz von Gerry Adams, als der politische Arm der IRA (zu dieser Verbindung und
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rung von Michael Collins und Arthur Griffith nach Verhandlungen in England nach Hause brachten. Der Vertrag entzweite die Bevölkerung und Irland territorial: Nordirland verblieb im Vereinigten Königreich, erhielt jedoch ein eigenes Parlament; der Süden Irlands wurde zum „Free State“ und Dominion der Krone. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung zustimmte, wendeten sich die Vertragsgegner gegen den Kompromiss und die ehemaligen Gefährten als in ihren Augen „Verräter“ Irlands oder zumindest des Ziels einer geeinten, eigenständigen Nation. Folge war der irische Bürgerkrieg, der im Mai 1923 endete und mehr Tote forderte als der vorangegangene anglo-irische Befreiungskrieg.
Während sich Irland zu einem eigenen Staat entwickelte und 1949 zur Republik Irland wurde, verfolgte die IRA (bzw. jene Teile, die sich nicht zu den irischen Streit- und Polizeikräften geworden waren) vor allem im Untergrund ihr Ziel eines Gesamtirlands weiter. Wie die britische erklärte die irische Regierung sie für illegal (vgl. Hogan 2009: 231), obzwar ehemalige IRA-Freiwillige und/oder einstige Vertragsgegner die Geschicke des Landes bestimmten: etwa Seán Lemass, Premier zwischen 1959 und 1966, und vor allem Éamon de Valera, der als Premierminister und Staatspräsident mit seiner Partei Fianna Fáil Irland politisch, kulturell und ökonomisch maßgeblich und über Jahrzehnte prägte. Entsprechend heikel war das Thema IRA angesichts Gründungsmythos, Traditionalismus und den kühlen Beziehungen zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich einerseits sowie der Staatsräson und dem Arrangieren mit der Realität eines Ulsters unter britischer bzw. protestantischer (Vor-)Herrschaft auf der anderen Seite. Schon nach der Ausrufung des irischen Freistaates der 1923 eine eigene Zensurstelle zum Schutz vor sowohl moralisch verwerflicher als auch politisch-bedenklicher Inhalten einrichtete (vgl. Burns-Bisogno 1997: 42 ff.) kam es zu direkten Aktionen der IRA gegen Filme, die in ihren Augen den britischen Imperialismus feierten (vgl. Rockett 2004: 315). Authentisches Filmmaterial, das Guerillaoperationen und Feldübungen der IRA zeigte, wurde wiederum in Irish Destiny (UK/IRL 1928; George Dewhurst) verwendet. Der Film prangert das Gewaltregime und die Zerstörungswut der britischen paramilitärischen „Black and Tans“ an, was eine Aufführung in England praktisch unmöglich machte (vgl. Pettitt 2000: 52; Burns-Bisogno 1997: 44 f.).96 Wie unbequem und mithin von der jeweiligen Wahrnehmung und Einschätzung bestimmt der
Gerry Adams Rolle innerhalb der Sinn Féin vgl. u.a. Moloney 2007; zu den „Provos“, also der neuen nordirischen IRA ab den 1960ern auch Taylor 1998). 96 „The rules of the BBFC (British Board of Film Censors B.Z.) prohibited films showing challenges to authority or the military in a bad light“ (Burns-Bisogno 1997: 45).
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Republikanismus im Kino in London, Belfast und Dublin war, zeigt sich am Beispiel Ourselves Alone (UK 1936; Brian Desmond Hurst).97 1936 verteidigte im Namen des nordirischen Innenministers dessen Sekretär Walter Magill gegenüber dem Chef der Produktionsfirma British International Pictures die Entscheidung, die Aufführung des Spielfilms zu verbieten. Magill verwies dabei auf mögliche negative Auswirkungen, die er aber weniger am Film, sondern am jeweiligen Publikum festmachte:
You will readily understand that a film exhibited in Great Britain with reference to events in Northern Ireland might afford excellent entertainment to an audience without arousing any strong personal feelings among its members, while the exhibition of a similar film here where the bitter memories engendered by the conditions which form the theme of the film are still fresh and where, in fact, many of the participants in the troubles are still alive might easily produce a different result (zit. n. Hill 2006: 71).
Der Film selbst, der laut Hill ausgewogen den Kampf zwischen IRA und britischen Soldaten thematisiert (vgl. ebd.: 71 f.), galt im Norden in der Darstellung der militanten Republikaner als zu wohlmeinend; im Süden hingegen wurde er als zu „pro-british“ verboten (vgl. ebd.: 72 f.). Ein Jahr zuvor hatte freilich bereits The Informer (USA 1935) für Aufsehen gesorgt und sich als Kassenschlager sowohl in den USA wie in Irland erwiesen. Die Adaption des (weit düsteren) Romans von Liam OFlaherty aus dem Jahr 1925 inszenierte Hollywood-Regisseur John Ford, wie Sidney Olcott und andere kinematografische Irland-Imaginatoren Kind ausgewanderter Iren. Ford hatte die Grüne Insel 1921 besucht, auf demselben Boot wie Michael Collins mit seinem Vorschlag für den Treaty das Land erreicht, war mit der IRA im Westen nicht zuletzt qua Verwandtschaft verbunden und wurde daraufhin ausgewiesen (vgl. Sheeran 2002, S 18 f.).
The Informer, zunächst in Irland verboten, sei es, weil „hopelessly at odds with the Irish film censors own memory of Irelands recent political history” (Burns-Bisogno 1997: 76), sei es, weil er der harten Anti-IRA-Linie des Freistaats zuwiderlief, wurde schließlich mit wenigen Schnitten zugelassen (vgl. ebd.). Mit ihm stellten Ford und sein Drehbuchautor Dudley Nichols melodramatisch einen Verräter in den Mittelpunkt und macht ihn zu einer tragischen Figur. Der tumbe Antiheld Gypo (Victor McLaglen) liefert aus Gier und Gedankenlosigkeit einen Freund, wie Gypo Mitglied der namenlosen Untergrundarmee im Dublin des Jahres 1922, der Polizei aus, was zum Tod des Kameraden und zu
97 Das Drama basiert auf dem Stück von Dudley Sturrock und Noel Scott und handelt von einem britischen Hauptmann, der sich in die Schwester eines republikanischen Rebellen verliebt. Der Titel Ourselves Alone ist die gebräuchliche, allerdings leicht sinnverfälschte Übersetzung des nationalistischen Wahlspruchs und Namens der politischen Partei Sinn Féin aus dem Irisch-Gälischen (eigentl. „Wir selbst“).
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Gypos Seelenpein, Schmach, Verurteilung vor dem IRA-Schwurgericht und schließlich seinem Tod auf den Altarsstufen einer Kirche führt, wo ihm die Mutter des Verratenen verzeiht. Neben der gepriesenen filmkünstlerischen Qualität The Informer wurde mit vier Academy Awards prämiert, darunter für die Regie, das Drehbuch und Hauptdarsteller McLaglen fällt hier bereits auf, was als konsistentes Merkmal für viele IRA-Spielfilme gelten kann: „(...) that they are explicitely not about the IRA“ (Connelly 2012: 215; Herv. i. O.). Zumindest jedenfalls bleibt die Identität der Gruppierung unbestimmt. Die namenlose Geheimorganisation könnte ebenso gut eine Verbrecherbande sein (zumindest eine mit einem gewissen moralischen Kodex, sozialer Einbindung und Rückhalt, was sich auch in der Inszenierung der Mitglieder als sachlich-aufrecht niederschlägt). Der politische Kampf kommt nicht zur Sprache, die historische Situation ist irrelevant. „Entpolitisierend“ wirkt auch, dass der mittellose, fast kindliche und impulsive Gypo seinen Freund rein des Geldes wegen verrät, um sich und seiner Freundin, einer Prostituierten, die Überfahrt in die USA zu bezahlen. Nicht wie in früheren Filmen ist er also ein intriganter Spitzel (als solcher in der Zeit des Stummfilms mit zeichenhaft krummen Rücken versehen) oder, wie in späteren Jahren, ein Informant aus Gewissensnöten, Zwangslage und moralischer Einsicht heraus, sondern ein armer, tragischer Tor.
John Ford widmete sich nach The Informer mit The Plough and the Stars (USA 1936, Kinoadaption des Bühnenstücks von Seán OCasey zum Osteraufstand 1916), dem ikonisch gewordenen The Quiet Man (USA 1952), dem Episodenfilm The Rising of the Moon (USA/IRL 1953) und der Seán- OCasey-Filmbiografie Young Cassidy (UK 1965)98 teils naiv-verklärend, teils ironischklischeehaft weiter einem durch verschiedene Schichten der Imagination gefilterten Irland und prägte dessen Vorstellungsbild maßgeblich mit nicht zuletzt, was die Idee vom honorigen Freiheitskampf betraf. Auch andere HollywoodProduktionen dieser Zeit und bis in die 1950er-Jahre hinein bedienten sich der damals noch jüngeren Vergangenheit des irischen Befreiungskampfs gegen die Briten, um sie als Folie für Melodramen oder Romanzen zu nutzen: „A time of honor and heroism, with men on both sides dying bravely for what they believed was right“ so die einführende Texttafel von Beloved Enemy (USA 1936, Regie: H.C. Potter), eine Produktion der Samuel Goldwyn Company. Der Film verwendet als Vorbild für seinen Helden Denis Riordan (gespielt von Brian Aherne) die historische Figur Michael Collins (18901922), Geheimdienstchef während des
98 Young Cassidy konnte Ford krankheitsbedingt nicht beenden, den Großteil der Regie übernahm Jack Cardiff.
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Unabhängigkeitskriegs und späterer Oberbefehlshaber des irischen Freistaats. Der charmante Propagandist verliebt sich in Lady Helen (Merle Oberon), Tochter eines britischen Diplomaten. Angesichts dieser zentralen Beziehung über die Feindgrenzen hinweg, wobei sowohl Riordan als „träumerischer Idealist“ (Connelly 2012: 51) wie auch Lady Helen und ihr Vater Friedenswillige sind, denen auf beiden Seiten Hardliner gegenübergestellt sind, bietet der Film „only a superficial pastiche of images“ (ebd.); Begriffe wie „Republik“, „IRA“ oder „Teilung“ fallen nicht (vgl. ebd.). Das tragische Ende Michael Collins, der während des Bürgerkriegs in Cork bei einem Hinterhalt auf seinen Konvoi erschossen wurde, war vorgesehen und gedreht, wurde aber aufgrund der Zuschauerablehnung durch eines ersetzt, in dem Riordan das Attentat eines ehemaligen Kameraden überlebt (vgl. ebd.).
Die reale IRA allerdings erklärte Anfang 1939 Großbritannien den „Krieg“ und begann eine mit nazideutschen und Exilanten-Geldern finanzierte Anschlags- und Sabotagekampagne, bei der über die nächsten Monate hinweg über hundertzwanzig Bomben explodierten, fünfundsiebzig allein in London (vgl. ebd.: 64). Ziele waren u.a. Kraftwerke, Postämter, Bahnhöfe oder Kinos, allerdings ohne frappierende Folgen für die öffentliche Ordnung. Es versiegte bald die finanzielle Unterstützung, und Gegenmaßnahmen aufgrund Dubliner auch in Süd-Irland kam es zu Überfällen und Attacken (vgl. Connelly 2012: 68) und Londoner Antiterror-Sondergesetze, die etwa im Freistaat die Inhaftierung ohne Verfahren ermöglichten, rieben die Organisation fast vollständig auf (vgl. Neumann 1999: 53 ff.). In diese Zeit des Zweiten Weltkriegs, in dem der irische Freistaat sich neutral erklärte, fallen auch zwei Spielfilme nazideutscher Produktion, Der Fuchs von Glenarvorn (D 1940) und Mein Leben für Irland (D 1941), beide inszeniert von Max W. Kimmich, Schwager Joseph Goebbels. Diese antibritischen Propagandawerke nutzen als Kulisse den irisch-republikanischen Widerstand vergangener Zeiten 1903 und 1921 (Mein Leben für Irland) oder ein zeitenthobenes, düsteres Irland (Der Fuch von Glenarvorn), um die Briten als imperialistische Unterdrücker, die irischen Nationalisten hingegen als inspiriert, heroisch und dabei positiv-völkisch zu zeichnen (vgl. ebd.: 73 ff.).99
Die Nazi-Verbindungen selbst wurden u.a. in I See A Dark Stranger (UK 1946) oder A Terrible Beauty (UK/USA 1960; US-Titel: The Nightfighters) auf-
99 Das deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg wie NS-Deutschland im Zweiten suchten, wenn auch wenig effizient, die militanten Republikaner direkt im Widerstand gegen den gemeinsamen Feind, das Vereinigte Königreich, zu unterstützen. Historische Berühmtheit erlangte etwa der geförderte, letztlich gescheiterte Waffenschmuggel Roger Casements zur Unterstützung des Osteraufstands. In Berlin verhandelten 1940 IRA-Emissäre und wurden ausgebildet; per Fallschirm oder UBoot landeten (teils kuriose u. schnell enttarnte) Nazi-Agenten in Irland (s. dazu u.a. Connelly 2012: 66 f.; English 2013: 63 ff.).
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gegriffen. In ersterem, einem Spionagethriller, spielt Deborah Kerr die junge Irin Birdie, die geprägt von den schwärmerischen Erzählungen des Vaters vom quasi heiligen Krieg gegen die Briten selbst zur leidenschaftlich-verbohrten Republikanerin und England-Hasserin geworden, sich zunächst von Nazi-Spionen rekrutieren lässt, schließlich aber einsieht, dass ihr Verrat auch irische Soldaten das Leben kosten würde. Schließlich heiratet sie gar einen englischen Geheimdienstoffizier (Trevor Howard). „Birdies hatred of a seventeenth-century figure suggests that her Republicanism is based on archaic grievance and quaint folklore, not present-day injustice“ (ebd.: 81). Dieses paternalistisch-gütige Haltung mit dem Motiv der nostalgisch-ideologischen unzeitgemäßen, damit grundlosen Verblendung findet sich bis weit in die 1960er hinein in fast allen britischen Produktionen, oft mit leicht pathologischen Individualzügen der IRA-Schurkenfiguren: In A Terrible Beauty entstanden nach dem 1958 veröffentlichten Roman von Arthur Roth, der selbst in der IRA und irischen Armee diente100 stellt der feurige Nationalist McGinnis (Dan OHerlihy) in einer Mesalliance mit den Nazis in seinem kleinen nordirischen Dorf eine IRA-Sabotagegruppe auf, der sich der Held des Films ONeill (Robert Mitchum) weniger überzeugt als eher ironisch gestimmt und aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus anschließt, ehe es erste unschuldige Opfer gibt und ONeill die brave Ortspolizei vor dem geplanten Überfall der immer verbohrteren Gruppe warnt. McGinnes Nationalismus ist zu interpretieren als Kompensation für seine Behinderung (ein Klumpfuß) und sexuelle Frustration: Er begehrt ONeills Schwester, hat bei ihr aber keine Chance. Sinnträchtig erschießt er sie versehentlich am Schluss des Films (sie trägt den Trenchcoat ihres Bruders), derweil ONeill mit seiner Geliebten die Insel für ein besseres Leben verlässt.
Wie eine facettenreiche Mischung aus I See A Dark Stranger und A Terrible Beauty erscheint auch The Gentle Gunman (UK 1952). Die Produktion des populären englischen Ealing-Studios greift zum Auftakt die IRA-Kampagne während des Zweiten Weltkriegs in London auf: Eine kleine IRA-Gruppe plant dort einen Bombenanschlag in einer U-Bahn-Station, die der Zivilbevölkerung zum Schutz vor den deutschen Fliegerangriffen dient. IRA-Mann Terry (John Mills), während seines Lebens in England geläutert, will jedoch Menschenleben retten und wird daher von seinen (ehemaligen) Gefährten des Verrats verdächtigt. Zurück daheim, im Grenzgebiet zwischen Nord- und Südirland versucht er, seinen Ruf wiederherzustellen, vor allem aber seinen jüngeren, ihm nacheifernden Bru-
100 Der Romantitel A Terrible Beauty verweist selbst wiederum auf William Butler Yeats berühmtes politisches Gedicht zum Osteraufstand Easter, 1916.
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der Matt (Dirk Bogarde) der nun mit Terrys ehemaligen Verlobten, der fast lüstern republikanischen Maureen (Elizabeth Sellars) liiert ist sowie den IRAKommandeur Shinto (Robert Beatty) überzeugen, der Gewaltstrategie abzuschwören. The Gentle Gunman nutzt eine damals wie heute gängige emotionale und motivische Verfahrensweise der Entspannung, die wie ein Verständigungsangebot an die militanten Nationalisten in Süd- und Nordirland wirkte und die sich auch in den Filmen Bollywoods (s. 6.5) oder des US-Kinos nach dem 11. September 2001 (s. 5.7) ausmachen lässt: Terrorismus als Teil eines Guerillakampfes wird als falsch verworfen, im Gegenzug dafür die Berechtigung der Ziele und Leidensgefühle zumindest partiell zugestanden und die Rebellen als ehrenhafte und hingebungsvolle Streiter anerkannt, die lediglich im Eifer des Gefechts und aus der militärischen Not heraus zu unwürdigen Mitteln greifen. Leicht tragisch und romantisierend gesteht das Kino dem Gentle Gunman den (sinnträchtig im Titel noch bewaffneten) Status eines Gentlemans zu. Wie in einer entsprechenden Rahmung diskutieren zu Beginn und am Schluss des Films ein irischer Landarzt und ein Engländer (Joseph Tomelty und Gilbert Harding) als nahezu allegorische Figuren hitzig, aber einander freundschaftlich zugetan, das Pro und Kontra des irischen Nationalismus bzw. der britischen Einflussnahme. Beide repräsentieren die alte Generation, deren (Wort-)Gefechte und Tiraden nur mehr amüsanten folkloristischen Wert haben (ähnlich ONeills alter Vater in A Terrible Beauty in seiner harmlosen Erinnerung an vergangene Zeiten und der attitüdenhaften Feindseligkeit gegenüber den Briten). Die beiden, in London (von der Inszenierung her) sinisteren IRA-Bombenbauer in The Gentle Gunman werden in ähnlicher Weise, kaum zurück auf dem Boden der heimatlichen Grünen Insel, zu humorigen, (stereo-)typisch irischen Trunkenbolden. Die rationalen Soldaten sind so der Tenor in diesem und ähnlichen Filmen durch gefährliche und eher schädliche Fanatiker verführt wie der nervöse Matt durch Maureen. Sie ist mit einer fast sexuellen Besessenheit mehr an Opferblut und Heldentod (und damit: an toten Helden) interessiert als an den Männern selbst. Maureen erscheint darin als eine negative misogyn umgedeutete Wiedergängerin der mythischen, im gleichnamigen Stück von William Butler Yeats und Lady Gregory aus dem Jahr 1902 emblematisch und allegorisch gewendeten Sagengestalt Cathleen Ni Houlihan, einer Königstochter, die sich durch das Blut im Befreiungskampf gefallener Iren verjüngt.101 Den Gegenpart zu ihr übernimmt in The Gentle Gunman Maureens Mutter Molly (Barbara Mullen), die nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Sohn durch den Kampf fürs Vaterland verloren hat bzw. im Handlungsverlauf verliert ebenfalls eine klassische wie
101 Zur kulturellen und politsymbolischen Wirkung und Bedeutung des Stücks bzw. seiner Figur siehe Lockett (2005). Zur Funktion des „Weiblichen“ im Nationalismus allgemein s. Nagel (1998).
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überzeitliche und transkulturelle Rollenfigur, die sentimental im Namen von Friedens- und Familienwerten an Gewaltverzicht appelliert. Die Besetzung des besonnenen Helden Terry mit dem populären britischen Darsteller John Mills schließt daran an, insofern Mills für die Verkörperung bodenständiger, wenn nicht alltäglicher Heldenfiguren bekannt und beliebt war.
Die kritisch-joviale Achtung des einzelnen IRA-Soldaten und seines Anliegens bei gleichzeitiger Historisierung und Verharmlosung ihrer Bedeutung für die Gegenwart findet sich ebenfalls in Shake Hands with the Devil (IRL/USA 1959), dessen Handlung im fernen anglo-irischen Krieg angesiedelt ist und im letzten Akt den Bürgerkrieg zumindest andeutet: In Dublin wird der junge Medizinstudent Kerry (Don Murray) aus den USA in den Untergrundkampf der IRA hineingezogen, in dem schon sein Vater einstmals diente. In der Obhut seines Professors Sean Lenihan (James Cagney), der zugleich heimlich IRA-Kommandeur ist, schließt sich nach Zögern Kerry der „Sache“ an. Um eine ältere sympathisierende Adlige aus der Haft zu befreien, entführen sie Jennifer (Dana Wynter), die Tochter eines britischen Militäroffiziers, in die sich Kerry verliebt. Als die Lady jedoch im Gefängnis stirbt, will Hardliner Lenihan die Geisel töten. Auch die Nachricht vom just geschlossenen Waffenstillstand stoppt ihn nicht, sodass Kerry schließlich gezwungen ist, seinen Mentor und Ersatzvater zu erschießen, der partout nicht vom bewaffneten Kampf abrücken will (oder kann). Auch hier wird, anders als in den späteren Filmen zur IRA, „Falke“ Lenihan nicht durchweg negativ gezeichnet, sondern erscheint anfangs noch als souveräner bis jovialer Medizinprofessor mit Doppelleben, der sich erst über den Untergrundkriegshelden hin zum kompromisslosen Fanatiker wandelt. Die Besetzung mit James Cagney, selbst zum Teil irischer Abstammung, trägt zur eher tragischen Konnotation der Figur bei, wobei Cagneys Rollenpersona sich ein Stück weit in Lenihan spiegelt und zugleich umkehrt: In US-Produktionen als psychopathischer (White Heat [USA 1949]), vor allem aber schicksalhaft scheiternder Gangster (The Public Enemy [USA 1931], Angels with Dirty Faces [USA 1938]) berühmt geworden, war Cagney in der Zeit von Shake Hands with the Devil eher durch sympathischere Rollen in Komödien, Kriegsfilmen oder Biopics (so als Musical-Pionier George M. Cohan in Yankee Doodle Dandy [USA 1942]) auf der Leinwand präsent. Hierin wie in der Besetzung der IRA-Hauptfiguren u.a. in A Terrible Beauty mit Stars wie Robert Mitchum, Jahrzehnte später mit Liam Neeson in/als Michael Collins (UK/IRL/USA 1996) oder Brad Pitt in The Devils Own (USA 1990), zeigt sich die potenzielle Attraktivität des IRA-Rebellen. Die Rollen wiesen nicht unbedingt Vielschichtigkeit oder Charaktertiefe auf, bargen aber eine gewisse innere und äußere Tragik und bisweilen Zerrissenheit,
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die Kino-Terroristen anderer Krisen und Konfliktzeiten nicht zugestanden wurde und wird.
Wie eine Mischung aus heroisch-besonnenem IRA-Protagonisten und verbohrtem IRA-Antagonisten erscheint die fatalistische Figur Johnny McQueen im Noir-Klassiker Odd Man Out (UK 1947; Carol Reed). Dieser ist neben The Informer wohl die international renommierteste klassische Kinoproduktion zur (alten) IRA und erster und prägender Film zum Nordirlandkonflikt (vgl. Donnelly 2000: 386; Hill 2006: 191), führt dabei eine Art Figurenprototyp des Ulster-„Troubles“ zwanzig Jahre vor ihrer (Hoch-)Zeit ein. McQueen (James Mason) ist kampfesmüder Anführer einer im Film nicht näher spezifizierten kriminellen, gleichwohl deutlich als IRA aufzufassenden Untergrundgruppe. Widerwillig nimmt er an einem Raubüberfall teil, wird dabei angeschossen und irrt, von der Polizei und seinen Kameraden gesucht, durch ein unwirtliches, fast expressionistisch inszeniertes Belfast. Nur kurz keimt die Hoffnung auf Flucht mit einer ihn liebenden Frau auf eine Flucht aus einer tristen industrialisierten Nachkriegsstadt, die nicht London ist und auch nicht das rurale wildromantische kulturnationalistische Irland. Mason als Johnny wurde zur kinematografischen Ikone des existenzialistischen Verlorenen, des Unbehausten und Verdammten und mit ihm der heldenhafte, wiewohl moralisch gespaltene Republikaner zum gebrochenen, müden und desillusionierten. Odd Man Out gibt jene schicksalhaft tragische Tonalität vor (oder nimmt sie vorweg), die die Vorstellung vom Nordirlandkonflikt im Film bis heute maßgeblich bestimmt. Bei aller Entpolitisierung innerhalb des Films blieb auch bei Odd Man Out das Politische (oder eine diskursive Politisierung) unvermeidlich: Während in England die Filmkritik die Ästhetik der Schwarz-Weiß-Inszenierung und die universelle Geschichte lobte, wurde der Film in Nordirland trotz oder gerade wegen seiner Verschleierung der realen politischen Implikationen als Kommentar zur aktuellen Situation aufgefasst und in der lokalen Presse dahingehend vorab zu entschärfen versucht. Der Raubüberfall Johnnys sei „seine Sache“, nicht „unsere“, so z.B. der Belfast Telegraph vom 1. März 1947 (vgl. Donnelly 2000: 389). Allein schon aber, dass Regisseur Reed Odd Man Out tatsächlich in Belfast gedreht hatte und ein Wahrzeichen, den Albert Memorial Clock Tower, deutlich ausstellte, unterlief den verallgemeinernden Lauftext zu Beginn des Films, laut dem die Handlung unspezifisch in „a city of Northern Ireland“ ansiedelt sei. Auch dass die namenlose „illegale Organisation“ für die IRA stand, war quasi offiziell so eindeutig, dass die Royal Ulster Constabulary (RUC) bei der Belfaster Premiere vorsorglich vor Ort war, um Republikaner an einer möglichen Kundgebung zu hindern (vgl. ebd.: 390). Odd Man Out blieb jedoch wie The Informer und ähnlich Neil Jordans The Crying Game (s. 3.2.2) fünfundvierzig Jahre später ein künstlerischer Solitär, der nicht wie die meisten der frühen IRA-Romanzen und -Tragödien eine
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Hollywood-Erzählung dergestalt bot, dass die Politik und die geschichtliche Situation dem Drama unterstellt oder von diesem als Material verbraucht, sondern stattdessen transzendiert wurde.
Die Darstellung überzeugter IRA-Extremisten als kleine Ansammlung verbohrter Rückwärtsgewandter ohne Realitätssinn in den eher harmlosen Filmen spiegelte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch die Wirklichkeit der Organisation wieder, die kaum mehr Rückhalt und Unterstützer fand. Quasi als Verzweiflungsakt startete sie 1956 die fast sechsjährige „border campaign“ (Grenzkampagne), in der vom Gebiet der Republik Irland aus die Besatzungstruppen im Norden immer wieder angegriffen wurden (vgl. Moloney 2007: 49 ff.; English 2003: 75 ff.). Dies freilich ohne nennenswerte Auswirkungen auch auf die Präsenz im Film. Das Kino der 1950er zeigte die IRA-Ära als passé und das Irlandproblem als gelöst (Connelly 2012: 26). Festnahmen und Internierungen beendeten die Kampagne, die Überreste der einst stolzen „Republikanischen Armee“ umgab im Klima der modernen 1960er ein Ruch der Niederlage und des Anachronismus; sie orientierte sich ideologisch nicht zuletzt im Norden nach und nach neu, vom Nationalismus hin zum Marxismus und damit sozioökonomischen Fragen. Am Ende des Jahrzehnts freilich sollte sie wieder eine bedeutende Rolle spielen, wenn auch unter anderen Vorzeichen und in neuer Gestalt.
3.2 Der Nordirlandkonflikt und seine filmische Thematisierung
Der Nordirlandkonflikt forderte zwischen 1969 und 1998 rund 3.500 Menschenleben, davon zweihundert außerhalb von Ulster (vgl. Korstian 2008: 15). Auslöser waren maßgeblich Fragen der Benachteiligung. So bildeten sich ab 1967 auf Seite der Katholiken Bürgerrechtsbewegungen, die sich an denen der USA orientierten. Sie sahen sich politisch, sozial und wirtschaftlich diskriminiert von der protestantischen Mehrheit102, die sich genealogisch mit England verbunden und historisch als dessen Vertreter und Verteidiger in Irland fühlte: Die noch heute für Katholiken provokanten Märsche des Oranierordens gemahnen an die Schlacht am Fluss Boyne von 1690 und dem Sieg des protestantischen, aus Holland stammenden englischen Königs Wilhelm von Oranien (William III., 16501702) über den katholischen Jakob II. Derlei gepflegte Macht- und Geschichts-
102 In Nordirland leben ca. sechzig Prozent Protestanten und vierzig Prozent Katholiken; von loyalistischer Perspektive aus kann man, mit Blick auf die gesamte irische Insel, von achtzig Prozent Katholiken und zwanzig Prozent Protestanten ausgehen (vgl. McIlroy 2001: 113).
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konstrukte können als Ausdruck einer Belagerungsmentalität verstanden werden: Vor allem radikale Loyalisten fürchteten den Anschluss an den republikanischen Süden, was durch eine anwachsende demografische Zahl von Katholiken im eigenen Ulster näherzurücken drohte (vgl. Moloney 2007: 39; Bruce 1994). Die katholischen Iren wiederum forderten u.a. die Umstrukturierung der sie benachteiligenden Wahlbezirke und soziale und ökonomische Verbesserungen sowie kulturelle Anerkennung. Das Misstrauen auf protestantischer Seite gegenüber der Bewegung führte zu Gewaltaktionen gegen die friedlichen Protestmärsche; die mehrheitlich protestantische RUC galt als (und zeigte sich) pro-loyalistisch. Im „Battle of the Bogside“ in Londonderry (August 1969) und den anschließenden Unruhen in weiteren Städten eskalierten die Spannungen. Angesichts des breiten zivilen Ungehorsams und der Aktionen der Militanten auf beiden Seiten wurden auf Anforderung der nordirischen Regierung britische Truppen entsandt, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Viele Katholiken begrüßten zunächst die Soldaten, da die IRA in ihren Augen als Schutzmacht versagt hatte. Im Dezember 1969 spaltete sich die IRA; hervorging die Provisional Irish Republican Army (PIRA), deren Ziel die Beendigung der „britischen Herrschaft“ in Ulster sowie ein irischer Staat gemäß der Proklamation von 1916 war. Die PIRA oder „Provos“ als dominierende paramilitärische Organisation der Republikaner im Nordirlandkonflikt wurde im Sprachgebrauch immer mehr zu der IRA103, derweil die „alte“ Official IRA (OIRA) in den Hintergrund trat und durch eine erneute Teilung, aus der die radikale Irish National Liberation Army (INLA) hervorging, weiter an Bedeutung verlor. Auf der Gegenseite gründete sich Anfang der 1970er-Jahre die Ulster Defence Association (UDA), die schnell zur größten paramilitärischen Organisation der Loyalisten wurde, sowie ihr illegaler militärischer Arm, die Ulster Freedom Fighters (UFF), als weitere Parteien im Kreislauf der interkonfessionellen bzw. sektiererischen Gewalt104, welche auch den Einsatz von Bomben kannten.
1971 erließ die britische Regierung verschärfte Antiterrorismusgesetze und führte die Internierungspolitik mit Massenfestnahmen und -internierungen ohne Anklage ein, die überwiegend Katholiken viele davon ohne direkten Bezug zur IRA traf. Von Folter und Misshandlungen der Gefangenen war die Rede.105 Dies trug zur weiteren Radikalisierung bei und trieb den „Provos“ neue Anhä-
103 So wird sich auch in dieser Arbeit auf die PIRA bezogen, wenn von der IRA ab Anfang der 1970er-Jahre die Rede ist. 104 Allein in den Jahren 1974 bis 1976 tötete die UVF 250 Menschen (vgl. English 2003: 173). 105 1979 berichtete das Komitee unter Leitung des englischen Richters Harry Bennett, das zur Aufklärung der Anschuldigungen eingesetzt worden war, von Hinweisen auf nicht selbst zugefügten Verletzungen (Report of the Committee of Inquiry into Police Interrogation Procedures in Northern Ireland, unter http://www.cain.ulst.ac.uk/hmso/bennett.htm, letzter Zugriff 12.04.2015).
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nger und Mitglieder zu.106 1972 wurde das nordirische Parlament aufgelöst und durch das britische „Direct Rule“ ersetzt (bis 1998). Der Rückhalt der britischen Truppen in den katholischen Vierteln schwand und kehrte sich in Ablehnung und Hass um. Tragischer Eskalationspunkt war dabei der „Bloody Sunday“ (30. Januar 1972): Bei einem Demonstrationszug in Londonderry mit nicht unüblichen Ausschreitungen schossen britische Fallschirmjäger in die Menge; vierzehn Menschen kamen ums Leben.107 Am 21. Juli 1972, dem „Bloody Friday“, zündete die IRA als Vergeltung in Belfast innerhalb von weniger als einer Stunde sechsundzwanzig Bomben inklusive zweier Autobomben (vgl. Mattox 2004: 83). 1974 führte sie eine Bombenkampagne in England.108 Ziele waren u.a. Pubs in Guilford (fünf Tote, über sechzig Verletzte), Woolwich (zwei Tote, fast dreißig Verletzte) und Birmingham (einundzwanzig Tote, hundertfünfzig Verletzte) (vgl. English 2003: 167 ff.). Die IRA erklärte, die Engländer trügen die Schuld: „They hold the (...) keys of war“ (zit. n. ebd.: 169). Als Reaktion verabschiedete das Parlament in London den Prevention of Terrorism (Temporary Provisions) Act, der der Polizei u.a. die Befugnis einräumte, Terrorverdächtige ohne richterliche Anordnung bis zu sieben Tage zu inhaftieren und zu verhören. Die Attentate hatten Exzesse und Justizskandale zur Folge, die das ungerechte System Großbritanniens im Sinne der IRA und Sinn Féins freilich erst spät bloßstellten: 1989 bzw. 1991 wurden die Urteile gegen die vermeintlichen Guilford-Attentäter, die so genannten „Guilford Four“ (darunter Gerard „Gerry“ Conlon) wie auch die gegen die wegen des Verdachts auf Planung und Mithilfe inhaftierten „Maguire Seven“ (unter ihnen Conlons Vater Giuseppe, der im Gefängnis starb) aufgehoben: Entlastende Beweise waren zurückgehalten und Geständnisse erpresst worden. Auch die „Birmingham Six“ wurden 1991 nach sechzehn Jahren Haft freigelassen und 2001 finanziell entschädigt.
106 White (1989) kommt in seiner Untersuchung des Umfelds der [P]IRA Anfang der 1970er in Londonderry zu dem Ergebnis, dass weniger ökonomische Entbehrungen als staatliche Repression und die Erfolglosigkeit des friedlichen Protests die bewusste Hinwendung zu politischer Gewalt beförderte. 107 2010 wurde der 1998 von der britischen Regierung beauftragte Saville-Report veröffentlicht, in dem im Gegensatz zu vorherigen Untersuchungen befunden wurde, dass die Soldaten nicht auf Schüsse reagierten, sondern von sich aus an jenem Tag das Feuer eröffnet hätten. Premierminister David Cameron entschuldigte sich daraufhin öffentlich im Namen des Landes. 108 Auch die Protestanten führten Bombenterrorismus im quasi feindlichen Ausland: Am 17. Mai 1974 explodierten UVF-Bomben in Dublin und Monaghan (Republik Irland). Mit 33 Toten bzw. tödlich Verwundeten waren dies „one of the worst atrocities of the entire troubles“ (English 2003: 167).
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War die IRA Ende der 1960er-Jahre nur mehr eine gespenstische Randerscheinung gewesen, hatte sie im Lauf der 1970er massiven Zulauf bekommen.
By no means all of these people were armed guerrilla fighters, but even those working on security, intelligence, safe houses and so forth were an integral part of the armed Provisional movement (ebd.: 114).
Als Radikalisierungsspitze einer breiten Bewegung wandelte sich auch ihre Organisationsstruktur. Wer den „Provos“ mit ihren „Bataillonen“ und „Kompanien“ beitrat, war schnell bekannt gewesen auch Informanten der nordirischen und britischen Sicherheitskräfte. 1976 wurde jedoch das Northern Command, der Ulster Armeerat, als autonome Kommando-Struktur gegründet, eine „Kriegszone“ (War Zone) aus sechs nordirischen Grafschaften definiert und eine Zellenstruktur eingeführt, deren „Active Service Units“ (ASUs) auf gewisse Funktionen spezialisiert waren (z.B. Bombenanschläge oder Bestrafungen) (vgl. Moloney 2007: 157; Bittner und Knoll 2000: 268; Neumann 1999: 110 ff.). Diese Struktur bot mehr Sicherheit und Schutz im Untergrundkampf und war nicht zuletzt eine Reaktion auf die allgemeine Kriegsmüdigkeit im Norden und die Erfolge der staatlichen Geheimdienstarbeit (Smith, M.L.R. 1995: 145 ff.). Auch nach der Reorganisation war ein „basic strategic concept of trying to demoralise British public opinion into accepting withdrawal“ (ebd.: 155). Einer der spektakulärsten Attentate der IRA war 1979 die Ermordung Lord Mountbattens durch eine Bombe; am selben Tag wurden achtzehn britische Soldaten, ebenfalls durch einen Sprengstoffanschlag, getötet.
Auch politisch konnte die IRA Erfolge feiern (wenn auch nur bedingt für sich verbuchen): 1981 kam es im Hochsicherheitsgefängnis „The Maze“109 entstanden aus dem Internierungslager Long Kesh zum Hungerstreik. Den IRA-Inhaftierten (wie auch den protestantischen Paramilitärs) in den „H“-Blöcken war ab 1. März 1976 der politische Sonderstatus aberkannt worden, der ihnen gemeinsame soziale und politische Aktivitäten erlaubte, was das Gefängnis zu einer ideologischen Ausbildungsstätte für Aktivisten gemacht hatte. Ohne den Sonderstatus sahen sich die Extremisten zu gewöhnlichen Kriminellen degradiert (vgl. u.a. English 2003: 189 ff.) Folge der Kriminalisierungs- und „Ulsterisierungspolitik“ der britischen Regierung seit Mitte der 1970er. „There is no such thing as political murder, political bombing or political violence“, so die damalige Premierministerin Margret Thatcher 1981 in der Londoner Times (zit. n. Mulcahy 1995: 449). Als Reaktion begannen die Gefangenen den „Blanket Protest“: Sie lehnten die übliche Anstaltskleidung ab und hüllten sich stattdessen
109 Offiziell „Her Majesty's Prison Maze“.
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in Decken. Die nächste Stufe stellte der „Dirty Protest“ (ab 1978) dar: Die Häftlinge der IRA und der INLA verweigerten die Körperhygiene und beschmierten die Wände ihrer Zellen mit ihren Exkrementen. 1980 begann der erste und 1981 der zweite, dramatischere Hungerstreik, in dessen Folge zehn Männer starben. Unter ihnen war Robert „Bobby“ Sands, der im Gefängnis zum Parlamentsabgeordneten gewählt und für viele zur Märtyrerfigur in diesem Ringen mit der unnachgiebigen Thatcher-Regierung wurde. Weniger direkt politisch, jedoch in der Öffentlichkeitswirkung erwies sich der Streik für die IRA und Sinn Féin als ein großer Erfolg, insofern er eine Welle der Solidarisierung und Sympathie zur Folge hatte. Als Vergeltungsschlag gegen die „Iron Lady“ und ihr Kabinett erfolgte 1984 ein Bombenschlag auf das Grand Hotel in Brighton, in dem der Parteikongress der Conservative Party stattfand.
In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde die IRA von Libyen mit Waffen versorgt (vgl. Moloney 2007: 3 ff.), weitere Lieferungen kamen aus den USA bzw. dem Umfeld der Spendenorganisation NORAID (vgl. Bell 2000: 182 ff.). Ab Mitte der 1980er erklärte die IRA allen Firmen und Personen, die mit dem Staat oder seinen Sicherheitskräften zusammenarbeiteten zu legitimen Zielen (vgl. Neumann 1999: 166), und Ende des Jahrzehnts war die Gewalt trotz Bemühungen vonseiten Sinn Féins um eine Entmilitarisierung des Konflikts wieder angestiegen (vgl. ebd.: 160), derweil weitere Verfehlungen britischer Sicherheitskräfte wie Folter und gezielte Tötungen in Nordirland untersucht wurden und 1988 die Tötung einer IRA-Einheit auf Gibraltar international für Aufsehen sorgte.
3.2.1 Zensur, Fanatisierung und Kriminalisierung der 1970er- und 1980er-Jahre
Der Nordirlandkonflikt stellte bis in die 1990er-Jahre hinein einen brisanten, vor allem in den 1970ern bisweilen zu heiklen Gegenstand nicht zuletzt für das britische Kino dar. Dieses hatte in den 1960ern internationale Erfolge bei Kritik und Publikum gefeiert; zusammen mit der gesamtwirtschaftlichen Lage stagnierte die Filmindustrie nun jedoch: Wurden 1971 noch 98 Spielfilme produziert, waren es 1981 nur mehr 36 (Wood 1983: 143, zit. n. Street 1997: 89). Hinzukam kam der generelle Bedeutungsverlust des Kinos angesichts veränderten Konsumverhaltens und der Medienkonkurrenz des Fernsehens. Auf letzteres verlagerte sich nach der britischen „New Wave“ (ab Ende der 1950er) die Produktion sozialkri-
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tischer Stoffe (vgl. Helbig 1999: 235) mit später auch im Kino erfolgreichen, politisch engagierten Regisseuren wie Ken Loach oder Mike Leigh.
Besonders was das Fernsehen anbelangt, waren die „Troubles“ vor allen in den 1980ern Themenfeld medialer Zensur in Großbritannien und in der Republik Irland. Konkret erließ der britische Staat nach einer investigativen Dokumentation (Death on the Rock; Roger Bolton, ausgestrahlt von ITV 1988) über die Tötung von IRA-Mitgliedern auf Gibraltar durch SAS-Soldaten Restriktionen. Jegliche Wiedergabe von gesprochenen Worten, die eine verbotene Organisation repräsentierten, unterstützten oder bewarben, war untersagt.110 Das betraf neben der IRA auch protestantische Extremisten. In der irischen Republik war es schon ab 1973 verboten, die „Autorität des Staates“ zu untergraben und Gewalt zu befördern, und ab 1976, bestimmten paramilitärischen und politischen Organisationen (darunter Sinn Féin) auch nur indirekt ein Forum im Rundfunk zu bieten. Als die RTÉ-Exekutive111 zu ihrer Entscheidung stand, ein Interview mit einem IRA-Sprecher zu senden, wurde sie komplett entlassen und ein involvierter Journalist zu vier Monaten Haft verurteilt (vgl. Pettitt 2000: 205 ff.; Rockett 2004: 363 ff.; Curtis 1998: 138 ff.).
This effectively prevented the public from seeing, hearing or hearing about the ideas of people, including elected local and national politicians; a bizarre situation in a democratic state (Pettitt 2000: 208 Herv. i. O.).
Die Lücke füllten Fernsehfilme und Dokudramen. Von der (etwa internen Sender-)Restriktionen aufgrund ihres fiktionalen Gehalts relativ unbehelligt (wenn auch nicht völlig frei), behandelten sie die Folgen der Protest- und Guerillagewalt sowie der gesellschaftlichen Teilung in Nordirland für die Bevölkerung und dabei vor allem für die Kinder, so z.B. Derek Mahons Fernsehspiel Shadows on Our Skin (UK 1980). Unter dem Schutz des Semidokumentarischen und der journalistischen Aufklärung konnten freilich bisweilen selbst provokante politische Fragen behandeln werden, z.B. die Zweifel an den Ermittlungen und der Täterschaft der Verurteilten im Fall des Birmingham-Anschlags 1974 in Who bombed Birmingham? (UK 1990; Mike Beckham). Der Film rekapituliert mit Schauspielern die Ermittlungsarbeit der Sendung World in Action von Granada Television bzw. des Abgeordneten und Buchautors Chris Mullin (Error of Judgement: Truth About the Birmingham Bombings; im Film gespielt von John Hurt). Grenzen gab es aber auch hier: Aufgegriffen, jedoch im Ergebnis unterdrückt wurden die Ermittlungen zu Antiterroreinsätzen der Sicherheitskräfte und
110 Gem. BBC Producers Guidelines, London 1989, App. 5 (vgl. Pettitt 2000: 211). 111 Radio Telefís Éireann, die irische Rundfunkanstalt.
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dem Verdacht des vorsätzlichen Erschießens bei Kontrollen und Festnahmen in Shoot to Kill (UK 1990; Peter Kosminsky), die Thematisierung brutaler Verhörmethoden gegenüber Terrorverdächtigen in Article 5 (R: Brian Phelan)112 (vgl. Pettitt 2000: 227 ff.) oder die fragwürdige Verurteilung von vermeintlichen Tätern in The Legion Hall Bombing (UK 1978; Roland Joffé; in der Reihe The Play for Today). Der sozialkritische linke Regisseur Ken Loach erfuhr ebenfalls, wie prekär die Behandlung des Konflikts bzw. seiner Geschichte war: Der Auftrag für ein modernes Nordirland-Fernsehdrama wurde Anfang der 1970er von der BBC nach umfangreichen Vorarbeiten des Autors Jim Allen storniert, ein Spielfilmprojekt mit dem Titel The Rising, das Ken Loach und Produzent Tony Garnett über den britisch-irischen Krieg planten, scheiterte wegen des Inhalts an der Finanzierung durch den Sender (vgl. Curtis 1998: 153 f.). Mit The Wind That Shakes the Barley (IRL/UK/D/I/ESP/F 2006) befasste Loach Jahrzehnte später sich dann doch noch mit der Zeit des irischen Freiheitskampfs und Bürgerkriegs allerdings im bzw. fürs Kino.
Schwierig war es jedoch nicht nur, kritische Filme im Fernsehen oder ohne Zensurauflagen in den Kinos zu zeigen, sondern generell dabei den richtigen Ansatz zu finden, um etwa das Publikum nicht zu verprellen. Hills Aussage, Filme zu Nordirland könnten das Thema des Konfliktes nicht vermeiden, ohne naiv oder ausweichend zu sein (vgl. Hill 2006: 141), lässt sich insofern noch verschärfen, als sogar das Vermeiden selbst, also alle Versuche der Entpolitisierung von Figuren und Storys, nachgerade zum Scheitern verurteilt waren zumindest in bestimmten Phasen der „Troubles“. Nordirlandfilme (wie Konfliktfilme in anderen Ländern auch) gerieten zwangsläufig und bei aller Balance und gezielter Harmlosigkeit qua Gegenstand politisch, mitunter gar zum Politikum.
Den Umschwung in der (auch kinofilmfiktionalen) Wahrnehmung der alten anachronistischen IRA zu den „Provos“ und vor allem der Tragik der „Troubles“ zeigt sich sinnbildlich anhand zweier Filme des Regisseurs Don Sharp, der sich mit Horrorfilmen des Unternehmens Hammer-Films in den 1960ern einen Namen machte. The Violent Enemy (UK 1967) nach dem Roman von Jack Higgins erzählt die Geschichte eines IRA-Mannes Sean Rogan (Tom Bell), der von briti-
112 Article 5, 1976 verboten, dreht sich um „the hiring of three mercenaries by an Englishman for service in an unnamed country which involved the use of torture“ (Coogan 2002: 364), wobei in einem Dialogteil auf Nordirland als Land angespielt wird, in dem Regierungsfolter stattfände (vgl. ebd.). Laut Pettitt (2000: 233) wurde der Film weder ausgestrahlt noch für die Forschung zur Verfügung gestellt. Die mediale (Selbst-)Zensur selbst wurde Gegenstand in dem TV-Film Giro City (UK 1982) von Karl Francis.
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schen Gangstern zur Flucht aus britischer Haft verleitet wird, um in der südirischen Provinz per Sprengstoff eine britischen Elektronik-Fabrik zu zerstören. Auftraggeber ist der Kommandeur in fortgeschrittenem Alter, Colum O. More (Ed Begley), der nicht nur gestrig in seiner Ablehnung der neuen ökonomischen Realität als imperialistisch wirkt, sondern auch von seinen republikanischen Mitstreitern isoliert agiert und der guten alten Zeit nachtrauert. Die britischen Auftragsverbrecher wiederum sind nur an der Firmenkasse des Anschlagsziels interessiert, was den radikalen Republikanismus nicht nur als naiv, sondern auch als blinden Wegbereiter schnöder Kriminalität ausweist. Rogan selbst verhindert in letzter Minute den Tod Unschuldiger durch die Explosion und macht zusammen mit der lokalen Polizei die Ganoven dingfest, fügt sich also zivilheroisch wieder in die moralische und politische Ordnung.
Sharps Hennessy (UK 1975), „the first film to focus on the resurgence of the Troubles in Northern Ireland“ (Burns-Bisogno 1997: 123) und ebenso wie The Violent Enemy vor allem an vordergründiger Unterhaltung interessiert, bietet eine ähnliche, wenn auch radikalere Version des IRA-Loners: Der titelgebende Attentäter (Rod Steiger) ist wie Rogan Sprengstoffexperte, verweigert sich seiner Familie zuliebe aber den Avancen der IRA. Als Frau und Tochter bei Unruhen in Belfast versehentlich von einem (selbst durch die Kugel eines IRA-Heckenschützen getroffenen und daraufhin um sich schießenden) britischen Soldaten getötet werden ein Anklag an den Blutsonntag von 1972 will Hennessy auf eigene Faust das Londoner Parlamentsgebäude samt der Queen in die Luft jagen. Die IRA versucht ihn zu stoppen, kooperiert dafür gar mit Scotland Yard.
Hennessy kombiniert zwei Republikaner-Typen: den Renegaten, den seine eigene illegale Organisation selbst wieder einzufangen trachtet, und den besessenen, unpolitisch-forderungslosen Rächer, wie ihn das Bollywood- und das Hollywoodkino z.B. in The Patriot Game (USA 1992) (s. 3.2.2) verstehen, d.h. in ihre generisch formierten Erzählwelten integrieren können. Der spekulative Thriller, „carefully apolitical as an aspirin commercial“ (Canby 1975), der Originalaufnahmen der Parlamentseröffnung inklusive der britischen Königin verwendet, wurde von britischen Verleihern boykottiert und versuchte daraus Kapital zu schlagen (mit Plakaten mit der Headline „Why has the movie Hennessy become an international cause célèbre?“), passierte allerdings in Irland die Zensurstelle ohne Schnittauflagen (vgl. Burns-Bisogno 1997: 125).113 Beachtlich ist dabei, dass der Film zu einer Zeit startete, in denen die jüngste Hochphase der „Troubles“ in Ulster noch nicht lange zurück lag und England noch frisch unter dem Eindruck des Terrorismus stand, den die IRA ins Land getragen hatten.
113 Zur Todesszene in Hennessy s. Zywietz (2013).
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Die politische Undurchsichtigkeit sowie Amoralität auf allen Seiten besichtigt Tony Luraschis vier Jahre später gestarteter The Outsider (USA 1979), in einer Phase, in der der Aufstand bereits zu einem zermürbenden Stellungskrieg geworden war und die IRA qua Staatslinie kriminalisiert wurde. Dieser einzige Film Luraschis als Regisseur und Drehbuchautor sowie der Produktionsfirma Cinematic Arts B.V. fand keine nennenswerte Verbreitung (schon gar nicht im Vereinigten Königreich oder Irland), ist aber bemerkenswert angesichts seines pessimistischen Tons. Hauptfigur ist der idealistische Vietnamveteran Flaherty (Craig Wesson), der, angestachelt von den IRA-Heldengeschichten seines in die USA emigrierten Großvaters (Sterling Hayden), sich der IRA in einem bombenzerrütteten Belfast anzuschließen sucht. Dort wird der „Yankee“ jedoch weniger willkommen geheißen als von beiden gegnerischen Seiten (sprich: Sicherheitskräfte und Radikal-Katholiken) als wertvolles Opfer verplant. Für die IRA wäre sein inszenierter Tod durch die Briten publicity-wirksam, für die Briten, die mit ihm ihren eigenen republikanischen Informanten schützen wollen, ein Propaganda-Coup, insofern die Hinrichtung eines US-Bürgers durch die IRA die Unterstützungsbereitschaft in den Vereinigten Staaten hemmen würde. Flaherty überlebt jedoch und muss zurück in der Detroiter Vorstadt von seinem alten Großvater erfahren, dass dieser selbst seine IRA-Kameraden in den 1920ern verraten und seinen Enkel quasi als Wiedergutmachung für „die Sache“ in den bewaffneten Kampf geschickt hat (vgl. Connelly 2012: 169 ff.). Die historischen Heldenmythen und corporate narratives der Vergangenheit, die in den Filmen bis in die 1960er hinein in zwar als überkommene und damit gefährliche Inspiration für die Gegenwart und Zukunft dargestellt, zugleich aber gepflegt und bisweilen gar verklärt werden, sind in The Outsider als Selbst- und Fremdverblendung gänzlich diskreditiert.
Noch extremer und quasi der Gegenpol zur romantisierten republikanischen Volksbewegung früherer Zeiten zeigt The Long Good Friday (UK 1980; John Mackenzie) die IRA oder zeigt sie eben nicht: Der arrivierte Londoner EastEnd-Verbrecherboss Harold Shand (Bob Hoskins), und mit ihm der Zuschauer, erfährt erst gegen Ende des Films, dass hinter dem Mord an Shands Männern sowie den Bombenanschlägen auf seine Mutter und sein Restaurant keine rivalisierende Gang, sondern die IRA steckt: Diese fühlt sich aufgrund des Unterschlagung von Schutzgeldzahlungen für Shands Bauprojekte und dem Tod von drei IRA-Volunteers, der ihm angekreidet wird von Shand hintergangen. Ideologisch motiviert gerät die IRA eine Nummer zu groß und zu fremdartig für den gewinnorientierten, am Bauboom der Docklands profitierenden Mafioso mit
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seiner Geschäftslogik und dem Streben nach Business-Legitimität. Diese Unbezwingbarkeit und das Mysteriöse der „Provos“ in The Long Good Friday enthüllen laut Hill wie schon zuvor Odd Man Out oder Hennessy einen Unwillen „to locate their representations of violence within a social and political context that might explain them“ (Hill 2006: 194). Nur vereinzelte Figuren erscheinen für den Zuschauer als Exponenten einer ansonsten im Dunkeln bleibenden, ungreifbaren Organisation, mit der sich sogar der hochrangige Polizist, der auf Shands Lohnliste steht, nicht anzulegen getraut. Der originäre Kampf der IRA findet woanders statt, ihre Mittel Sprengstoffanschlag und Meuchelmorde werden aber je nach Bedarf exportiert.
The Long Good Friday wurde weniger wegen seiner Politik denn der dargestellten Gewalttätigkeit in Irland nicht aufgeführt und im Vereinigten Königreich mit Schnittauflagen versehen, gegen die aber die Produzenten erfolgreich Einspruch erhoben (vgl. Burns-Bisogno 1997: 125 f.). Die dämonisierte, fast gesichtslose IRA auf dem Spielfeld des rein organisierten Verbrechens war jedoch der finanzierenden Associated Communications Corporation derart heikel oder zumindest ein mögliches Kassengift, dass sie das Gangsterdrama zunächst nicht in die Kinos bringen wollte und für die Fernsehausstrahlung vom Regisseur eine um zehn Minuten gekürzte Fassung forderte, in der die IRA-Anspielungen entfallen sollten (vgl. Hill 2006: 194). Bei aller Kontroverse ist The Long Good Friday Kind seiner Zeit in politischer wie kinematografischer Hinsicht:
The fact that the implementation of a criminalisation policy towards republican prisoners in the North in the mid-1970s coincided with the vogue enjoyed by the Godfather films handed the British authorities a valuable rhetorical weapon (...) From then on, the leaders of Sinn Fein could be denigrated simply as “Godfathers” and political violence similarly dismissed as “organised crime”, perpetrated by the mindless thugs of the republican mafia produced by the nationalist ghettos (Gibbons 1997: 51).
Die britische Regierung wie die konservative Presse schlossen mit dem Verbrecher-Bild der IRA-Streiter an ein etabliertes traditionsreiches Stereotyp an: das des irischen Gangsters. Ausgehend von der sozialen Realität der Auswanderungswellen und der Emigrantenmilieus in Metropolen wie London oder New York, der (nicht nur) damit verbundenen niedrigen sozialen und wirtschaftlichen Stellung von irischen Katholiken, einem Underdog-Ethos und krimineller Banden wie den „Dead Rabbits“ im New York der 1850er war (und ist) der irische bzw. irisch-amerikanische Gangster nicht zuletzt im Hollywoodkino eine feste
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Größe geworden.114 Soziokulturelle ethnische Stereotype und generische Typen wirkten hier zusammen und sonderten politische Faktoren aus, indem die politische Gewalt auf/von der Grünen Insel als atavistisch gezeichnet wurde, was das Jahrhunderte alte Bild des „untermenschlichen“, „äffischen“ irischen Volk mit seinem gewaltbereiten „Naturell“ aufgriff und fortschrieb (vgl. McLoone 2005 [2000]).
Die entpolitisierende Kriminalisierung in The Long Good Friday greift am Rande zugleich ein reales Phänomen auf: Neben der Selbstinszenierung der militanten Republikaner als ordentliche rechtmäßige Streitmacht mit Paraden, Begräbnissen samt militärischen Ehren und ähnlichen Demonstrationen und Performances etablierten die „Provos“ zwischen „Mythos und Mafia“ (Bittner und Knoll 2000) organisierte kriminelle Strukturen: Schutzgelderpressungen, Diebstähle und Raub vermengten sich mit den klandestinen Operationen des politischen Kampfes (vgl. Ryder 2009). Mit ihrem Ordnungsanspruch nicht zuletzt aufgrund fehlender oder akzeptierter staatlicher Alternativen in den katholischen Gemeinschaften kontrollierte die IRA viele Aspekte des Alltags: Als Schutzmacht praktizierte sie eine Schattenjustiz, verhängte Strafen bei schweren oder wiederholten Verbrechen in Form von Teeren und Federn, Verprügeln oder dem berüchtigten „punishment shooting“ und besonders dem „kneecapping“, dem Zerschießen der Kniescheiben.115 Auch noch grausamere Strafen bis hin zur Ermordung sind dokumentiert; vor allem (vermeintliche) Verräter und Informanten richtete man hin (vgl. u.a. Moloney 2007: 28 f., Bittner und Knoll 2000: 60 ff., 191 ff.; Neumann 1999: 123 ff.). Republikanische (aber auch loyalistische) mafiöse Familien in diesen Jahren präsentieren dann besonders spätere Filme, etwa Resurrection Man (UK 1998; Marc Evans), Nothing Personal (UK/IRL 1995; Thaddeus OSullivan) oder Fifty Dead Men Walking (UK/CAN 2008) sowie die schwarze Krimikomödie Divorcing Jack (UK 1998; David Caffrey) nach dem gleichnamigen Roman des nordirischen Bestsellerautors Colin Bateman. Auch in John Boormans The General (UK/IRL 1998) ist die (freilich südirische) IRA die etablierte Konkurrenz des volksnahen Dubliner
114 Entsprechend denn auch die Bedeutung der Besetzung von Lenihan mit dem Gangster-Darsteller James Cagney. Zur Figur des irisch-amerikanischen Bandenverbrechers s. u.a. Shannon (2005). Zur Stereotypisierung von Iren etwa in der britischen Presse generell s. McLoone (2001). 115 „Zwischen 1973 und 1979 schoß die IRA insgesamt mindestens 537 Personen in die Knie oder die Beine“ (Bittner und Knoll 2000: 63). Dabei traf ab 1972 schätzungsweise sechzig Prozent der Taten die eigene Bevölkerungsgruppe (vgl. ebd.: 62). Laut Neumann (1999: 124) wurden mehr katholische Zivilisten durch die IRA getötet als durch die RUC und die britische Armee zusammen, ein großer Teil davon aufgrund des republikanischen „Strafvollzugs“.
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Gangsterbosses Martin Cahill (Brendan Gleeson), die ihren Anteil fordert und ihn schließlich (bzw. zum Auftakt der als Rückblende erzählten Geschichte) erschießt.116 Das Gewalt- und Schattenleben ist dabei wenn überhaupt nur notdürftig als das von Idealisten und politischen Aktivisten kaschiert, es herrscht allenfalls interkonfessioneller Hass. Kriminelle Geschäfte in Nachtklubs und Pubs wechseln sich ab mit Straßenschlachten oder Übergriffen auf die Gegenseite, und das Treffen zwischen Protestanten und Katholiken in leeren Fabrikhallen in Nothing Personal gemahnt an das zweier verfeindeter Clans beim gleichwohl professionell-sachlichen Geschäftstreffen.117
Freilich sind bis auf The Long Good Friday und Divorcing Jack die genannten Filme ebenso wie Kari Skoglands Fifty Dead Men Walking (UK/CAN 2008)118 mit ihrer jeweiligen zeitgenössischen Verortung der Handlung in historisch zurückliegendem Setting Produkte der Tauwetter-, Friedensschlussoder Post-„Troubles“-Phase der 1990er- und 2000er-Jahre. Sie bieten über Ausstattung, Kostümen, Frisuren oder populären Musikstücken als Soundtrack nicht nur bestimmte Schauwerte, sondern auch eine geschichtliche Distanz, stellen mit Sicherheitsabstand eine versuchte historisierende Ein- oder gar Abschließung des Konflikts dar (s. 3.2.3.1), der zum Jahrtausendwechsel sein Ende fand, wenngleich auf lokaler Ebene Friktionen und Gewalt nicht ganz verschwand. Zugleich demonstrieren sie, wie die Mafia-IRA Erinnerungsgut geworden ist, das diskursiv bedingt mit einem bestimmten Zeitabschnitt assoziiert wird.
116 Der Film basiert auf der realen Verbrecherfigur gleichen Namens. The General kam als SchwarzWeiß-Film in die Kinos und behauptete damit eine auch visuelle Geschichtsträchtigkeit; spätere (TV-)Auswertungsversionen waren allerdings in Farbe. Eine weitere filmische Adaption der CahillBiografie ist Ordinary Decent Criminal (UK/D/IRL/USA 2000) von Nothing-Personal-Regisseur Thaddeus OSullivan mit Kevin Spacey in der Hauptrolle; das Bild der IRA ist darin praktisch das gleiche wie in Boormans Films. 117 Ein vergleichbares Auftreten als „Pate“ oder „Don“ kennzeichnet auch den IRA-Führer Hamill in The Boxer s.u. (vgl. Einwächter 2008: 46). 118 Der Film basiert auf den Erinnerungen des jungen Gelegenheitsgauners Martin McCartland (im Film gespielt von Jim Sturgess), der in den 1980er-Jahren als Informant für die Sicherheitsdienste „Provo“-Mitglied wurde.