„Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 3 Es genügen nicht nur die Bilder, die der Film zeigt. Die manchmal noch wichtigeren Bilder sind die, die beim Ansehen des Films in einem entstehen (Grabe 2000, S. 47). Nachdem der 1937 in Dresden geborene Hans-Dieter Grabe 1959 nach Westdeutschland kam, arbeitete er zunächst zwei Jahre lang als freier Mitarbeiter für den Bayerischen Rundfunk. Im November 1962 bewarb er sich beim ZDF. Bis zu seiner Pensionierung 2002 arbeitete er für den Mainzer Sender (vgl. Frank 2005, S. 17 f.). Bis 2014 entstanden 60 – zumeist kürzere – Dokumentarfilme.1 Cornelia Bolesch (1992, S. 313) bezeichnete Hans-Dieter Grabe 1992 als „hervorragenden Fernseh-Künstler“. Er ist neben Eberhard Fechner der bekannteste und wichtigste Vertreter des Interviewdokumentarismus.2 Dennoch stand Grabe lange im Schatten anderer. So schrieb z. B. Wilhelm Roth 1982: Grabes dokumentarische Arbeit hat nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient. Obwohl er in zwanzig Jahren 33 Filme gedreht hat, kennen ihn selbst Dokumentarfilm-Spezialisten meist nicht. Der kümmerlichste alternative Verleih scheint immer noch wichtiger zu sein für die Durchsetzung eines Filmemachers als das anonyme Fernsehen (Roth 1982, S. 152). 1Inklusive Grabes 15minütigen Beitrag Wiederbegegnung für das Projekt 20xBrandenburg. Menschen – Orte – Geschichten (2010; künstlerische Leitung: Andreas Dreesen). 2Thematisch und ästhetisch ist ihre jeweils spezifische Methodik jedoch kaum zu vergleichen (vgl. Hißnauer 2007, 2010c, 2013; zu Fechner siehe Emmelius 1996; Hißnauer und Schmidt 2013; Netenjakob 1989). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 85 C. Hißnauer, Personen beschreiben, Leben erzählen, DOI 10.1007/978-3-658-17317-3_3 86 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Mittlerweile ist seine Bedeutung für den bundesdeutschen (Fernseh-)Dokumentarismus unbestritten; und so ist er in den letzten Jahren auch vermehrt in das Bewusstsein der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt.3 Eine erste Monografie von Thomas S. Frank über Grabes dokumentarische Methode erschien 2005.4 Bodo Witzke veröffentlichte 2006 unter dem Titel Ich muss nicht Angst vor Bomben haben Gespräche, die er mit Grabe 2002 für den gleichnamigen Interviewfilm geführt hat. In diesem Buch findet sich auch ein ausführlicher Essay Witzkes. Wilhelm Roth schrieb 1990 über Grabe: Hans-Dieter Grabe ist […] ein Unikum: Ein festangestellter Dokumentarfilmregisseur (beim ZDF), vergleichbar mit Klaus Wildenhahn5 beim NDR, und ein Regisseur, der – nachdem er um 1970 seinen Stil gefunden hatte –, überspitzt gesagt, immer wieder den gleichen Film gedreht hat, das Porträt einer Person oder einer kleinen Gruppe von Menschen, basierend jeweils auf einem ausführlichen, sehr persönlich geführten Interview6 (Roth 1990, S. 85). Ähnlich äußerte sich auch Stefan Reinecke: In den 70er Jahren entwickelte Grabe einen unverwechselbaren Stil dokumentarischen Filmens, seine Handschrift. […] In den Mittelpunkt rücken die Gesichter der Menschen, die Worte und Gesten, die Pausen beim Reden, die Verlegenheiten, das Zögern bei den Antworten. Es sind intime Portraits, meist nicht länger als 45 Minuten, höchst verdichtet und fast wie Gedichte (Reinecke 1990, S. 170). Doch Grabes Filme sind vielschichtiger, als diese Einschätzungen vermuten lassen – und sie sind viel mehr als ein reines Personenporträt. Grabes Filme kommen sehr unscheinbar und unspektakulär daher. Sie sind jedoch sehr konzentriert; es gibt in ihnen wenige Details, die fehlen dürften. Einige von ihnen lassen einen nicht mehr los, wenn man sie einmal gesehen hat, denn Grabe versteht es aus seinem Rohmaterial eine Essenz von extrem hoher Dichtheit und Bedeutsamkeit herzustellen. 3Siehe z. B. Emmelius 2001; Hißnauer 2007, 2009, 2013; Reinecker 1990 oder Renner 2005. 4Kritisch dazu Hißnauer 2006a, b. 5Zu Wildenhahn siehe Hißnauer und Schmidt 2013; Netenjakob 1984. 6Für die späteren Produktionen Grabes gilt dies nicht mehr (s. u.). Spätestens seit Jens und seine Eltern (1990) orientieren sie sich zunehmend Richtung beobachtender Dokumentarfilm. 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 87 In seinen ersten Filmen ist davon noch wenig zu spüren. Sie waren noch stark von der Tradition des sogenannten „Erklärdokumentarismus“ geprägt: Die Kuwait-Reportage [Kuwait – Ein Scheichtum stürzt ins 20. Jahrhundert; CH], gedreht 1965, leidet, das läßt sich heute sagen, unter einem verqueren Verhältnis von Bild und Kommentar, einer Fetischisierung der eingesprochenen Information als Zweck, nicht als filmisches Mittel. […] Kuwait. Ein Scheichtum stürzt ins 20. Jahrhundert ist ein Film ohne O-Ton, der schwer an der damaligen Doktrin trägt, daß es im Fernsehen vor allem lehrreich zugehen sollte. Daher ist über die Bilder ohne Unterlaß ein Off-Kommentar gelegt, der alles besser weiß. Die Bilder, die Menschen, die Gesten und Bewegungen dienen hier zur Illustration; sie haben kaum ein eigenes Gewicht (Reinecke 1990, S. 169).7 Hans-Dieter Grabe in der Rückschau dazu: Ein Text, der mir damals sehr gefiel, aber ein Text, der im Grunde genommen vom Anfang bis zum Ende ein interpretierender, kommentierender, belehrender Text war, der den Zuschauer zwang, alles so zu sehen, wie ich es sah (3sat-Dokumentarfilmfestival am 15. und 19. November 1989; Interview mit Kraft Wetzel, Min. 18). Es waren Filme mit wenig O-Ton. Es waren Filme, die aus einer Fülle von Einstellungen bestanden, die sehr featurehaft zusammengebaut worden waren. Man selbst hat dann seine ganze Kunstfertigkeit darauf verwendet, daß man die Bruchstücke verkleben konnte mit Text (Grabe 2000, S. 31). In diesen Beschreibungen ist der oben angedeutete Stil Grabes noch nicht zu erkennen. Die grafische Analyse (Abb. 3.1) der dokumentarischen Mittel verdeutlicht dies nochmals. Der Film ist ein gutes Beispiel für übliche Länderberichte oder -reportagen in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Auffällig ist das völlige Fehlen von 7Kuwait – Ein Scheichtum stürzt ins 20. Jahrhundert ist der erste Film, bei dem Grabe für Buch und Regie verantwortlich zeichnet. Zuvor realisierte er zwei Filme mit anderen Autoren (Wohlfahrt in Waffen – Ein Bericht über das neutrale Schweden, 1963; Buch: Dieter Schröder; und Die Befreiung – Österreich und die Neutralität, 1964; Buch: György Sebestyén). 88 Kommentar: 71,8% Musik: 47,5% Mit synchronem O-Ton gedreht: 0% Asynchrone Atmo: 61,6% Musik 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Atmo Ton Bild 00:00:00 00:10:00 00:20:00 00:30:00 00:40:00 Grau: Voice-Over-Kommentar Orange: beobachtende Kamera Gelb: Grafik/Karte Schwarz: Vor- und Abspann (Inserts) Hans-Dieter Grabe: Kuwait – Ein Scheichtum stürzt ins 20. Jahrhundert (1965) Abb. 3.1   Stilistische Mittel in Kuwait – Ein Scheichtum stürzt ins 20. Jahrhundert (1965; Hans-Dieter Grabe). (Eigene Darstellung) 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 89 Interviews. O-Töne werden nur als asynchrone Atmo verwendet.8 Sie sind daher sehr unspezifisch (Straßenlärm, Geräusche spielender Kinder, Wüstenwind). Es wird sehr viel Musik eingesetzt – hauptsächlich in Szenen, in den es keine Atmo gibt. Der dominante Sprechertext erinnert noch an die Kulturfilmtradition der 1930er und 1940er Jahre. Grabe selbst lehnt ihn später als interpretierend und belehrend ab (vgl. Frank 2005, S. 365). Über die Situation des Fernsehdokumentarismus zu jener Zeit sagt er: Jedes punktuelle Herangehen an Themen galt als sträfliches Weglassen oder Vernachlässigen vieler wichtiger Aspekte und entsprach nicht der damals noch vorbehaltloser als heute erhobenen Forderung nach Objektivität. Gefürchtet waren die Zeitungskritiken, die nach einer Sendung feststellten, daß ‚viele Fragen offenblieben‘ und es dem Bericht an ‚Objektivität gemangelt‘ habe. Ja, wir machten ‚Berichte‘. Begriffe wie ‚Reportage‘ oder ‚Dokumentarfilm‘ tauchten als Beschreibung dokumentarischen Arbeitens im Fernsehen nur selten auf (Grabe 1992, S. 185).9 Die Filme seit den 1970er Jahren wirken wie eine emanzipatorische Abkehr, gar ein bewusster Affront gegen diese Erwartungshaltung: Selbstbewusst bezeichnet Grabe seine Filme seit dieser Zeit als Dokumentarfilme – weil „mit diesem Wort eine besondere Art zu arbeiten und eine besondere Art der Themenwahl verbunden war“ (Grabe 2000, S. 25). 8Von daher ist die Beschreibung Reineckes nicht ganz korrekt. Die asynchrone Atmo macht immerhin ca. 62 % aus. Ebenso gibt es immer wieder kurze Momente, in denen die Bilder für sich stehen und nicht vom Kommentar überdeckt werden. Allerdings dominiert der Kommentar die Tonspur mit ca. 72 % sehr deutlich. – Natürlich gab es (auch schon in den 1950er Jahren) andere Beispiele. So finden sich in Auf der Suche nach Frieden und Sicherheit (1957) oder Pazifisches Tagebuch (1957) reportierende Sequenzen mit synchronem O-Ton oder Interviews. Solche Produktionen sind als Vorreiter zu sehen, da Kameramann Carsten Diercks hier technische Entwicklungen (Pilotton zur synchronen Bild-Ton-Aufnahme) einsetzen konnte, die noch nicht allgemein verfügbar waren (siehe Hißnauer und Schmidt 2013, S. 39–48). 9An anderer Stelle formulierte er mit Blick auf erste Versuche, Filme über die Gespräche mit Menschen zu realisieren, seine damaligen Selbstzweifel: „Und war das noch ein ‚Bericht‘, wenn – vielleicht sogar ohne ständig die Aussagen interpretierenden, korrigierenden und ergänzenden Text – ein Mensch nur das erzählt, was in einer bestimmten Zeit und Situation nur er erlebt und empfunden hat?“ (Grabe 1988, S. 204). 90 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 3.1 „ Schmarotzer-Themen“ und Methodik: Das Interview als „optischer Vorgang“ Wenn man durch zu weitgehende Kürzungen seine Erzählweise verändert oder entstellt, verändert oder entstellt man auch den Menschen selbst, der erzählt (Grabe 1988, S. 210). Die Filme Hans-Dieter Grabes zeichnen sich durch ihren methodischen Zugang und thematischen Zuschnitt aus. Deutlicher als bei Troller spielen dabei gesellschaftlich relevante Themen eine Rolle, die Grabe über das jeweilige Personenporträt vermittelt. Die besondere Situation Grabes als festangestellter Dokumentarist im ZDF wird in einer kleinen Anekdote, die Grabe erzählt, deutlich: Ein leitender Kollege der Hauptredaktion Außenpolitik, zu der ich mehr oder weniger zufällig gehöre, nannte meine Themen mal im Spaß aber nichtsdestoweniger treffend ‚Schmarotzer-Themen‘ – Themen, die auf Kosten der wenigen Sendetermine der Hauptredaktion leben, ohne der Hauptredaktion bei der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgaben nützlich zu sein. Themen, die daher nur zu leicht von Ablehnung bedroht sind (Grabe 1992, S. 196). Er bezeichnet sie auch als heimatlose Themen, da es keine eigene Hauptredaktion Dokumentarfilm gab und gibt. Daneben entziehen sie sich oft der (Tages-)Aktualität und dem Stichtagsjournalismus. Grabes Themen sind vielfältig und doch lassen sich besondere Interessen herausfiltern. Bodo Witzke identifiziert so fünf bedeutsame Themenfelder (vgl. Witzke 2006, S. 13): • Krieg • Drittes Reich10 • Osteuropa (vor dem Umbruch)11 • Unglück, Krankheit und Tod • Exemplarische gesellschaftspolitische Konflikte12 10Witzke spricht hier von Nazizeit. Vor allem geht es aber um den Holocaust und die Erinnerung daran. 11Vor allem in den 1980er Jahren ein wichtiges Thema für Grabe: Emil Zatopek oder Dana sagt: Bier macht dumm (1980), Arbeiter aus Danzig (1982), Raissa Orlowa-Kopelew – Alle Türen in dieses Land öffnen sich mir langsam und schwer (1983), Ich bekenne mich schuldig – Lew Kopelew (1986). 12Z. B. Arbeitsmigration, Prostitution, Ehrenmord, Krankheit, Suizidalität, Terrorismus etc. 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 91 Daneben gibt es zwei weitere wichtige Themenkomplexe: • Opfer – gerade auch mit Hinblick auf die (Spät-)Folgen von Krieg, Folter und Unglücken13 – und Täter14 • Heimat und Fremde15 13Z. B. die Do Sanh-Filme (1970–1998), Das Wunder von Lengede oder Ich wünsch’ keinem, was wir durchgemacht haben (1979), Hiroshima, Nagasaki. Atombombenopfer sagen aus (1985) oder Nicht mehr heimisch in dieser Welt. Einblicke ins Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin (1994). 14Z. B. Jan-Erik Olsson oder Die Bestie vom Norrmalmstorg (1978), Fritz Teufel oder Warum haben Sie nicht geschossen? (1982) oder Abdullah Yakupoglu – „Warum habe ich meine Tochter getötet?“ (1986). Bei letzterem ließe sich jedoch durchaus argumentieren, dass Grabe Abdullah Yakupoglu auch als Opfer zeichnet: „Auch der Vater erscheint als ein Opfer der Verhältnisse, einer unüberwindbar gewordenen kulturellen Kluft. Bei Grabe tauchen keine Täter [sic!] auf. Er zeigt uns eine Welt von Opfern“ (Reinecke 1990, S. 175). – In der Poddembice-Trilogie (Er nannte sich Hohenstein – Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940–42, 1994; Drei Frauen aus Poddembice. Angehörige der damaligen deutschen Minderheit erinnern sich, 1995; und Letzte Stunden in Poddembice. Jacob Rosenkranz und Abraham Ziegler, 1995) beschreibt Grabe einen Judenpogrom im besetzten Polen aus drei Blickwinkeln: dem eines Nazi-Mitläufers, dem von Zeugen, die bis heute die Verbrechen verdrängen, und dem von zwei Überlebenden. Mit Blick auf Letzte Stunden in Poddembice macht Grabe deutlich, dass er immer auch einen aktuellen Bezug in seinen Filmen hat: „Damals, als ich Szajnfeld traf [Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland, 1970], konnte er die Hoffnung haben, dass er mit einem solchen Film dazu beiträgt, dass so etwas [Gewalt und Faschismus; CH] nicht wieder passiert und dass wir, die ihm gegenüber sitzen, Vertreter eines anderen, eines besseren Deutschland sind. Und als ich zu Rosenkranz kam, war diese Illusion schon nicht mehr da“ (Grabe zit. in Frank 2005, S. 413). – In jener Zeit gab es in Deutschland wieder vermehrt rechtsradikale Übergriffe auf Ausländer und Asylbewerber; die erschreckendsten: pogromhaften Ausschreitungen in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992), Brandanschläge auf türkische Familien in Mölln (1992) und Solingen (1993) mit jeweils mehreren Todesopfern. – Auch Reinecke hebt diesen aktuellen Bezugspunkt vieler Filme Grabes hervor: „Der Eindruck, hier würde einer mit Manie in der Vergangenheit wühlen, trügt. Bezugspunkt ist stets das Jetzt oder die Zukunft; Wie geht es weiter?“ (Reinecke 1990, S. 172). Grundsätzlich gibt es viele Filme Grabes, die ein aktuelles Thema haben (z. B. Dora Koster – Prostituierte, 1981; oder Gudrun Pehlke – „Statistisch gesehen sind Sie tot!“, 1987; über eine krebserkrankte Kollegin beim ZDF) oder Aktualität und Vergangenheit thematisch verknüpfen (z. B. Die Ohnmacht überwinden – Elisabeth Erb in Polen, 1989; über aktuelle Hilfeleistungen für ehemalige KZ-Häftlinge in Polen). 15Z. B. Sanh und seine Freunde – Beobachtung einer Rückkehr nach Vietnam (1975), Dragutin Trumbetas oder Liebe machen, bitte! (1980), Raissa Orlowa-Kopelew – Alle Türen in dieses Land öffnen sich mir langsam und schwer oder Boi aus Vietnam – Mit dreizehn von zu Hause weg (1987). 92 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Grabe verhandelt diese Themen, indem er Menschen porträtiert, die stellvertretend für andere darüber berichten können, die betroffen sind.16 Dabei deuten die Filmtitel oft Spektakuläres an, sie „machen klar, daß diese Filme durchaus Fernsehbedürfnisse befriedigen, sogar eine gewisse Lust an der Sensation schwingt mit“ (Roth 1982, S. 151).17 Doch diese Titel bleiben in der Regel ein leeres Versprechen: Vordergründig steht meist ein außergewöhnliches Ereignis im Leben der Protagonisten im Fokus der Dokumentation. Dies zeigt die Formulierung vieler seiner Untertitel. Grabe macht sich zur Aufgabe, die Menschen hinter einer plakativen Schlagzeile zu portraitieren und ihren Alltag, ihre Gefühle, ihre Gedanken und die seelische Verarbeitung der Erinnerungen an die Vergangenheit zu hinterfragen. Dabei wird dem oberflächlich spektakulären Ereignis die Dramatik genommen und das Ereignis als ein persönlich erlebtes Schicksal des Protagonisten ‚hinter der Schlagzeile‘18 dokumentiert (Frank 2005, S. 349).19 16Während Troller einen gewissen Hang zu Einzelgängern und Außenseitern hat, also immer das Unverwechselbare einer Person beschreibt, sind die Protagonisten Grabes tendenziell eher beispielhaft. 17Z. B. Gisela Bartsch oder Warum haben Sie den Mörder geheiratet? (1977), Simon Wiesenthal oder Ich jagte Eichmann (1978), Hilfeschreie – Selbstmord, Selbstmordversuch. Gespräche mit Lebensmüden (1974). Die angesprochenen spektakulären/sensationsheischenden Titel (und zum Teil auch Themen) finden sich vor allem in den 1970er und – allerdings schon weniger – in den 1980er Jahren. 18Dies trifft vor allem auf die Filme der Reihe beschrieben und vergessen (1977–1979) zu: „Das sollte […] die Aufgabe sein bei solchen Filmen. Nicht das Bekannte noch bekannter werden zu lassen, sondern einen Bereich zu finden, wo der Zuschauer etwas Neues entdeckt“ (Grabe in Frank 2005, S. 387). 19So auch Roth: „Grabes Qualität liegt nun darin, daß er hinter dem journalistisch attraktiven, manchmal sogar sensationellen Ereignis das Alltägliche sichtbar macht, den Menschen, der etwas erlebt oder erlitten hat“ (Roth 1990, S. 86). Das Erlebte und vor allem Erlittene ist dabei für die Filme Grabes wesentlich. So betont Sonja Niemann in einem Artikel der taz: „Hans-Dieter Grabe hat auch ein paar Filme über glückliche, sorgenfreie Menschen gemacht. Es waren […] nicht seine besten. Sein Thema sind die Opfer“ (Niemann 2002). Wie alle anderen Protagonisten nimmt er sie – gerade auch als Opfer – ernst. Das unterscheidet seine Filme von vielen aktuellen Produktionen, in denen ihr Leid auf fünf Sekunden Tränen reduziert wird. Opferstatements dienen allzu oft nur noch zur Illustration längst bekannter, permanent wiederholter Archivaufnahmen. „Was bleibt dem ZDF am Ende, wenn einer wie Grabe keine Filme mehr macht? 37 Grad, Terra-X, Guido Knopp und spektakuläre Bilder der Zeitgeschichte? Die wirklichen Opfer wird vermutlich so schnell keiner mehr befragen“ (Niemann 2002). 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 93 Grabe nutzt diesen ‚Etikettenschwindel‘ bewusst, um die Zuschauer zunächst für seine Protagonisten zu interessieren. Dafür schreckt er nicht vor marktschreierischen Titeln zurück: „Ich habe mich […] nicht gescheut, diese Neugier [der Zuschauer; CH] auch durch Titel anzustacheln“ (Grabe in Witzke 2006, S. 106). Doch seine Filme unterlaufen ihr eigenes Marketing und die – heute noch viel deutlicher ausgeprägten – Fernseherwartungen der Zuschauer (vgl. Roth 1982, S. 151). Doch mit Aufkommen der privatwirtschaftlich organisierten Konkurrenz hat Grabe seine Titelpolitik geändert. Gegen die Inflation ‚knalliger‘ Titel setzt er auch hier auf Zurückhaltung, auf Titel, die Atmosphäre ausdrücken sollen (vgl. Grabe 2000, S. 29 f.). Statt visuell-spektakulärer Dokumentationen voller dramatisierender und emotionalisierender Elemente, liefert Grabe intensive Porträts, deren Spannung sich erst durch das genaue Zuhören ergibt. Oftmals ist es auch der Blick auf das nicht Offensichtliche. So verstört Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972) weniger durch die Erzählungen über die Gewalt im KZ, verstörend wirken die Schuldgefühle Szajnfelds,20 die er fast dreißig Jahre später immer noch hat, weil er einem toten Mithäftling ein Stück Brot abnahm: Mendel Szajnfeld: „Und abends, da hab’n wir ‛n Stückchen Brot bekommen – jeder hat ‛n Stückchen Brot bekomm’. Und der hat das Brot nicht gegessen. Als ich nächsten Morgen aufgestanden bin, da lag da das Brot und ich hab’ gesehen, dass der Mann tot ist, er war ganz kalt. Da hab’ ich das Brot genommen. – Warum. [Er bricht in Tränen aus.] – Ich hab so schlechtes Gewiss’. Ich konnte nicht widerstehen, ich hatte Hunger – entschuldigen Sie, [Er fängt sich wieder.] – ich hatte Hunger. Mein einziger Gedanken war nur, satt zu werden. Ich war wie ‛n Tier. […] Warum habe ich gerade das Brot von ihm genomm’? [Kämpft wieder gegen die Tränen.] Ich hatte Hunger. Ich … ich glaube ich hatte schlechte Gewissen, aber andererseits: Ich konnte es nicht sein lassen. Ich hatte immer Hunger. Auch die anderen hatten Hunger. […] Ich habe auch manchmal Gras versucht zu essen. Ich habe es so oft getan, es war aber nicht dasselbe. Brot, Brot, Brot waren meine Gedanken, Brot. Mal satt zu werden. Und da habe ich das Brot von dem verstorbenen Mann genommen, leider. Vielleicht werde ich deswegen jetzt bestraft, dass ich nicht arbeiten kann. […] Ich hatte Hunger, da hab’ ich das Brot geklaut. Ich hab’ geklaut!“ Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (Min. 21-25) Mittlerweile ist das Phänomen survivor guilt (Überlebensschuld) sicherlich bekannter als zu Beginn der 1970er Jahre, doch noch heute hat diese Szene nichts 20Für den Filmtitel wählte Grabe die deutsche Schreibweise des Namens. 94 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe von ihrer Eindrücklichkeit verloren: Das Opfer fühlt sich schuldig, überlebt zu haben. In solchen Szenen wird deutlich, was es bedeutet, Opfer zu sein. Opfer ist man nicht gewesen, man ist es. Grabe zeigt immer wieder Menschen, die unter ihrer Vergangenheit – so unterschiedlich sie jeweils war – leiden: Mendel Szajnfeld als Überlebender der KZs, Do Sanh als kindliches Opfer des Vietnam-Krieges, Bergarbeiter, die 14 Tage lang in einem Stollen verschüttet waren, Opfer von Folterungen und politischer Verfolgung. Grabe zeigt also, wie sich Vergangenheit immer wieder aktualisiert.21 Dies wird besonders deutlich in seinen Wiederbegegnungen (siehe Kapitel Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung: Hans-Dieter Grabes Wiederbegegnungen).22 Wilhelm Roth betont die Wichtigkeit der Themenwahl für die Filme Grabes: Entscheidend für die Qualität eines halblangen Films ist schon die richtige Themenwahl. Fast alle Filme Grabes sind Porträts einzelner Menschen, höchstenfalls einer kleinen Gruppe, Momentaufnahmen, keine Langzeitbeobachtungen.23 Im Zentrum steht immer ein Gespräch; die Vergangenheit wird im Dialog erörtert, oft auch im Filmzitat heraufbeschworen (Roth 1982, S. 151). Roth verwechselt hier offenkundig Thema und Themenzuschnitt. Grabes Themen sind im Grunde sehr allgemein. Allerdings löst er sie in der Regel als Porträt auf, dadurch reduziert er die Komplexität eines Themas auf das persönliche Erleben/das 21So auch Roth: „Grabe entdeckt hinter den einstigen Mediensensationen die alltäglichen Probleme, die die Menschen damals hatten; er fragt vor allem, wie die Vergangenheit die Menschen heute prägt“ (Roth 1982, S. 151). Dieser Aspekt wird auch von Reinecke betont: „Gerade in einem Medium, dem Objektivität zugemessen wird, setzt Grabe auf Subjektivität. Erinnern – durcharbeiten – bewältigen, diese der Psychoanalyse entstammenden Begriffe sind auch Markierungssteine dieser Interviewmethode. Der Eindruck, hier würde einer mit Manie in der Vergangenheit wühlen, trügt. Bezugspunkt ist stets das Jetzt oder die Zukunft; Wie geht es weiter? Grabes Filme sind Expeditionen, Versuche der Versöhnung mit dem Vergangenen“ (Reinecke 1990, S. 172). 22Daher ist es kaum nachvollziehbar, dass Zimmermann die Filme Hans-Dieter Grabes zu den Porträts zählt, die vor allem an einer Geschichtsrekonstruktion interessiert seien, und nicht zu denen, die einen analytischen Blick auf die Privatsphäre und die Psyche der Protagonisten werfen (vgl. Zimmermann 1994, S. 283). 23Das gilt vor allem für die Filme der 1970er und 1980er Jahre. Seit den 1990er Jahren interessiert sich Grabe vermehrt dafür, frühere Protagonisten erneut zu porträtieren. So entstehen seitdem – mit einigen früheren Beispielen – vermehrt sogenannte Wiederbegegnungen, die sich trotz ihrer jeweiligen Momenthaftigkeit mit den ursprünglichen Porträts zu Langzeitdokumentationen ergänzen (siehe Kapitel Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung: Hans-Dieter Grabes Wiederbegegnungen). 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 95 persönlich Erlebte seiner Protagonisten. Während Fechner durch das polyperspektivische Vorgehen deutlich macht, dass es durchaus verschiedene Erinnerungen an und Bewertungen eines Ereignisses gibt (vgl. Hißnauer 2007; Hißnauer und Schmidt 2013), sind Grabes Filme (mit Ausnahmen24) monoperspektivisch. Aufgrund der Länge der Filme (die meisten sind kürzer als eine Stunde) konzentrieren sie sich auf das Wesentliche. Relevante Fakten werden oft knapp und nüchtern im Kommentar referiert, damit in den Interviews Raum für Erlebnisberichte entsteht, in denen Emotionen, subjektive Sichtweisen und Bewertungen sowie persönliche Reflexionen der Protagonisten zum Ausdruck gebracht werden können. Diese sehr reduzierte Form des Filmemachens und der Filmgestaltung entwickelte sich – wie bereits erwähnt – über einige Jahre. Bereits Mitte der 1960er Jahre schwebten Grabe Filme vor, in denen Menschen und nicht Sachthemen im Mittelpunkt stehen.25 Über den ersten Versuch (Und da erschrak die Monarchie – Bericht über den Aufstieg des dänischen Kommunistenführers Aksel Larsen, 1967) schreibt Grabe später: Aber was ein Oral-History-Film im wahrsten Sinne des Wortes – ohne das Wort damals schon zu kennen – hätte werden können, scheiterte an der ‚oralen‘ Zurückhaltung meines Helden und dem Zwang der Beschränkung auf einen einzigen Gesprächs-Drehtermin mit ihm (Grabe 1992, S. 186). Wenn Hans-Dieter Grabe erzählt, wie unterschiedlich er Die Trümmerfrauen von Berlin (1968) im Vergleich zu seinem Protagonisten des vorherigen Films wahrgenommen hat, so drückt er damit gleichsam aus, welche Protagonisten ein Interviewfilm braucht: Die Trümmerfrauen erzählten – im Gegensatz zu Aksel Larsen – nicht nur viel und vor allem Selbsterlebtes, sie taten es […] auch gern, erzählten ausführlich, genau, engagiert und zu Herzen gehend (Grabe 1992, S. 1987). Auch Die Trümmerfrauen von Berlin zeigt noch nicht die formale Geschlossenheit der späteren Filme. Für die Entwicklung seines Stils (und allgemein des Interviewdokumentarismus), ist die Produktion jedoch eine wichtige Station 24Z. B. Barry Meeker oder Ich war bloß der Pilot (1976) oder Das Wunder von Lengede oder Ich wünsch’ keinem, was wir durchgemacht haben (1979). 25Bereits in seiner Zeit beim Bayerischen Rundfunk konzipierte er eine 15-min-Reihe für die Abendschau – Der Mensch neben Dir. Doch das Konzept wurde von den Verantwortlichen nicht angenommen. Grabe dazu rückblickend: „Der Mensch neben Dir – das kann doch nur langweilig sein. Wer will das schon sehen!“ (Grabe 1992, S. 184). 96 Interviews: 52,4% (ohne Straßeninterviews) Kommentar: 9,5% Musikeinsätze Musik Musikanteil: insgesamt 28% „freistehend“: 18,3% 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Ton Bild 00:00:00 00:04:00 00:08:00 00:12:00 00:16:00 00:20:00 00:24:00 00:28:00 00:32:00 00:36:00 00:40:00 Schwarz: Musik/freistehende Musik (nur auf Tonebene) Grau: Voice-Over-Kommentar Dunkelblau: Interviews Orange: O-Ton/Atmo/beobachtende Kamera Hellblau: Straßeninterviews Rot: Montagesequenz/Archivtöne Rosa: vermeintliche O-Töne/keine originale Atmo Rotbraun: gestellte Szene Türkis: beobachtende Kamera und Titeleinblendung Gelb: Stadtansichten/Schnittbilder Grün: Archivfotos und -filme Interviewanteile in Die Trümmerfrauen von Berlin (1968; Hans-Dieter Grabe) Abb. 3.2   Stilistische Elemente in Hans-Dieter Grabes Die Trümmerfrauen von Berlin (1968). (Quelle: Hißnauer und Schmidt 2013, S. 232) 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 97 (siehe Abb. 3.2):26 Der Kommentar ist auf wesentliche Informationen reduziert, die Interviews – und damit die sprechenden Menschen – stehen über weite Strecken im Vordergrund (jedoch nicht zu Beginn und am Ende des Films). Dazu gibt es aber mit Musik untermalte Impressionen (Stadt-, Straßen- und Parkansichten) und Straßeninterviews, die Grabe später nicht mehr verwendet.27 In 20 Meilen vor Saigon konzentriert sich Grabe zum ersten Mal tatsächlich auf einen Protagonisten: den Hühnerzüchter und ehemaligen Fremdenlegionär Roger Leonard. Grabe verzichtet in diesem Film gänzlich auf einen Kommentar, experimentiert dafür jedoch mit Textinserts: Die Textinformationen wollte ich auf das unbedingt Notwendige beschränken. Ich entschied mich […] für Schrifttafeln, weiß auf schwarz. Die Bildsequenzen aus dem Leben Rogers sollten nicht, wie das üblich ist und nahelag, ‚zugetextet‘ werden, sondern ihre eigene Sprache behalten (Grabe 1992, S. 188). Die Grafik (Abb. 3.3) zeigt, wie stark der Film durch die Interviews mit Leonard dominiert wird. Die von Grabe angesprochenen Bildsequenzen sind dem untergeordnet. Sie finden sich vor allem am Anfang des Films, um etwas von Leonards Alltag zu zeigen. Auffällig ist die ruhelose Kameraführung während den Interviewsequenzen.28 In den späteren Filmen sieht man hingegen bei Interviews kaum Kamerabewegungen; gelegentlich einen Schwenk (bspw. in den seltenen Fällen, in denen zeitgleich zwei Personen interviewt werden wie in einigen Szenen von Jens und seine Eltern, 1990) oder es wird heran- oder vom Protagonisten weggezoomt. In 20 Meilen vor 26Zur Entwicklungsgeschichte des Interviewdokumentarismus siehe auch Hißnauer 2010c sowie Hißnauer und Schmidt 2013, S. 222–254. 27In dem 1974 entstandenen Film Hilfeschreie – Selbstmord, Selbstmordversuch. Gespräche mit Lebensmüden verwendet Grabe m. W. zum letzten Mal Straßeninterviews. Auch auf den Einsatz von Musik verzichtet er später fast völlig. – Zu der Produktion im Vergleich zu anderen Suizid-Dokumentationen siehe auch Hißnauer 2008. 28Kamera: Carl Franz Hutterer. Zur Kameraarbeit von Hutterer vgl. auch das Kapitel zu Georg Stefan Troller, insbesondere den Abschnitt Außenseiter, Exzentriker und Lebenskünstler: Die Personenbeschreibungen. 98 Interviewanteil: 80,5% Kommentar: 0% Erst leise (pink), dann dominante (rot) Gefechtsgeräusche Musik Geräusche Ton Musikanteil: 5,6% 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Bild 00:00:00 00:05:00 00:10:00 00:15:00 00:20:00 00:25:00 00:30:00 Dunkelblau: Interview Grau: Voice-Over-Kommentar Interviews mit Nachbarn Orange: O-Ton/beobachtende Kamera Weiß: Inserts auf schwarzem Grund (Bildebene) Schwarz: Inserts über Bild (Bildebene) Hans-Dieter Grabe: 20 Meilen vor Saigon (1970) Abb. 3.3   Stilistische Elemente in 20 Meilen vor Saigon (1970; Hans-Dieter Grabe). (Eigene Darstellung) 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 99 Saigon scheint die Kamera jedoch (insbesondere zu Beginn) fortwährend in Bewegung – vor allem auch in den Interviewsequenzen mit Roger Leonard.29 Hans-Dieter Grabe berichtet, dass es für seine Kameramänner oft ein Lernprozess war, sich auf die sprechenden Gesichter zu konzentrieren: Die meisten Kameramänner […] haßten das Aufnehmen solcher Statements [von Politikern, Pressesprechern etc.; CH]. Daß das Gesicht eines Menschen, wenn er von seinen Erlebnissen und Erfahrungen erzählt, wenn er vor der Kamera Erlebnisse nacherlebt und Erfahrungen nacherfährt, ein faszinierender optischer Vorgang sein kann, war diesen Kameramännern weitgehend unbekannt geblieben […].30 Es war schön zu sehen, wie meine Kameramänner im weiteren Verlauf der Dreharbeiten mit den Trümmerfrauen ihre Freude an sprechenden Menschen und sprechenden Gesichtern zunehmend entdeckten oder wiederfanden (Grabe 1992, S. 188). Bei 20 Meilen vor Saigon scheint ihm das nicht so gelungen zu sein. – Grundsätzlich ist die Form des Interviews in dem Film noch stark zu erkennen. So beginnt der Film z. B. mit Grabes Aufforderung: „Roger, erzählen Sie doch mal, wie Sie nach Vietnam gekommen sind!“ – Zwar ist Grabe auch in seinen späteren Filmen immer wieder als Fragenstellender zu hören und zu sehen, doch reduziert er dies in der Regel auf das Nötigste.31 Dies ist hier noch nicht der Fall. Die Aufnahmen für den Film entstanden auf einer Vietnamreise zeitgleich mit Aufnahmen für die Filme Kämpfen wofür – über die Fortsetzung des VietnamKrieges und Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (beide ebenfalls 1970). Grabe ist offenkundig daran interessiert, von Leonard viel darüber zu erfahren, wie sich der Krieg auf die vietnamesische Zivilbevölkerung auswirkt. Leonard ist daher 29Die Kamera fährt bspw. während einer Interviewaufnahme um das Tonbandgerät herum, zoomt an eine Anzeige heran, sodass man Leonard zwar hört, im Bild aber nur die Pegelausschläge sehen kann, fährt auf seine Hände, umkreist ihn. Dies sorgt insgesamt für eine große Unruhe, die tendenziell von dem Gespräch ablenkt. 30Auch an anderer Stelle betont Grabe, dass „das Interview ein sehr optischer Vorgang“ sei (Grabe in Witzke 2006, S. 178). 31Grabe selbst dazu: „Ich nehme meine Fragen in Gesprächen vor der Kamera auch nur dann rein, wenn sie unbedingt notwendig sind. […] Ich bin aber kein Purist, der sagt, alle Fragen müssen ‚auf Deubel komm’ raus‘ weggenommen werden. Wir wollen ja durchaus, dass im Dokumentarfilm deutlich wird: Da ist eine Kamera und da ist ein Kameramann und da ist ein Autor. Es sollte eben auch deutlich werden, dass manche Antworten nur durch ein Gegenüber möglich sind, der Fragen stellt oder Anregungen gibt oder einfach nur da ist“ (Grabe in Witzke 2006, S. 59 f.). 100 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe über weite Strecken des Films in der Funktion eines Informanten.32 So kann kein persönliches Personenporträt entstehen. Dies wird auch in den Szenen deutlich, in denen Grabe mit Hilfe von Leonard als Übersetzer vietnamesische Bauern befragt.33 In diesen Interviews geht es um die Söhne der Bauern, welche Seite sie zwangsrekrutiert hat und ob bzw. wie sie gefallen sind. In einem Porträt würden solche ergänzenden Interviews dazu dienen, den Protagonisten (hier: Leonard) zu charakterisieren. In 20 Meilen vor Saigon steht so zwar eine Person im Mittelpunkt des Films und auch die typische Form des Grabeschen Interviewdokumentarismus ist schon erkennbar, doch eine wichtige inhaltliche Komponente fehlt noch: „der Versuch, ein großes Thema auf einen Menschen zu reduzieren“ (Grabe in Witzke 2006, S. 104),34 wie es dann bei Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland der Fall ist. In 20 Meilen vor Saigon wird das Thema lediglich personalisiert. In Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland hingegen wird über das Porträt eines Menschen ein allgemeineres Thema (indirekt) angesprochen. Ursprünglich plante Grabe eine Dokumentation über das Thema Spätschäden bei Traumatisierung durch Lager-Haft mit verschiedenen Personen wie Ärzten, Gutachter und Patienten (vgl. Witzke 2006, S. 96 f.; Frank 2005, S. 281 f.).35 In Oslo lernte er dann auf Vermittlung des Leiters der Psychiatrischen Klinik Mendel Szajnfeld kennen: Als ich sah, wie er von sich und seinen Erfahrungen im KZ erzählte, überlegte ich, ob ich nicht statt dieser breit angelegten Dokumentation nur einen Film über ihn machen kann. Das würde bedeuten, dass viele wichtige Fakten wegfallen würden. Einige wichtige Fakten würden aber bleiben. Für die Zuschauer würden sie vor allem dadurch viel deutlicher, viel eindringlicher sein, weil sie mit einem Menschen verbunden wären, den sie kennen lernen können (Grabe in Witzke 2006, S. 97). 32Auch Alfred Jahn ist in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang im Gegensatz zu den beiden anderen Filmen über ihn funktionalisiert. Erst Dr. med. Alfred Jahn – Kinderchirurg in Landshut (1984) und Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn (2002) sind Porträts über den Chirurgen. 33Das macht immerhin 22,2 % des Films bzw. 27,8 % der verwendeten Interviews aus. 34In dem bereits zitierten Interview mit Kraft Wetzel sah er dies als Alternative zu den bislang üblichen Filmen: „Örtlich einen Punkt finden – und also auch von den Personen her einen Punkt finden. […] Einen Menschen mal erzählen lassen“ (Min. 18). 35Laut Frank (2005, S. 281) wäre es ein Film in der Art von Hilfeschreie – Selbstmord, Selbstmordversuch. Gespräche mit Lebensmüden (1974) geworden. 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 101 Allerdings stieß die Reduktion des komplexen Themas auf einen einzigen Betroffenen nicht gerade auf die Gegenliebe des damaligen Chefredakteurs, dem das Vorhaben zu subjektiv und einseitig erschien. Nach Aussagen Grabes fürchtete der Chefredakteur, die Subjektivität „und die zu erwartende Emotionalität […] könnten die politischen und nationalen Gefühle deutscher Zuschauer verletzten“ (Grabe 1992, S. 191; Herv. CH). Grabe solle daher weitere Beispiele aufnehmen: Einen ehemaligen Häftling eines DDR-Zuchthauses sowie einen ehemaligen deutschen Soldaten, der in russischer Kriegsgefangenschaft war.36 Das war sehr schlau, weil natürlich an solchen Personen man ebenfalls die Entstehung von Spätschäden erkennen kann. Aber der Film, den ich machen wollte, wäre auf diese Weise zerstört worden (Grabe in Frank 2005, S. 28437). Grabe nutzte aber die Sicherheit seiner Festanstellung, um für seine Idee zu kämpfen und konnte sich letztendlich durchsetzen.38 So entstand ein Film, der im Prinzip nur aus dem Interview besteht, das Hans-Dieter Grabe mit Mendel Szajnfeld auf einer Zugreise von Oslo nach München führt. Mit diesem Film hat Grabe ein Muster gefunden, dass er bei fast allen seiner zukünftigen Filme anwendet: Die absolute Reduktion auf das Wesentliche. Grabe konzentriert sich in diesem Film ganz auf das Interview mit Mendel Szajnfeld (siehe Abb. 3.4). Es gibt nur wenige andere Aufnahmen: Mendel beim Ein- und Aussteigen, Blicke aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Zunächst 36Noch heute sind viele Dokumentationen ähnlich aufgebaut, um möglichst viele Aspekte eines Themas resp. verschiedene Perspektiven zu berühren. 37Auch an anderer Stelle geht Grabe auf die damalige Situation ein: „Die Themen mußten Bedeutung haben. Sie mußten zeigen, daß man in der Lage ist, zu recherchieren. Daß man viele Informationen gefunden hat und die reinpackt in die Filme. […] Es waren immer Filme, die sich abplagten mit den großen Themen. Und wenn ich dann kam und sagte: ‚Ich will einen Film machen über die Trümmerfrauen von Berlin‘, dann war das damals völlig abwegig. So eine unbekannte Randgruppe. Die Bereitschaft, sich über die Erfahrungen dieser Menschen der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges zu nähern, gab es kaum“ (Grabe 2000, S. 25; Herv. CH). 38Sowohl in Frank 2005 (S. 284) als auch Witzke 2006 (S. 98) äußert Grabe sich dahin gehend, dass es ihm als eine Verpflichtung erschien, aus der sicheren Anstellung heraus schwierige oder risikoreiche Produktionen zu realisieren und für Themen auch zu kämpfen. Dies galt aber auch für seinen Stil, wie er rückblickend (mit Verweis auf aktuelle Entwicklungen im Fernsehen) meint: „Ich war zu meiner Zeit eben wirklich in einer sehr privilegierten Situation. Ich konnte mir meine eigenen Maßstäbe erarbeiten, mich hat niemand gezwungen, etwas so oder so zu gestalten“ (Grabe und Obert 2004, S. 5). 102 Interviewanteil: 81,6% Kommentar: 7,8% Ton 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Bild 00:00:00 00:10:00 00:20:00 00:30:00 00:40:00 Dunkelblau: Interview Grau: Voice-Over-Kommentar Orange: O-Ton/beobachtende Kamera Schwarz: Inserts über Bild (Bildebene) Hans-Dieter Grabe: Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972) Abb. 3.4   Stilistische Elemente in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972; Hans-Dieter Grabe). (Eigene Darstellung) 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 103 haben diese Bilder einen ganz pragmatischen Nutzen: „Ich brauchte […] Bilder, bei denen ich Informationen geben konnte über Mendel Schainfeld“ (Grabe und Obert 2004, S. 5). Mit einer kurzen Ausnahme (bei Min. 15) wird der Kommentar nur bei solchen Aufnahmen eingesetzt. Die Ausnahme ist jedoch sehr auffällig, da Grabe im Anschluss ein metaphorisches Bild verwendet: Szajnfeld berichtet von den Misshandlungen im KZ. In eine längere Redepause (insgesamt 26 s lang zeigt Grabe Szajnfelds Schweigen im Bild) setzt er ein kurzes voice over, in dem knapp gesagt wird, dass Szainfeld in ein anderes Lager verfrachtet wurde. Nach einigen Sekunden schneidet Grabe um auf den Blick aus dem Fenster: Der Zug fährt an langen Schlangen von Güterwaggons vorbei …39 Auffällig ist, dass Grabe immer wieder den Blick aus dem Zug schweifen lässt, auch wenn er diese Bilder nicht für einen Kommentartext braucht. So entstehen Pausen, kurze Momente, in denen das Erzählte im Zuschauer nachwirken kann. War die Form des Interviews in 20 Meilen vor Saigon noch im fertigen Film deutlich erhalten, so verändert sich auch der Umgang mit dem Interviewmaterial in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland. In 20 Meilen vor Saigon sind die Fragen noch als Anlass und Aufforderung für die Äußerung Leonards hörbar. In Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland sind sie oftmals herausgeschnitten. In der Regel sind sie nur im Material belassen, wenn es Nachfragen zum Verständnis sind. Dadurch ist auch der Charakter des Protagonisten ein anderer (zumal er auch nicht als Informant – [fast] im Sinne eines Recherche­ interviews – befragt wird wie Leonard): Es entsteht der Eindruck, als würde die Erzählung von Szajnfeld ausgehen und nicht von einer äußeren Instanz (dem Autor) durch einen (festgelegten) Frageablauf gesteuert werden. Der extradiegetische Erzähler tritt also hinter dem Protagonisten-Erzähler zurück. 39Während des ganzen Films hört man auf der Tonspur das Rattern des Zuges. Auch das unterstützt die Assoziation mit Deportation, verweist immer wieder auf die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Andersdenkenden etc. im sogenannten Dritten Reich. 104 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Der Kommentar beschränkt sich darauf, nüchtern und knapp relevante Fakten des Lebenslaufs zu referieren und dem Zuschauer damit auch eine Orientierung zu geben. Das Interview ist dadurch – auch aufgrund der Kürze des Films – von der reinen „Faktenvermittlung“ entlastet.40 Szajnfeld kann so – zum Teil sehr emotional – von seinen persönlichen Erfahrungen im KZ und in der Zeit danach berichten: Viele Menschen haben sich Anfang der siebziger Jahre von so einer Situation gar kein Bild machen können, das Thema Holocaust war ja ganz weit weg. Und dann sitzt da ein Mann, wie man ihm täglich auf der Straße begegnen könnte, und erzählt von dieser Zeit (Grabe und Obert 2004, S. 5). Die Filme Grabes funktionieren wesentlich darüber, dass er in der Regel solche Menschen porträtiert, denen man „täglich auf der Straße begegnen könnte“. Gerade dadurch schafft er es, dass in dem unverwechselbaren Porträt eines Menschen etwas Allgemeineres zum Ausdruck kommt. Bei Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland zeigt er das alltägliche Opfer des Naziregimes, nicht die dämonisierten Massenmörder Hitler, Himmler oder Eichmann.41 Von diesem fast unscheinbaren Opfer, das ohne verallgemeinernde Anklage und ohne Hass von seinem Leid erzählt, kann man sich kaum distanzieren. Unterstützt wird dies noch durch die zurückhaltende Art Szajnfelds: Er strahlte bei allem eine ganz große Bescheidenheit aus, also nichts von der manchmal anzutreffenden Arroganz derer, die besondere Erfahrungen gemacht haben oder machen mussten und nun glauben, nur sie allein hätten das Recht und die Fähigkeit, darüber zu reden. Und Bescheidenheit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass jemand gut bei Zuschauern ankommt, dass er angenommen wird, dass er praktisch via Fernsehen in die Wohnstube reingelassen wird (Grabe in Witzke 2006, S. 100). 40In Eberhard Fechners Gesprächsfilmen übernehmen die Protagonisten auch diese Funktion der Faktenvermittlung. Dadurch sind die Filme deutlich länger, denn die Interviewten liefern in der Regel – anders als es ein Sprechertext vermag – keine pointierte Zusammenfassung der relevanten Daten und Zusammenhänge: „Einen Inhalt durch eine OriginaltonErzählung darzustellen, dauert nun mal um ein Vielfaches länger, als wenn ich das mit zwei, drei Sätzen Text tue“ (Grabe 1988, S. 210). 41Der als bürokratischer Mörder wiederum für eine Art der Alltäglichkeit, der Banalität des Bösen (Hannah Arendt) steht. 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 105 Grabe braucht genau solche Gesprächspartner, damit seine Art des Filmens aufgeht.42 Arroganz lässt einen Protagonisten schnell unnahbar erscheinen. Doch Grabe benötigt die nahbaren Menschen, damit ein intimes Porträt entstehen kann, durch das die berichteten Geschehnisse für den Zuschauer erlebbar werden:43 „Einerseits arbeitet Grabe mit dem Gestus großer Nüchternheit – andererseits erzeugt er bei den meisten seiner Themen gerade damit eine starke emotionale Wirkung“ (Witzke 2006, S. 37). Mit Bezug auf Fechner wird immer wieder betont, dass nur ein Theatermacher einen Film „vom Wort“ her machen konnte (kritisch dazu Hißnauer und Schmidt 2013, S. 237 f.). Dies impliziert, dass ein Interview- oder Gesprächsfilm seine Aussagen nur über die gesprochene Sprache transportiert. Dem widerspricht Grabe – zu Recht: Da fiel mir eben auf, welche Möglichkeiten Filmbilder und Fernsehbilder haben, weil sie eben nicht nur festhalten, was ein Mensch sagt. Das könnte man auch aufschreiben oder auf Tonbändern festhalten. Aber wie sieht jemand aus, der etwas nicht sagen will? Wie schaut jemand aus, wenn er lügt? Wie, wenn er nicht antworten will? Das alles sind Aussagen (Grabe 2000, S. 27).44 42Viele seiner Protagonisten zeichnen sich durch eine solche Bescheidenheit aus: Die Trümmerfrauen, Alfred Jahn, Gudrun Pehlke, die Bergmänner aus Das Wunder von Lengede, Mehmet Turan, Ludwig Gehm, Abdullah Yakupoglu etc. 43Fechner hingegen kann sehr wohl auch mit arroganten/unnahbaren Menschen einen Film machen (z. B. Biberti und Bootz in Comedian Harmonists – Sechs Lebensläufe, 1976), weil er diese sehr nahen und intimen Momente für seine Art des Gesprächsfilms nicht braucht (in der Regel verzichtet Fechner auch auf besonders emotionale Ausbrüche seiner Protagonisten in seinen Filmen, auch wenn es sie in den zugrundeliegenden Interviews gibt). Daran wird deutlich, dass es Fechner zuweilen viel stärker um einen analytischen Zugriff auf Ereignisse geht (daher auch die Polyperspektivität). – Allerdings entsteht gerade auch in den Comedian Harmonists der Eindruck, dass Fechner trotz allem auch die bescheidenen Menschen (Cycowski und Leschnikoff) näher sind. Sie sind seine Gewährsmänner, wie er sehr subtil durch den Schnitt herausarbeitet (vgl. Emmelius 1996; Hißnauer und Schmidt 2013). 44Ähnlich äußert sich auch Brigitte Kirsche über die von ihr geschnittenen Filme Eberhard Fechners: „Man hat uns oft den Vorwurf gemacht: Nur Köpfe und Aussagen – was soll das, das ist doch kein Film, da kann man auch gleich Hörspiel machen. Ich habe dann das Bild weggeschaltet, und wir haben uns nur den Ton angehört. Ohne Bild hat man nur die Hälfte verstanden. Das Gesicht, die Gesten, alles spielt eben mit. Das braucht man“ (Kirsche in Voss 2006, S. 221). 106 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Erst das Schweigen, „das sichtbar gemacht so beredt und ausdrucksvoll sein kann“ (Grabe 1988, S. 209), komplettiert das Porträt einer Person und erzählt viel über sie. Gerade in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland ist dieses Schweigen sehr wichtig, denn die Redepausen machen das Trauma für den Zuschauer erlebbar, das „nicht mehr weiter reden Können“ macht es sinnbildlich.45 – Der Interviewfilm lässt sich also nicht nur auf das Wort reduzieren. Grabe zeigt die Protagonisten in ihrer alltäglichen Umgebung (Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland ist hier eine Ausnahme),46 denn auch die Wohnumgebung porträtiert einen Menschen. Allerdings verwendet Grabe (wie auch Fechner) in der Regel keine wechselnden Hintergründe oder veränderten Gesprächssituationen, wie es in aktuellen Produktionen öfter zu beobachten ist. Es gibt dafür, so Grabe, „keinen plausiblen Grund, nichts, was das Erzählte in irgendeiner Weise unterstützt“ (Grabe und Obert 2004, S. 4).47 Der Wechsel der Drehorte kann in einem Porträt sinnvoll sein, wenn er bewusst eingesetzt wird, um verschiedene Aspekte der Persönlichkeit zu betonen.48 Für Interviewfilme bietet er sich aber schon aus einem rein praktischen Grund nicht an: Am Schneidetisch wird das Material neu geordnet. Dabei wird die Chronologie der Aufnahmen bzw. des Gesprächsverlaufs nicht berücksichtigt. Ein permanenter Wechsel zwischen Aufnahmen von verschiedenen Drehorten wirkt schnell unruhig und irritierend, sodass man in der Montage eingeschränkt ist (Fechner bspw. hat immer darauf geachtet, dass seine Protago- 46Insbesondere in den Geschichtsdokumentationen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre war es hingegen oft üblich, Zeitzeugen vor einem einheitlichen Hintergrund zu filmen – auch, um das Material besser für verschiedene Produktionen nutzen zu können. 47Beliebig wechselnde Hintergründe und (Gesprächs-)Situationen können ablenkend wirken – vor allem wenn situative Interviews in Momenten geführt werden, in denen sich die Protagonisten nicht darauf konzentrieren (können). So gibt es z. B. in der Produktion Jung. Sorglos. HIV positiv – AIDS und der neue Leichtsinn (2007; Tink Diaz) Szenen, in denen ein HIV-positives Mädchen während des Küchenaufbaus in ihrer neuen Wohnung befragt wird. Das Interview erscheint oberflächlich, weil sich das Mädchen augenscheinlich mehr auf die handwerkliche Tätigkeit fokussiert. Die Reduktion auf eine – gesetzte – Gesprächssituation schafft also Konzentration. 48So lassen sich die situativen Interviews in Jung. Sorglos. HIV positiv – AIDS und der neue Leichtsinn (siehe die vorhergehende Fußnote) als eine Authentisierungsstrategie begreifen, da Alltagsbeobachtung und Interview zusammengeführt werden. Durch die Tätigkeiten werden über das Gesagte hinaus andere Informationen und Bilder vermittelt (hier z. B., dass die junge Frau trotz ihrer Infektion tatkräftig ist und einen neuen Lebensabschnitt aktiv beginnt, ihr Schicksal quasi selbst in die Hand nimmt). 45Zur Traumatifizierung als ästhetische Strategie der Traumainszenierung siehe Keilbach 2008. 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 107 nisten bei mehrtägigen Aufnahmesessions immer in der gleichen Position sitzen und die gleiche Kleidung tragen49). Produktionen, die wechselnde Drehorte benutzen, müssen genau planen, welche inhaltlichen Aspekte sie an diesen Orten ansprechen und wie sie in der Montage damit umgehen. Oftmals sieht man daher, dass die Drehorte für bestimmte Stationen des Lebensweges stehen, die dann chronologisch „abgearbeitet“ werden.50 Immer wieder setzt Hans-Dieter Grabe in seinen Filmen auch kurze beobachtende Szenen aus dem Leben seiner Protagonisten ein.51 Seit Mitte der 1980er Jahre (z. B. bereits in Dr. med. Alfred Jahn – Kinderchirurg in Landshut, 1984) nehmen sie einen immer breiteren Raum ein. Zudem werden seine Filme durchschnittlich länger. Langsam zeichnet sich ein Stilwechsel ab: Die späten Filme Grabes konzentrieren sich viel stärker – zum Teil nahezu ausschließlich – auf die Beobachtung seiner Protagonisten. Situative Interviews gewinnen gegenüber gesetzten Interviews an Bedeutung. Zunehmend fand Grabe Gefallen daran, „Bilder sprechen zu lassen, und zwar Bilder, die anderes als die Gesichter sprechender Menschen zeigten“ (Grabe in Witzke 2006, S. 194). Besonders deutlich wird dieser Wechsel in Jens und seine Eltern. Der Film thematisiert das Leben mit einem schwerstbehinderten Kind und den Konflikt der Eltern. Grabe lässt sie auch über ihre Verzweiflung mit der Situation reden – und von ihren Überlegungen, das eigene Kind zu töten. Die Beobachtung des Familienalltages war Grabe hier besonders wichtig, um „die Mutter […] nicht nur über sich und ihre Probleme reden zu lassen, sondern sie in Verbindung mit diesem Kind zu zeigen – gerade wenn sie in dem Film auf eine so bewegende Weise 49In Der Prozeß (1984) war dies aufgrund der langjährigen Dreharbeiten und der Umstände nicht immer möglich. 50Eine Art „dramaturgische Hilfskonstruktion“ ist dabei ebenfalls oft zu beobachten. Dabei bildet ein ausführliches „Hauptinterview“ den Kern des Porträts (in der Regel im Wohnoder Arbeitszimmer aufgenommen), um den sich weitere „Nebeninterviews“ gruppieren. So erhält man die Möglichkeit, in dem Kerninterview noch einmal auf Aspekte zurückzukommen, die in den „Nebeninterviews“ eventuell nur angeschnitten wurden. 51Bereits für Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland drehte er solche Szenen zur Sicherheit, da er nicht wusste, ob Szajnfeld der Kraftanstrengung des Interviews bei einer Zugfahrt durch Deutschland gewachsen sein würde. Er brauchte sie dann jedoch nicht zu verwenden. 108 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe erklärt, wie sie sich nach und nach wirklich als Mutter dieses Kindes fühlt“ (Grabe in Witzke 2006, S. 19452). Markant ist z. B. diese Montage: Frau Dreyer [Nahaufnahme]: „Dieses Gefühl ist ganz oft wiedergekehrt, dass Jens eine Puppe ist, kein Lebewesen – also tot.“ SCHNITT auf beobachtende Aufnahmen: Mutter knuddelt liebevoll mit Jens Jens und seine Eltern (Min. 41) Grabe wollte in diesem Film das Klischee der „ganz besonderen Liebe“ zu einem behinderten Kind vermeiden; im Gegenteil: Er lässt Raum für Wut, Verzweiflung, Selbstzweifel etc. Er verdeutlicht, dass es ein Prozess sein kann, sich die Liebe zum eigenen Kind zu erarbeiten. Gleichzeitig unterläuft er damit eine bestimmte mögliche Haltung der Zuschauer. Zeigte er lediglich den funktionierenden Alltag, so könnten Rezipienten vielleicht denken: „Wie schaffen die das nur, ich könnte das nie.“ Diese Selbstzweifel, die Jens’ Eltern auch hatten (und immer wieder haben), nimmt Grabe vorweg. Er thematisiert sie sehr früh,53 um sich dann darauf zu konzentrieren, wie die Eltern langsam gelernt haben, mit der Situation umzugehen und ein ‚funktionierendes‘ Familienleben zu gestalten. So überbrückt er eine mögliche Distanz zum/des Zuschauer(s).54 Grabes dramaturgische Strategie zielt darauf, dass der Zuschauer sich zu dem Geschehen/Gesehenen in Beziehung setzt, sich ernsthaft fragt, wie er selbst in einer vergleichbaren Situation handeln würde – ohne gleich eine abwehrende Haltung („das könnte ich nie“) einzunehmen (vgl. Grabe 2000, S. 27). Grabe betont durch die Struktur des Films aber auch, dass dieser Prozess nicht – vermutlich nie – abgeschlossen ist. Die Alltagsbeobachtungen sind ­chronologisch nach dem Tagesablauf montiert: vom Wecken, Wickeln und dem 52Dies gilt auch für den Vater: „Man liebt ihn mit der Zeit dann eben doch“ (Min. 56). Die Aussagen der Mutter sind jedoch eindrucksvoller. Zum einen, weil damit natürlich das Klischee der Mutterliebe infrage gestellt wird, und zum anderen, weil die Mutter ein persönliches Versagen als Frau empfindet, da sie kein gesundes Kind bekommen hat. Der innere Konflikt der Mutter ist damit tiefer gehender, intimer und auch emotionaler. 53Gleich in der ersten Minuten kommentiert die Mutter Petra Dreyer alte Super-8-Aufnahmen, auf denen sie im achten Schwangerschaftsmonat zu sehen ist: „Da war Mutter noch stolz.“ Dies impliziert bereits, dass dies später nicht mehr der Fall war. In Min. 5 sagt dann der Vater Dieter Dreyer: „Da haben wir dann wirklich gedacht, wir würden ihn am liebsten umbring’.“ Mit diesem Satz schneidet Grabe erst auf die Interviewaufnahmen mit den Eltern, zuvor sind deren Aussagen als voice over mit alten Super-8-Aufnahmen unterlegt. 54Ebenso zieht der Film aus diesem dramaturgischen Aufbau seine Spannung, denn man möchte erfahren, wie aus der Verzweiflung doch noch Elternliebe entstehen kann. 3.1  „Schmarotzer-Themen“ und Methodik … 109 Aufbruch in die Tagesstätte bis hin zu einem nachmittäglichen Ausflug mit den Eltern, dem abendlichen Zusammensein mit Bekannten und dem Zu-Bett-Bringen Jens’.55 Im Epilog zeigt Grabe noch einmal kurz eine Alltagsbeobachtung: Jens wird geweckt und gewickelt. Der Kreis schließt sich, der Tag beginnt von Neuem – und damit der Kampf gegen die Selbstzweifel, die Verzweiflung und um die Liebe zum eigenen Kind. Die Alltagsbeobachtungen machen 58 % (45.54 min)56 des Films aus und prägen vor allem den ersten Teil, der sich auf die Situation der Mutter konzentriert (74,8 % Beobachtung vs. 25,2 % Interview mit der Mutter; siehe Abb. 3.5). Dennoch dominiert die Beobachtung den Film nicht (am Anfang und am Ende gibt es lange, konzentrierte Interviewsequenzen), vielmehr ergänzen beide Ausdrucksformen einander. Dies war, wie bereits erwähnt, Hans-Dieter Grabe in diesem Fall besonders wichtig. Dennoch hätte er bei einer kürzeren Sendezeit vor allem auf beobachtende Teile verzichtet: Ich kann die Aussagen, um die es mir geht, nicht in Form von Bildern bringen. Ich kann zwar in Bildern zeigen: Wie ist das Verhältnis einer Mutter zu ihrem Kind? Ich kann zeigen, wie schaut der Vater aus, wenn er nach Hause kommt, das Kind sieht und auf den Arm nimmt. Ich kann zeigen, wie die Menschen miteinander umgehen in der Lebenshilfe. Aber was für Gedanken und Gefühle eine Mutter über die Jahre beschäftigt und gepeinigt haben, die so ein Kind bekommen hat, das kann nur sie in Worte kleiden (Grabe 2000, S. 44). Ab Mitte der 1990er Jahre wird die Alltagsbeobachtung trotzdem zunehmend Grabes favorisierte dokumentarische Methode – immer öfter führt er dabei auch selbst die Kamera. Gerade in diesen Filmen57 äußern sich die Protagonisten kaum noch in die Kamera. Dafür sind einige von ihnen Kennern des Grabeschen Werks bereits bekannt: Die entsprechenden Produktionen sind filmische Wiederbegegnungen mit Menschen, die er zuvor bereits porträtierte (Tage mit Sanh, Jens von 55Auch die Anordnung der Interviews korrespondiert mit der Chronologie: Die Mutter kümmert sich tagsüber um Jens (die Interviews zeigen sie z. B. frühstückend, parallel dazu sieht man Jens in der Einrichtung beim Frühstück). Der Vater ist nur nachmittags bzw. abends zu Hause. Erst wenn Jens im Bett ist, haben die Eltern Zeit für sich. 56Dem gegenüber liegt der Interviewanteil bei 40,8 % (32.16 min). 57Tage mit Sanh, 1994; Frau Siebert und ihre Schüler, 1996; Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend – Wiederbegegnung nach 7 Jahren, 1996; Mendel lebt, 1999; Gebrochene Glut, 2001; Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn, 2002; Raimund – Ein Jahr davor, 2013/2014. 110 Interviewanteil: 40,8% Alltagsbeobachtung: 58,0% Kommentar (grafisch nicht dargestellt): 2,4% Exposition Epilog 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Fokus auf: Mutter (vormittags) Fokus auf: Vater (nachmittags/abends) Dramaturgischer Aufbau: Tagesablauf Fokus auf: Die Eltern (abends) 00:00:00 00:20:00 Dunkelblau: Interview Orange: beobachtende Kamera Weiß: Inserts (auf Schwarzbild) 00:40:00 01:00:00 01:20:00 Vereinfachte Darstellung Hans-Dieter Grabe: Jens und seine Eltern (1990) Abb. 3.5   Dramaturgischer Aufbau von Jens und seine Eltern (1990; Hans-Dieter Grabe). (Eigene Darstellung) 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 111 Sonntagnachmittag bis Freitagabend, Mendel lebt und Diese Bilder verfolgen mich; siehe ausführlich dazu das Kapitel Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung: Hans-Dieter Grabes Wiederbegegnungen).58 3.2 Interviewführung und dramaturgische Gestaltung Von dem Purismus mancher Dokumentaristen, auf Fragen prinzipiell zu verzichten und die Menschen vor der Kamera weitgehend nur das erzählen zu lassen, was sie erzählen wollen, halte ich nicht viel (Grabe 1988, S. 216). Fragen sind für Hans-Dieter Grabe aus mehreren Gründen wichtiger Bestandteil seines Handwerks. Sie erfüllen dabei Funktionen für den Protagonisten und für den Zuschauer. Letzteres ist naheliegend: Fragen werden (teilweise) stellvertretend für die Zuschauer gestellt. Durch sie können Informationen über den Pro­ tagonisten herausgearbeitet werden, die dem Zuschauer ein besseres Verständnis der Fakten ermöglichen. Insofern können sie einen Kommentar ersetzen. Solche Fragen finden sich zwar auch in den Filmen Grabes immer mal wieder, doch in der Regel meidet er sie. Zum einen, da er im fertigen Film auf sie verzichten möchte. Zum anderen, da er solche Fragen nahezu absurd findet. Es entsteht für ihn eine groteske Situation, wenn Autoren versuchen alles, was sie dem Zuschauer an Hintergrundwissen zum Verständnis des Gesprächs vermitteln wollen, in Fragen zu packen: ‚Herr X. Sie wurden dann und dann geboren, gingen dort und dort zur Schule, hatten die und die Eindrücke, wann haben Sie eigentlich …?‘ usw. Erst am Ende einer Kette aneinandergehängter Informationen für den Zuschauer taucht die Frage für die Person vor der Kamera auf. Es wirkt nicht nur komisch, wenn der Gefragte immer wieder in Frageform Informationen aus seinem Leben vorgetragen bekommt, die dieser ja zur Genüge kennt, das Verfahren wird auch seinen Zweck, auf diesem Umweg den Zuschauer zu informieren, weitgehend verfehlen (Grabe 1988, S. 216). 58Eine Ausnahmestellung im Werk Grabes nimmt der Film Er nannte sich Hohenstein – Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940–1942 ein. Grabe fährt nach Poddembice (Polen) und recherchiert die Hintergründe eines unter Pseudonym veröffentlichten Tagebuches aus dem sogenannten Dritten Reich. Die Bilder zeigen Ansichten der Stadt, über sie ist der (stark gekürzte) Text des Tagebuches als voice over gelegt (eine ausführliche Analyse auch zu den beiden begleitenden Filmen Drei Frauen aus Poddembice und Letzte Stunden in Poddembice findet sich in Frank 2005). 112 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Mit Blick auf den Protagonisten sollen Fragen für Grabe eine entlastende Funktion haben und eine positive Distanz vermitteln. Fragen können den Protagonisten von der Last der Verantwortung für die Aufnahmen befreien. Sie steuern das Interview nicht nur, sondern sorgen auch dafür, dass alle relevanten Aspekte angesprochen werden (dass also nichts vergessen wird) und Unklarheiten durch Nachfragen beseitigt werden. Gut gestellte Fragen verhindern auch, dass einige Punkte eventuell aus Scham oder Rücksichtnahme seitens des Interviewten nicht angesprochen werden. Was Grabe mit der Last der Verantwortung meint, wird in folgender Äußerung Grabes deutlich: Vor einigen Wochen sah ich in einer Fernsehsendung selbstbewußt aussehende Frauen einzeln über sich berichten. Mir fiel auf, daß sie alle sehr aufgeregt dabei waren. Das wunderte mich, entsprach es doch gar nicht ihrem Typus. Und ich fragte mich, woran das liegen könnte. Da bemerkte ich, daß alle Frauen ohne Frage sprachen. Offenbar war das, was sie sagen wollten und sollten, sehr genau mit ihnen abgesprochen worden. Und nun standen oder saßen sie wirklich alleingelassen von Fragen und Fragesteller vor der Kamera, mußten sich schrecklich konzentrieren auf das, was sie zu sagen hatten, und dachten wohl bei jedem Wort daran, daß die Last der Verantwortung für das Gelingen der Dreharbeiten allein auf ihren Schultern lag. Die Folge: sie waren aufgeregt und hatten Angst (Grabe 1988, S. 216). In Grabes Ausführungen wird deutlich, wie widersprüchlich diese Sendung auf ihn gewirkt haben muss: Die interviewten Frauen erschienen ihm zunächst eigentlich sehr selbstbewusst. Vermutlich bezieht er dies auf ihre äußere Erscheinung. Durch die Interviewsituation und die Art der Interviewführung (so man es überhaupt noch so nennen kann und nicht eher von Statements sprechen muss)59 dreht sich dieser Eindruck jedoch ins Gegenteilige: die Frauen wirken unsicher und ängstlich. Ähnliches sieht man in der Dokumentation Operation Gomorrha – Hamburg im Feuersturm von Hans Brecht (1983). In dieser Produktion gibt es viele solcher von Grabe beschriebenen Statements, die wie auswendig gelernte und aufgesagte Zeugenberichte über die Fliegerangriffe auf Hamburg während des Zweiten Weltkrieges wirken. Auch hier entsteht der Eindruck von Unsicherheit und einer 59Grundsätzlich scheint ein solches Vorgehen nur für kurze Statements und nicht für Interviewfilme „praktikabel“ zu sein. Es ist nur dann durchführbar, wenn viele Zeitzeugen in einem Film eingesetzt werden, die jeweils aber nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung haben. Für Filme des Interviewdokumentarismus wäre eine solche Strategie verfehlt. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 113 gewissen Verkrampfung bei den Zeitzeugen.60 Dies läuft dem Glaubwürdigkeitsversprechen zuwider, das dem persönlichen Erlebnisbericht als Authentisierungsstrategie innewohnt. Dies ist in diesem Fall besonders auffällig, da die Berichte emotionslos und nüchtern wirken und damit eben nicht das Selbsterlebte hervorgehoben wird. Es evoziert eher das Gefühl einer inneren Distanz der Zeitzeugen zum eigenen Bericht; er wird unpersönlich – und entwertet sich damit im Prinzip selbst. Grabe hingegen vermeidet – wenn möglich – ausführliche Vorgespräche und Absprachen über die Interviewinhalte.61 Er will gerade auch die spontanen Reaktionen und das emotionale Nacherleben durch die Erinnerungen: „[D]as Nacherleben wird sichtbar im Gesicht. Das Gesicht wird zu einer Bilderfolge“ (Grabe 2000, S. 43). Er sieht die Gefahr, dass Vorgespräche den Interviews die Impulsivität, die Lebendigkeit und die Spannung nehmen (vgl. Grabe 1988, S. 215). Dieser Verzicht ist jedoch nur möglich, wenn Grabe zuvor einiges über die Protagonisten oder die persönliche Situation/das persönliche Schicksal, um die/ das es gehen soll, weiß (so veröffentlichen z. B. Petra Dreyer und Dora Koster62 Erlebnisberichte in Buchform). Sucht Grabe jedoch Personen, „die für bestimmte klar definierte historische Begebenheiten stehen“ (Grabe in Witzke 2006, S. 183), so sind inhaltliche Vorgespräche unumgänglich, um den passenden Protagonisten zu finden: Das heißt, ich habe dann die nicht sehr angenehme Aufgabe, mehr als eine Person kennen zu lernen und zu überlegen, wer von denen die Dinge erlebt hat, die vom Historischen her wichtig sind, damit die Erzählung nicht abseitig und einseitig wird. Ich muss entscheiden, wer in der Lage ist, das so zu erzählen, dass sowohl ich selbst wie auch meine Zuschauer davon berührt werden (Grabe in Witzke 2006, S. 182). 60Sie wirken auch bildlich im Film verloren: Brecht zeigt sie in Halbtotalen auf großen Plätzen. So erscheinen sie klein und eingeschüchtert. Dadurch entsteht bereits rein optisch eine große Distanz zu den Zeitzeugen. 61Das heißt jedoch nicht, dass Grabe vorher nicht mit den Protagonisten spricht – im Gegenteil: Er legt sehr viel Wert darauf, bereits vor den eigentlichen Dreharbeiten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen: „Ich nehme mir Zeit. Durch Briefe, Telefongespräche und persönliche Begegnungen mit den Menschen […] versuche ich unter Umgehung sogenannter Vorgespräche indirekt so viel wie möglich über sie zu erfahren. Gleichzeitig will ich den Personen Gelegenheit geben, mich kennenzulernen. Nur wenn auch das möglich ist, kann ein Vertrauensverhältnis entstehen, das unabdingbare Voraussetzung für die Gespräche vor der Kamera ist“ (Grabe 1988, S. 215; Herv. CH). 62Der Film heißt Dora Koster – Prostituierte (1981). 114 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Die Fragen sollen also die Protagonisten zum einen entlasten und zum anderen auch dazu beitragen, dass ihre Berichte nicht wie auswendig gelernt erscheinen.63 Die Fragen haben aber auch den Sinn, schwierige Themen anzusprechen, die eventuell für die Befragten peinlich sein könnten. Wobei Grabe die Peinlichkeit darin sieht, dass Protagonisten selbst unsicher sein können, ob und wie sie solche Punkte ansprechen können/sollen. So spricht er mit der krebskranken Gudrun Pehlke z. B. über Stuhlgang, da sie dadurch ihrer Krankheit bewusst wurde. Dabei geht es, obwohl solche Fragen ins Intime gehen, jedoch nicht um einen verbalen Voyeurismus: Ich will ja niemanden mit solchen Fragen entlarven. Ich will ihm einen Anstoß geben, […] so deutlich und gut wie möglich zu erzählen (Grabe in Witzke 2006, S. 185). Für Grabe ist es auch eine Form der Ehrlichkeit, solche Dinge nicht im Kommentar – quasi „hinter dem Rücken eines Protagonisten“ (Grabe in Witzke 2006, S. 184) – zu thematisieren, sondern den Protagonisten selbst die Möglichkeit zu geben, in einer für sie angemessenen Art und Weise darüber zu sprechen. Durch direkte Fragen nimmt er den Protagonisten die eigene Scham, Dinge ‚beim Namen zu nennen‘, vor allem, wenn der Protagonist dies eventuell aus einer Rücksichtnahme vor dem zukünftigen Zuschauer tut. Durch die Frage übernimmt quasi Grabe selbst die ‚Verantwortung‘ für prekäre Themen: „Er [der Protagonist; CH] redet dann über die fragliche Thematik nicht, weil er mir das Gespräch aufgedrängt hat, sondern weil ich ja es will“ (Grabe in Witzke 2006, S. 183). Ziel dabei ist es aber immer, durch solche Details Zuschauern eine Situation begreifbar zu machen, nachvollziehbar zu machen, wie der Protagonist diese Situation erlebt hat. Und dann kann es manchmal notwendig sein, über Stuhlgang zu reden … Auch wenn Hans-Dieter Grabe Fragen für seine Arbeit sehr wichtig sind, so fertigt er keine Fragenkataloge an. Fragen ist für ihn eine Tätigkeit, die konkrete 63Zur Entlastung trägt auch bei, dass Grabe die Interviews an mehreren Tagen führt (vgl. Grabe 2000, S. 42). Er kann so auf Themen zurückkommen, von denen er oder der Protagonist glaubt, dass sie noch nicht umfassend angesprochen wurden oder zu ergänzen sind. Dadurch ist sowohl dem Interviewten als auch dem Fragestellenden der Druck genommen, an alles denken zu müssen. Ebenso lassen sich Interviews „ausgleichen“, die – aus welchem Grund auch immer – nicht so gelaufen sind, wie man es gerne gewollte hätte. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 115 Frage selbst entsteht aus dem Prozess des Interviews. Dennoch bereitet er sich eingehend auf die Aufnahmen vor. Ich sitze zwei, drei Tage lang irgendwo, manchmal in Kaffeehäusern, und stelle mir einfach vor, wie jemand, den ich ein bisschen kennen gelernt habe, erzählen wird und worüber. Das ist eine sehr nach innen gekehrte Tätigkeit (Grabe in Witzke 2006, S. 180). Dabei erstellt er „Erinnerungslisten“ (Grabe 1988, S. 216), um keinen wichtigen Aspekt zu vergessen. „Nach dem Anstoß – und das ist meistens die Funktion meiner Fragen – lasse ich gern die Antwort weitgehend unbeeinflußt“ (Grabe 1988, S. 216). Um diesen Anstoß zu erreichen, schreckt Grabe auch vor provokanten Fragen nicht zurück. Allerdings setzt er sie nicht ein, um seine Protagonisten zu entlarven: Ich traue sie ihm zu. Ich glaube auch, dass er, nachdem er mich kennen gelernt hat, in der Frage keinen Verrat sieht, kein Ihn-ärgern-wollen, keine bewusste Indiskretion und auch kein Herausstellen von mir selbst als Fragesteller. Ich glaube, dass er das als einen Teil an der gemeinsamen Arbeit respektiert und anerkennt, bei der es darum geht, einen Sachverhalt deutlich zu machen (Grabe in Witzke 2006, S. 185). Deutlich wird hier, dass Grabe einen Film nicht als sein Werk sieht, sondern als eine gemeinsame Arbeit – das bezieht immer auch sein Team mit ein. Den Respekt und die Anerkennung, die Grabe von seinen Protagonisten erwartet, bringt er ihnen selbst gegenüber auf (sonst würde seine Art des Filmens auch nicht funktionieren).64 Im Unterschied zu Eberhard Fechner hat Hans-Dieter Grabe eine Reihe von Filmen mit nicht-deutschsprachigen Protagonisten gemacht (z. B. Hiroshima, Nagasaki. Atombombenopfer sagen aus, 1985; Elisabeth Erb in Polen, 1989). In solchen Fällen ist Grabe auch während der Dreharbeiten auf Übersetzer angewiesen. Dies hat natürlich einen direkten Einfluss auf die Interviewsituation, denn durch die Übersetzung gibt es eine vermittelnde Instanz zwischen Grabe und dem Protagonisten. Um den Einfluss möglichst gering zu halten, lässt Grabe jedoch 64Dass es sich nicht um eine Selbstinszenierung handelt, wird klar, wenn man sich mit Hans-Dieter Grabe über seine Filme unterhält. Selbst Jahrzehnte nach den Dreharbeiten spricht er noch voller Respekt über seine Protagonisten. Mit einigen von ihnen stand er weit über die Dreharbeiten hinaus im Kontakt. 116 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe nicht jede Frage und jede Antwort übersetzen, sondern überlässt dem Dolmetscher nach Möglichkeit einen Teil der Interviewführung. Damit will er vermeiden, dass der Interviewte aus dem eigenen Erzählfluss gerissen wird. Grabe ist es wichtig, dass in solchen Fällen der direkte Kontakt zwischen dem Dolmetscher und dem Interviewten im Vordergrund steht, denn den braucht das persönliche Interview, das Grabe haben will (bei einem einfachen Recherche-Interview ist das nicht so entscheidend): „Wenn sie [die Dolmetscherin; CH] immer nur eine einzige Frage stellt, sie übersetzt und dann die nächste stellen muss, geht dieser Kontakt verloren“ (Grabe in Witzke 2006, S. 186). Die Übersetzung ist in diesem Fall keine „Dienstleistung“. Grabe überträgt dem Dolmetscher im Prinzip einen großen Teil der Verantwortung für das Gelingen des Interviews. Er muss daher nicht nur darauf vertrauen, dass der Dolmetscher dem auch gerecht werden kann, sondern den Übersetzer sehr gut auf das Interview vorbereiten – sowohl inhaltlich als auch bezüglich der Intention des Filmes.65 Hans-Dieter Grabe führt – wie auch Fechner – die Interviews normalerweise in der Wohnumgebung seiner Protagonisten. Fechner achtet darauf, den Einfluss des Drehteams auf die privaten Räume der Interviewten gering zu halten. Nach Möglichkeit stellt er keine Möbel um und baut keine Scheinwerfer auf. Auch Grabe bemüht sich, die Eingriffe am Drehort möglichst gering zu halten, hat hierzu aber eine differenziertere Position: Manchmal klagen Kollegen darüber, wie belastend es für die Personen, die zu Hause aufgenommen werden, sei, wenn ihre Wohnung durch unsere Geräte verändert und entstellt werden muß (Grabe 1988, S. 215). Grabe möchte dem Protagonisten das Gefühl geben, dass er ernst genommen wird. Dies kann gerade auch durch den Aufwand, den man beim Filmen betreibt, geschehen. „So etwas verleiht einem Drehvorhaben Glaubwürdigkeit, es macht deutlich, jetzt drehen wir wirklich diesen Film“ (Grabe in Witzke 2006, S. 188). Das Wesentliche ist für Grabe, dass die Atmosphäre am Drehort stimmt, man also 65Auch dies macht Grabe, um den Interviewten die Situation zu erleichtern: „Es ist für den Befragten leichter, er hat einen Gesprächspartner als zwei. Er hätte zwei, wenn ich immer wieder eine Rolle spielen würde“ (Grabe in Witzke 2006, S. 186). 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 117 sensibel mit den Protagonisten umgeht.66 Das heißt auch, dass man Veränderungen „behutsam und im Einklang mit den Personen“ (Grabe 1988, S. 215) vornimmt. Gerade dann kann die Technik sogar ein Vorteil sein: Sie gibt einem Menschen das Gefühl, da kommen die Leute aus Mainz,67 nur um mich zu sehen, um mir zuzuhören. Sie bringen die Kamera mit und das Tonbandgerät und Lampen und Kisten, alles für mich. Gerade wenn es Menschen sind, die nicht oft das Gefühl gehabt haben, daß man ihnen zuhören will (Grabe 2000, S. 42). Mehrfach betont Grabe, wie wichtig es ist, dass auch das begleitende Team – nicht nur Grabe als Interviewer selbst – dem Befragten das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden (vgl. auch Grabe und Obert 2004, S. 6): Im Film über die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki war Dagmar Schäfer, damals noch als Kameraassistentin, dabei. Sie konnte natürlich kein Wort japanisch und verstand nichts von dem, was unsere Zeugen, unsere Atombombenopfer erzählt haben. Trotzdem saß sie gespannt vor ihnen, hing an ihren Lippen, so als würde sie jedes Wort verstehen. Das hat so ungeheuer geholfen, das hat den Raum mit einer solchen Aufmerksamkeit und Intensität gefüllt – das war wunderbar. Wenn jemand aber auf einmal mit einem Stift oder mit einer Streichholzschachtel spielt, kann die ganze Konzentration verloren gehen, weil der, der jetzt über die wichtigsten Dinge seines Lebens erzählen soll, auf einmal spürt, dass ja nicht alle zuhören (Grabe in Witzke 2006, S. 186 f.). 66Hier spricht sich Grabe implizit für eine Berufsethik aus: „Die Menschen können einem Journalisten, einem Dokumentaristen hilflos ausgeliefert sein. Die Verantwortung ist also enorm groß […]. Umso wichtiger ist es, die Leute mit einem guten Gefühl zurückzulassen und ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich hoffe sehr, dass mir das in den meisten Fällen gelungen ist. Heute ist es aber so, dass wir Journalisten und Dokumentarfilmer einen schlechten Ruf genießen, weil sich viele unserer Kollegen einfach schlecht benehmen. Die überfallen die Leute, halten die Kamera drauf, die Leute sind überfordert und ängstlich und agieren unglücklich. Wenn das dann im Fernsehen gezeigt wird, durch den Schnitt noch zugespitzt, schämen sich die Menschen in Grund und Boden. […] Mich wundert es jedenfalls nicht, wenn immer mehr Leute sagen: Ich will keinen Journalisten in meinem Haus sehen, die machen doch mit mir und aus mir, was sie wollen. Leider stimmt das in vielen Fällen“ (Grabe und Obert 2004, S. 6). – Grabe ist aber nicht (wie manch anderer Dokumentarfilmer) grundsätzlich dem Journalismus negativ gegenüber eingestellt: „Ich fühle mich dem Journalismus durchaus nahe, weil für mich Inhalte und Aussagen eine Rolle spielen“ (Grabe 2000, S. 47). Es geht ihm um die jeweilige Haltung des Journalisten oder Dokumentaristen. Allerdings sieht er es als ein Problem an, dass Journalismus „rasanter“ geworden sei (vgl. Grabe 2000, S. 47). Aber der Zeit- und Kostendruck hat auch im Dokumentarischen zugenommen. 67Sitz des ZDF. 118 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Der Respekt gegenüber dem Protagonisten in der Interviewsituation schließt jedoch provokante und intime Fragen nicht aus (s. o.); auch nicht die Verwendung intimer – hoch emotionaler – Momente im fertigen Film (die Fechner wiederum höchst selten zeigt). Solche Szenen sind manchmal für das Verständnis einer Person extrem wichtig.68 Grabe verdeutlicht dies immer wieder an Petra Dreyer, der Mutter von Jens. Vergleichbare Augenblicke gibt es auch in Dr. med. Alfred Jahn (1984). In beiden Fällen dient der emotionale Ausbruch der Charakterisierung und schafft ein tieferes Verständnis für die ansonsten sehr abgeklärt wirkenden Protagonisten: Diese Mutter war eine eher spröde wirkende Frau, sehr kontrolliert […]: Schon während der Dreharbeiten überlegte ich, ob sie wohl im Film so kalt erscheinen könnte, dass man ihr gar nicht mehr abnehmen würde, wie sehr sie einerseits litt, andererseits sich mit aller Liebe um ihren Jungen kümmerte. Aber darum ging es ja gerade: um dieses Hin-und-her-gerissen-Sein, also auch um Wut, Enttäuschung, Müdigkeit. Und dann saß sie einmal vor unserer Kamera am Frühstückstisch und sprach darüber, wie sie sich die Mutterliebe zu ihrem Kind hart erarbeiten musste. ‚Und jetzt‘, sagt sie dann, ‚und jetzt bin ich Jens’ Mutter.‘ Und da brach sie – für meine Kollegen und mich völlig unerwartet – in Tränen aus. Diese Szene ist für den gesamten Film extrem wichtig, weil sie den Zuschauer für einen Moment hinter die Fassade dieser Frau blicken lässt. Von da an missversteht man ihre Selbstkontrolle nicht mehr als Kälte, im Gegenteil, man begreift sie als eine enorme Leistung. Ich als Filmemacher war dieser Frau ihre Tränen schuldig. Ich hätte diese Szene auf gar keinen Fall – vielleicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme – weglassen dürfen (Grabe und Obert 2004, S. 6). Auch Alfred Jahn, der Kinderchirurg, ist ein Mann voller Selbstkontrolle, denn bei seiner Arbeit kann er sich keinen Fehler erlauben. Viele Jahre lebte und arbeitete er in Asien – bis nicht näher erläuterte politische Umstände ihn zur Rückkehr nach Deutschland zwangen. Grabe porträtiert ihn kurz nach dieser unfreiwilligen Rückkehr. Durch sein Auftreten bleibt dem Zuschauer zunächst unklar, wie wichtig Jahn seine helfende Tätigkeit war. Grabe nutzt eine aufschlussreich Kontrastmontage: Zunächst sieht man Jahn dabei, wie er ein wenige Wochen altes Kleinkind in Landshut operiert. Leber und Darm stecken im Brustkorb und nicht in der Bauchhöhle. Jahn stopft die Organe zurück in den Bauch und näht das Loch im Zwerchfell zu. In der folgenden Szene berichtet Jahn von einigen Operationen, die er in Thailand durchgeführt hat. 68„Grabe belichtet etwa zehn- bis 15mal mehr Material, als er dann für die Sendung verwendet. Der Interviewte soll die Kamera vergessen und ‚ausführlich erzählen‘ können; oft habe ein solches Gespräch die Wirkung einer Therapie“ (N. N. 1978, S. 255 f.). 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 119 Vergleichsweise harmlose und einfache Eingriffe, zum Teil Operationen von lediglich zwei Minuten Dauer, die heilen können, die die Lebensqualität der Kinder deutlich verbessern können, dort aber nicht durchgeführt wurden. Ein Kind, das Jahn operierte, musste dreizehn Jahre lang auf die helfende OP warten. In Landshut hingegen werden bereits bei Säuglingen komplizierteste Eingriffe vorgenommen. Grabe will damit nicht die Allmacht des deutschen Chirurgen zeigen, denn er thematisiert auch den Tod eines Säuglings in Landshut. Er macht damit aber deutlich, was es konkret heißen kann, in der Bundesrepublik oder in Thailand zu leben, wie ungleich Lebenschancen verteilt sind. Jahn selbst stellt anhand dieser Beispiele an sich selbst die Sinnfrage. In Asien ist er oft der einzige Arzt, die einzige Rettung, in Deutschland ist er einen unter vielen. Auffällig ist, wie mühsam Jahn gegenüber dem Zuschauer – und eigentlich vor sich selbst – rechtfertigt, dass er wieder in Deutschland arbeitet und nicht mehr in einem Krisengebiet. Wie ein Mantra wiederholt er immer wieder für sich, dass er auch hier in Deutschland gebraucht werde. Es ist daher wichtig, dass Grabe zeigt, wie schwer es für Jahn ist, die Fassung zu bewahren, wenn er von seinen Erfahrungen in Asien erzählt. Für einen Moment ist er kaum in der Lage, weiterzusprechen, so stark wird er von seinen Gefühlen übermannt. Die mühsam aufrecht erhaltene Fassade bekommt hier einen Riss. Es wird deutlich, dass Jahn unter der erzwungenen Rückkehr leidet, dass er das Gefühl hat, die Menschen in Asien im Stich zu lassen. Erst durch diesen kurzen Moment, in dem Jahn mit seinen Tränen kämpft, wird erkennbar, welch große Bedeutung sein Einsatz für ihn hat – und wie mühsam er vor sich und dem Zuschauer nun rechtfertigt, in Landshut wirklich gebraucht zu werden. Dieser Moment macht ihn menschlicher. In Fechners Filmen findet man kaum solche emotionalen Ausbrüche. Seine Filme sind stärker von einer Art „intellektuellen“ Auseinandersetzung mit den Protagonisten geprägt69 (der Zuschauer soll sich quasi zu den Aussagen in Bezug setzten).70 Grabe hingegen geht es auch um ein Nachvollziehen auf der emotionalen Ebene, ein Nacherleben, um ein Sich-auf-den-anderen-Einlassen. Emotionalität hat in seinen Filmen einen ganz anderen Stellenwert. Grabe stellt die Intimität der Emotion jedoch nicht aus, entwertet sie nicht, indem er sie voyeuristisch und ausbeuterisch einsetzt. Solche Momente finden sich daher nicht am Anfang seiner Filme, wenn für den Zuschauer noch nicht verstehbar ist, was sie bedeuten. Vor allem zeigt 69Seine Art des Schnitts lässt große Emotionen auch kaum zu. 70Eine der wenigen hoch emotionalen Szenen findet sich z. B. gleich am Anfang von Comedian Harmonists: Marion Frommermann-Kiss, Witwen des Ensemblegründers Harry Frommermann, sitzt in New York der 1970er Jahre vor einem Plattenspieler. Sie hört die alte Musik und wird davon zu Tränen gerührt. 120 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe er immer die Situation und den Rahmen, in dem es zu einem Gefühlsausbruch kommt. Solche Szenen haben bei Grabe immer eine charakterisierende und auch dramaturgische Funktion, sie werden nicht aus Selbstzweck heraus verwendet.71 In der Regel wahrt die Kamera eine gewisse Distanz, zoomt also nicht heran.72 In Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn geht Grabe, der selbst die Kamera führt, in einem solchen Moment sogar von Jahn weg, schafft also noch eine größere Distanz zwischen der Kamera (und damit dem Betrachter) und Jahn. Eine ähnliche – wenn auch zunächst weniger auffällige – Wegbewegung gibt es bei einem sehr emotionalen Moment in Do Sanh (1991). Zudem schneidet Grabe hier für einen Moment auf Sanhs Frau, um Do Sanh nicht mit seinen Tränen über Gebühr auszustellen. Zudem zeigt er damit ihre Reaktion: Sie sitzt hilflos neben Sanh, weiß nicht was geschieht, weil sie das auf Deutsch geführte Interview nicht versteht. Grabe fängt in diesem Moment ihre Unsicherheit ein. Auch hier ist der sehr emotionale Moment notwendig, um Do Sanh nahe zu kommen. Erst dadurch erfährt man, wie stark er unter dem Verlust seiner Familie – einer indirekten Folge des Vietnamkrieges – leidet. Obwohl Hans-Dieter Grabe für seine sehr intimen Porträts bekannt ist, ist für ihn – paradoxerweise, möchte man meinen – während der Arbeit etwas wichtig, das er „positive Distanz“ nennt: Mit ‚positiver Distanz‘ wollte ich sagen, daß ich Wert darauf lege, daß ich Menschen, auf deren Seite ich stehe, nicht ständig das Gefühl gebe, sofort alles zu verstehen, was sie sagen. Meine Aufgabe ist, ihnen die Gelegenheit zu geben, so gut und ­deutlich 71Grabe spricht sich vehement dagegen aus, hoch emotionale Szenen nur „des Effekts willen aufzunehmen und reinzuschneiden. Bei kürzeren Filmen und auch bei Filmen im privaten Programm werden solche Szenen ausgeschlachtet. Da beginnt der Film mit den Tränen, ohne daß man die Entwicklung dorthin mitbekommt. Da ist wieder das Problem der Entwertung durch Fernsehen. Die Entwertung eines weinenden Menschen. Ohne daß ich wirklich weiß, warum er weint. Ohne daß ich nacherleben kann, was er erlebt hat oder jetzt durchdenkt. Das ist schlimm. Davor muß sich das Fernsehen hüten. Auch dieser Gedanke mag eine Rolle gespielt haben, wenn ich in meinen Filmen zunehmend scheinbar unnötige Bilder draußen hielt und mich auf das im Moment Wichtige beschränke“ (Grabe 2000, S. 44 f.). 72Eine Ausnahme findet sich in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang: Dort gibt es eine Szene, in dem einem kleinen Mädchen der Tod der Mutter mitgeteilt wird. Kameramann Carl Franz Hutterer hält hier distanzlos auf das Gesicht des Kindes. Die besondere Nähe der Kamera ist in dem Film (und grundsätzlich bei Hutterer) ein Markenzeichen – in dieser kurzen Szene ist sie jedoch grenzwertig. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Hutterer die Todesmitteilung heraus zögerte, um eine neue Kassette in die Kamera zu legen (vgl. Hutterer und Witzke 1999, S. 87). Auffällig ist, dass Grabe danach – bis auf zwei Ausnahmen (Das Wunder von Lengede, 1979; und Nicht mehr heimisch in dieser Welt, 1994) – nicht mehr mit Hutterer zusammen gearbeitet hat. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 121 wie möglich zu erzählen. Nämlich für die Leute, die diesen Menschen nicht kennen und nur durch meinen Film kennenlernen. Es kann sein, daß meine verzögerte Zustimmung, manchmal auch ein kleines Nachfragen, keine Gegnerschaft offenbart, sondern die Bitte, etwas noch mal genauer zu erklären. Also Distanz, die aber nicht gegen jemanden gerichtet ist (Grabe 2000, S. 46). Sein Ziel ist es, durch Nachfragen die Überzeugungskraft der Aussagen zu stärken (vgl. Grabe 1988, S. 217). Dabei geht es ihm nicht darum, durch zur Schau getragene Sympathie oder Antipathie seine Ansicht über den Interviewpartner zu vermitteln. Grabe hat immer die Wirkung des Films für den Zuschauer im Kopf: Ein zu vertrautes Du kann den Zuschauer ausschließen. Und noch eine Funktion hat diese positive Distanz. Nämlich die, dem Fragesteller zu starke emotionelle Anteilnahme zu verbieten. Je stärker ich mein Mitgefühl gegenüber einem Menschen vor der Kamera in Worten offenbare oder gar demons­ triere, um so geringer ist das Mitgefühl, das beim Zuschauer entsteht,73 um so geringer kann manchmal aber auch der Gefühls- und Erzähldruck bei meinem Gesprächspartner werden (Grabe 1988, S. 217). Immer wieder verweist Grabe auf Ludwig Gehm (Ludwig Gehm – Ein deutscher Widerstandskämpfer, 1983), der seinerzeit während der Duisburger Filmwoche auf den an Grabe gerichteten Vorwurf, er sei in seinem Film emotional unbeteiligt, entgegnete: „Wäre er [Grabe] nicht so zurückhaltend geblieben, hätte ich nicht einen Bruchteil von dem erzählt, was ich erzählt habe“ (Zit. nach Grabe 1988, S. 217; vgl. auch Grabe 2000, S. 46). Eine mitfühlende, oder gar mitleidige Interviewführung kann also genau das Gegenteil von dem erreichen, was sich der Interviewer vielleicht davon verspricht. Eine gewisse Distanz kann sogar die notwenige Reibungsfläche erzeugen, sodass zwar intime, aber nicht anbiedernde Porträts entstehen, die Raum für Widersprüchlichkeiten lassen.74 Stefan Reinecke beschreibt Grabes Methode am Beispiel Ludwig Gehm auch als ein Spiegelverhältnis: 73Bekannt für solche emotional distanzlosen Interviews ist vor allem Margarethe Schreinemakers in Schreinemakers live (Sat1 1992–1996) resp. Schreinemakers TV (RTL 1997). 74Auch Reinecke weist darauf hin, dass diese Distanz dazu führt, dass Erinnerung nicht als faktische, als ‚objektive‘ Wahrheit wahrgenommen wird: „Grabe nähert sich seinen Gesprächspartnern einfühlsam, doch im Bewußtsein der Grenzen, die man nicht verwischen darf. Ihn interessiert die Wahrnehmung, wie sich Dinge ins Gedächtnis gegraben haben oder wie sie verschüttet wurden und nicht, wie es denn eigentlich gewesen ist. Er sagt oft: ‚Ich habe den Eindruck‘ oder ‚Könnte es sein‘, selten: ‚War es so oder war es anders‘“ (Reinecke 1990, S. 171). 122 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe In dem Gespräch [sic!] […] entsteht zwischen Gehm, Grabe und dem Zuschauer eine komplexe Beziehung, in der Grabes Haltung zu Gehm, dessen Verhalten vor der Kamera und eine Sichtweise, die dem Zuschauer damit nahegelegt wird, sich als eine Art Spiegelverhältnis beschreiben läßt. Es ist ein Spiel mit Aussprechen und Verschweigen. Man merkt, daß Gehm immer dann zurückweicht, wenn es um seine Zähigkeit geht und um die Qualen, die er erlitten hat. Grabe läßt dies vage in den Fragen und Hinweisen durchscheinen. Um dieses Spiel und um Gehm zu verstehen, muß der Zuschauer somit einen Subtext, das Verschwiegene, mitdenken. Aus dieser Verknotung erwächst die dramaturgische Spannung. Erst am Schluß spricht Grabe diesen Code an und sagt: ‚Ich glaube nicht, daß sie uns alles erzählt haben‘ (Reinecke 1990, S. 172 f.). Was Reinecke hier mit Verschweigen bezeichnet, hat sicherlich eine Ursache in den Erfahrungen Gehms in der Nachkriegszeit, in der sich niemand für seine Geschichte interessiert hat: [N]icht einmal seine Frau wußte vieles von dem, was er uns dann vor der Kamera erzählte. […] Nur allzu oft war er nach dem Krieg auf Unglauben und taube Ohren gestoßen, was ihn schließlich für lange Zeit hatte verstummen lassen (Grabe 1988, S. 214). Er redet mit Grabe zum ersten Mal über seine Erlebnisse. Doch Gehm will den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime nicht als persönliches Engagement erzählen. Er war Teil einer Widerstandsgruppe, die politisch motiviert war. Gehm möchte sich nicht persönlich exponieren und sich damit über seine ehemaligen Mitstreiter erheben. Daher ist er so zurückhaltend darin, über seine Zähigkeit und seine Qualen zu reden, denn für ihn unterscheiden sie sich nicht von der Zähigkeit und den Qualen jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe. Es lassen sich hier also mindesten drei Gründe erkennen, warum Gehm sehr zurückhaltend von seinen Erlebnissen im KZ berichtet: • Grundsätzliche Schwierigkeiten über traumatische Erinnerungen zu reden. • Er hat gelernt, dass ihm keiner aufrichtig zuhört. • Er will sich nicht exponieren. Daraus entsteht die eigentümliche Situation, dass Gehm zwar auf der einen Seite über viel schweigt, auf der anderen Seite durch Grabes Interviewführung aber dazu gebracht wird, über deutlich mehr zu reden, als er eigentlich dachte, dass er erzählen will oder kann. Dennoch entsteht eine Vielzahl von Leerstellen, die der Zuschauer hier selbst ausfüllen muss. Grabes Statement am Schluss ist quasi die nachgereichte Aufforderung dazu. Im Prinzip funktionieren alle seine Filme so. Grabe braucht für das Gelingen seiner Filme bestimmte Protagonisten. So betont Bodo Witzke: 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 123 Ohne Zweifel gehört zur minimalistischen Handschrift Grabes eine Dramaturgie, die – zynisch gesprochen – dann besonders gut ‚funktioniert‘, wenn er dramatische Situationen beschreibt, die aus sich heraus starke Gefühle beim Zuschauer erwecken (Witzke 2006, S. 37). Es sind aber weniger die dramatischen Situationen an sich, die für die Filme entscheidend sind – die werden auch in anderen Dokumentationen und Porträts geschildert. Grabes Filme gewinnen vor allem dadurch an Intensität, dass er die Widersprüchlichkeit der Charaktere herausarbeitet: Seine Helden sind – dramaturgisch gesehen – komplexe Figuren: Die Mutter, die sich zu ihrem behinderten Kind bekennt, hatte vorher überlegt, es umzubringen; der KZ-Überlebende Mendel fühlt sich schuldig, weil er einem toten Mithäftling das Brot abgenommen hat. Diese oder vergleichbare Konflikte müssen sie allerdings auch haben, damit das Drama ihres Lebens zum Drama des Films verdichtet werden kann (Witzke 2006, S. 40). Grabes Filme sind so im Kern Filme über die inneren Konflikte seiner Protagonisten – auch wenn er deren Zerrissenheit teilweise nicht so offensichtlich thematisiert, wie in den hier von Witzke angesprochenen Beispielen. Auch bei Ludwig Gehm und Alfred Jahn wird diese innere Zerrissenheit erlebbar. Roger Leonard, der nette Hühnerzüchter 20 Meilen vor Saigon entpuppt sich als Massenmörder, wenn er ohne Schuldgefühle berichtet, dass er ein von Feinden gesprengtes Loch in einer Straße mit 150 erschossenen Gefangenen „repariert“ hat, weil er einen Befehl falsch verstanden habe. Hier erzählt das fehlende Mitleid, die nicht eingestandene Schuld quasi ex negativo von einer widersprüchlichen Biografie. Der Varietékünstler Ralf Bialla, der angeblich Gewehrkugeln mit dem Mund fangen kann (Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum läßt Ralf Bialla auf sich schießen?, 1972), findet keine Erklärung dafür, dass jeden Abend Menschen dazu bereit sind, auf ihn zu schießen – berichtet aber voller Stolz von seinen Kriegserfahrungen und seinen Auszeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg. In Das Wunder von Lengede (1979) zeigt Grabe auch das Leiden nach der eigentlichen Rettung der Verschütteten. Stefan Reinecke kommt daher zu dem Schluss: In Grabes Werk finden sich ungemein intensive Augenblicke des Unglücks oder genauer: des bewältigten Unglücks. Momente des Glücks gibt es kaum. […] Grabe hat stets etwas im Sinn, immer umkreist er ein Ziel, ein Geständnis, eine Erinnerung, die enthüllt werden kann (Reinecke 1990, S. 176). Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass es dieses zu Enthüllende auch geben muss, damit seine Filme funktionieren. Dies hängt wesentlich auch davon ab, ob 124 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Grabe und sein Protagonist miteinander harmonieren, ob Grabe einen Zugang findet und der Protagonist sich ihm öffnen kann: Wie sehr Grabe an das vorgefundene Material gebunden ist, merkt man gerade in seinen weniger gelungenen, weniger intensiven Werken, in denen er mit seinem Helden nichts Rechtes anzufangen weiß. Der Film über Fritz Teufel75 scheint ein solches Beispiel zu sein. Hier wäre eine provokantere Art des Fragens ergiebiger gewesen, und Grabes Ernsthaftigkeit trifft sich nicht mit Fritz Teufel, der seine Identität stets aus einem ironischen Verhältnis zu sich selbst gewonnen hat (Reinecke 1990, S. 171). Einen Punkt vernachlässigt Reinecke hier: Fritz Teufel kann man durchaus als Medienprofi begreifen, der seit seiner Zeit in der Kommune 1 stets seine Außenwirkung mit bedacht, sich somit stets als Persona inszeniert hat.76 Auch Lew Kopelew (Ich bekenne mich schuldig – Lew Kopelew, 1986) hat durch seine Prominenz ein professionelles Verhältnis zu sich und seiner Vergangenheit. Hier tun sich keine Brüche auf, die Grabe zeigen kann. Grabes „Dramaturgie des Mitleids“ (Reinecke 1990, S. 173) greift in solchen Fällen nicht. – Was Reinecke hier als ein Problem der Fragetechnik versteht, hängt vielmehr mit der Auswahl des Protagonisten zusammen. Zum einen lassen sich Medienprofis in der Regel deutlich schlechter zu Antworten provozieren und zum anderen spielen bei ihnen Selbstinszenierung und Selbststilisierung eine bedeutende Rolle. Ihnen fehlt ­oftmals genau das, was der Fernsehkritiker Momos als Voraussetzung der ­Grabeschen ­Protagonisten bezeichnet: „die Fähigkeit zu entschiedener und kritischer Selbstreflexion“ (Momos 1984). Grabe braucht für seine Art des Interviewfilms Protagonisten, die eine gewisse Widersprüchlichkeit oder Un-Einigkeit mit sich selbst mitbringen. Auf die Ent-Deckung dieser Punkte hin sind die Filme montiert. Und gerade diese Punkte sollen die Zuschauer herausfordern, sich in Bezug zu den Protagonisten zu setzten, eine eigene Meinung über sie zu bilden. 75Fritz Teufel oder Warum haben Sie nicht geschossen? (1982). 76M. E. kann man auch bezweifeln, ob provokantere Fragen bei jemandem wie Teufel, der stets selbst provoziert hat, als Methode überhaupt funktionieren würden. So war z. B. Teufels fünfjährige Untersuchungshaft für ihn kein persönlich erlittenes Unrecht, da er sein Alibi absichtlich zurückhielt. Dieses Verschweigen war wiederum eine Provokation der Staatsmacht, denn für Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (der Bewegung 2. Juni) hätte er wahrscheinlich ebenfalls fünf Jahre Haft bekommen. Von dem Vorwurf der Tatbeteiligung an der Lorenz-Entführung musste er hingegen freigesprochen werden (vgl. ausführlich zur Biografie Teufels Carini 2003). Damit zeigte er – aus seiner Sicht – die mangelhafte Ermittlungsarbeit des BKA auf und führte Polizei und Justiz der Öffentlichkeit vor. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 125 Im Prinzip lehnt Grabe Gruppengespräche ab; doch kommt es gelegentlich vor, dass er in seinen Filmen zwei oder mehrere Personen zugleich befragt (z. B. Die Trümmerfrauen von Berlin). Er sieht in solchen Gesprächen die Gefahr, dass ein oder zwei Personen die Gruppe dominieren und der Rest mehr oder minder schweigend Zustimmung signalisiert (vgl. z. B. Grabe 1988, S. 217 f.). Wie sehr es einen Film bereichern kann, gerade auch die Zurückhaltenderen zum Reden zu bringen, erfuhr Grabe z. B. während der Dreharbeiten zu Das Wunder von Lengede (vgl. dazu Grabe 2000, S. 42). Hier war es derjenige, von dem alle anderen – seine Frau eingeschlossen – fürchteten, dass er nichts erzählen werde, der am ausführlichsten und eindringlichsten von seinen Erlebnissen und Erfahrungen berichtete. Ein anderes Mal hat Grabe gar einen der Bergleute weggeschickt, damit er alleine mit dessen Ehefrau reden konnte. Ein Interview mit ihr war nicht möglich, solange der Ehemann anwesend war. Grabe erkannte, dass die Ehefrauen ebenso Opfer des Unglückes waren, auch sie litten unter den Folgen. Diesen Aspekt wollte Grabe in seinem Film ebenfalls thematisieren. Im gemeinsamen Gespräch war dies aber kaum möglich, da sich nur die Männer als Opfer sahen und nicht verstanden, warum Grabe auch mit ihren Frauen reden wollte. In solchen Kon­ stellationen kann die Situationen entstehen, dass ein (Interview-)Partner – vielleicht auch nur unbewusst – glaubt, nur er könne über das Geschehene berichten, da nur er ‚wirklich‘ betroffen sei. Er wird dann das Interview dominieren. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich: Ein (Interview-)Partner kann sich als ‚weniger betroffen‘ imaginieren und sich daher nicht äußern. Er glaubt vielleicht, nichts Wesentliches beitragen zu können.77 Einzelinterviews schaffen den Raum – auch für solche vermeintlich unwichtigen Personen – sich unabhängig von gruppen- oder partnerschaftsdynamischen Prozessen zu äußern. Gruppengespräche unterliegen hingegen der Gefahr, dass einige wenige ihre persönliche Sichtweise als Gruppenmeinung, als geteilte Erfahrung präsentieren können. Jens und seine Eltern (1990) kann man hier als Gegenbeispiel anführen. In diesem Film über die Eltern eines behinderten Jungens zeigen 52,1 % der Interviewszenen beide Elternteile gemeinsam. Die Eltern lösen sich dabei teilweise aus der Interviewsituation und beginnen – zunächst zaghaft – miteinander zu reden: Sie sprechen nun nicht mehr nur über sich, sondern auch darüber, wie sie den anderen in der Zeit nach der Geburt des Kindes 77Natürlich ist in solchen Situationen auch denkbar, dass (Interview-)Partner sich nicht äußern, da sie nicht in den Verdacht geraten wollen, das Leiden anderer herunterzuspielen und/oder sich selbst in den Vordergrund stellen zu wollen. 126 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe wahrgenommen haben. Es entsteht ein Gedankenaustausch zwischen ihnen. Damit wird dem Zuschauer deutlich, wie stark das Verhältnis der Eltern zueinander durch die Situation belastet ist und nicht nur das Verhältnis der beiden zu Jens. – Gruppengespräche können also eine neue Perspektive in die Interviews bringen, wenn die Interviewpartner gleichberechtigt miteinander reden.78 Im Unterschied zu Eberhard Fechner, so schreibt Thomas S. Frank verzichtet Hans-Dieter Grabe auf die Methode der Wechselrede, da es das Ziel in allen seinen Gesprächsfilmen ist, den sprechenden Menschen vor der Kamera nicht einem Gesprächsthema unterzuordnen, sondern ihn als Person in das Zentrum der Betrachtung zu stellen (Frank 2005, S. 237). Unter dieser Wechselrede versteht man eine spezifische Schnittmethode im Interviewdokumentarismus, für die insbesondere Fechner bekannt wurde – und an deren Entwicklung seine Schnittmeisterin Brigitte Kirsche entscheidenden Anteil hatte (zu Entwicklung dieser Methode und zu Vorläufern siehe Hißnauer 2010a, 2011c sowie Hißnauer und Schmidt 2013, S. 222–254). Dabei wird aus einer Vielzahl von Interviews eine Art künstlicher Dialog montiert: Alle in diesen Filmen auftretenden Personen kommunizieren so miteinander, als säßen sie um einen riesigen imaginären Tisch, obwohl sie doch alle einzeln, an verschiedenen Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten aufgenommen worden sind. Das Ergebnis ist eine Art Dialog, wie sie nur durch den Film möglich ist, oder anders gesagt, eine Erzählung mit verteilten Stimmen; wobei ich zwar die Aussagen authentischer Menschen verwende und sie in Beziehung zueinander setze, die Erzählung selbst aber von mir entworfen wird (Fechner und Schlicht 1989, S. 52). Am Beispiel des Films Das Wunder von Lengede oder Ich wünsch’ keinem, was wir durchgemacht haben lässt sich zeigen, dass die Einschätzung Franks, Grabe nutze die Wechselrede in seinen Filmen nicht, nur zum Teil richtig ist. Bereits in Die Trümmerfrauen von Berlin (1968) montiert er entsprechende Szenen – ein Jahre bevor Fechner mit Nachrede auf Klara Heydebreck (1969) seinen ersten dokumentarischen Film vorlegte. Eberhard Fechner interessiert sich weniger für die einzelnen Personen. Die Protagonisten bleiben z. B. in Der Prozeß (1984) nur Funktionsträger: ­Angeklagte, R­ ichter, 78Auch hierin zeigt sich Grabes spezielle Dramaturgie der Wiederholung. In allen drei Hauptsequenzen des Films geht es um das Leben mit einem behinderten Kind, um die Auswirkungen auf das Familienleben. Durch die unterschiedliche Fokussierung in den Sequenzen vermittelt Grabe nicht unbedingt ein Mehr an Informationen, sondern eine andere Perspektive (die Sicht der Mutter, die Sicht des Vaters, die Situation der Eltern). 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 127 Schöffe, Zeuge, Prozessbeobachter. Ihre Namen erfährt man nicht. Das durch den Zusammenschnitt einer Vielzahl von Interviews und Perspektiven entstehende Kaleidoskop ergibt bei Fechner die überindividuelle Erzählung. Fechner selbst sagte dazu: „Mich interessieren nur Stoffe, die weder in der subjektiven Problematik eines einzelnen noch in der abstrakten Problematik der Geschichte stecken bleiben“ (Fechner 1984, S. 133). Es entsteht also eine Erzählung, die eben nicht eine subjektive Geschichte ist. Doch gerade dadurch, dass diese Erzählung aus persönlich Erlebtem konstruiert wird, wird sie hinreichend konkretisiert, um sich nicht als unbeeinflussbares Schicksal in abstrakten historisch-politischen Zusammenhängen und Machtkonstellationen zu verlieren (ausführlich zu Fechner siehe Hißnauer und Schmidt 2013). Hans-Dieter Grabe hingegen lässt dem Einzelnen viel mehr Raum seine eigene, persönliche Geschichte zu berichten und ordnet sie – vordergründig – nicht so stark dem Thema unter, wie es bei Fechner geschieht. Oft konzentriert er sich daher auf einen Protagonisten. Das Interesse für die persönliche Geschichte wird in Das Wunder von Lengede – einem Film, den Grabe über eine Gruppe von Bergmännern gemacht hat – darin ersichtlich, dass Grabe sich vor allem für die psychischen Folgen für die Geretteten interessiert. Bereits in der Exposition wird das deutlich: Die von ihm interviewten ehemaligen Verschütteten zeigt er zunächst an ihren aktuellen Arbeitsplätzen oder Zuhause und berichtet im voice over über die beruflichen und gesundheitlichen Folgen.79 Zu Wort kommen dann ihre Frauen (s. o.). Auch sie berichten von den Auswirkungen auf die Psyche ihrer Männer. Bilder derer stummer Blicke verwendet Grabe als Zwischenschnitte. Erst nach acht Minuten lässt Grabe die Männer von ihren Erlebnissen erzählen (siehe Abb. 3.6). Zu diesem Zeitpunkt hat er sie bereits als leidende Opfer und nicht als ‚strahlende Helden‘ etabliert. Ähnlich wie in seinen Vietnam-Filmen (vor allem Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang, 1972; und Do Sanh – Der letzte Film, 1998), interessiert sich Grabe hier für die (Spät-)Folgen des Unglückes.80 Grabe lässt die Ereignisse des Grubenunglücks von Lengede im November 1963 von mehreren Protagonisten (und ihren Frauen) wechselseitig erzählen (vgl. Hißnauer 2007). Zunächst nutzt er dabei neben der ergänzenden Wechselrede jedoch noch die Parallelmontage, wie folgende Schnittfolge zeigt: 79Ebenso verwendet er in diesem Film – wie in anderen auch – Archivaufnahmen und aktuelle Aufnahmen aus dem Schacht Mathilde. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Franks Einschätzung, Grabe ‚bebildere‘ seine Filme nicht (vgl. Frank 2005, S. 15), so nicht haltbar ist (siehe dazu auch Abb. 3.7). 80Auch in seinem Film Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr thematisiert Grabe seinen Protagonisten und dessen Frau als Opfer der Arbeitsmigration und betont damit die schwierige Situation, in der „Gastarbeiter“ in den 1970er Jahren in Deutschland waren (siehe Kapitel Fremde Heimat in den „Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes). 128 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Abb. 3.6   Hans-Dieter Grabe: Das Wunder von Lengede (1979), Sequenzübersicht. (Eigene Darstellung) Hans-Dieter Grabe: Das Wunder von Lengede (1979), Sequenzübersicht 00:40:00 00:32:00 00:24:00 Endtitel Nachbarn Psych. Folgen Warten Rettung Frauen bekommen Nachricht Kontakt Kontakt Tod Bühners Gefunden Tot erklärt Situation der Frauen Hoffnungslosigkeit Legitimation im Kommentar Erste Interviews mit den Männer 8:03 Frauen über Folgen Aktuelle Lage der Männer Historischer Hintergrund Flucht vor dem Wasser Exposition 00:16:00 00:08:00 00:00:00 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 129 1. Strang 2. Strang 3. Strang Adolf Herbst: „Als ich die Arbeit beendet haƩe, bin ich dann Richtung Schacht gelaufen. Und da kamen mir etliche Leute schon entgegen gerannt, die nicht klar erklären konnten, was passiert war. Ich bin dann also weiter Richtung Schacht gelaufen. Und ziemlich dicht vorm Schachtkorb ist mir noch einer entgegen gekommen, dem ich noch kurz ‛n Inhaltsverzeichnis gehalten habe am Telefon, der also die Strecken noch benachrichƟgte, was passiert war. Da wusste ich immer noch nicht, was eigentlich los war. Ähm. Und was jetzt passiert, das ist – oder passierte, das ist eine Ereignis, das man nicht erklären kann. Warum man jetzt aus diesem oder jenem Grund so gehandelt haƩe. Und zwar ist folgendes passiert: Der Lokführer, der jetzt äh die Strecke fuhr, der Riechey – wie ich später erfahren haƩe – der fuhr also mit seiner Lok die Strecke nach oben. Ich hab’ in dem Moment das Inhaltsverzeichnis für diesen äh für das Telefonverzeichnis liegengelasse’ und bin auf diese Lok mit gesprung’n.“ Hermann Lübke: „Drei Mann ham Dammbau gemacht. Und – und ich hab mit ein’m Kumpel die LuƩen noch gelecht, ne. Und äh, na da ham die auch gedacht, das, das rauscht so komisch, da hab ich, da war noch der Bär, Fritze Bär, dabei, ich sache: ‚Fritze hör mal zu, wann kommt denn, was rauscht denn da so?‘“ Helmut Webranitz: „Da war’n wir gerade am Schapperseil [?] auflegen, da kam der Steiger zu uns un’ d’ sachte: wie lange dauert das noch, bis ihr anfangt zu schappen. Ne und da sach ich dann zu mei’m Hauer ‚Mecha [?] das rauscht aber so komisch an dem Berg.‘ Un‚ sagt der: ‚machen ma nichts.‘ Sach ich: ‚Horch ma’!‘ ‚Ja‘, sacht er, ‚Du hast recht.‘ Bin nach vorne jelaufen, da sach’ – da hab’ ich eben das Wasser gesehen, das da kam. Wieder zurück. Sach ich: ‚Mensch kommt her, da kommt unheimlich viel Wasser.‘“ Hermann Lübke: „Ich bin hin gelaufen nach’m Berch. Hab’ geguckt. War’s nur 30 Meter vom Berg enƞernt wo wir gearbeitet ha’m. Na, der AufsƟeg war schon ziemlich vorne am Berch. Und wie wir hingekommen sind hab’ ich schon geseh’n, dass das Wasser schon Unterkante Hauptband lief. Ne? Und da hab’ ich gleich zurück gerufen. Ich sach’: ‚Fritze hör mal zu, Wassereinbruch.‘“ Adolf Herbst: „Wir sind also mit der Lok in den Berg hoch gefahr’n. Bis zu einer gewissen Strecke. Als dann kein Strom mehr war, mussten wir also dann von der Lok runter. Und von da aus jetzt dann zu Fuß die ganzen Strecken nach oben laufen.“ Johannes SiƩer: „Wir ha’m uns schon, schon so was gedacht, dass vielleicht ein 130 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Teich durchgebroch’, aber Genaues wussten wir ja auch noch nicht was los ist. Wir wussten nur, dass, dass das Wasser immer steigt.“ Adolf Herbst: „Wir konnten ‛ne Zeit lang neben den Fließbändern her laufen. Das war dann auch nicht mehr möglich als das Wasser ansƟeg. Wir sind dann auf die Fließbänder – gegangen. Äh. Später war’s so stark, dass man sich an den LuŌrohren, die in der, in dem Schacht entlang befesƟgt sind, dass man jetzt sich jetzt daran festhalten musste, um nicht vom Wasser weggerissen zu werden.“ Johannes SiƩer: „Und da wollte man nach unten weg, da war so’n kleine’ Tunnel, und wie wir da runter kam’ da war schon so viel Holz angeschwemmt – kreuz und quer sich gestellt – da konnten wir schon nicht mehr durch kom’. Da sind wir wieder zurück. Durch das Wasser, ham uns durchgequält. Bis oben Strecke eins. Und das Wasser ist immer gesƟegen, immer gesƟegen.“ Helmut Webranitz: „Mein Hauer und ich wir ha’m echt versucht, um da weg zu komm’. Und ha’ms beide nicht geschaŏ. Und dabei ist er als erster gleich abgesoffen, nicht?“ Grabe [off]: „Ihr Kamerad?“ Helmut Webranitz: „Ja, mein, mein Kamerad, nich’?. Das war der erste Tote war dat.“ Siegfried Ebeling: „Wir ham nur noch gesehn wie der an uns vorbei gespült wurde. Das war ja kein normal fließendes Wasser. Das war wie ein Wildbach.“ Helmut Webranitz: „Der is’ regelrecht weggerissen. Der is’ abgerutscht – von der Ankerstange, ja? Da is’ von Bau zu Bau ist da so ‛ne Ankerstange, die is’ befesƟgt, dass s’ sich nichts zusam’ schiebt. Da is’ er runtergerutscht. Und ich wollt’, wollt’ ihn noch fassen, Hab ihn nich’ in die Hand bekommen, aber da war’s schon passiert.“ Das Wunder von Lengede (Min. 9–13) 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 131 Die Protagonisten erzählen, wie sie sich jeweils in den Alten Mann retteten. Da sie an unterschiedlichen Stellen im Schacht von dem eindringenden Wasser überrascht wurden, berichten sie hier zumeist noch unabhängig voneinander. Lediglich Aussagen von Siegfried Ebeling und Helmut Webranitz schneidet Grabe ergänzend zueinander. Diese Möglichkeit nutzt er im weiteren Verlauf des Filmes zunehmend, da die Erzählungen nun um das gemeinsam Erlebte in der Abbruchstelle kreisen: Johannes Sitta: „Das Wasser kam in voll’n Ström’ da runter und er wollte noch mal auf die andere Seite. Da war’n noch mehr Kumpels rüber gegangen. Die sind auch zu Tode gekommen.“ Siegfried Ebeling: „Und der Bühner, der wollte dann auch rüber und ist durchs Wasser. Ist abgerutscht und kurz ins Wasser rein und da kam ja schon Ausbauholz mit.“ Heinz Koll: „Da ist ‛n Stück Holz angekommen und hat ihm beide Beine zerschmettert. Und der ist bis zur neunten Nacht bei uns geblieben. Und wie dann der Steinschlag kam, ham’ wir ihn die neunte zur zehnten Nacht verlor’n.“ Johannes Sitta: „Durch sein Aufschreien hat man wieder gemerkt, dass wieder einer weniger ist.“ Das Wunder von Lengede (Min. 32-33) Ebenso gibt es – wie bei Fechner – die kontrastive Montage von Aussagen, den Widerspruch; so in Minute 23: Johannes Sitta: „Aber wie schon acht Tage vorbei war’n, da haben wir die Hoffnung aufgegeben gehabt.“ Bernhard Wolter: „Ich persönlich, von meinem Standpunkt aus, sage immer wieder, ich habe dran geglaubt, dass die uns raushol’n.“ Dieses Montageprinzip – das Fechner extensiv nutzt – ist möglich, da die persönlichen Schicksale einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Fechners Filme zeichnen sich gerade darin aus. Daher ist es ihm möglich, seine Gesprächspartner an einem – bildlich gesprochen – Imaginären Tisch (Netenjakob) zu versammeln. Der Bezugspunkt variiert dabei. In einigen Filmen ist der Bezugspunkt ein Ort (Unter Denkmalschutz, 1975; Im Damenstift, 1983), in anderen sind es die persönlichen Bindungen einer Personengruppe (Klassenphoto, 1971; Comedian Harmonists, 1976). Sein erster Erzählfilm ist eine Nachrede auf Klara Heydebreck (1969). In Der Prozeß (1984) interviewt er die an dem Majdanek-Gerichtsverfahren beteiligten Personen. Die unterschiedlichen Gespräche beziehen sich immer wieder auf die gleichen Personen und/oder Begebenheiten. So kann Fechner aus den verschiedenen Interviews eine Erzählung darüber montieren. – Grabe geht jedoch oft gerade umgekehrt vor. Er will nicht viele Gespräche, die sich zu einer 132 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Erzählung vereinen. Er will die eine, eigene Geschichte.81 Filme wie Das Wunder von Lengede oder Barry Meeker oder Ich war bloß der Pilot (1976) sind als Gruppenporträts Ausnahmen, in denen er entsprechende dramaturgische Verfahren nutzt. Wie erwähnt gibt Grabe in den Kommentaren Hintergrundinformationen, die zum Verständnis der persönlichen Schicksale wichtig sind, um die Interviews von der Last der Faktenvermittlung zu befreien (s. o.). Die grafische Analyse (Abb. 3.7) zeigt die Verteilung des Kommentars in einer Sequenz (Min. 16–32) aus Das Wunder von Lengede. In dieser Sequenz geht es um die Situation der Eingeschlossenen unter Tage, die Reaktion auf die Suchbohrung und den ersten Sprechkontakt mit ihren Frauen. Zu Beginn der Sequenz erläutert der Sprecher: Kommentar [voice over]: „Für die Grubenleitung waren sie tot. Und dass sich jemand in eine Bruchhöhle gerettet haben könnte, ohne dort von einer herabgestürzten Schale – wie man hier die zentner- bis tonnenschwere Gesteinsplatten nennt – zerdrückt worden zu sein, schien ausgeschlossen. Am Tor, wo die Frauen standen, hing schon wenige Tage nach dem Unglück die Liste mit den vierzig Vermissten, die bereits für tot erklärt waren.“ Das Wunder von Lengede (Min. 16) Damit wird zunächst die historische Situation vergegenwärtigt. Gleichzeitig transportiert der Kommentar Informationen, die in der damaligen Lage den Eingeschlossenen unbekannt waren. Grabe könnte natürlich seine Protagonisten davon berichten lassen, doch sie würden in dem Moment über etwas erzählen, dass sie nur im Nachhinein erfahren haben.82 Gleichsam objektiviert der Sprechertext durch den nüchternen Bericht die Begebenheiten (sodass die Erzählungen der Männer – und auch der Frauen, die unter der Situation gelitten haben – umso mehr als subjektive Erlebnisse erscheinen). Dies geschieht dadurch, dass der Kommentar das Erzählte in einen größeren Zusammenhang einordnet. 81Als Merkmal „objektiver“ Berichterstattung gilt, dass möglichst alle Seiten zu Wort kommen (z. B. Opfer und Täter). Das macht Eberhard Fechner (besonders eindringlich in Der Prozeß). Die Filme erscheinen daher auf den ersten Blick objektiv – erst beim genauen Hinsehen (resp. -hören) wird deutlich, wie Fechner Interviewpassagen zur Kommentierung nutzt (z. B. in Klassenfoto) und seine Protagonisten als Figuren aufbaut (z. B. Comedian Harmonists). Hißnauer und Schmidt (2013, S. 251) nennen dies das „Prinzip der funktionalisierenden Rollenzuschreibungen“ bei Fechner. 82Dies ist natürlich auch eine Authentisierungsstrategie. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung Kommentar Original Ton Tonband- aufnahme von 1963 Bild 00:00:00 00:04:00 00:08:00 00:12:00 Archivfotos 00:16:00 Aktuelle Aufnahmen aus Lengede Hans-Dieter Grabe: Das Wunder von Lengede (1979), Min. 16 bis 32 Abb. 3.7   Das Wunder von Lengede (1979; Hans-Dieter Grabe), Sequenzgrafik (Min. 16–32). (Eigene Darstellung) 133 134 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Der zweite Kommentar hat zunächst eine anderen Funktion: In den Interviews wird geschildert, dass bei dem Durchbruch der Suchbohrung in die Höhle Wasser durch das Bohrloch hereinbrach. Die Verschütteten hatten deswegen befürchteten, der Hohlraum solle geflutet werden, um Wasser aus den anderen Stollen zu pumpen. Im Kommentar wird daher dem Zuschauer erklärt, weshalb Stollen normalerweise mit einem Sand-Wasser-Gemisch gespült werden (um ein Absenken zu vermeiden): Kommentar [voice over]: „Mit Wasser spült man Sand in all die Strecken, die nach der Stilllegung der Grube nicht zusammenfallen dürfen, weil sich über ihnen ein Haus oder eine Straße befindet. Das Wasser, das die Männer in der Höhle so erschreckt hatte, kam von der Nassspülung des Bohrgeräts. 60 Meter tief in einem sich ständig verändernden Bruchgebiet durch eine Bohrung gefunden worden zu sein, dass hatten die Eingeschlossenen einfach nicht fassen können. Hinweisen aus der Belegschaft war es zu danken, dass die Grubenleitung am zehnten Tag nach dem Unglück diese Suchbohrung angesetzt hatte.“ Das Wunder von Lengede (Min. 25) Der dritte Kommentar dient vor allem als dramaturgische Klammer. Er nimmt kurz die Erzählung von Hermann Lübke auf, um dann überzuleiten zu einer Bandaufnahme der ersten Gespräche mit den Verschütteten: Hermann Lübke: „Und jetzt ham die Kumpel gesagt: Also Hermann hör zu! Wenn, wenn wir rauskomm’ sollten, und wenn du schlachtest, ladest du uns alle ein. Ich sach: das mach’ ich auch [Überblendung auf Archivfotos von Lübke] Und jetzt am zehnten Tag, wo se uns gefunden hatten, da. Da is natürlich auch rumgesprochen worden, da ham se das behalten da meine Kumpels da. Un’ sachten: Hermann, hältst’ Du Wort? Ich sach’: Ich halte Wort.“ Kommentar [voice over]: „Hermann Lübke hat Wort gehalten. Diese Fotos machten die Überlebenden mit einer Kamera, die ihnen durch das Bohrloch in die Höhle hinab gelassen worden war. In Plastikflaschen erreichte sie nach zehn Tagen des Hungerns die erste leichte Nahrung. Der Norddeutsche Rundfunk installierte eine Sprechverbindung zwischen den Eingeschlossenen und ihren Rettern. Hier die Bandaufnahme von den ersten Gesprächen.“ Das Wunder von Lengede (Min. 27-28) Durch den Kommentar werden das Interview und die Bandaufnahme miteinander verbunden. Gleichzeitig erklärt er aber auch die Herkunft der an dieser Stelle einmontierten Fotos und der Tonaufnahmen. 3.2  Interviewführung und dramaturgische Gestaltung 135 Es gibt jedoch auch Filme, in denen Grabe nahezu gänzlich auf einen eigenen Kommentar verzichtet. In Sendungen wie Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang oder Nicht mehr heimisch in dieser Welt über Folteropfer nutzt er dann jedoch Ärzte und Therapeuten, die über die Opfer berichten. Dies dient nicht nur der Authentisierung, sondern schafft eine eigentümliche Distanz durch ­Versachlichung, die eine Auseinandersetzung mit dem Leid und den „mutwillig kaputt gemacht[en]“83 Körpern der Kriegsopfer ermöglich: Unerbittlich genau hält die Kamera alles fest, was geschehen ist. Mustert die entstellten Körper, während der Arzt im Off die Läsionen erklärt. Zeigt Armstümpfe in Nahaufnahme, zoomt auf den deformierten Unterleid des Kindes.84 Zu ertragen ist das alles nur durch die sprachliche Bestandsaufnahme von Dr. Jahn. […] Seine Ausführungen geben dem Entsetzlichen, das die Bilder zeigen, einen Namen. Er ordnet ein und mach es fassbar (Renner 2005, S. 113). Ärzte und Therapeuten als ‚professionelle‘ Zuschauer und Zuhörer signalisieren in solchen Fällen dem Publikum vor den Fernsehern, dass der Anblick der Verletzungen und die geschilderten Leidensberichte ertragbar sind – wenn auch nur schwer. Ihre Funktion als Erzählerfiguren liegt auch darin, eine gewisse, schützende Distanz zwischen Publikum und dem Gezeigten zu ermöglichen. Dennoch findet Grabe es wichtig – und richtig – auch schwer erträgliche Bilder zu zeigen:85 Menschen neigen verständlicherweise dazu, sich nicht das Schlimmste vorzustellen. Und dann ist es Aufgabe des Dokumentarfilms, mit seinen Mitteln zu zeigen, was gezeigt werden muß. Leute, die sich abwenden und nicht mehr hingucken können, sind nicht unsere schlechtesten Zuschauer (Grabe 2000, S. 23). 83Zitat einer Krankenschwester in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (Min. 10). 84„So loyal Grabe mit seinen Helden umgeht, so schroff verfährt er bisweilen mit dem Zuschauer. In dem Film Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang […] zeigt die Kamera erbarmungslos offenes, von Napalm versengtes Fleisch, Kinder ohne Hände und mit eitrigen Stümpfen, verbrannte Leiber und entstellte Gesichter ohne Augen. Man sieht zusammengeschossene Antlitze, Wülste, die nur noch entfernt an menschliche Gesichter erinnern, bizarre Wunden, die Amputation eines Beines: ein Stakkato des Grauens“ (Reinecke 1990, S. 177). Zu den Inszenierungsstrategien, die Grabe in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang verwendet siehe Renner 2005. 85„Wir wollten, daß es dem Zuschauer weh tut. Solche Bilder sind nicht nur gut für die Jungen, die keinen Krieg erlebt haben. Sie sind auch gut für die, die so gerne Helden sehen“ (Elfi Kreiter, Schnittmeisterin des Films, in Voss 2006, S. 205). 136 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 3.3 Gegen die Entwertung und Beliebigkeit von Bildern: die selbstbewusste Reduktion der Mittel Die Wirkung von Grabes Filmen beruht vor allem auf der Fähigkeit zur Konzentration, zur Beschränkung auf das Wesentliche, ohne deswegen eindimensional schmal zu werden (Roth 1982, S. 152). Grabe hat nie geschnipselt, er benutzt keine Musik, er lässt andere reden. Und schon gar nicht versucht er irgendetwas nachzustellen (Niemann 2002). Zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerbaues realisierte Hans-Dieter Grabe 1981 Bernauer Straße 1–50 oder Als uns die Haustür zugenagelt wurde. Der Film lief – wie alle seine Filme in den 1980er Jahren – unter dem Reihentitel Lebenserfahrungen. Bernauer Straße unterscheidet sich jedoch von vielen seiner anderen Interviewfilme. Grabe zeigt in mehreren kleinen Episoden auf, wie es immer schwieriger wird, während und nach dem Mauerbau aus der DDR zu fliehen. Die Geschichten sind chronologisch angeordnet und ergeben so im Gesamten eine Geschichte der Mauer an der Bernauer Straße. Die Protagonisten stehen in keinem Zusammenhang miteinander, verbunden werden die Episoden über das Thema. Die Interviews fokussieren die Fluchtgeschichten. Motive und Gründe für die Flucht und das Leben danach in der BRD spielen in diesem Film nur am Rande eine Rolle.86 Das ist überraschend, denn ansonsten sind das Leben danach bzw. die Folgen eines Unglücks oder eines Ereignisses das große Thema der Grabeschen Filme. Bernauer Straße ist einer der längeren Filme Grabes. Er fällt besonders auf durch die Dramaturgie der Wiederholung, die Grabe in vielen seiner späteren Filme benutzt (auffällig z. B. auch in Hiroshima, Nagasaki oder Nicht mehr heimisch in dieser Welt). Es geht ihm dabei vor allem darum, längere Sendezeiten nicht mit mehr Informationen voll zu packen, sondern durch eine gewisse Redundanz eine größere Eindringlichkeit zu erzielen, gegebenenfalls auch neue Perspektiven zu eröffnen: 86Interessant ist jedoch, dass Grabe in einem Interview mit Bodo Witzke besonders diese Aspekte des Films hervorhebt und betont, dass sie ihm sehr wichtig waren (vgl. Witzke 2006, S. 257 ff.). 3.3  Gegen die Entwertung und Beliebigkeit von Bildern … 137 Diese Deutlichkeit, diese Klarheit und dieses Wiederholen ist gerade in einem Medium wichtig, das so vielen Formen der Ablenkung unterliegt. Der Zuschauer kommt vielleicht etwas später zu einem Film, er tut während eines Films ein paar Dinge nebenbei. […] Gerade gegenüber diesem Zuschauer ist es wichtig, daß man die Filme mit einer Deutlichkeit und Klarheit versieht, wie sie in dieser Form im Kino nicht nötig sind (Grabe 2000, S. 45). Für Grabe stellt also diese Dramaturgie der Wiederholung eine betont fernsehadäquate Form dar. Die Filme haben dabei immer eine Episoden-/Kapitel-Struktur, wobei sich Grabe innerhalb der einzelnen Kapitel auf den jeweiligen ­Protagonisten konzentriert/reduziert. Er vermeidet es, verschiedene Lebensgeschichten, in denen es keine persönlichen Berührungspunkte gibt, in Art der oder in Anlehnung an die sogenannte Zopf-Struktur von Daily Soaps miteinander zu verweben, wie es heutzutage eher die Regel ist.87 Diese Verwendung von Redundanzen ist auch eine Form der Reduktion auf das Wesentliche, die Grabes Filme auszeichnet. Entsprechend ist sein Umgang mit Archivmaterial, von dem er in der Regel nur sehr wenig verwendet. Er misst dem Wort eine große Bedeutung zu. So antwortet Grabe in einem Interview mit Bode Witzke auf die Frage, ob das Gesprochene realer sein kann als ein Bild: „Ja, manchmal, ja. Auf jeden Fall in der Wirkung auf den, der zuhört und zusieht“ (Grabe in Witzke 2006, S. 175). Auch Frank hebt hervor, welche Rolle das Sprechen in Grabes Filmen einnimmt: Grabe ‚bebildert‘ seine Gesprächsfilme nicht, sondern zeigt das Gesicht des sprechenden Menschen und lässt im Kopf des Zuschauers weitere Bilder durch das genaue Zuhören entstehen. So entwickeln sich beim Zuschauer, über das Interesse an dem Menschen hinaus, Momente der Nachdenklichkeit, die weit über das Ende des Films hinaus wirken (Frank 2005, S. 15).88 Diese Einschätzung Franks trifft zwar in der Tendenz zu, trägt aber der Vielschichtigkeit der Filme nicht ausreichend Rechnung: Grabe verwendet in seinen Interviewfilmen auch beobachtende Sequenzen (z. B. Do Sanh, Mehmet Turan 87In Bernauer Straße gibt es auch Kapitel, in denen eine Personengruppe ihre gemeinsame Fluchtgeschichte in Form einer Wechselrede erzählt. Hier gibt es aber einen persönlichen Bezugspunkt. 88Indirekt zitiert Frank hier Grabe (1994, S. 255), der sich dafür ausspricht, innerhalb der Filme Räume für das Nachdenken zu schaffen, denn diese gebe es im Programmflow nicht mehr, damit das Publikum nicht wegzappt. Stattdessen werde jede Art von Pause oder Unterbrechung vermieden und schnell ein Programmtrailer eingestreut. Frei nach Monty Python: And now for something completly different/Und nun zu etwas völlig anderem. 138 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr oder Gudrun Pehlke)89 und Archivbilder (z. B. Hiroshima, Nagasaki. Atombombenopfer sagen aus, Abdullah Yakupoglu oder Ludwig Gehm). Sie sind also durchaus „bebildert“. Gerade einer seiner frühen Filme, der nicht so sehr von „sprechenden Köpfen“ geprägt ist, bleibt auch dem heutigen Betrachter noch lange im Gedächtnis. Die Bilder aus Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (1970) kann man nicht – wie das Fernsehgerät – ausschalten. Selbst in einem so konsequenten Film wie Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland kann Grabe nicht völlig auf Schnittbilder verzichten (s. o.). Dennoch hat Grabe einen spezifischen Umgang mit Archivmaterial. Eine Äußerung zur Bernauer Straße deutet das bereits an: Wir haben nicht irgendeinen Film über die Mauer gemacht. Wir haben einen Film über die Mauer in der Bernauer Straße gemacht (Grabe 2000, S. 20; Herv. CH). Daher ist auch die Auswahl von Fotos und Filmmaterial nicht beliebig, es soll nicht irgendwie die Mauer zeigen, es soll die Mauer an der Bernauer Straße zeigen. Für Grabe ist es wichtig, dass er das Material nicht durch eine beliebige Verwendung entwertet. Er setzt Archivmaterial daher sparsam, bewusst und genau ein. Auch hier zeigt sich sein Reduktionismus, der sich gegen eine von ihm wahrgenommene „gefährliche[.], oft unnötige[.] Vielfalt“ (Grabe 2000, S. 45) richtet: Ich wollte mich auch konzentrieren, weil ich sah, wie dieses Zuviel an Drehorten, dieses Zuviel an Menschen, dieses Zuviel an Informationen Sendungen ergab, die den Zuschauer gar nicht erreichen konnten. Es war ganz bewußt der Versuch einer Gegenentwicklung, das Aufsuchen des anderen Extrems: statt des Vielen das ganz Wenige (Grabe 2000, S. 26 f.). Grabe spricht von der „möglichen und sinnvollen Nichtverwendung von Archivmaterial“ (Grabe 1992, S. 193), spricht sich aber nicht grundsätzlich gegen dessen Verwendung aus. Er erkennt durchaus die „wichtige Bereicherung“, die solches Material für das dokumentarische Arbeiten darstellen kann, wenn es dem Filmemacher gelingt, „dieses Archivmaterial mit dem Inhalt des Films – noch besser: mit den Personen des Films – in enge Verbindung zu bringen bzw. diese Verbindung […] so deutlich zu machen wie irgend möglich“ (Grabe 1992, S. 193). Deswegen hat er 89Gerade die späten Filme Grabes (Frau Siebert und ihre Schüler, 1996; Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend – Wiederbegegnung nach 7 Jahren, 1996; Mendel lebt, 1999; Gebrochene Glut, 2001; Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn, 2002; Raimund – Ein Jahr davor, 2013/2014) sind beobachtende Filme oder haben zumindest einen hohen Anteil an beobachtenden Sequenzen. 3.3  Gegen die Entwertung und Beliebigkeit von Bildern … 139 für Bernauer Straße in mühevoller Kleinarbeit zusammen mit Städteplanern und Architekten aus dem umfangreichen Material gezielt Aufnahmen herausgesucht, die tatsächlich die Mauer an der Bernauer Straße zeigen. Grabe betrachtet es als eine Entwertung des Archivmaterials – und auch des Interviewpartners –, wenn man das konkrete Einzelschicksal mit beliebigen Aufnahmen untermalt (z. B. den persönlichen Bericht eines jüdischen Opfers in der Pogromnacht vom 9. November 1938 mit nicht näher bestimmten Aufnahmen einer brennenden Synagoge illustriert). Hans-Dieter Grabe verwendet in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland noch aus einem anderen Grund keine Archivaufnahmen aus den Konzentrationslagern: Er will das Leid dieser anonymen Opfer nicht entwerten, indem er es als illustrierendes Bildmaterial benutzt. Es sind also vor allem ­ethische Gründe, die Grabe für eine „sinnvolle[.] Nichtverwendung von Archivmaterial“ plädieren lassen. Außerdem vertritt er die These, „daß Kollegen zu Archivmaterial greifen, weil sie ihrer Geschichte oder den Menschen vor der Kamera nicht vertrauen“ (Grabe 2000, S. 19). Archivmaterial werde dann eingesetzt, um die Wirkung des Gesagten zu erhöhen. Dies mag zwar gelegentlich zutreffen, doch Grabe verkennt hier, dass es mittlerweile oft auch redaktionelle Vorgaben sind, die einen festgeschriebenen Anteil von Archivmaterial fordern. Und je besser der Sendeplatz ist, umso strenger sind in der Regel die Vorgaben (Formatierung). Dies gilt auch für nachgespielte Szenen, sogenannte re-enactments, die den gleichen entwertenden Effekt haben können wie Archivaufnahmen, wenn sie als bloße Illustration eingesetzt werden:90 Ich habe den Film […] völlig ohne Archivmaterial machen können, weil die Schilderungen Szajnfelds so klar waren, so deutlich, so plastisch, dass ich sicher war, der Zuschauer wird die richtigen Bilder in seinem Kopf entstehen lassen können. Und wenn der Zuschauer diese Bilder in seinem Kopf entstehen lässt, dann sind sie noch viel stärker, als die, die ich zeigen könnte (Grabe in Witzke 2006, S. 148). Dies wird besonders deutlich an der bereits erwähnten Brotszene. Durch Archivmaterial oder re-enactments könnte man hier vielleicht einen Akt des Diebstahls zeigen oder nachstellen. Grabe geht es jedoch um die immer noch vorhandenen inneren Konflikte, um die Zerrissenheit seiner Protagonisten, die so nur im Interview zu ergründen und auch nur in der Form des Interviewdokumentarismus darstellbar sind – und nur so für den Zuschauer nachvollziehbar werden. Zudem 90Daher ließe sich auch bei re-enactments für einen bewussten Umgang plädieren. 140 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe würde eine Illustration der Tat die Aufmerksamkeit in die Vergangenheit lenken, die Schuldgefühle sind aber keine vergangenen sondern gegenwärtige. Eine solche „Enthaltsamkeit“ (Grabe) im Umgang mit Archivmaterial ist besonders dann möglich, wenn man davon ausgehen kann, dass entsprechendes Material mehr oder weniger bekannt ist. Andernfalls sieht auch Grabe die Gefahr, dass sich „die Phantasie des Zuschauers […] von der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit oder dem, was uns darüber bekannt ist, entfernen“ kann (Grabe 1992, S. 193). Insgesamt geht es Grabe also um einen sehr bewussten Umgang mit Archivmaterial: • Das Material soll einen konkreten, keinen nur allgemeinen Bezug zum Thema bzw. zum Protagonisten des Films haben. • Er verwendet lieber eine kenn-zeichnende Aufnahme, als mehrere verschiedene.91 • Durch den konkreten Bezug und die sparsame Verwendung soll das Material nicht entwertet werden. • Es soll durch Archivmaterial kein fremdes Leid zur reinen Illustration ausgenutzt werden. • Das Material soll die Erzählung des Protagonisten unterstützen, also nicht von ihr ablenken, geschweige denn sie dominieren. Durch diese selbstbewusste Reduktion auf weniges und wesentliches Archivmaterial (viele Filme kommen auch ohne aus), nimmt Grabe die Spezifik des Materials ernst und verwendet es nicht ikonografisch oder gar beliebig:92 Dokumente oder auch Archivmaterialien sind mir sehr wichtig. Dabei fängt das Wichtige beim Nachdenken darüber an, ob ich sie einsetze oder nicht (Grabe in Witzke 2006, S. 141). 91Vor allem, wenn er – wie im Beispiel von Simon Wiesenthal oder Ich jagte Eichmann – kein ‚konkretes‘ Archivmaterial von Wiesenthal im KZ hat und dann doch auf ‚typische‘ Archivbilder zurückgreift. 92Gerade den Produktionen Guido Knopps (z. B. Hitlers Helfer, 1996) wurde oft der Vorwurf gemacht, Archivaufnahmen in verschiedensten Zusammenhängen zu verwenden, sodass sie quasi gar keine eigene Aussage mehr haben. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 141 3.4 Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung: Hans-Dieter Grabes Wiederbegegnungen Roths bereits zitierte Äußerung, Grabe zeige „Momentaufnahmen, keine Langzeitbeobachtungen“ (Roth 1982, S. 151) gilt – mit Einschränkung – für Grabes Arbeit bis in die 1980er Jahre hinein:93 Bis zu diesem Zeitpunkt legte ich Wert darauf, dass die Menschen vor meiner Kamera Menschen waren, die ich nicht näher kannte. Weil ich selbst glaubte, es ist wichtig für mich, dass ich die Distanz habe in der Entdeckung von neuen Dingen (Grabe in Frank 2005, S. 172). Doch in den 1990er Jahren fügen sich solche Momentaufnahmen immer öfter zu Langzeitbeobachtungen, denn es kommt zu einer Reihe von Wiederbegegnungen mit seinen Protagonisten. Sieben von siebzehn Filmen, die Hans-Dieter Grabe nach 1990 realisiert, sind solche filmische Wiedersehen. Auch wenn er zuvor bereits solche Dokumentationen drehte (Sanh und seine Freunde; Dr. med. Alfred Jahn – Kinderchirurg in Landshut, 1984),94 so nimmt dieser Aspekt einen besonderen Raum in seinem Spätwerk ein.95 Gerade in seinen Wiederbegegnungen kommt Grabes großes Interesse an seinen Protagonisten zum Ausdruck, das mit Ende der Dreharbeiten nicht abreißt. Insgesamt entstanden so vier (resp. fünf) Langzeitbeobachtungen: 1. Do Sanh (fünf Filme: 1970–1998) (dazu zwei Filme über dessen Freunde Dien, Chinh, Chung und Tung 1975/1990) 93Als Ausnahmen können die folgenden Filme gelten (s. u.): Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang, Sanh und seine Freunde – Beobachtung einer Rückkehr nach Vietnam (1975) und Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr. 94Auch bei Mehmet Turan handelt es sich im Prinzip um eine Wiederbegegnung. Allerdings hatte Grabe zuvor lediglich einen Magazinbeitrag für das Auslandsjournals über ihn gemacht. – Bei der ersten (hier nicht berücksichtigten) „Wiederbegegnung“ handelt es sich in gewisser Weise auch nicht um eine Person, sondern um ein Schiff – die Helgoland (Die Helgoland in Vietnam, 1966; Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang). 95Nicht berücksichtigt ist dabei Grabes 15minütiger Beitrag Wiederbegegnung für das Projekt 20xBrandenburg. Menschen – Orte – Geschichten (2010; künstlerische Leitung: Andreas Dreesen). Er begegnet in diesem Kurzfilm nicht erneut einem seiner früheren Pro­ tagonisten, sondern der Stadt seiner Kindheit und Jugend: Cottbus. 142 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 2. Alfred Jahn (drei Filme: 1970–2002) 3. Mendel Szajnfeld (zwei Filme: 1972/1999) 4. Jens (zwei Filme: 1990/1996) 5. Mehmet Turan (ein Magazinbeitrag und ein Film: 1973/1977)96 Die einzelnen Filme folgen dabei keinem fest gefügten Muster, spiegeln vielmehr im Besonderen die unterschiedlichen methodischen Zugänge Grabes wider. So ist z. B. Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland Grabes vielleicht konzentriertester Interviewfilm, während die Wiederbegegnung Mendel lebt (1999) vor allem durch lange beobachtende Sequenzen geprägt ist. Mendel lebt ist auch einer jener Filme, in denen Grabe selbst die Kamera führt (so z. B. auch in Tage mit Sanh, 1994; Frau Siebert und ihre Schüler, 1996; oder Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn, 2002). Vor allem bei den Filmen über Do Sanh und – jedoch bereits deutlich eingeschränkter – Alfred Jahn kann man m. E. von Langzeitbeobachtungen sprechen, denn Grabe porträtiert beide jeweils zu mehr als zwei Zeitpunkten ihres Lebens.97 Für die Filme über Mendel Szajnfeld, Jens (und eingeschränkt Mehmet Turan) trifft eher der Begriff Wiederbegegnung zu. In diesem Fall ist vor allem eine ­filmische Gegenüberstellung von Früher und Heute möglich, während in der Langzeitbeobachtung die Prozesshaftigkeit des Lebens mit all seinen Vor- und Rückschritten stärker betont wird und anhand des dokumentarischen Materials aus verschiedenen Zeiten „belegt“ werden kann.98 Die einzelnen Filme können 96Grabes Beitrag lief in einer der ersten Sendungen des Auslandsjournals. Zum 40. Geburtstag des Magazins realisierte Gert Anhalt ebenfalls eine Wiederbegegnung mit Mehmet Turan und seiner Familie, die am 31. Oktober 2013 im ZDF ausgestrahlt wurde (Auslandsjournal – Die Doku: Die Turans aus der Türkei – damals und heute). Sowohl der ursprüngliche Beitrag als auch Grabes Dokumentation Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr werden ausführlich zitiert – allerdings im falschen Bildformat (16:9 statt 4:3). Die tatsächliche Wiederbegegnung nimmt dem gegenüber nur einen verhältnismäßig geringen Anteil ein (ca. acht Minuten des 58minütigen Films). – Solche Formen der Wiederbegegnungen können auch ökonomische Gründe haben, wenn Sendeanstalten darüber versuchen, ihr Programmarchiv maximal auszunutzen (vgl. Kilborn 2010, S. 12). 97Für Jahn gilt dies nur eingeschränkt, da Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang kein Por­ trät von ihm ist, auch wenn der Film durchaus porträtierende Szenen beinhaltet. 98Natürlich erst ab dem dritten Film. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 143 dann mehr für Lebensstationen, für Abschnitte stehen. Dies wird vor allem in den Do Sanh-Filmen deutlich. Dies hebt auch Thomas Rothschild hervor: Auch zu anderen Protagonisten seiner Filme war Grabe nach Jahren zurückgekehrt […], aber die jeweiligen Folgefilme blieben eigene Einheiten, sie wurden nicht mit ihren bloß zitierten Vorläufern zu einem neuen Ganzen montiert, das die unterschiedlichen Gegenwarten und die aus diesen Gegenwarten heraus erzählten Retro­ spektiven zu einer Langzeitbeobachtung ordnet (Rothschild 2005, S. 529). Langzeitbeobachtung zeichnet sich insgesamt durch eine gewisse Kontinuität und (nach Möglichkeit) Regelmäßigkeit aus, mit der die Protagonisten porträtiert bzw. in ihrem Leben beobachtet werden.99 Sie gehen über das Momenthafte von Por­ träts und Wiederbegegnungen hinaus, indem sie trotz des Fragmentarischen, unter dem sie notgedrungen leiden, die Prozesshaftigkeit des Lebens darzustellen versuchen. Anders als biografische Dokumentationen begleiten sie jedoch diesen Prozess, vollziehen ihn mehr oder weniger „im Moment des Geschehens“ nach100 und sind damit nicht zielgerichtet resp. im Ausgang offen.101 So haben Sabine Braun und Jens Hamann z. B. 1990 begonnen, ein damals 13jähriges Mädchen zu begleiten. Am Anfang besuchten sie Tanja alle drei bis vier Monate, später mit größeren Abständen. Zwischen 1992 und 2004 entstanden so vier Filme über eine Teenager-Drogenkarriere: Süchtig – Protokoll einer Hilflosigkeit. In den frühen Aufnahmen sieht man das junge Mädchen noch selbst davon überzeugt, jederzeit mit den Drogen aufhören zu können. Man hofft mit ihr, dass sie es schafft. ­Dreizehn Jahre später ist Tanja ein körperliches und seelisches Wrack. 2003 stirbt sie an den Folgen ihrer AIDS-Erkrankung. Langzeitbeobachtungen sind – mit Ausnahme abschließender Filme (z. B. nachdem der Protagonist gestorben ist oder das Projekt aus anderen Gründen beendet wird) – von ihrer Ausrichtung her nicht retrospektive. Der Rückblick 99Es sind im wahrsten Sinne des Wortes Beobachtungen über eine lange Zeit resp. Beobachtungen einer langen Zeit. 100Das gilt vor allem für Langzeitbeobachtungen, bei denen zwischen den einzelnen Filmen nicht allzu viel Zeit liegt. 101In den Filmen Grabes, die hier als Wiederbegegnungen bezeichnet werden, fehlt hingegen der Charakter des Begleitens. Es liegen zwischen sieben und 27 Jahre zwischen den Begegnungen. Es fehlt ihnen das Mitverfolgen von veränderten Lebensumständen – gerade auch im Sinne eines Dabeiseins, eines Begleitens. Es sind keine Beobachtungen über eine lange Zeit, vielmehr liegt eine lange Zeit zwischen den Beobachtungen. Aber gerade diese lange Zeit wird in ihnen kaum thematisiert (s. u.). Sie fokussieren daher stark auf Zeitpunkte. 144 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe auf das bisherige Leben, der in den Filmen natürlich eine (mehr oder weniger) große Rolle spielt und daher ggf. einen erheblichen Anteil ausmachen kann, dient immer zum Verständnis des Aktuellen. Der Fokus ist oftmals auf einen neuen Lebensabschnitt gerichtet, auf Veränderungen. Abschließende Filme hingegen haben öfter den Charakter einer „Bilanz des Lebens“, versuchen eine „schlüssige“ Interpretation des Lebensweges, um einen Kreis zu schließen. So legt Juliane Schuler in ihrem Film Marcel – Ein Kämpfchen das wär’ schön (2007) nah, dass der anfangs verhaltensauffällige siebenjährige Junge Marcel, dessen Leben sie seit 1970 über 35 Jahre lang mit der Kamera begleitet hat, nun – nach einigen Umwegen – in seinem Leben „angekommen“ sei. In diesem Fall schließt sich der Kreis sinnbildlich: Marcel arbeitet als Sozialpädagoge in dem Kinderhort, in dem er selbst vor 35 Jahren täglich als Kind war. Grundsätzlich haben Langzeitbeobachtungen durch die begleitende Dokumentation eines Lebensweges die Chance, ein Leben als eine Aneinanderkettung von Entscheidungen darzustellen. So wird deutlich, dass dieses spezielle Leben – so typisch es erscheinen mag – an jedem Punkt einen anderen Weg hätte nehmen können, dass es keine zwingenden Entwicklungen gibt (auch wenn man rückblickend immer dazu neigt, Lebenswege als im Großen und Ganzen stringent und logisch darzustellen). Die Filme leben – auch wenn dies zynisch klingt – von Chancen und Irrtümern, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Fort- und Rückschritten. Die Spannung entsteht durch die Offenheit: Weder der Zuschauer noch der Filmemacher weiß, was der nächste Film über den Protagonisten erzählen wird. – Langzeitbeobachtungen leben auch von den Brüchen in Biografien, denn die machen das Projekt spannend. Jeder neue Film führt dabei dazu, dass das bisherige Leben aus einer neuen Perspektive betrachtet werden kann – vor allem dann, wenn sich neue Lebensperspektiven eröffnen oder sich gravierende Einschnitte ergeben haben. Solche Umdeutungen oder späteren Erkenntnisse können auch den Selbstbetrug eines Protagonisten verdeutlichen, der in einer Momentaufnahme eventuell nicht wahrnehmbar ist. So bekommen die früheren Aufnahmen der 13jährigen Tanja in Süchtig – Protokoll einer Hilflosigkeit, die nach eigenen Aussagen ‚jederzeit mit den Drogen aufhören kann‘, einen bitteren Beigeschmack, wenn man als Kontrast dazu die ausgelaugte, deutlich älter wirkende Frau sieht, die mit Anfang Zwanzig kurz vor ihrem Tod steht. Gerade hier wird die Stärke einer Langzeitdokumentation deutlich, denn der Film erzählt nicht nur ein Einzelschicksal, sondern auch den typischen Verlauf einer Drogenkarriere. Er „lässt die diachronen Veränderungen zu einer QuasiSynchronität zusammenschnurren“ (Rothschild 2005, S. 528). Das Altern, das Verändern von Lebensentwürfen und Identität wird so sinnlich erlebbar. Das jüngere und das ältere Ich des Protagonisten sind dabei gleichermaßen und zeitgleich filmisch in Bild und Ton präsent, so wie es in der Alltagsrealität nicht erlebbar ist. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 145 Das ­Vergangene muss nicht in der Erinnerung rekonstruiert werden, bzw. die Erinnerung kann mit dem früheren Material (Beobachtungen, Interviews, Reflexionen etc.) verglichen und kontrastiert werden. Es ergibt sich so die Möglichkeit, den Protagonisten in Bezug zu sich selbst zu setzen. Diese Möglichkeit ist in Wiederbegegnungen zwar auch gegeben, aber vor allem wenn zwischen den Filmen eine lange Zeit verstrichen ist, sind diese wieder eingeschränkter, da Lebensstationen (gegebenenfalls) doch wieder als Erinnerungen verbal rekonstruiert werden müssen. Rothschild fasst die Langzeitbeobachtung als eine Reihe von Filmen auf:102 Die Langzeitbeobachtung im Dokumentarfilm besteht notwendig aus zu verschiedenen Zeiten entstandenen Teilen, deren lose Verklammerung die Identität der Protagonisten bildet. Sie macht aus Fragmenten, die sich als Ganzes darstellen mochten, ein neues Ganzes, das sich […] selbst wieder als Fragment erweisen kann (Rothschild 2005, S. 534).103 Damit beschreibt Rothschild die Langzeitbeobachtung als eine dynamische Filmreihe, in der jeder Film durch einen folgenden zu einem Fragment der Erzählung wird, wobei sich der jeweils aktuelle Teil als die „ganze Geschichte“ darstellt, so lange, bis er durch einen weiteren Film wieder zu einem Fragment der Narration wird. In diesem Sinne spielt Serialität bei Langzeitdokumentationen eine große Rolle (vgl. Hißnauer 2016). Richard Kilborn (2010, S. 4) betont daher auch den „episodic mode of presentation“ bei Langzeitdokumentationen,104 die sich durch eine „‚incremental‘ form of narrative“ auszeichneten. – In der neueren Serien- und Serialitätsforschung werden Serien als vast narratives (Harrigan und WardripFruin 2009) und moving targets105 begriffen, also als stetig wachsende – sich ausdehnende – und dabei stets bewegliche Erzählungen. ­Langzeitbeobachtungen 102In der heutigen Serienforschung würde man eher von einer unregelmäßig produzierten und ausgestrahlten/gezeigten Episodenserie sprechen (vgl. Klein und Hißnauer 2012). Als sprachliche Vereinfachung verwende ich im Folgenden weiterhin den Begriff Reihe für solche Formen der Langzeitbeobachtung. 103Langzeitbeobachtungen müssen nicht zwingend durch einen Protagonisten getragen werden. Sie können wie im Fall Berlin – Ecke Bundesplatz: Menschen auf dem Weg ins Jahr 2000 (1989–2013; Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich) auch von einem Ort handeln. Die gesammelten Geschichten stehen dann in einem örtlich definierten Bezug zueinander. 104Kilborn verwendet zwar im Untertitel seines Buches die Formulierung longitudinal documentary, nutzt im Weiteren aber die Kurzform long doc. 105Vgl. dazu die Eröffnung der Konferenz Popular Seriality von Frank Kelleter (6.–8. Juni 2013, Georg-August-Universität Göttingen; Tagungsbericht: Sulimma 2013). 146 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe (dergestalt wie Rothschild sie beschreibt) sind dafür ein sehr gutes Beispiel aus dem nicht-fiktionalen Bereich.106 Der Begriff Langzeitbeobachtung oder Langzeitdokumentation wird jedoch ebenso für einzelne Produktionen verwendet,107 wenn sie einen (oder mehrere) Protagonisten eine längere Zeit – oftmals zwei bis drei Jahre (oder länger)108 – begleiten wie z. B. die 37 Grad-Dokumentationen Zeit der Wunder – Wenn Kinder in die Pubertät kommen (2007) von Dominique Klughammer und Bernd Reufels oder Misstraue der Idylle – Aus dem Emigrantenleben eines AIDS-Kranken (1996) von Michael Heuer.109 Auch diese Beispiele beinhalten Aufnahmen, die zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden sind, nur dass diese „Fragmente“ nicht zuvor als „Ganzes“ – also als eigenständige Filme – veröffentlicht wurden. Man kann daher sagen, dass es unterschiedliche Konzepte von Langzeitdokumentationen gibt. • Einzelfilme, Mehrteiler oder eine abgeschlossene Doku-Soap,110 die in einem langen Produktionsprozess entstehen, aber zu einem Zeitpunkt bzw. in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum ausgestrahlt werden. 106Zur Theorie nicht-fiktionaler Serialität siehe Hißnauer 2016. 107Auffällig ist, dass es bislang kaum eine grundlegende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Formen der Langzeitbeobachtung gibt. 108Hier gibt es vor allem innerdeutsche Unterschiede: Wilhelm Roth (2000, S. 152) beschreibt die Langzeitbeobachtung der BRD als „von vornherein auf einen bestimmten Zeitraum angelegt, [sie] haben einen Anfang und ein Ziel“, während Produktionen der DDR offener seien (und ihren Charakter als Langzeitbeobachtung erst im Laufe der Zeit herausgebildet hätten [s. u.]). Die Filme aus der BRD seien in einem kürzeren Zeitraum, dafür jedoch mit einer größeren Erzähldichte entstanden (vgl. Roth 2000, S. 154). Als Beispiel nennt er hier Wildenhahns In der Fremde (1968). Auch Emden geht nach USA (1976/1977) wird immer wieder als Langzeitbeobachtung bezeichnet. Es gibt also keine klare Abgrenzung, ab welcher zeitlichen Dauer von einer Langzeitbeobachtung gesprochen wird. Renner definiert solche Filme daher sehr offen: „Langzeitbeobachtungen beobachten ein Geschehen oder einen Entwicklungsprozess über Monate und Jahre hinweg“ (Renner 2006, S. 226; Fettdruck im Orig.). 109Heuer begleitet das Leben und das Sterben dieses AIDS-Kranken bis über den Tod hinaus insgesamt sieben Jahre lang. 110Ein Beispiel für eine solche Doku-Soap (oder dokumentarische Filmerzählung, wie das ZDF sie nannte) ist die Produktion Im Netz der Mordkommission von Michael Heuer und Heiner Gatzemeier, die der Mainzer Sender 2001 wöchentlich in sechs Folgen ausstrahlte. Die Dreharbeiten zogen sich hingegen über viereinhalb Jahre hin. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 147 • Eine Reihe in sich geschlossener Filme, die im Abstand von mehreren Jahren ausgestrahlt werden, deren einzelne Folgen jedoch in einer vergleichsweise kurzen Drehzeit entstehen. • Die Langzeitbeobachtung als Serie (Die Fussbroichs, 1979–2003/seit 2013) oder langlaufende Doku-Soap, die in Staffeln gesendet wird. Im Idealfall laufen die Produktionszeit und die Ausstrahlung über mehrere Jahre. – Für die Zuschauer sind Entwicklungen dabei in der Regel nur nachvollziehbar, wenn sie die Serie mehr oder weniger komplett verfolgen. Gerade Langzeitdokumentationen als Filmreihen entstehen oftmals zunächst zufällig und sind nicht von vornherein als solche geplant (vgl. Kilborn, S. 2010, S. 12). Der Filmemacher entwickelt oft erst im Lauf der Zeit ein besonderes Interesse für den/die Protagonisten des Films (vgl. Roth 2000; Rothschild 2005). Einzelvorhaben sind hingegen in der Regel als Langzeitbeobachtungen projektiert. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So erzählt Jens Hamann z. B. über die Produktionsgeschichte von Süchtig – Protokoll einer Hilflosigkeit: ‚Am Anfang stand die Idee einer Schlagzeile nachzugehen‘, erinnert sich der Filmemacher. ‚Wir haben uns gefragt: Mit 13 schon süchtig – kann das wirklich sein?‘ Ursprünglich war eine 45minütige Dokumentation für eine WDR-Reihe geplant. ‚Doch dann haben wir gemerkt, dass es sinnvoll ist, noch genauer hinzuschauen, das Umfeld zu durchleuchten und zu schauen, was mit Tanja passiert‘ (Paus 2006). So entstand aus einer „herkömmlichen“ Dokumentation eine zunächst zweijährige Langzeitbeobachtung, die dann über mehrere Jahre weiter fortgesetzt wurde. Berlin – Ecke Bundesplatz (1989–2013)111 war hingegen von Beginn an als Langzeitbeobach- 111Dokumentarische Serien wie Berlin – Ecke Bundesplatz oder Die Fussbroichs – Die einzig wahre Familienserie von Ute Diehl (1979, 1990, 1991–2003, 2004) gelten daher auch als Vorläufer der Doku-Soap. Anders als Berlin – Ecke Bundesplatz gab es über die Fussbroichs bereits die Dokumentation Ein Kinderzimmer (1979) und den Dokumentarfilm Die Fussbroichs – Dokumentarfilm über eine Kölner Arbeiterfamilie aus dem Jahr 1990. Mit Die Fussbroich-Saga 1979–2004 lief 2004 ein letzter, rückblickender Film von Ute Diehl. Seit 2013 wird die Serie von Elke Fussbroich als Direct-To-DVD-Produktion fortgeführt. – Bei den Fussbroichs von Ute Diehl erstreckte sich der Produktionszeitraum zwar über mehrere Jahre, doch die eigentliche Drehzeit pro Staffel war recht kurz: Pro Jahr gab es im Schnitt zehn Drehtage. Ohnehin ließe sich darüber diskutieren, ob man die Serie als Langzeitbeobachtung bezeichnen kann, denn viele der Szenen sind mehr oder weniger gestellt (vgl. Diehl und Brunst 2003; Hißnauer 2017). 148 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe tung gedacht, wie bereits der Untertitel deutlich macht: Menschen auf dem Weg ins Jahr 2000. Allerdings wurde auch diese Reihe über ihren geplanten Schlusspunkt hinaus verlängert. Das gilt auch für die 2007 beendete Langzeitdokumentation über Die Kinder von Golzow, die Winfried und Barbara Junge seit 1961 über 45 Jahre lang in zwanzig Filmen porträtierten. Hier sollte, so der Plan in den 1980er Jahren, ein abschließender Film bereits 1999 entstehen – zum 50. Jahrestag der DDR.112 Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen 1989/1990 machten dies hinfällig. Die ursprüngliche DEFA-Produktion wurde nach der Wiedervereinigung jedoch in Kooperation mit verschiedenen ARD-Sendeanstalten weitergeführt. Gegenüber den Reihen, die entweder mit dem Tod des Protagonisten oder an einem mehr oder weniger beliebigen Punkt abbrechen, versuchen Einzelstücke eher, einen klar umrissenen Zeitrahmen als dramaturgische Klammer zu verwenden. So verfolgt Andres Veiel z. B. in Die Spielwütigen (2004) vier Schauspielschüler von den Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule über die Studienzeit hinweg und endet mit ihren ersten Engagements. Der Film bildet damit die Zeit ihrer Ausbildung ab. Er findet damit einen Schlusspunkt, behält sich aber durch den jeweils epilogartigen Ausblick auf das erste Engagement eine gewisse Offenheit. Es wird deutlich, dass hier eine Zäsur im Leben der Protagonisten ist, dass ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Hans-Dieter Grabes Film Sanh und seine Freunde – Beobachtung einer Rückkehr nach Vietnam (1975) war geplant als ein Film über vietnamesische Kinder, die im Krieg schwer verwundet wurden und daher eine Zeit lang, zum Teil ­mehrere Jahre, in Deutschland behandelt wurden. Aufgrund eines Abkommens mit Vietnam, mussten sie 1974 in ihre Heimat, die ihnen fremd geworden war, zurückkehren. Grabe wollte die „Wiedereingliederung“ in die vietnamesische Gesellschaft und die damit verbundenen Probleme dokumentarisch begleiten (vgl. Frank 2005, S. 55 f.). Grabe ging es darum, diese Umbruchsituation im Leben junger Kriegsopfer zu thematisieren. In einem Heim der Hilfsorganisation Terre des Hommes in Bad Oeynhausen traf er dabei zufällig auf Do Sanh,113 eines der Kriegsopfer, die er in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang kurz zeigt. 1970 vom Schiffsarzt Alfred Jahn noch als „unser Problemkind“ bezeichnet,114 erscheint er 112Die Kinder von Golzow war allerdings zunächst nicht als Langzeitdokumentation geplant (vgl. Kilborn 2010, S. 12). 113In Do Sanh – Der letzte Film (1998) betont Grabe noch mal, dass er Sanh hier „zu meiner großen Überraschung“ wiedertraf. 114Simone Emmelius (2001) weist zu Recht darauf hin, dass diese Einleitung Jahns irritiert, denn Do Sanh sieht im Vergleich zu den anderen gezeigten Opfern körperlich zunächst „intakt“ aus. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 149 fünf Jahre später als aufgeweckter, lebensfroher Junge. Ihn stellt Grabe in den Mittelpunkt des Filmes, wie schon der Titel Sanh und seine Freunde deutlich macht. Hans-Dieter Grabe wollte den Lebensweg von Sanh und seinen Freunden weiterhin begleiten, doch aufgrund politischer Umstände dauerte es über fünfzehn Jahre, bis er mit Dien, Chinh, Chung und Tung – Lebensversuche in Vietnam (1990) und dem schlicht Do Sanh betitelten Film (1991) den Faden wieder aufnehmen konnte (siehe dazu Frank 2005, S. 81 f.). 1994 folgte Tage mit Sanh und 1998, zwei Jahre nach dessen Tod, Do Sanh – Der letzte Film. Gerade im Vergleich der Filme über Do Sanh wird deutlich, wie stark sich einzelne Filme einer Langzeitdokumentation unterscheiden können – vor allem was die Perspektive und die Rolle der Vergangenheit betrifft. Dies erkennt man schon daran, in ­welchem Umfang Material aus den vorhergegangenen Filmen eingesetzt wird wodurch auch visuell eine Rückbezüglichkeit entsteht. Die Grafik (Abb. 3.8) veranschaulicht diese Rückbezüge in Do Sanh.115 Im Wesentlichen spielen visuelle Rückbezüge nur in der ersten Viertelstunde eine Rolle. Später wird lediglich ein Bild aus Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang als Standbild eingeblendet, als Sanh von seiner Zeit auf dem Hospitalschiff Helgoland erzählt. Über den Aufnahmen von 1974 spricht Grabe einen neuen Kommentar (die Filmsequenz aus dem Jahr 1970 wird nicht derartig verändert). Ähnlich wie bereits in Sanh und seine Freunde setzt er keinen professionellen Sprecher ein; hierdurch – und auch durch den Text – betont er seine persönliche Beziehung zu Sanh. Der Kommentar dient weiterhin dazu, die verschiedenen Stationen von Sanhs Leben zu erläutern und Lücken zu schließen. So berichtet Grabe u. a., dass kurz nach den Aufnahmen von 1974 die Helfer von Terres des Hommes Vietnam verlassen mussten. Das alte Filmmaterial dient hier also auch (aber nicht nur) dazu, eine Bildebene für den Kommentar zu bilden. Dies ist mit dem Material von 1974 gut möglich, da es viele Aufnahmen gibt, in denen die Kinder in ihrem Alltag und bei ihrer Rückkehr beobachtet werden. Hier kann Grabe über die Atmo seinen Text sprechen. Insgesamt ist die erste Viertelstunde des Films der Schilderung des bisherigen Lebens von Sanh vorbehalten. Zwar geht es auch im Folgenden immer wieder um die Vergangenheit, doch die wird im Wesentlichen besprochen und reflektiert 115Auf eine Darstellung der Rückbezüge in Sanh und seine Freunde wird hier verzichtet, da Rückbezüge dort im Prinzip nicht möglich sind. Grabe besitzt keine älteren Aufnahmen der Freunde. Lediglich die kurzen Aufnahmen von Do Sanh aus dem Jahr 1970 werden gezeigt. Emmelius (2001) bezeichnet diese Aufnahmen als Leitmotiv aller Do Sanh-Filme, übersieht dabei aber, dass sie in Tage mit Sanh nicht verwendet werden. 150 Rückbezüge in Prozent 13,0% 2,4% 84,6% 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 00:00:00 00:10:00 00:20:00 00:30:00 00:40:00 00:50:00 01:00:00 Grün: Schwarz: Grau: Aktuelle Aufnahmen 1991 Aufnahmen von 1970 Aufnahmen von 1974 Hans-Dieter Grabe: Do Sanh (1991) Abb. 3.8   Visuelle Rückbezüge in Hans-Dieter Grabes Do Sanh (1991). (Eigene Darstellung) 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 151 (auch als Bezugspunkt des Gegenwärtigen): Do Sanh ist – anders als Sanh und seine Freunde – vor allem ein Interviewfilm. Nachdem in der ersten Viertelstunde der Lebenslauf kurz memoriert und ergänzt wird,116 geht es dann um Sanhs Erinnerungen und Gefühle – und immer wieder auch darum, wie er mit seiner Situation zurecht kam und kommt. Insgesamt spielt damit auch hier Rückbezüglichkeit eine große Rolle, doch diese wird verbal und nicht visuell hergestellt.117 Sanh erzählt z. B. in einer sehr emotionalen Szene davon, wie er die Trennung von seinem Bruder erlebt hat. Hier zeigt Grabe die emotionalen Verwundungen durch den Krieg. Bislang sah man Sanh lediglich als den körperlich Versehrten – und auch als ein Opfer unter vielen (sowohl in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang als auch in Sanh und seine Freunde). Erst in Do Sanh wird deutlich, wie stark er darüber hinaus vom Krieg betroffen ist. Grabe nimmt damit ein Thema wieder auf, das er bereits in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland bearbeitet hatte: die Spätfolgen von Krieg und Gewalt. Während sich gerade die erste Viertelstunde aufgrund der visuellen Rückbezüglichkeit deutlich als Langzeitbeobachtung ausstellt, erscheint der Rest des Films – immerhin 71,6 % – wie einer von Grabes typischen Porträtfilmen: Eine Person erzählt im Interview sehr ausführlich und reflektiert ihr Leben. Tage mit Sanh sind diesbezüglich noch konsequenter. Grabe verwendet hier gar kein altes Material. Die Lebensstationen Sanhs werden lediglich in einem Insert (33 s lang) erwähnt. Der Film hat damit eher den Charakter einer Fortsetzung als den einer Langzeitbeobachtung; er konzentriert sich auf das Hier und Jetzt und lässt das Vergangene beiseite. Dies hängt sicherlich auch mit der Produktionsweise zusammen: Zum ersten Mal ist Hans-Dieter Grabe sein eigener Kameramann. Er selbst bleibt damit Beobachter und greift auch nicht als Fragestellender in das Geschehen ein. Es gibt daher keine Interviews. Zudem verzichtet Grabe hier gänzlich auf einen Kommentar. So dokumentiert er das Wiedersehen von Sanh und Marlies Winkelheide, die Sanh in den 1970er Jahren betreut hat. 17 Jahre sind seitdem vergangen. Auf ihren Wunsch hin begleitete Grabe sie ohne Team, ansonsten hätte sie den Dreharbeiten nicht zugestimmt. Die Tage mit Sanh sollten ursprünglich Teil eines langen Dokumentarfilms über Sanh sein. Ein eigenständiger Film war zunächst nicht angedacht (vgl. Frank 2005, S. 124). Doch Grabe sah einen Sanh, der mit der Person, die er drei Jahre zuvor porträtierte, nicht mehr viel gemein hatte: 116Allerdings zeigt Grabe bereits zu Beginn aktuelle Aufnahmen mit Sanh. 117Dies liegt teilweise an der Form des Interviewdokumentarismus, ist zum Teil aber auch dadurch bedingt, dass Grabe vergleichsweise wenig Bildmaterial über Sanh hat und das auch noch 15 Jahre alt ist. 152 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Ich bekam eigentlich die andere Seite eines Menschen. Der Film zuvor, der auf Grund der Erzählung von Sanh die Situation sehr optimistisch darstellte, war nicht falsch, aber er zeigte nur einen Teil der Wahrheit. Jetzt bekam ich Bilder, die zeigten den anderen Teil. Auf eine sehr deutliche, krasse Weise. Für den Zuschauer nicht ganz einfach, weil sich die Zuschauer gewiß gewünscht haben, daß die positive Darstellung seines Lebens die einzige richtige sein möge. Es kommt zu selten vor, daß man einen Menschen kennenlernt, dessen Leben durch den Krieg zerstört worden ist, der dann vor einem sitzt und sagt: ‚Es geht mir gut. Ich habe das, und ich muß nicht mehr betteln gehen oder irgendwelche fragwürdigen Dinge tun. Es geht mir heute gut.‘ Jemand der nicht klagt. Das ist ungeheuer eindrucksvoll. Man wünscht sich, es möge so bleiben. Knapp zwei Jahre später gibt es ganz andere Bilder. Man merkt, daß alles sehr schwierig ist. Jetzt ist es so, wie es sein muß, wenn ein Leben durch den Krieg zerstört wird (Grabe 2000, S. 49). Aufgrund dessen entschied sich Grabe dazu, Tage mit Sanh als Epilog, als Ergänzung zu Do Sanh als eigenständigen 34minütigen Film zu realisieren. Bei der Erstausstrahlung auf 3sat wurde zuvor Do Sanh wiederholt – und das ist auch notwendig. Tage mit Sanh funktioniert als Film nur in der Kopplung mit Do Sanh. Nur so wird die Veränderung in Sanhs Leben deutlich (und auch seine Selbstinszenierung und sein Selbstbetrug). Tage mit Sanh ist vielmehr Fragment als ein neues Ganzes, um in der Terminologie Rothschilds zu bleiben. Wenn Frank jedoch betont, dass beide Filme „als Einheit im Portrait über das Leben von Do Sanh verstanden werden“ müssen, „um eine authentische Aussage über die Lebensumstände von Do Sanh treffen zu können“ (Frank 2005, S. 141), so gilt dies grundsätzlich für Langzeitbeobachtungsreihen und ist kein Spezifikum der beiden Filme. Auch Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland und Mendel lebt stellen eine solche Einheit dar, da es immer Bezüge zwischen den Filmen gibt. Das ist in gewisser Weise unabhängig davon ob oder in welchem Umfang Material des/der vorhergegangenen Filme zitiert oder verarbeitet wird. Ob anhand von Filmen überhaupt authentische Aussagen möglich sind, wie Frank hier zumindest impliziert, bleibt ohnehin fraglich. Auch Langzeitbeobachtungen stellen immer nur Ausschnitte eines Lebens dar. Die permanente Beobachtung eines Lebens bleibt der Fiktion vorbehalten: Truman Show/Die Truman Show (USA 1998; Peter Wire). Rothschild spricht daher auch vom Fragmentarischen von Langzeitbeobachtungen (vgl. Rothschild 2005). Dazu kommt, dass es im Film immer eine erzählende Instanz gibt, die das Material nach eigenen Kriterien ordnet. Auch ein Dokumentarfilm ist daher stets nur eine Interpretation der Realität. Authentizität ist ihm nicht eigen, sondern wird als Effekt in der Rezeption herausgebildet (siehe ausführlich dazu Hißnauer 2011, S. 25–84). Frank sieht dies nicht, da er sich nicht mit theoretischen Aspekten des Dokumentarfilms befasst. Er kritisiert Grabe jedoch dafür, dass er in Do Sanh noch keine 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 153 Hinweise auf dessen Drogensucht gegeben habe (vgl. Frank 2005, S. 141). Grabe selbst wollte aber Sanh bei dieser ersten Begegnung nach vielen, vielen Jahren nicht zwingen […], über Dinge zu reden, über die er vielleicht nicht reden wollte, zum Beispiel über das Gerücht der Drogenabhängigkeit. Wir haben ihn so über sich erzählen lassen, wie er es wollte, zumal auch das ja ein Stück der Wahrheit gewesen ist (Grabe in Witzke 2006, S. 251 f.). Bei genauem Hinhören kann man aber aus Grabes Fragen ableiten, dass es hier so manches gibt, das Sanh verschweigt. Dies betrifft vor allem die Zeit, in der Sanh auf der Straße gelebt hat. Do Sanh ist daher geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Verschweigen. Dies gilt aber grundsätzlich für den Interviewdokumentarismus: In jedem Fall sind die Protagonisten mehr oder weniger offen, authentisch, ehrlich, selbstkritisch oder reflexiv. In der empirischen Sozialforschung kennt man das Problem der schwierigen Fragen. Bei solchen Fragen – etwa nach Hygiene oder Einkommen – ist die Gefahr des Interviewabbruchs oder der falschen Antwort (vor allem im Sinne einer sozial erwünschten Antwort) sehr hoch. Dies ist auf das journalistische/dokumentarische Interview zu übertragen. Grabe erzählt Frank im Interview, dass er Sanh auf seine Drogensucht angesprochen habe, aber „er [Sanh] hatte es weit von sich gewiesen“ (Grabe in Frank 2005, S. 113). Ethisch wäre es daher fragwürdig, die Sucht im Film zu erwähnen, da es sich für Grabe bis dahin nur um ein unbestätigtes Gerücht handelte. Do Sanh und Tage mit Sanh zeigen die Möglichkeiten der Langzeitdokumentation auf: Tage mit Sanh öffnet einen anderen Blick auf Do Sanh und führt zu einer Re-Interpretation von Do Sanh/Do Sanh: Wenn man Leuten etwas klar machen will, darüber, was Krieg mit Menschen anstellt, dann ist es eben wichtig, dass man nicht nur die Momente im Leben eines Menschen darstellen kann, dass man zeigen kann, wie das Leben verläuft. Wenn ich sie einmal sehe, diese Menschen, dann kann ich eben gerade einmal sagen, ja auf Grund ihrer Behinderung leben sie jetzt so. Aber nach vielen Jahren kann deutlich werden, wie weit eine Behinderung gehen kann, wie weit eine Zerstörung gehen kann (Grabe in Frank 2005, S. 83). Grabe macht mit der Langzeitbeobachtung von Do Sanh deutlich, dass OpferSein oftmals ein Prozess ist und kein Moment des Opfer-Werdens, der vorüber geht. Do Sanh sieht man seine Verletzungen auf den ersten Blick nicht an, sie sind nicht so offensichtlich wie bei anderen Opfern, die Grabe auf der Helgoland 154 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe oder in den späteren Filmen zeigt.118 Gerade weil dieser zerstörte Mensch so unversehrt wirkt, sind diese Filme so eindrücklich, denn aus diesem (vermeint­ lichen) Widerspruch entsteht für den Zuschauer ein Spannungsverhältnis. Man muss sich quasi immer wieder daran erinnern, dass der Junge bzw. junge Mann, den man in den Filmen sieht, verstümmelt und infolgedessen schwer krank ist. Sein „normales“ Erscheinungsbild ist im Hinblick auf die Identifikationsbereitschaft des Zuschauers von Vorteil. Do Sanh – Der letzte Film unterscheidet sich wiederum deutlich von Do Sanh und Tage mit Sanh. Ursprünglich dachte Grabe an eine weitere Dokumentation über eine Wiederbegegnung: Alfred Jahn, der Do Sanh 1970 auf der Helgoland behandelt hatte, wollte Do Sanh 1996 besuchen. Dieses Wiedersehen wollte Grabe mit einem Filmteam begleiten (vgl. Frank 2005, S. 147), doch Do Sanh war sich unsicher, ob er einem weiteren Film über sich zustimmen sollte: Er hatte Angst, dass sein Umfeld durch die Dreharbeiten erführe, das er HIV-positiv war. Am 30. April 1996 starb Do Sanh – am Jahrestage des Sieges Nordvietnams über Südvietnam und die USA. Nach längerem Zögern entschied sich Hans-Dieter Grabe für einen letzten, abschließenden Film. Der Film ist zugleich Rückblick und (vergebliche) Spurensuche. Anders als die beiden vorhergegangenen Produktionen besteht er daher hauptsächlich (zu 80,4 %) aus alten Aufnahmen (siehe Abb. 3.9). Allerdings verwendet Grabe dabei auch bislang nicht verwendete Szenen und/oder montiert Aufnahmen neu. Die Grundstruktur des Films ist chronologisch,119 obwohl zu Beginn Sanhs Tod vorweg genommen wird (umgekehrte Chronologie). Allerdings erinnern die ersten Bilder an den lebenden, vitalen Sanh: Zunächst sieht man Sanh 23 s lang in Aufnahmen von 1991 auf seiner Rikscha durch die Straßen von Ho-Chi-MinhStadt fahren. Erst nach dem Titel (weiß auf schwarz) sieht man einen Arzt, der dem Zuschauer die Todesbotschaft überbringt. In der Übersetzung (als voice over) heißt es lapidar: „Name des Patienten: Do Sanh. Todesursache: Schwere Verdauungsstörung, Entkräftung, AIDS im Endstadium.“ Während Do Sanh und Tage mit Sanh immer das Hier und Jetzt thematisieren und implizit die Frage aufwerfen, wie es mit Sanh weitergehen wird, kann der letzte Film nur noch von Vergangenem handeln. Dies ist auch in den neu entstandenen Aufnahmen so: Im Wesentlichen sind es Gespräche mit Sanhs Ehefrau über Sanh und seinen 118„Leichen aktivieren nicht mehr. Wenn ich Tote sehe, sind sie tot, aber wenn ich Menschen sehe, die noch leben, am Leben bleiben können, vielleicht noch ein glückliches Leben haben können. Ich sehe das Arbeiten an diesen Verletzten, dann berührt mich das sehr viel mehr [sic!]“ (Grabe zit. in Frank 2005, S. 32). 119Auch wenn diese Chronologie immer wieder unterbrochen wird. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … Rückbezüge in Prozent (ohne Titel) 1,1% 3,4% 18,6% 19,8% 22,2% 35,0% 00:00:00 00:20:00 00:40:00 01:00:00 01:20:00 01:40:00 Grün: Olivgrün: Grasgrün: Schwarz: Grau: Rotbraun Weiß: Aktuelle Aufnahmen 1998 Aufnahmen von 1994 Aufnahmen von 1991 Aufnahmen von 1970 Aufnahmen von 1974 Videobotschaft Sanhs Titel Hans-Dieter Grabe: Do Sanh – Der letzte Film (1998) Abb. 3.9   Visuelle Rückbezüge in Hans-Dieter Grabes Do Sanh – Der letzte Film (1998). (Eigene Darstellung) 155 156 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Leidensweg120 und Bilder der vergeblichen Suche nach Sanhs Geburtsort. Quasi als Leitmotiv finden hier die Bilder des Flusses Verwendung, auf dem Grabe mit einem kleinen Boot unterwegs ist. Do Sanh – Der letzte Film ist die abschließende Rekonstruktion eines Lebens. Der Charakter der Langzeitbeobachtung – also der lange Blick zurück – wird hier daher besonders deutlich und betont. Das Sterben Do Sanhs wird vergleichsweise kurz (direkt zu Beginn und in den letzten sechs Minuten) thematisiert. Dennoch ist es ein Film über das lange Sterben Sanhs. Doch dies ergibt sich erst aus dem Rückblick auf das Leben Do Sanhs: Und gerade das Leben eines Menschen wie Sanh zeigt, wie wichtig es ist, wenn man jemanden nicht nur in einem Moment zeigt. Wie gut es ist, wenn man die Gelegenheit hat, jemanden über Jahre zu begleiten, um klarzumachen, wie ein Ereignis – in diesem Fall das Kaputt-gemacht-werden durch den Krieg – ein Leben verändert. Wie es manchmal zu besonderen, bewundernswerten Kraftanstrengungen dieses Menschen führt, aber dann sehr oft doch zu einem sehr traurigen Ende. Und das weiß man eben nicht im Moment, in dem man jemanden mit einer Verletzung sieht (Grabe in Witzke 2006, S. 242; Herv. CH). Die Do Sanh-Reihe verliert notgedrungen mit dem Tod des Protagonisten ihre dramaturgische Offenheit. Von diesem Endpunkt aus wird nun das Leben rekonstruiert und als ein schlüssiger Ablauf erzählt. Daher ist auch der Anteil visueller Rückbezüglichkeit so hoch. Wie kein anderer Film Grabes ordnet Do Sanh – Der letzte Film, wie Rothschild schreibt, „die unterschiedlichen Gegenwarten und die aus diesen Gegenwarten heraus erzählten Retrospektiven zu einer Langzeitbeobachtung“ (Rothschild 2005, S. 529). Für ihn ist dabei entscheidend, dass die vorherigen Filme nicht nur zitiert werden, sondern sich aus altem und aktuellem Material ein „neues Ganzes“ ergibt. Der Charakter der filmischen Wiederbegegnungen mit Alfred Jahn und Mendel Szajnfeld ist hingegen ein anderer. Die vorhergegangenen Filme werden eher als Verweis auf eine vergangene Situation zitiert, der Fokus liegt deutlich auf den 120Sanhs Ehefrau spielt als eigenständige Person kaum eine Rolle, sie hat vielmehr die Funktion, im Gespräch Lücken in der Rekonstruktion des Lebens von Do Sanh zu schließen. So berichtet sie z. B. wie Sanh abhängig von Drogen wurde. Im Gegensatz dazu sind die Interviews mit Sanh 1991 zwar auch immer wieder davon geprägt, dass Sanh über seine Vergangenheit redet, doch er grenzt sich dabei immer wieder von ihr ab (er betont öfter, dass sein früheres Leben mit der jetzige Situation und seinen damaliges Denken mit seinen aktuellen Sichtweisen nichts mehr gemein haben). Damit ist der Bezugspunkt dieser Selbst-Erzählung das Jetzt. Der Bezugspunkt des Interviews mit Sanhs Frau bleibt die Vergangenheit. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 157 ­aktuellen Lebensumständen der Protagonisten. Dies liegt vor allem daran (ähnlich wie bereits in Do Sanh), dass zwischen den einzelnen Filmen sehr viel Zeit liegt.121 Dennoch sind diese Filmereihen als Einheit zu betrachten, auch wenn sich dies – besonders in Mendel lebt – weniger deutlich in den Filmen selbst abzeichnet. Die Ausschnitte aus Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland machen weniger als zehn Prozent von Mendel lebt aus (siehe Abb. 3.10). Für Grabe war es schwierig, mit den emotional ergreifenden Szenen umzugehen: Jetzt spielte eine große Rolle, dass ich die Kraft der alten Szenen fürchtete. Das Hauptproblem war zu überlegen, wo kann ich einige Aussagen des alten Films so einbauen, dass sie sich mit dem neuen Film verbinden und dass sie nicht eine eigene zu starke Wirkung erhalten. Das war ja genau der Grund, warum ich mich lange Zeit davor scheute, einen zweiten Film zu machen über Szajnfeld, weil ich dachte, es läuft darauf hinaus, den ersten Film auszubeuten. Ich wusste ja von der Kraft dieser Aussagen. Ich musste jetzt darauf achten, dass in dem völlig neuen Film die wirksamsten Szenen nicht die alten sind. […] Wenn man sich nach dem Film nur der Szenen aus dem alten Film erinnert, dann ist der Film misslungen (Grabe in Frank 2005, S. 322 f.). Die gilt vor allem für die weiter oben beschriebene ‚Brot-Szene‘ aus Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland. Grabe verwendet sie in Mendel lebt nur gekürzt. Sie ist für den Film unverzichtbar und wird bereits früh dramaturgisch vorbereitet, wodurch eine Gegenüberstellung von Früher und Heute als Momentaufnahmen des Lebens entsteht, wie sie in den Wiederbegegnungen eine große Rolle spielt (s. o.). Grabe zeigt Szajnfeld in einer langen Szene beim Brotschneiden. Für diejenigen, die Grabes ersten Film über Mendel Szajnfeld nicht kennen, ist dies zunächst eine Nebensächlichkeit. Ein alter Mann schneidet sich Brot fürs Abendessen. Für diejenigen, die Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland kennen, ist das ein Bild voller Ausdruckskraft. In diesem ersten Film berichtet der KZ-Überlebende unter Tränen davon, wie er einem Toten ein Stück Brot wegnahm. „Brot. Brot. Brot, mal satt zu werden! Ich hatte Hunger! Das war der einzige Gedanke. Leben, leben!“ (Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland, Min. 24). Dies erklärt die andächtige Konzentration, mit der Szainfeld noch mehr als fünfzig Jahre nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager sein Brot schneidet. 121Im Fall von Alfred Jahn sind es vierzehn bzw. achtzehn Jahre (wobei Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang eigentlich kein Porträt über Jahn ist); bei Mendel Szajnfeld liegen sogar siebenundzwanzig Jahre zwischen den beiden Filmen. 158 Rückbezüge in Prozent 9,7% 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 90,3% 00:00:00 00:20:00 00:40:00 01:00:00 01:20:00 01:40:00 Grün: Grau: Aktuelle Aufnahmen 1999 Aufnahmen von 1972 Hans-Dieter Grabe: Mendel lebt (1999) Abb. 3.10   Visuelle Rückbezüge in Hans-Dieter Grabes Mendel lebt (1999). (Eigene Darstellung) 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 159 Damit dies auch denjenigen Zuschauern bewusst wird, die den ersten Film nicht kennen, zeigt Grabe diese Szene in Mendel lebt erneut (Min. 93). Hier allerdings schneidet Grabe die Selbstvorwürfe Szajnfelds aus dem Material, die er sich gemacht hat, weil er das Brot eines verstorbenen Mitgefangenen genommen hatte. Diese Selbstvorwürfe waren für den ersten Film sehr wichtig, würden hier aber – aufgrund ihrer emotionalen Stärke – von der aktuellen Situation ablenken.122 In Mendel lebt geht es darum, durch den Rückbezug auf das alte Material eine an sich vielleicht unscheinbar bzw. unbedeutend wirkende Handlung in ihrer Bedeutsamkeit für Szajnfeld darzustellen. Szajnfeld betont auch in den aktuellen Aufnahmen, wie wichtig ihm das Essen sei. 1972 spricht er (insgesamt) aber deutlich emotionaler als siebenundzwanzig Jahre später. – Auch an anderen Stellen nutzt Grabe die Emotionalität der Erzählung aus den früheren Interviewpassagen.123 – Doch die Selbstvorwürfe eines KZ-Häftlings, die in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland zum Ausdruck kommen, würden dem Brotschneiden in Mendel lebt eine völlig andere Aussage geben. Die extreme Emotionalität der Szene würde sich nicht mit den deutlich nüchterneren Äußerungen und Beobachtungen des aktuellen Materials verbinden.124 Vielmehr würden die Selbstvorwürfe dominieren. Es ginge nicht mehr um die Bedeutung, die das Essen, die das Genug-zu-Essen-haben für Szajnfeld hat, sondern nur noch um sein schlechtes Gewissen. Brot, d. h. in diesem Zusammenhang vor allem Leben, wäre in dem Moment Schuld besetzt. In Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland war diese Sequenz wichtig, um survivor guilt (Überlebensschuld) als wichtigen Aspekt bei den Spätfolgen der KZ-Haft zu thematisieren. Doch darum geht es in dem zweiten Film nicht. In seinen Wiederbegegnungen eröffnet Hans-Dieter Grabe neue Blicke und 122In Geschichten vom Essen (2008), in dem Grabe bis auf eine kurze Episode nur Sequenzen aus seinen früheren Filmen verwenden, findet sich die Szene ungekürzt. 123Sie setzen dabei quasi die Erzählung Szajnfelds 1999 aus der Vergangenheit fort. Die Aufnahmen ergänzen sich dabei in auffälliger Weise. 124Auch in Mendel lebt gibt es emotionale Momente, doch berichtet Szajnfeld mittlerweile deutlich gefasster von seinen Erfahrungen im KZ. Man ahnt, dass er in der Zwischenzeit oft davon erzählt hat (sogar ein Buch hat er geschrieben). In den früheren Aufnahmen sieht man ihm hingegen an, dass er während des Erzählens die Situationen noch mal nacherlebt. In den aktuellen Interviewpassagen und Beobachtungen merkt man seine Trauer und gelegentlich auch seine Wut. Doch dieses Nachleben, das die besondere emotionale Stärke des ersten Films ausmacht, fehlt hier. 160 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe andere Perspektiven auf die Menschen, die er zuvor bereits porträtierte.125 Im Titel Mendel lebt schwingt daher auch ein gewisser Trotz mit: Szajnfeld ist nicht mehr das leidende Opfer, sondern ein vergleichsweise vitaler Mann, der ein neues Leben gefunden, der überlebt hat und der das für sich akzeptiert hat. Er betrachtet sein Überleben als Verpflichtung, über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten, wie er norwegischen Schülern bei einer Führung durch das ehemalige KZ von Auschwitz sagt. – Er scheint zufrieden zu sein. Und genau das will Grabe mit dem bedächtigen Schneiden des Brotes zeigen. So wird durch die Kürzung im alten Material die Veränderung in Szajnfelds Leben betont. Während die Do Sanh-Filme der 1990er Jahre aufgrund ihres vergleichsweise engen Entstehungszeitraums die Veränderung im Leben Sanhs als Prozess betonen (am deutlichsten in Do Sanh – Der letzte Film), ist dies in Mendel lebt kaum der Fall. Im Gegensatz zu Tage mit Sanh oder Frau Siebert und ihre Schüler (bei denen Grabe ebenso wie in Mendel lebt die Kamera selbst geführt hat) gibt es in Mendel lebt situative Interviews. Die Fragen stellt Grabe innerhalb von Alltagsbeobachtungen, sodass Szajnfeld sehr viel erzählt. Im Mittelpunkt stehen Szajnfelds Berichte über die Zeit im KZ, Aufnahmen einer Reise nach Auschwitz, die er mit norwegischen Schülern unternimmt und seine Spurensuche in Polen. Über die Zeit zwischen den beiden Filmen erfährt der Zuschauer dagegen sehr wenig.126 Der Zuschauer wird mit einem „doppelten“ Mendel Szajnfeld konfrontiert, der einmal 1972 und einmal 1999 über seine Zeit im KZ berichtet – quasi eine Wechselrede mit sich selbst. Dabei geht es zunächst – auf der verbal-inhaltlichen Ebene – nicht um einen Rückbezug zu 1972. Beide „Inkarnationen“ Szajnfelds sprechen von der gleichen Vergangenheit: 125Dies wird vor allem in Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend offensichtlich: Während es in dem ersten Film über Jens und seine Eltern vor allem um die Situation der Eltern geht, zeigt Grabe in dem zweiten Film den Alltag Jens’ in einer Pflegeeinrichtung. Die Eltern sieht man nur kurz zu Beginn und am Ende des Films. Die Wiederbegegnung arbeitet wie Tage mit Sanh ohne jeglichen visuellen Rückbezug. Lediglich die Krankentherapeutin spricht den ersten Film kurz an. Formal ist auffällig, dass Grabe in dem rein beobachtenden Film auf jeglichen Kommentar verzichtet und die spärlichen Interviews im voice over einsetzt. Die Aussagen der Therapeuten ersetzen dabei quasi den Kommentar und geben für den Zuschauer wichtige, aber aufs Wesentliche reduzierte Hintergrundinformationen (ähnlich verwendet Grabe Therapeutenaussagen in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang und in Nicht mehr heimisch in dieser Welt – beide Male jedoch im On). 126Hier wird auch noch mal deutlich, dass Grabe im Vergleich zu Fechner weniger an Lebensläufen interessiert ist, die Fechner in einem großen Teil seiner Filme detaillierter darstellt. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 161 Interview 1999 [Szajnfeld stehend und z.T. wild gestikulierend]: „Ich habe meine Schandeband verloren. […] Und als wir zur Wache kamen, einer kam rauf. Es war’n mindestens zwei oder drei Stück und drinnen in der Wache war auch noch – na ja. Äh, und der kam auf der, äh, auf der, äh, äh – na, o, auf ganz oben auf der Lastwagen. Äh. Und der hat’s gleich bemerkt, dass ich nicht die Schand, meine Schandeband anhatte. Da hat er mich genommen äh am Kragen oder am Hals oben, runtergeschleppt und gleich hat’s Putz gegeben. Die ganze Zeit mit Hände, mit Kolben und Stiefeln. Bis, äh, bis, bis zu ihnen in, in d’ Wache und, äh, nachher habe’ sie mir noch eine, eine Back, Backpfeifen gegeben. Und ich kam bis zu, also ich weiß ganz genau, ich habe die erste Treppe vom Keller geseh’n. Das war alles. Mehr weiß ich nicht. Jedenfalls, seit damals hatte ich und habe immer Kopfschmerzen.“ Interview 1972 [im Zugabteil sitzend, raucht]: „Ein andren ist es aber viel schlimmer gegang’. Ein gewisser Bladdy. Der Bladdy hat seine Schandeband auch verloren. Der ist erschossen worden. … Es ist ganz verrückt, davon zu sprechen. … Kann gar nicht begreifen, dass so was möglich war.“ Mendel lebt (Min. 25-28) Gerade in diesem ergänzenden Erzählen wird die Quasi-Synchronität von Langzeitbeobachtungen, die Rothschild betont, deutlich, wenn auch eher indirekt: Während in Filmen wie Süchtig – Protokoll einer Hilflosigkeit durch Interviews aus verschiedenen Zeiten das Gesagte miteinander in Bezug bzw. in Kontrast gesetzt wird,127 ist es in Mendel lebt eher bedeutsam, wie etwas zu unterschiedlichen Zeiten gesagt wird.128 Dabei geht es nicht nur um die Emotionalität des alten Materials, die im Gegensatz zu der deutlich nüchterneren Erzählweise der aktuellen Aufnahmen steht (s. o.), sondern auch um den Eindruck den Mendel Szajnfeld vermittelt. Er wirkt, obwohl siebenundzwanzig Jahre jünger als in den aktuellen Aufnahmen, im ersten Film älter und krank.129 Der stärkste Kontrast zu Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland vermittelt sich daher in 127Wobei natürlich ebenso wichtig ist, wie sich Tanja rein äußerlich verändert, denn man sieht ihr zunehmend den „Verfall“ an. In Marcel hingegen werden die Veränderung in seinem Leben nicht nur über Interviews, sondern stärker als bei Tanja auch über Alltagsbeobachtungen vermittelt. 128Dies liegt vor allem daran, dass sich die Aussagen inhaltlich ergänzen. Grabe betont hier keine Widersprüche in den Aussagen. 129Er wirkt klein und eingeschüchtert, so als ob der Raum um ihn herum ihn erdrücken würde. In den neuen Aufnahmen wirkt er hingegen – weil er zum Teil auch aus einer leichten Untersicht gefilmt wird – groß und raumgreifend. 162 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe ­Mendel lebt durch die beobachtenden Szenen:130 Mendel bei der Haus- und Gartenarbeit, Mendel auf der Suche nach seinem Elternhaus in Polen, Mendel in Auschwitz.131 Man sieht ihn als aktiven Menschen. Über diesen Gegensatz erzählt Grabe die Veränderung Szajnfelds, ohne sie großartig im Interview zu thematisieren.132 In den Interviews ist hingegen, wie bereits erwähnt, der Unterschied zwischen der sehr emotionalen und auch selbstanklagenden Erzählweise 1972 und dem eher nüchterneren Bericht 1999 bedeutsam. Einen emotionalen „Ausbruch“ hat Szajnfeld bei den neuen Aufnahmen lediglich, wenn er sich darüber aufregt, dass andere – wie die begleitenden Lehrer auf der Schülerfahrt nach Auschwitz – ihm als Zeitzeugen erklären wollen, wann er genug erzählt habe. In dem Moment fühlt er sich als Zeuge, als überlebendes Opfer mit seiner Verpflichtung zur Tradierung der Erinnerung über die Shoah nicht ernst genommen. Auch auf eine Kommentierung verzichtet Grabe weitestgehend. Lediglich am Anfang referiert er kurz in einem voice over in welchem Zusammenhang er Mendel Szajnfeld kennen gelernt hat und wie der erste Film entstanden ist. Dabei fasst er knapp die wichtigsten Eckpunkte von Szajnfelds Leben bis zu jener Zeit zusammen.133 130Da Grabe selbst die Kamera führt, stellt er seine Fragen auch in beobachtenden Szenen. Eine klare Trennung von Interview und Beobachtung, wie sie in den älteren Filmen (z. B. Dr. med. Alfred Jahn oder Jens und seine Eltern) zu sehen ist, gibt es hier nicht mehr. Hier ist also auch eine deutliche Veränderung in Grabes Methode bemerkbar: „Ich möchte jemanden nicht mehr irgendwo für Filmaufnahmen hinsetzen, sondern ich möchte ihn gerne im Leben, bei Tätigkeiten aufnehmen – dann auch ruhig zu mir sprechend. Bilder und Leben einzufangen wird eigentlich zunehmend wichtiger“ (Grabe in Witzke 2006, S. 173 f.). 131Und so ist Mendel lebt nicht nur ein Porträt, sondern auch – und vor allem – ein Film über den Holocaust. Die Ruinen von Mendels Elternhaus und der alten Synagoge in Polen erzählen dabei mehr über die Vergangenheit, als es die aktuellen Bilder von Auschwitz vermögen oder es Archivaufnahmen des Lagers vermocht hätten (zumal es – größtenteils – nur Bilder kurz nach der Befreiung gibt, also nicht von dem quälenden, tödlichen Lageralltag). Wie so oft verzichtet Grabe darauf, Archivbilder zu zeigen, die einen beliebigen historischen Bezug vermitteln und kommt ganz ohne Archivaufnahmen aus. Die Ruinen symbolisieren die Ausrottung. Die verfallenen Mauern des Mutterhauses sind überwuchert, es ist – im wahrsten Sinne – „Gras über die Sache“ gewachsen. Gerade das Verschwunden-Sein der jüdischen Bevölkerung verweist auf die Shoah und ihre Folgen. 132Lediglich am Anfang erwähnt Szajnfeld, dass es ihm besser geht als früher. Doch das wird nicht ausführlich thematisiert und besprochen. 133Auch hier montiert Grabe einen Ausschnitt des alten Films als Ergänzung zu seinem Kommentar: Grabe berichtet, dass Szajnfeld in Oslo seine Frau kennen gelernt hat. Hier setzt dann wieder die Äußerung Szajnfelds an, der erzählt, dass er sie vor der Ehe mit ihm gewarnt hat, da er sein ganzes Leben über krank sein werde. 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 163 Diese Erläuterung setzt Grabe zwischen zwei Interviewausschnitte aus Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland.134 Insgesamt überlässt es Grabe also dem Zuschauer, seine Schlüsse aus der Gegenüberstellung der alten und der neuen Aufnahmen, aus den Bildern und der veränderten Ausdrucksweise zu ziehen. Lediglich zitiert, wie Rothschild meint, wird das alte Material aber nicht. Es ist mit Bezügen und Rückbezügen in einem neuen Kontext bedeutungsstiftend. Wie sehr Grabe in seinen Wiederbegegnungen und Langzeitbeobachtungen die aktuelle Situation seiner Protagonisten interessiert, zeigt sich auch in Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn (2002). Auch hier nehmen die visuellen Rückbezüge zu den vorhergegangenen Filmen nur knapp über zehn Prozent ein (siehe Abb. 3.11). Do Sanh – Der letzte Film ist also mit seinem sehr großen Anteil „Altmaterials“ (80,4 %) im Werk Grabes ein Solitär. Es ist eine filmische Biografie, die Geschichte eines Lebens. In allen anderen Wiederbegegnungen dominiert die aktuelle Begegnung, die Momentaufnahme. In Tage mit Sanh und Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend verzichtet Grabe sogar auf jeglichen visuellen Rückbezug. In den anderen Filmen (Do Sanh, Dr. med. Alfred Jahn, Diese Bilder verfolgen mich, Mendel lebt) reduziert er sie getreu seines Mottos auf das Wesentliche. Für den letzten Film über Alfred Jahn verwendet Grabe nur eine siebenminütige, neu montierte Sequenz aus dem Film von 1984. Diese macht zum einen deutlich, wie wichtig Jahn sein Einsatz in Krisengebieten ist, und zum anderen zeigt sie unterschwellig, dass Jahn sich selbst davon überzeugen muss, in Deutschland gebraucht zu werden (s. o.). Er leidet offensichtlich darunter, nicht mehr in Thailand oder Vietnam arbeiten zu können (vgl. Hißnauer 2009). Grabe thematisiert hier eine Umbruchsituation in Jahns Leben: Das natürlich ist genau der Zeitpunkt, in dem ich eben gerne Menschen vor der Kamera habe. Wo sie im Konflikt sind über ihre Gegenwart und die weitere Entwicklung ihres Lebens (Grabe in Frank 2005, S. 171). Gerade solche Umbruchsituationen sind natürlich auch für eine Wiederbegegnung oder Langzeitbeobachtung spannend, denn solche Dokumentationen können in einem weiteren Film hinterfragen, ob sich die Erwartungen an die Gegenwart und die Zukunft erfüllt, ob sich neue Konflikte und neue Umbrüche ergeben haben. 134Wie bereits im ersten Film verwendet er auch hier den Blick aus dem Zugfenster als Bildmaterial. 164 Rückbezüge in Prozent 7,4% 3,4% 89,2% 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe 00:00:00 00:20:00 00:40:00 01:00:00 01:20:00 01:40:00 Grün: Schwarz: Grau: Aktuelle Aufnahmen 2002 Aufnahmen von 1970 Aufnahmen von 1984 Hans-Dieter Grabe: Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn (2002) Abb. 3.11   Visuelle Rückbezüge in Hans-Dieter Grabes Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn (2002). (Eigene Darstellung) 3.4  Von der Momentaufnahme zur Langzeitbeobachtung … 165 Dies macht Grabe in Mendel lebt und Diese Bilder verfolgen mich – jedoch auf eine sehr subtile und hintergründige Art und Weise. Dafür ist es nicht notwendig, ausführliche Passagen der vorhergegangenen Filme zu verwenden, sondern deren – für den neuen Blick, die neue Perspektive – zentrale Momente.135 So spricht Grabe in einem Interviewausschnitt die Frage an, ob Jahn Kinder adoptieren möchte. Er jedoch antwortet, dass man sich entscheiden müsse: Eigene Kinder oder Kindern als Arzt im Krankenhaus helfen. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten (z. B. Nachtdienste) wären nicht gut, wenn man sich um ein eigenes Kind kümmern müsste. Dies sei vielleicht auch ein Grund, weswegen er keine Familie habe. In diesem Interview wird Jahns Beruf(ung), vor allem seine Arbeit für Kinder in der sogenannten „Dritten Welt“, als ein Familienersatz dargestellt. Kurz vor seiner Pensionierung sieht man ihn sich dann um Straßenkinder in Ruanda kümmern. Für einige von ihnen gründet er eine Wohngruppe. Ganz am Ende des ­Filmes erzählt Jahn, dass diese Kinder in der Schule als Familie Jahn angemeldet wurden. Er lacht, doch seine Rührung sieht man ihm an. Er hat eine Familie gefunden. – Der Ausschnitt aus dem alten Film dient zunächst dazu, dem Zuschauer zu vermitteln, wie wichtig Jahn der Einsatz für Kinder ist;136 vor allem dort, wo er der einzige Arzt ist. Doch indem Grabe diesen Ausschnitt in Diese Bilder verfolgen mich erneut verwendet, impliziert er, dass Jahn – den er immer als sehr gewissenhaften Menschen darstellt – sich auch in Zukunft wie ein Vater um „seine“ Kinder kümmern wird. Durch den Rückbezug deutet er also eine (mögliche) zukünftige Entwicklung an. Auch hier zeigt sich wieder der bewusste Umgang Grabes mit dem alten Material. Auch Diese Bilder verfolgen mich betont aufgrund des geringen Anteils visueller Rückbezüge und der starken Fokussierung auf die aktuelle Lebenssituation Jahns den Charakter der Wiederbegegnung statt den einer Langzeitbeobachtung. Im Vordergrund steht die aktuelle Begegnung, das aktuelle Porträt, nicht die Präsentation eines Lebensverlaufs wie z. B. in Wittstock, Wittstock von Volker 135In Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang trifft Grabe zum ersten Mal auf Do Sanh und Alfred Jahn. Doch es ist kein Porträt über sie, vor allem nicht über Do Sanh, der nur ca. siebzig Sekunden lang zu sehen ist. Daher hat er in den folgenden Filmen vergleichsweise wenig Material, das er von der ersten Begegnung verwenden kann. Man könnte daher unterstellen, dass der geringe Anteil visueller Rückbezüglichkeit in dem jeweils zweiten Film diesem Umstand zu schulden ist; dies trifft beim jeweils dritten – und im Falle Do Sanhs den weiteren Filmen – nicht mehr zu. 136Er betont die Ernsthaftigkeit seiner Motivation. 166 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Koepp (1997)137 oder einzelner Filme der Kinder von Golzow, in denen die aktuellen Begegnungen immer als ein Teil, ein Fragment des ganzen Lebens – bzw. des gefilmten Teils davon – dargestellt werden. Mit seinen Wiederbegegnungen beschreitet Grabe also einen eigenen Weg der Langzeitdokumentation.138 Grabe zeigt mit seinen Rückbezügen, dass das Helfen zu Jahns Lebensaufgabe geworden ist, doch interessiert ihn sein Lebenslauf im Prinzip nicht. Wie bereits in Mendel lebt klärt Grabe den Zuschauer auch in den Filmen über Jahn kaum darüber auf, was sich in der Zeit zwischen den Filmen im Leben Jahns zugetragen hat. Man kann sagen, dass dies bewusst ausgeblendet wird.139 Das unterscheidet die Wiederbegegnungen mit Szajnfeld und Jahn deutlich von Do Sanh, in der Grabe Sanh sehr direkt darauf anspricht, wie es ihm nach der Rückkehr ergangen ist, auch wenn vieles davon im Unklaren bleibt (was auch daran liegt, dass Sanh einiges nicht erzählen will oder nur andeutet; s. o.). Grabes Anspruch ist es nicht, ein „objektives“ Bild seiner Protagonisten zu zeichnen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, sich so zu präsentieren, wie sie sich selbst sehen. Das gilt nicht nur für die Wiederbegegnungen, sondern für alle seine Porträts. Er vertraut dabei darauf, dass seine Zuschauer mögliche Selbststilisierungen, Selbstinszenierungen und den Selbstbetrug einzelner Protagonisten durchschauen. 3.5 Fremde Heimat in den „Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes Griechischer Wein, und die altvertrauten Lieder. Schenk’ noch mal ein! Denn ich fühl’ die Sehnsucht wieder; in dieser Stadt werd’ ich immer nur ein Fremder sein ‒ und allein Udo Jürgens (Griechischer Wein) 137Es handelt sich dabei um den letzten Film von Koepps Langzeitdokumentation über Wittstocker Textilarbeiterinnen (1975–1997). Das Projekt umfasst die Filme Mädchen in Wittstock (DDR 1975), Wieder in Wittstock (DDR 1976), Wittstock III (DDR 1978), Leben und Weben (DDR 1981), Leben in Wittstock (DDR 1984), Neues in Wittstock (1992) und Wittstock, Wittstock (1997). 138Dies gilt zumindest, wenn man Langzeitbeobachtungen und Wiederbegegnungen unter dem Begriff Langzeitdokumentation subsumiert. 139So erfährt man von Jahn z. B. nichts darüber, wie er sich in Landshut eingelebt hat, ob er noch mal Anstrengungen unternommen hat, fest ins Ausland gehen zu können, oder Ähnliches. Man kann zwar indirekt einige Schlüsse ziehen, angesprochen wird es jedoch nicht. 3.5  Fremde Heimat in den„Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes 167 In den 1950er Jahren war Fernsehen für viele Bundesbürger zunächst ein „Fenster zur Welt“.140 Reisen konnte man sich noch nicht leisten. Der Fernseher war dafür ein Ersatz und lieferte Bilder voller Exotik von einer fremden Welt. In den 1960er Jahren wurden Reisen ins (benachbarte) Ausland für mehr und mehr Deutsche erschwinglich. Sie zog es wenigstens für ein paar Wochen im Jahr in die Fremde. Im gleichen Zeitraum kamen immer mehr (Arbeits-)Migranten als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland und brachten ein Stück „fremde“ Kultur mit in die Bundesrepublik. Doch es war – anders als Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sich glauben machen wollten – keine Arbeiter, die für wenige Monate oder Jahre kamen. Es waren Menschen, die blieben. Mittlerweile leben sie in der dritten und vierten Generation in Deutschland. Dennoch gibt es bis heute immer wieder hitzige Debatten darüber, ob Deutschland überhaupt ein „Einwanderungsland“ ist. Hans-Dieter Grabe hat immer wieder Menschen porträtiert, die als sogenannte „Gastarbeiter“ oder Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland kamen (z. B. in Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr, 1977; oder in den Do SanhFilmen, 1970–1998). In den 1980er Jahren ist dies nahezu ein Schwerpunkt in seiner dokumentarischen Tätigkeit. Vor allem in vier Filmen jener Zeit thematisierte er die Situation von Migranten in Deutschland und deren Blick auf die Bundesrepublik: Dragutin Trumbetas oder Liebe machen, bitte! (1980), Raissa Orlowa-Kopelew – Alle Türen in dieses Land öffnen sich mir langsam und schwer (1983), Abdullah Yakupoglu – „Warum habe ich meine Tochter getötet?“ (1986) und Boi aus Vietnam – Mit dreizehn von zu Hause weg (1987).141 In der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk HansDieter Grabes (vor allem Witzke 2006 und Frank 2005) ist der Themenkomplex Heimat und Fremde bislang nicht aufgearbeitet worden. Man kann sogar sagen, dass dies bislang nicht als ein relevantes Thema in seinen Filmen erkannt worden ist. „Es ist hier also der Fremde […] der, der heute kommt und morgen bleibt“ schrieb Georg Simmel (1984, S. 128) bereits 1908 in seinem Exkurs über den Fremden. Innerhalb menschlicher Beziehungen wird das Fremde/das Ferne nah und das Nahe ist fremd. Das gilt natürlich wechselseitig. Auch für den „Fremden“ ist seine nahe Umgebung plötzlich fremd. 140Die folgenden Ausführungen wurden bereits teilweise in Hißnauer 2009 veröffentlicht. 141Auch Dr. med. Alfred Jahn – Kinderchirurg aus Landshut (1984) thematisiert Fremdheit. Allerdings geht es in diesem Film darum, dass dem Arzt Alfred Jahn nach dessen erzwungener Rückkehr nach Deutschland (s. o.) seine eigene Heimat fremd geworden ist (vgl. Hißnauer 2009). 168 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Hans-Dieter Grabe macht keine Filme über Heimat und Fremde, sondern Por­ träts von Menschen, die im Moment der filmischen Begegnung mit ihnen in einem Spannungsverhältnis von Heimat und Fremde leben. Das uns Nahe ist ihnen fremd, so haben sie einen anderen Blick darauf. Simmel (1984, S. 132) betont, dass die Fremden „eigentlich nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden“ werden. Dies ist auch heute noch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Fremdheit zu beobachten. Hans-Dieter Grabe arbeitet dem in seien Porträts entgegen. Er betont gerade das Individuelle an den „Gastarbeitern“ und den „Boatpeople“, zeigt das einzelne Schicksal hinter den anonymen Begriffen. Dies macht er aber nicht als „Gutmensch“, wie sein Film über Abdullah Yakopoglu zeigt, einen Mann, der seine Tochter getötet hat. Auch der Blick auf die Bundesrepublik, den Grabe damit wirft, ist ein zwiespältiger: Er zeigt Beispiele gelungener Integration (Boi oder Raissa Orlowa-Kopelew), thematisiert aber auch die Ausgrenzungen durch die Aufnahmegesellschaft (Mehmet Turan oder Dragutin Trumbetas). Auffällig ist, dass Grabe gerade in den „Gastarbeiter“-Filmen die psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme betont. Wie so oft in seinen Filmen geht es also um die Opfer, um den Blick hinter die Fassade. Grabe will ergründen, was es persönlich bedeutet, „Gastarbeiter“ zu sein, welche psychischen Auswirkungen das Leben in der Fremde hat. In Dragutin Trumbetas oder Liebe machen, bitte! besteht die Bundesrepublik aus städtischen Betonwüsten, Sex-Shops und Pornokinos. Grabe arbeitet in diesem Film noch deutlicher als in den anderen hier betrachteten Beispielen mit Differenzen und Gegenüberstellungen. So beginnt der Film damit, dass Trumbetas aus dem Off erzählt, was er von seiner Arbeit in der Bundesrepublik erwartet hat. Den Erwartungen stellt Grabe im Folgenden die Enttäuschungen gegenüber, dem städtischen Deutschland das ländliche Jugoslawien, der sozialen Kälte und Einsamkeit die familiäre Wärme, dem Grauen das Grüne, der Fabrik den Bauern, der Maschine die Handarbeit, der Moderne die Tradition. Diese Gegenüberstellungen werden besonders in einer Szene deutlich, die für die Filme Grabes sehr ungewöhnlich ist. Über den ganzen Film hindurch zeigt Grabe Tuschezeichnungen Trumbetas’, der in ihnen das Leben und die Situation der Arbeitsmigranten karikiert. In dieser Szene ist ein Bild mit dem Titel Frühstückspause zu sehen: Vor einem Bauwagen sitzen essend, trinkend, rauchend oder einfach nur vor sich hin starrend mehrere Arbeiter. Trumbetas will – wie er aus dem Off erklärt – mit diesem Bild zeigen, dass sie nur körperlich da sind, mit ihren Gedanken aber in der Heimat. Mit Grabes Frage, ob Trumbetas mit seinen Gedanken oft bei seiner Familie ist, schneidet der Film auf das Gesicht Trumbetas. Im On antwortet er, dass es ihm auch oft so gehe. In diesem Moment blendet 3.5  Fremde Heimat in den„Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes 169 Grabe über auf eine kurze Aufnahme, in der Trumbetas und seine Frau sich in Zeitlupe in die Arme fallen und herumwirbeln. Die Szene wirkt betont – geradezu ausgestellt – kitschig, sodass der Kontrast von Aussagen und Beobachtungen deutlich betont wird (s. u.). Das eigentliche „Leben“ Trumbetas’ findet – so suggeriert der Film – in Jugoslawien statt. Dort ist seine Familie, dort baut er ein Haus, dort ist Geselligkeit und Lebensfreude. In seinem kleinen Zimmer im Rotlichtviertel Frankfurts herrscht hingegen Einsamkeit. In den grauen Straßenzügen und auf den betongestalteten Plätzen, auf denen es kaum Grün gibt, ist kein Platz für Menschlichkeit. Trumbetas verdeutlicht dies an seinen Beobachtungen: In der Straßenbahn, im Park oder auf Kinderspielplätzen sieht er immer nur Deutsche mit Hunden. Der Hund ist immer mehr zum Kinder- und Beziehungsersatz geworden, so Trumbetas: „Je größer Wohlstand der Menschen ist, desto mehr befassen sie sich mit Dingen, die mit Menschlichkeit nicht viel zu tun haben. Also mit Tieren“ (Min. 35). Auch dazu hat Trumbetas eine Karikatur gezeichnet: Eine Frau beruhigt ihren Dackel, der sie bespringen will, mit den Worten: „Nicht jetzt, Zucki, wir haben Gäste“ (Min. 36). Dem gegenüber stellt Grabe zwei weitere Karikaturen: Den ‚Traum eines Gastarbeiters‘ nach Liebe und Sexualität und als Kontrast dazu die Realität – Schlange stehen vor dem Bordell. Die Suche nach ein wenig Menschlichkeit scheitert, so wird suggeriert, an der Tierliebe der Deutschen. Der Blick auf die Bundesrepublik ist in diesem Film ein negativer. Gerade an der Episode mit dem Hund wird aber deutlich, wie stark Grabe in diesem Film über das Porträt eines Gastarbeiters, der durch seine Tuschezeichnungen gleichzeitig ein kritischer Beobachter der beiden Gesellschaften ist, das Thema Heimat und Fremde zum Anlass nimmt, um darüber hinausgehende allgemeinere Aspekte anzusprechen. In Dragutin Trumbetas ist es wichtig, dass Grabe auch den Wandel der jugoslawischen ländlichen Gesellschaft thematisiert. Die Heimkehrer verändern die dörfliche Struktur: Aus der Gemeinschaft wird immer mehr eine (Konsum-)Gesellschaft nach bundesdeutschem „Vorbild“. Oder, wie Trumbetas im Film sagt: „[Das] Dorf war früher menschlicher“ (Min. 20). Seine eigene Heimat wird ihm immer fremder. Auch bei seinen Bekannten in Deutschland – ebenfalls Arbeitsmigranten wie er – beobachtet er Veränderungen. So erzählt er davon, dass die Kontakte früher ungezwungener gewesen seien. Nach Jahren in Deutschland wird immer mehr das Erreichte präsentiert – und immer wieder betont, wie viel das Auto, der neue Schrank, die Urlaubsreise gekostet haben. Trumbetas Beschreibung der alten Freunde ist daher wenig schmeichelhaft: „[D]ie Leute sind irgendwie gehetzt, aufgeduns’t, mit leeren Köpfen, sind kaputt“ (Min. 39). 170 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Hier überbrückt der Film die Differenz von Heimat und Fremde. Es wird deutlich, dass die beschriebenen persönlichen und sozialen Veränderungen beispielhaft sind – und zwar nicht nur für Arbeitsmigranten und kleine Dörfer irgendwo im Jugoslawien der 1980er Jahre. Nur dass in Deutschland diese Veränderungsprozesse Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre längst abgeschlossen waren. Grabe hält der bundesdeutschen Gesellschaft quasi einen zeitversetzten Spiegel vor. Am Ende des Films heißt es: „Es ist so schwer, ohne Familie zu leben“ (Min. 44). Eben das zeigt der Film: Heimat ist dort, wo die Familie ist. Das ist sicherlich nicht ganz unproblematisch. Grabe macht in Dragutin Trumbetas zwar die Probleme von Gastarbeitern in der Bundesrepublik anschaulich (Einsamkeit, Diskriminierung, fehlende Liebe und Sexualität), doch dies führt hier zu einer Idealisierung von Familie und Heimat. Heimat bekommt so den Beiklang von familiärer und regionaler (ethnischer) Herkunft. Dahinter verbirgt sich aber der Wunsch nach Gemeinschaft. Vielleicht hat Hans-Dieter Grabe später eingesehen, dass der Wunsch nach traditionellen Gemeinschaften ein zu idealistisches Lösungsversprechen für die Probleme der (reflexiven) Moderne ist. Nach Mehmet Turan und Dragutin Trumbetas läuft Grabes dritter „Gastarbeiter“-Filme 1986 im Programm des ZDF: Abdullah Yakupoglu. Bereits der Untertitel macht deutlich, dass auch familiäre und kulturelle Traditionen Problempotenziale in sich bergen: „Warum habe ich meine Tochter getötet?“ Es geht in diesem Film um einen – wie es immer e­ uphemistisch heißt – „Ehrenmord“. Ursprünglich wollte Grabe einen Film drehen über eine junge türkische Frau, die aus Angst vor einem solchen Schicksal ihren Vater umbringt: Ich mache natürlich lieber einen Film über eine derartige Täterin, die aus ihrer Not heraus handelt, als über diesen Vater, der zwar auch aus Not, aber aus einer anderen Not heraus, handelt. Ich hoffte zuerst, einen Film über diese Frau drehen zu können, um deutlich zu machen, in welcher Lage Frauen und Töchter von Gastarbeitern, in dem Fall von Türken, sein können (Grabe in Witzke 2006, S. 234). Letztendlich wurde der Film zu einem Psychogramm eines Vaters, der seine Tochter ermordet, da sie ihren deutschen Freund nicht heiraten will. – Grabe war es dabei wichtig, durch die Schilderung der Lebensumstände deutlich zu machen, dass dieser „Mann […] zwar nicht ohne Schuld [ist], aber es gibt viele, viele Umstände, die ihn und andere auf einen Weg bringen, auf dem sie auf einmal glauben, keinen anderen Ausweg als so eine Tat zu haben“ (Grabe in Witzke 2006, S. 235). Grabe geht es also um ein – im soziologischem Sinne – Verstehen der Tat. 3.5  Fremde Heimat in den„Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes 171 In Abdullah Yakupoglu liegt die Differenz von Heimat und Fremde weniger zwischen hier und dort als innerhalb einer Familie, ist also generational bestimmt. Heimat und Fremde definieren sich entlang der Bruchlinien des Rückkehrmythos: Während der Vater seine Töchter für eine Rückkehr in die Türkei erziehen will, sich selbst also noch in seiner Herkunftsgesellschaft verortet, haben seine Töchter diese bereits hinter sich gelassen. Sie sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der individuelle Freiheit über den Traditionen steht. Die traditionelle türkische Gesellschaft, die Abdullah Yakupoglu verkörpert, ist ihnen so fremd, wie die deutsche Gesellschaft es für ihn ist. Damit sind ihm aber auch seine Töchter fremd geworden. Perihan, die ermordete Tochter, kann in dem Film nicht mehr für sich selbst sprechen. Als Gegengewicht zu den Aussagen des Vaters dienen Grabe daher Interviews mit Perihans ehemaligen deutschen Arbeitgebern und ihrem deutschen Freund. Das betont natürlich die Differenz von deutscher und türkischer Kultur und verdeckt etwas den Generationenkonflikt, der in diesem Film – vor allem – thematisiert wird.142 Im Unterschied zu Dragutin Trumbetas fällt auf, dass in diesem Film die Bundesrepublik gegenüber der türkischen traditionellen Kultur positiv konnotiert wird. Aus der unmenschlichen, oberflächlichen Konsumgesellschaft wird hier das strahlende Vorbild von Individualität, Freiheit und sexueller Selbstbestimmung – gerade auch der Frau. Interessant ist dabei die Akzentverschiebung in den „Gastarbeiter“-Filmen: • In Mehmet Turan thematisiert Grabe die psychischen Auswirkungen des Lebens in der Fremde. Vor allem Turans Frau leidet unter der Situation und fällt in Depressionen. Die Rückkehr in die Heimat ist die Lösung des Pro­ blems.143 Bereits hier wird aber angedeutet, dass sich die Rückkehr oftmals verschiebt, dass der kurzfristige Arbeitsaufenthalt länger dauert als ursprünglich geplant. • In Dragutin Trumbetas geht es ebenfalls um die psychischen Auswirkungen des Lebens in der Fremde und der Trennung von der Familie. Gleichzeitig gibt es das allgemeinere Thema Konsumkritik. Auch hier sieht Trumbetas die 142Dass es sich dabei nicht nur um einen Generationskonflikt handelt, wird daran deutlich, dass es auch heute noch immer wieder zu solchen sogenannten „Ehrenmorden“ kommt, obwohl Täter und Opfer bereits in dritter oder vierter Generation in Deutschland leben. 143In der Wiederbegegnung Auslandsjournal – Die Doku: Die Turans aus der Türkei – damals und heute (2013; Gert Anhalt) zeigt sich, dass die Rückkehr nur eine Scheinlösung war. 172 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Rückkehr – ohne es explizit zu machen – noch als Lösung an, doch Grabe zeigt auch, dass diese Rückkehr in die ‚Heile Welt‘ eine Illusion ist, denn die Konsumgesellschaft hält Einzug in das ländliche Jugoslawien. Die Zeitlupe in der Kontrastmontage deutet dies an. Es ist ein filmisches Element, es ist das falsche Versprechen eines Hollywood Happy Ends – und in der Lesart nur macht die Kontrastmontage einen Sinn (und zeigt, wie geschickt Grabe seine Filme montiert). • In Abdullah Yakupoglu hat sich die zweite Generation mit dem Leben in der Fremde arrangiert, hat die neue Heimat angenommen und will nicht mehr zurück – die alte Heimat ist ihr fremd geworden. Die erste Generation ist aber noch verfangen in dem immer mehr zum Mythos werdenden Gedanken an die Rückkehr in die Heimat. Auch hier schwingt immer noch die Vorstellung von Heimat als Gemeinschaft an. Doch es ist nicht mehr eine familiäre Gemeinschaft. Hier zerstört Heimat – der Druck der Gemeinschaft – die Familie und führt letztendlich zur Selbstzerstörung. Die gesellschaftliche Individualisierung wird hier positiv gesehen. Warfen Dragutin Trumbetas und weniger deutlich auch Mehmet Turan einen kritischen Blick auf die Bundesrepublik, die den einst eingeladenen „Gastarbeitern“ wenig einladend, wenn nicht gar feindlich gegenüber steht, so zeigt Abdullah Yakupoglu, dass Integration eine Aufgabe ist, die von beiden Seiten erfüllt werden muss. Abdullah Yakupoglu scheitert eben daran, dass er nicht „anpassungsfähig“ ist, weil er immer noch glaubt, irgendwann in seine Heimat zurückzukehren. Der differenzierte Blick Grabes wird aber nur deutlich, wenn man die „Gastarbeiter“-Filme zusammen betrachtet. Jeder für sich hat eine gewisse Einseitigkeit, die auch darin begründet ist, dass es sich um sehr persönliche Personenporträts handelt – gerade das ist auch ihre Stärke. Sie ergänzen sich aber und ergeben so einen vielschichtigen Blick auf die Bedeutung von Heimat und Fremde für sogenannte „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. Das Nicht-Integrieren-Können wird in allen drei Filmen thematisiert. In Mehmet Turan und Dragutin Trumbetas liegt dies eher an der Aufnahmegesellschaft, die Gastarbeiter ausgrenzt. In Abdullah Yakupoglu zeigt Grabe, dass gerade die erste Generation sich aus sich heraus oftmals nicht integrieren kann, da sie zu sehr an die eigene Rückkehr glaubt. Doch der vorübergehende Aufenthalt wird immer länger – und viele verpassen den Punkt, an dem sie sich auf die neue Heimat einlassen müss(t)en. So porträtiert Grabe Menschen, die unter der deutschen Gesellschaft leiden. Über die Jahre wird die Rückkehr immer mehr zu einem Mythos: Mehmet Turan schafft den Weg zurück noch, da seine Frau an den Verhältnissen krank wird, bei Dragutin Trumbetas deutet sich bereits an, dass die Rückkehr in die „heile“ 3.5  Fremde Heimat in den„Gastarbeiter“-Filmen Hans-Dieter Grabes 173 Gemeinschaft nur noch eine Illusion ist, denn auch dort hält die Konsumgesellschaft Einzug. In Abdullah Yakupoglu ist die Familie gespalten: sie verspricht keine Heimat mehr. Vor allem die Situation des Vaters ist schizophren: Er lebt in der modernen, individualistischen Bundesrepublik, orientiert sich aber an den traditionellen türkischen Werten. Deutlicher als in den anderen Filmen wird, dass Abdullah Yakupoglu kaum Kontakt zu Deutschen hat. Er bewegt sich nahezu ausschließlich in der türkischen Gemeinschaft. Obwohl er bereits seit 1964 – also über zwanzig Jahre lang – in der Bundesrepublik lebt, ist ein Interview auf Deutsch mit ihm offenkundig nicht möglich (anders als mit Dragutin Trumbetas und zumindest teilweise mit Mehmet Turan). Dieses mangelnde Sprachvermögen ist symptomatisch. Auch nach zwanzig Jahren ist Deutschland für ihn nicht zur Heimat geworden. Er lebt immer noch in dem Glauben eines vorübergehenden Aufenthaltes. Er bleibt der „potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“ (Simmel 1984, S. 128). Der Glaube an die eigene Rückkehr verhindert Integration. Eine Rückkehr kann – zumindest für die Töchter – jedoch keine Option sein, da sie ihre Freiheiten aufgeben müssten. Während für Mehmet Turan, Dragutin Trumbetas und vor allem Abdullah Yakupoglu die Fremde bedrohlich bleibt, ist die Bundesrepublik für Yakupoglus Töchter zur neuen Heimat geworden. Für sie wird hingegen ihre Herkunftsgesellschaft ganz manifest zur Bedrohung. – Grabe schildert hier einen tödlichen Generationskonflikt. Wie unlösbarer der Widerspruch von individuellen Freiheiten und traditionellen Werten jedoch ist, zeigt sich auch in den vergangenen Jahren immer wieder. Junge Frauen werden immer noch Opfer ihrer Väter und Brüder. – Gerade in der dritten Generation nimmt die Orientierung an der ursprünglichen kulturellen Identität wieder zu, auch wenn die Gründe dafür andere sind als in der ersten Generation. Vor allem können die alltäglich erfahrene Diskriminierung und/oder soziale Deprivation dazu führen, dass die Rückbesinnung auf die vermeintlich „natürliche“ kulturelle Identität der Herkunftsgesellschaft zur Stabilisierung der eigenen Identität führt.144 Im Unterschied zu den „Gastarbeiter“-Filmen scheinen sich Raissa OrlowaKopelew und Boi gut integriert zu haben, doch sie haben einen ganz anderen Hintergrund. Raissa Orlowa-Kopelew ist mit ihrem Mann, dem Systemkritiker Lew Kopelew, aus der Sowjetunion ausgewiesen worden und Boi ist ein Flüchtling aus 144Vgl. Heckmann (1992) und Treibel (1990). Auf der anderen Seite können Etikettierungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft aber auch dazu dienen, soziale Ungleichheit zu legitimieren und zu verfestigen. Gerade der „moderne“ Rassismus argumentiert z. B. mit vermeintlich unveränderlichen kulturellen Unterschieden. 174 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Vietnam. Sie können nicht mehr zurück, sie müssen sich ein neues Leben in der Fremde aufbauen, müssen die Fremde zu ihrer neuen Heimat machen. Für beide ist Deutschland ein Land der Chancen. Dies wird vor allem bei Boi deutlich: In Vietnam musste Boi schon als Kind körperlich hart arbeiten. Er wäre sein Leben lang Bauer geblieben. In Deutschland kann er sein Abitur machen und will studieren. Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, ist für Boi nur möglich durch eine lebensgefährliche Flucht. Georg Simmel sah die Funktion des Fremden sehr optimistisch: „[E]r ist der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, mißt sie an allgemeineren, objektiveren Idealen“ (Simmel 1984, S. 130). Die Filme Hans-Dieter Grabes zeigen, dass „Fremde“ zwar einen anderen Blick auf die Bundesrepublik werfen, dieser jedoch nicht objektiv und vorurteilsfrei ist. Ihr Blick ist lediglich anders geprägt: So misst Dragutin Trumbetas die bundesdeutsche Gesellschaft an der selbst im Verschwinden begriffenen dörflichen Gemeinschaft in Jugoslawien und Abdullah Yakupoglu versucht, in der westlichen Kultur seine traditionellen, dort nicht mehr funktionierenden Werte aufrechtzuerhalten. Dennoch ist ihr Blick auf die Bundesrepublik nicht durch die Selbstverständlichkeit geprägt, mit der man gemeinhin die eigene Gesellschaft wahrnimmt. Dies wird durch die Form des Interviewdokumentarismus noch betont, denn Grabe zeigt weniger den Alltag, als dass er seine Protagonisten von ihren Gedanken und Gefühlen reden lässt. Sie müssen sich daher für den Film selbst mit ihrer Situation auseinandersetzen; Erlebtes wird geschildert und reflektiert. In den „Gastarbeiter“-Filmen ist die Bundesrepublik für die Porträtierten nicht zu einer neuen Heimat geworden, wohl jedoch für Yakupoglus Töchter. Damit verändert sich aber auch der Blick auf die Bundesrepublik. Während in den ersten beiden Filmen erzählt wird, wie Migranten an und in Deutschland leiden, zeigt Grabe in Abdulla Yakupoglu den Druck, den traditionelle Gemeinschaften ausüben (können). Dem gegenüber stehen die individuellen Glücksversprechen moderner Gesellschaften. Dies wird auch in Boi betont. Im Umkehrschluss wird damit aber auch deutlich, in welch privilegierter Situation wir in Deutschland leben. Das ist auch Thema in Dr. med. Alfred Jahn. Grabe will also die moderne Gesellschaft nicht idealisieren, wie man in der Gegenüberstellung von Abdulla Yakupoglu fälschlich vermuten könnte, sondern will uns bewusst machen, wie wir leben. Damit zeigt er, dass unsere Lebenschancen nicht selbstverständlich sind – „der Fremde“ öffnet uns den Blick dafür. 3.6  Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis 175 3.6 Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis Ja, ich meine, Dokumentarfilm sollte politisch sein (Grabe in Schadt 2002, S. 17). Er will Menschen vorstellen, die ‚im allgemeinen Fernseh-Programm unterrepräsentiert sind‘, Leute, die sich ‚zu ihren Problemen bekennen‘: Der TVDokumentarist und ZDF-Redakteur Hans-Dieter Grabe […] hat schon eine imponierende Reihe von Menschen-Bildern geliefert. […] Die ‚Faszination des dokumentarischen Helden‘, die Spannung, ‚einen Menschen sprechen zu sehen‘ – Grabes Dramaturgie verkneift sich ‚Bildteppiche‘ und üblichen TV-Schnickschnack: ‚Ein Mensch kommt ins Wohnzimmer des Zuschauers‘ (N. N. 1978, S. 255). Hans-Dieter Grabe ist Fernsehmacher. Ambitionen für das Kino, den großen Kinodokumentarfilm hegte er nie, da er davon ausgeht, dass seine Filme am besten im Fernsehen ihre Wirkung entfalten können: [D]as Kino [bietet] nicht den besten Rahmen für die doch sehr intimen Begegnungen zwischen dem Zuschauer und einem von sich erzählenden Menschen. Zu dieser Intimität passen weder der große Zuschauerraum, ganz gleich, ob gefüllt oder weitgehend leer, noch die große Leinwand, die Großaufnahmen eines sprechenden Gesichts – vor allem im Moment der inneren Bewegung – indiskret erscheinen läßt. Das Fernsehgerät im Wohnzimmer des Zuschauers ist prädestiniert dafür, Begegnungen und Vorgänge des Kennenlernens auf gleichsam privater Ebene und damit auf sehr intensive Weise zu ermöglichen. Der von sich erzählende Mensch kommt durch das Fernsehgerät zu Besuch und sitzt fast am Tisch oder im Sessel des Zuschauers. Und der Zuschauer hat Gelegenheit, ihm zuzuhören, ihn kennenzulernen, sich sein eigenes Bild von seinem Besucher zu machen und seine eigenen Gedanken über das, was dieser erzählt (Grabe 1988, S. 209). Grabe gehört damit zu den ganz wenigen Filmemachern, die (selbst-)bewusst für das Fernsehen arbeiten und immer wieder die Möglichkeiten des Dokumentarfilms im Fernsehen hervorheben:145 145„Grabe macht Fernsehen. Seine Filme sind weder bebildertes Hörspiel noch verhindertes Kino. Die eigentümliche Mischung aus der Intimität des Flimmerkastens und des distanzierten Blicks, den der kleine Bildschirm nahe legt, trifft sich mit jener intimen Gesprächssituation, die seine Interviews hervortreibt. Das überwältigende ProjektionsBild, die Aura des Dunkels des Kinosaals, die womöglich einen zerstreuten Blick provoziert, wäre wenig hilfreich“ (Reinecke 1990, S. 172). 176 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Ohne Fernsehen gäbe es den Dokumentarfilm, wie es ihn heute gibt, nicht mehr. Und zwar nicht nur, weil das Fernsehen Geld gibt. Auch weil das Fernsehen die gesellschaftliche Funktion von Dokumentarfilm unterstreicht. Wir können über das Fernsehen Leute erreichen. Und wir wollen Leute erreichen. Es genügt nicht, daß wir eine kleine Gemeinde haben, die uns applaudiert. Wir wollen Leute berühren mit unseren Filmen. Das können wir nur, wenn es Hunderttausend oder Zweihunderttausend sind oder eine Million oder mal Zehntausend (Grabe 2000, S. 32).146 Allerdings finden sich solche Äußerungen Grabes erst seit den 1980er Jahren.147 Als fest angestellter Dokumentarist beim ZDF hatte er zudem ganz andere Möglichkeiten, die Filme zu drehen, die er machen wollte.148 Grabes Filme sind zumeist persönliche, ausgesprochen intime Porträts – und dennoch sieht er sich als politischen Filmemacher. Ihm liegt daran, „darauf hinzuweisen, dass den Dokumentarfilm nicht nur die ‚echten Menschen‘ vor der Kamera ausmachen, sondern auch die gesellschaftliche Haltung“ (Grabe in Schadt 2002, S. 17).149 Dokumentarfilme sollen eine politische Aussage treffen, das ist aus 146Klaus Stanjek zählt in seiner Analyse der Zuschauervorlieben im Dokumentarkino (2006) Filme mit mehr als 50.000 Besuchern bereits als Hits. In der Hitliste, die Stanjek und Brunst (2006) zusammengetragen haben, kommen nur 55 Filme zwischen 1980 und 2006 (BRD zzgl. DDR resp. D) über diese Marke. Nur elf Filme kommen über eine halbe Million, fünf über eine Million Zuschauer (zum „Dokuboom im Kino“ siehe auch Stanjek und Londershausen 2007). Die von Grabe genannten Zuschauerzahlen machen aber auch deutlich, dass er gar nicht mehr erwartet, in der Prime Time zu laufen. Es ist ihm lieber, wenn er einen späteren Sendeplatz bekommt oder seine Filme auf 3sat und Arte gezeigt werden, als dass er Kompromisse in der Gestaltung machen müsste. Grabe denkt also „nicht an die wegzappenden Zuschauer, weil die die Gestaltung des Films zerstören oder in eine andere Richtung zwingen würden (Grabe in Frank 2005, S. 353). 147Zu Beginn seiner Karriere hat er Fernsehen durchaus als eine Beschränkung empfunden. 148Wobei auch Grabe immer wieder für seine Projekte kämpfen und Redakteure immer wieder neu von seiner Art des dokumentarischen Zugangs überzeugen musste (vgl. Grabe in Witzke 2006, S. 119). Er sieht die Verantwortung für schlechter werdende Produktionsbedingungen (weniger Dreh- und Schnitttage, geringeres Budget) nicht einseitig bei den Senderverantwortlichen. Oft hätten Kollegen gar nicht versucht, den größeren Zeit- und Geldaufwand gegenüber den Verantwortlichen zu begründen: „Sie haben es gar nicht gemacht. Vielleicht hatten sie sogar selbst Lust, eine Arbeit schnell zu beenden und dann nach Hause zu fahren oder den nächsten Film anzufangen“ (Grabe in Witzke 2006, S. 118). 149Er richtet sich hier explizit gegen die Dokumentarserien/Doku Soaps, in denen er eine solche Haltung vermisst. 3.6  Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis 177 seiner Sicht der wesentliche Unterschied zu Dokumentationen.150 Grabe ist aber kein missionarischer Eiferer, der seine persönliche Meinung zu bestimmten Themen durch bestimmte Methoden (etwa den Kommentar, eine ironisierende Strategie oder assoziative Montagen) in die Köpfe der Zuschauer „hämmern“ will. Seine Haltung wird durch Stoffwahl, Themenzuschnitt und die Auswahl der Protagonisten transportiert. Zu seinem Film Simon Wiesenthal oder Ich jagte Eichmann (1978) äußerte er ganz deutlich seine damit verbundene Absicht:151 Wenn es nun gelingen würde, Millionen von Fernseh-Zuschauern zu zeigen, daß Wiesenthal nicht so ist, wie seine Gegner ihn hinzustellen suchen, könnte man der Sache, die er vertritt, einen guten Dienst erweisen. Und da diese Sache mir persönlich sehr wichtig ist, machte ich also diesen Film über Simon Wiesenthal (Grabe und Vogel 1979, S. 54). Sein Film Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum lässt Ralf Bialla auf sich schießen? (1972) – oberflächlich betrachtet ein Artistenporträt – ist ein höchst politisch motivierter Dokumentarfilm: Keine dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versucht Grabe etwas über die Motivation von Varietébesuchern herauszufinden, die bereit sind, auf der Bühne auf den Artisten Ralf Bialla zu schießen – mit einer vermeintlich scharfen Waffe. Die Kugel verspricht Bialla mit den Zähen aufzufangen. Die Rechtfertigungen der Schützen sind entlarvend: Schüler: „Ob ich jetzt schieße, oder ein anderer, ist jetzt letzten Endes vollkommen egal.“ […] Bahnarbeiter: „Er gibt ja offen zu, dass er die Verantwortung allein trägt.“ […] Monteur: „Schießen macht mir eben Spaß.“ […] Metzger: „Ich hab’ mich einfach dazu gemeldet. Und wenn ich mich zu was melde, dann steh’ ich auch dazu. […] Der sagte eins, zwei drei, Feuer! – Dann habe ich geschossen.“ Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum lässt Ralf Bialla auf sich schießen? (Min. 10-41) 150„Mittlerweile [1978] hat er an die 30 ‚gesellschaftspolitische Dokumentationen‘ gedreht, über Randgruppen, Erniedrigte und Entrechtete. Sie sollen beim Publikum ‚die Toleranz ganz allmählich vergrößern‘ und auf ‚Parallelen im eigenen Leben‘ deuten […]“ (N. N. 1978, S. 255). 151Wiesenthal, der – mit Ausnahme seiner Frau – seine gesamte Familie im KZ verloren hat, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, untergetauchte Nazi-Verbrecher zu entlarven. Seine jahrzehntelange Arbeit wurde stets nur aus Spendengeldern finanziert. 178 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Am Ende des Films steht die Aussage eines Kochs, der „grundsätzlich“ nicht auf Menschen schießt – in diesem Fall macht er es doch. In der Filmografie Grabes folgt Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum lässt Ralf Bialla auf sich schießen? seinem ersten – und vielleicht eindrücklichsten – Film über die Shoah: Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland. Betrachtet man beide Filme im Zusammenhang, so ist Bialla nicht nur – wie Witzke hervorhebt – ein Film über Krieg und das Töten im Krieg, ein „versteckte[r] Antikriegsfilm“ (Witzke 2006, S. 95), sondern ebenfalls ein Film über die Bedingungen, unter denen Menschen zu Tätern werden – und somit auch über den Holocaust. Mit der sogenannten 68er-Generation begann in Deutschland die breite Aufarbeitung der Nazi-Zeit. Die Eltern dieser Generation mussten sich plötzlich für ihr Tun – oftmals auch ihr Nicht-Tun – rechtfertigen. Mitte/Ende der 1960er Jahre war der Generationskonflikt aufgrund der NS-Vergangenheit der Elterngeneration aufs höchste moralisch aufgeladen. Insbesondere für die ‚Bewegten‘ der jüngeren Generation gab es eigentlich nur zwei Seiten, wie man an der Gudrun Ensslin zugeschriebenen Äußerung nach dem Tod Benno Ohnesorgs erkennen kann: [I]hr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben – man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren (zit. nach Koenen 2003, S. 124). Grabe verfällt jedoch nicht in ein simplifizierendes Gut-Böse-Schema. Zwar zeigt er einige ältere Schützen, die im Zweiten Weltkrieg Soldaten waren, doch ebenso einen Schüler und einen Studenten, die ebenso skrupellos abdrücken, wenn sie nur ihre Verantwortung an jemand anderen übergeben können: „Er gibt ja offen zu, dass er die Verantwortung allein trägt“ (Min. 28). Damit macht Grabe unmissverständlich klar, dass Täterschaft keine Frage der Generationszugehörigkeit ist.152 Vielmehr impliziert er hier, dass sich solch menschenverachtende Verbrechen jederzeit wiederholen können – sogar unter wesentlich leichteren Lebensumständen.153 Die Mechanismen hinter diesen Taten sind dieselben – nicht von ungefähr erinnern die Rechtfertigungsversuche der jungen Schützen an 152Ein ehemaliger Jagdflieger mit Kriegserfahrung zögert sogar, gezielt auf einen Menschen zu schießen (macht es dann aber doch). 153Vgl. dazu auch die Studie Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden von Harald Welzer (2006). 3.6  Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis 179 Aussagen von NS-Verbrechern.154 Das macht die Brisanz des Filmes aus: Grabe hält der 68er Generation ganz subtil einen Spiegel vors Gesicht.155 Bialla ist quasi ein aus dem Labor in die soziale (und filmische) Wirklichkeit geholtes Milgram-Experiment – allerdings schlugen die Gehorsamkeitsuntersuchungen Stanley Milgrams erst „1974 wie eine Bombe ein“ (Bauman 1993, S. 69). Grabe zeigt bereits zwei Jahre vorher, dass unterschiedlichste Menschen bereit sind, einem anderen schwerste Gewalt anzutun, wenn sie die Verantwortung dafür – vermeintlich – abgeben können. Ähnlich war auch der Versuchsaufbau Milgrams: Dort gab es drei Rollen: den Versuchsleiter, den Lehrer (=Täter) und den Schüler (=Opfer). Vordergründig ging es um ein Experiment zur Auswirkung von Strafen auf das Lernen. Dafür wurde der Schüler an einen Stuhl geschnallt und mit Elektroden versehen. Der Lehrer bekam unter der Aufsicht des Versuchsleiters (!) die Aufgabe, dem Schüler Fragen zu stellen und falsche Antworten durch Stromschläge zu ahnden. Der Schüler war in das Experiment eingeweiht und spielte eine Rolle. Es werden keinerlei Stromschläge gegeben – nur wusste das die eigentliche Versuchsperson, der Lehrer, nicht. Er war im festen Glauben, dem Schüler bei jeder falschen Antwort zunehmend starke Elektroschocks zuzufügen. Die entsprechenden Schalter waren zusätzlich beschriftet mit einer Skala von „leichter Schock“ bis „bedrohlicher Schock“. Der Lehrer wusste also jederzeit um die Stärke des vermeintlichen Stromschlages, den er dem Schüler erteilt. Dessen Reaktionen nehmen zu je höher die zugefügten Schocks steigen. Die Proteste werden heftiger und stärker emotional gefärbt. Bei 285 V kann die Reaktion nur noch als qualvolles Schreien bezeichnet werden (Milgram 1993, S. 64).156 Ziel des Experiments war es, die Reaktion des Lehrers auf die Situation zu beobachten und herauszufinden, ob und ab welchem Punkt die Versuchspersonen den Gehorsam dem Versuchsleiter gegenüber verweigern: 154So z. B. in Eberhard Fechners Der Prozeß (1984) dokumentiert. Die Aussagen ähneln sich nahezu aufs Wort. Auch in diesem Film rechtfertigen sich die Täter damit, auf Befehl gehandelt zu haben und damit, dass es sonst andere gemacht hätten. – Eine erschreckende Parallele. 155Allerdings wiederum nicht so einseitig und fragwürdig, wie es in den aktuellen Veröffentlichungen zu den 68ern zu beobachten ist, in denen die Studentenbewegung mit der frühen Nazibewegung parallelisiert wird (z. B. Aly 2008). 156Der Lehrer konnte den Schüler dabei nicht sehen, sondern nur über Lautsprecher hören. Die Reaktion des Schülers wurde dabei per Tonband eingespielt. 180 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Für die Versuchsperson ist die gegebene Situation kein Spiel; ihr Konflikt ist heftig und deutlich erkennbar. Einerseits drängt die offenkundige Qual des Schülers sie dazu, die Sache aufzugeben. Andererseits befiehlt ihr der Versuchsleiter – also eine legitimierte Autorität, der er sich in gewisser Weise verpflichtet fühlt –, das Experiment fortzusetzen. Jedesmal wenn sie zögert, den Schockknopf zu drücken, befiehlt ihr der Versuchsleiter fortzufahren. […] Viele gehorchen dem Versuchsleiter, gleichgültig, wie heftig das Opfer unter Schock auch fleht, gleichgültig, wie schmerzhaft die Schocks zu sein scheinen, gleichgültig, wie sehr es darum bittet, erlöst zu werden (Milgram 1993, S. 64 f.). Unmenschlichkeit ist nicht unbedingt Folge einer sadistischen Persönlichkeit, sondern kann auch in der gewissenhaften Pflichterfüllung gründen (vgl. Milgram 1993, S. 65; Bauman 1993, S. 71):157 „Auf einen Nenner gebracht, lautet die von Milgram nachgewiesene These, daß Unmenschlichkeit eine Frage der sozialen Beziehung ist“ (Bauman 1993, S. 70; Herv. i. Orig.).158 – Die Parallelen zu den Schützen in Grabes Film über Ralf Bialla sind offenkundig. Auch sie treten die Verantwortung für ihr Tun ab, sind bereit, auf einen Menschen zu schießen, weil ein Varietékünstler (!) ihnen versichert, er trage die Verantwortung. Konnte man bei Milgrams Experimenten noch unterstellen, dass die Versuchspersonen neben dem Versuchsleiter einer höheren Autorität – der Wissenschaft – gehorchten, so entfällt dieses Argument in der Konstellation, die Grabe zeigt.159 Hier bringt ein abgehalfterter Artist ‚normale‘ Männer dazu, mit einer tödlichen Waffe auf ihn zu 157Milgram sieht damit auch Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen bestätigt. 158Auch Wolfgang Sofsky zeigt in seiner Studie über Die Ordnung des Terrors (1993) auf, dass Grausamkeiten im KZ nicht (nur) auf Befehl erfolgten, sondern auch in vorauseilendem Gehorsam oder aus anderen sozialpsychologischen Gründen. 159Gilles Amado und Alain-Michel Blanc haben das Milgram-Experiment in Frankreich als fiktive Game-Show reinszeniert. In ihrer Dokumentation Le jeu de la mort/Das Todesspiel (F 2010) zeigen sie, dass Fernseh-Moderatoren – oder allgemein das Fernsehen – offenkundig die Rolle eine Autorität einnehmen können, die erfolgreich Gehorsamkeit seitens der „Spielteilnehmer“ einfordern können: Die überwiegende Mehrheit der Kandidaten war im Rahmen einer vermeintlichen Fernsehshow dazu bereit, tödliche Stromstöße zu verabreichen. 3.6  Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis 181 schießen. Man fragt sich, ob einen Milgrams Experiment mehr erschreckt – oder Grabes Film.160 Entgegen Befehlsstrukturen z. B. beim Militär verfügen weder der Versuchsleiter bei Milgram noch Ralf Bialla über irgendwelche Machtmittel, um ihre Anordnung durchzusetzen. Die Versuchspersonen könnten sich jederzeit dazu entscheiden, den Schalter/den Abzug nicht zu betätigen.161 Für Bauman ist das auch ein Grund, weswegen Milgram so heftig angefeindet wurde: Weil er deutlich machte, dass die „furchtbarste Erkenntnis aus dem Holocaust und dem, was man über die Vollstrecker erfuhr, […] nicht [war], daß ‚so etwas‘ auch uns widerfahren könne, sondern, daß jeder von uns es tun könnte“ (Bauman 1993, S. 69; Herv. CH). Und das zeigt Hans-Dieter Grabe anschaulich bereits zwei Jahre vor Veröffentlichung des Milgram-Experiments. In der Fernsehkritik wurden teilweise ähnliche Schlüsse gezogen. Rainer Fabian betont in der Welt vom 30. Mai 1972:162 160Milgram zeigt in seinem Experiment, dass Gehorsamkeit gegenüber einer Autorität dazu führen kann, dass sich Probanden über eigene moralische Maßstäbe hinwegsetzen. Anders gesagt: Gehorsamkeit ist in vielen Fällen eine stärkere Motivation für das Handeln als ein moralischer Imperativ: „Die Versuchspersonen setzten Handlungen, von denen ihnen bewußt war, daß sie grausam waren, aus einem einzigen Grund fort, weil eine Autorität, an die sie alle Verantwortung übertragen hatten, es forderte“ (Bauman 1993, S. 74). Ebenso rechtfertigen sich die Schützen. Grabe setzt deren Äußerungen – so wie auch Milgram – in einen Kontext vom Töten im Krieg. Milgram betont zudem den Bezug zur Genozidforschung: „Ganz gewöhnliche Menschen, die nur schlicht ihre Aufgabe erfüllen und keinerlei persönliche Feindseligkeiten empfinden, können zu Handlungen in einem grausigen Vernichtungsprozeß veranlaßt werden. Schlimmer noch: selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handels vor Augen geführt und klar bewußt gemacht werden und wenn man ihnen dann sagt, sie sollen Handlungen ausführen, die in krassem Widerspruch stehen zu ihren moralischen Grundüberzeugungen, so verfügen doch nur vereinzelte Menschen über genügende Standfestigkeit, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzten“ (Milgram 1993, S. 65). 161Welzer betont, dass dieser Aspekt in der Diskussion weitestgehend unberücksichtigt blieb (2006, S. 109). Aber gerade das ist ein entscheidender Aspekt der Ergebnisse: Es geht nicht (nur) um blinden Gehorsam gegenüber einer Autorität, sondern (auch) um ein SichEntscheiden, diese Autorität anzuerkennen und ihr zu gehorchen (auch wenn eine solche Entscheidung oftmals unbewusst getroffen wird). 162Ebenso wie Milgram, wurde auch Grabe wegen seiner Methode angegriffen: Die Schützen wären keinesfalls repräsentativ für die bundesdeutsche Gesellschaft (vgl. Mg 1972), die Fragen seien überpointiert und letztendlich unangemessen (vgl. -ner 1972) und es fehle die tiefenpsychologische Interpretation (vgl. Momos 1972). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach daher nur von einer „gutgemeinten, aber dilettantischen Sendung“ (C. M. 1972). 182 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Das ist die Banalität des Grauens. […] Mein tödliches Erschrecken beruht auf der Banalität dieser Aussagen [der Schützen; CH]. Hier fallen alle Verbrämungen. […] die Metzger und Monteure, Ärzte und Barbesitzer, Köche und Kellner, die auf ihn schießen, sind durch nichts motiviert. Sie schießen: einfach so […]. Ralf Bialla brachte es an den Tag. Und wir haben Gründe, uns zu fürchten (Fabian 1972). Wolfgang Paul zieht im Tagesspiegel (30. Mai 1972) eine weitere Parallele: „Man konnte die Gesichter der Schützen beim Schuß beobachten, unbewegte, eiskalte Gesichter – Gesichter für Hinrichtungskommandos“ (Paul 1972).163 In keiner der Kritiken wird jedoch erkannt, dass Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum läßt Ralf Bialla auf sich schießen? Aspekte von Gehorsam und dem Abgeben von Verantwortung reflektiert. Sie heben darauf ab, dass ‚gewöhnliche‘ Männer jederzeit in der Lage sind, auf einen Menschen zu schießen, hinterfragen aber nicht, wie die soziale Situation beschaffen sein muss. Im Zusammenspiel mit Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland hat Grabe hier eine Art Opfer-Täter-Doppelporträt gezeichnet.164 Und dennoch ist der Film auch ein Porträt von Ralf Bialla. Der Film ist zwar nicht so auf diesen Protagonisten konzentriert wie Mendel Schainfeld, doch auch hier benutzt Grabe eine Person, um ein größeres Thema – Täterschaft – zu behandeln. Andere Filme sind – anders als Ralf Bialla – vordergründig politisch; so z. B. Hiroshima, Nagasaki. Atombombenopfer sagen aus. In diesem Film stellt Grabe die beiden Atombombenabwürfe explizit als Feldexperimente, quasi als Menschenversuche dar. Bewusst seien zwei Städte ausgewählt worden, die bislang nicht zerstört waren, um den ‚Effekt‘ der Bomben beurteilen zu können. In der Regel ist der politische Anspruch Grabes jedoch eher implizit: „[I]ch möchte gerne jemand sein, der in bestimmten Zeiten Partei für die Gegenseite ergreift, für die, die gerade nicht zu Wort kommen“ (Grabe in Witzke 2006, S. 138). Grabes politischer Anspruch wird also in der Themen- und Protagonistenwahl deutlich und nicht in der permanenten Thematisierung des eigenen Standpunktes. 163Das trifft nicht auf alle der gezeigten Schützen zu. Einige sind sichtlich nervös und müssen erst durch Bialla „zum Schuss“ gebracht werden. Gerade das zeigt, wie stark hier Gehorsamkeit eine Rolle spielt. 164Immer wieder wird mit Blick auf Dokumentationen über die RAF bemängelt, dass vor allem die Täter, nicht aber die Opfer im Mittelpunkt solcher Produktionen stehen (vgl. Hißnauer 2010b). Das Interesse von Filmemachern an Tätern scheint größer zu sein, als an den Opfern. Aber das gilt vielleicht auch für die Zuschauer: Während bei der Erstausstrahlung von Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland ca. 690.000 Geräte eingeschaltet waren, waren es bei der Erstausstrahlung von Wer schießt auf Ralf Bialla – Warum lässt Ralf Bialla auf sich schießen? ca. 4.690.000 – also vier Millionen mehr (vgl. Frank 2005, S. 379 f.). 3.6  Hans-Dieter Grabes Selbstverständnis 183 Grabe will keine Einsichten präsentieren, sondern Erkenntnisprozesse anregen. Dies macht er mit Bezug auf das Konzept zu seiner Reihe Lebenserfahrungen (Vorschlag Juni 1979) deutlich: Damals beschrieb ich das Vorhaben als ‚Dokumentarfilmreihe über Menschen, deren Lebenserfahrungen […] so beschaffen sind und so dargeboten werden sollten, daß sie den Zuschauer zum Mitdenken, zum Beziehen eines Standpunktes, zu Selbsterkenntnis, Verständnis und Toleranz, aber auch in dem einen oder anderen Fall zu kritischen Distanz anregen‘. Nicht anders würde ich es heute ausdrücken. Die Beschränkung des Zuschauers auf die Rolle des passiven Konsumenten, der alles durch den Text oder den Moderator erklärt, interpretiert und kommentiert bekommt, ist ein Grundübel des größten Teils dokumentarischer Fernseharbeit geblieben (Grabe 1992, S. 195). Mit diesem Selbstverständnis stellt sich Grabe implizit in die Tradition der Zweiten Hamburger Schule (siehe dazu Hißnauer und Schmidt 2013). Er weist dem Zuschauer eine aktive Rolle zu. Auch Eberhard Fechner betont diese Eigenleistung des Rezipienten: „Ich stelle die Dinge dar. Aber ich liefere nicht die Gebrauchsanweisung noch mit dazu“ (Fechner in Netenjakob 1989, S. 103). Der Interviewdokumentarismus entstand in einer spezifischen zeitgeschichtlichen Situation: Im Zuge der Studentenbewegung kam es zu verschiedenen Emanzipationsbewegungen, in denen es um die individuelle Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ging. Dies wirkte sich auch entscheidend auf den (Fernseh-) Dokumentarismus aus: Unter dem Einfluß der Studenten- und Alternativbewegung entwickelten sich mit der Kritik an der Meinungsmanipulation durch die Massenmedien auch im Dokumentarfilm unterschiedliche Formen des anwaltschaftlichen B­ etroffenenjournalismus, der für Minderheiten und benachteiligte Bevölkerungsgruppen Partei ergriff (Zimmermann 1992, S. 160).165 165Zimmermann sieht hier als innovative Formen vor allem das direct cinema, cinéma vérité und den Interviewdokumentarismus, in dem Betroffene selbst zu Wort kommen. Thematisch ist die politische Innovation in der Behandlung von Arbeits- und Alltagsproblemen zu sehen und in dem Gestus des Betroffenheitsjournalismus (vgl. Zimmermann 1991, S. 37). Diese Formen wurden zunächst von der APO und anderen Alternativbewegungen, den neuen Filmhochschule in Berlin, München und Ulm sowie von den Kurzfilmfestivals in Oberhausen und Duisburg favorisiert und in enger Kooperation mit dem Fernsehen weiterentwickelt (z. B. durch Wildenhahn und Fechner). Das Massenmedium Fernsehen nahm diesen Ansätzen jedoch weitestgehend die politische Dimension: „Übernommen wurde nicht die auf weitreichende gesellschaftliche Veränderung zielende politische Intention vieler dieser Filme, sondern deren filmische und reformerische Innovation“ (Zimmermann 1992, S. 160; ähnlich auch Zimmermann 1991, S. 37). Trotzdem gewinnt der Fernsehdokumentarismus auch an kritischem Potenzial. 184 3  „Statt des Vielen das ganz Wenige“: Hans-Dieter Grabe Dies zeigt sich auch im Fernsehspiel/-film: Nach ersten Ansätzen in den 1960er Jahren unter Egon Monk bei NDR166 war es vor allem der WDR, der dem sogenannten Arbeiterfilm zu einer kurzen Blütezeit verhalf (vgl. Collins und Porter 1980, S. 174 f.). Die Arbeiten Grabes sind jedoch weit von diesem „anwaltschaftlichen Betroffenheitsjournalismus“ entfernt. Zur selben Zeit gab es auch einen Paradigmenwechsel in der Mediennutzungsund -wirkungsforschung.167 Dieser Wechsel macht sich an den Stichworten starke Medien/passiver Rezipient vs. schwache Medien/aktiver Rezipient fest. Im Vordergrund des Interesses stand nicht mehr die Frage nach den Auswirkungen der Medien auf den Rezipienten („Was machen die Medien mit dem Menschen?“), sondern die Frage nach der bewussten Nutzung von Medieninhalten zu Befriedigung individueller Bedürfnisse („Was machen die Menschen mit den Medien?“). Damit hat sich aber auch das Menschenbild in der Medien- und Kommunikationsforschung verändert. Dies war eine Abkehr von einem „passiven Konsumenten“, wie ihn Grabe als (implizit gedachten) Zuschauer für den Erklärdokumentarismus sieht. Der aktive Rezipient ist selbstbewusst (vgl. Bonfadelli 2004, S. 168). Medienn­ utzung wird als bewusstes Entscheidungshandeln konzipiert (vor allem im Uses & Gratifikations Approach) und auch die Informationsverarbeitung – also die Medienwirkung – wird als ein aktiver Prozess im Rezipienten verstanden, der von psychologischen und sozialen Variablen abhängig ist. Dieser Paradigmenwechsel wurde auch in der Medienpraxis nachvollzogen: Glaubte man im Fernsehdokumentarismus der 1950er und frühen 1960er Jahre, dem Rezipienten die Welt erklären zu müssen, so setzen Autoren wie Wildenhahn, Fechner oder Grabe auf die gedankliche Eigenleistung des Rezipienten.168 Ihre jeweils spezifische dokumentarische Methode und filmische Form 168Das heißt natürlich nicht, dass es von da an keine Beispiele mehr in der Tradition des Erklärdokumentarismus gibt. Auch heute gibt es viele Produktionen, in denen ein dominanter Kommentar verwendet wird oder hilfsweise ein Expertenstatement/-interview verwendet wird. Gerade im Bereich von Geschichts-, Wissenschafts-, Reise- oder politischen Dokumentationen ist das ein übliches Vorgehen. Der Charakter solcher Filme erklärt sich im Wesentlichen aus ihrem Thema resp. ihres Themenzuschnitts. Geschichtliche Zusammenhänge oder wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich z. B. oftmals nicht oder nur schwer im Bild zeigen. Ein Film über die politische Situation im Irak wird viele Informationen im Kommentar vermitteln müssen. Eine Dokumentation über die Situation der Frauen im Irak – z. B. runtergebrochen auf das einzelne Beispiel – kann hingegen andere Zugänge finden (direct cinema, Interviewdokumentarismus etc.) – muss es aber nicht zwingend. 166Zur sogenannten Hamburgischen Dramaturgie siehe Schumacher und Stuhlmann 2017. 167Der Paradigmenwechsel ist herrschende Lehrmeinung, auch wenn mittlerweile kritisch diskutiert wird, ob es sich dabei um einen echten Perspektivenwechsel handelt (vgl. Schweiger 2007, S. 60 f.).