Stavros Arabatzis Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie Archäologie der Medien und ihr neuer Gebrauch Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie Stavros Arabatzis Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie Archäologie der Medien und ihr neuer Gebrauch Stavros Arabatzis Köln, Deutschland ISBN 978-3-658-15878-1 ISBN 978-3-658-15879-8  (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-15879-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. 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Lektorat: Barbara Emig-Roller Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Der Imperativ der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Die imperative Sprache der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Medien total . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3 Unbegreifliches Medienintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Unterm Befehl stehende Medienmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.5 Archäologie und neuer Gebrauch des Mediums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine . . . . . . . . 31 2.7 Zwei antagonistische, moderne und unmoderne Imperative . . . . . . . . 41 3 Medientheoretische, medienwissenschaftliche und medienphilosophische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1 Neue Medientheorien und ihre archäologische Erbschaft . . . . . . . . . . 47 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.3 Medien-Wissenschaft (Leschke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.4 Medien-Kultur (Debray) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.5 Medien-Theologie (Agamben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.7 Medien-Mythologie (McLuhan, Flusser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.8 Medien-Ontologie (Baudrillard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.9 Virilio (Medien-Eschatologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.10 Medien-Netzwerkmythologien (Engel, Siegert, Hartmann) . . . . . . . 122 3.11 Medien-Technomythologie (Kittler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 V VI  4 Zur Genealogie der Medien: Von den magisch-mythischen und kultischen zu den profanen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1 Medialität zwischen Natur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.2 Naturphilosophische und mathematische Medien . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.3 Krise der mythischen und Aufgang der philosophischen Medien . . 167 4.4 Frühaufklärerische und philosophische Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.5 Das theologische Medium in seiner modernen Fassung . . . . . . . . . . . 193 4.6 Philosophische und theologische Medien in der einen monarchischen Medienmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4.7 Die romantische Gefühlsmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5 Der neue Gebrauch der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.1 Instrumentelles Handeln und kommunikative Interaktion . . . . . . . . 213 5.2 Rhizomatische Netzkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.3 Medienpädagogik: Widerstand, „kritische Aufhebung“ und neuer Gebrauch des Mediums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Einleitung 1 Einleitung 1 1 Einleitung Medien arbeiten nicht nur damit, was sie immer schon voraussetzen müssen, vielmehr bleibt ihnen ihre Voraussetzung weitgehend archäologisch verschlossen. Alle modernen Einzelmedien weisen daher in ihrer Ausdifferenzierung auf ihre eigene Archäologie zurück, die aber im alltäglichen Gebrauch weitgehend verdeckt bleibt. Vom Wortsinn her sind freilich alle Medien verstehbar als Vermittlung. Und diese ist vor allem eine philosophische Grundkategorie, die als vermittelndes Dazwischen – etwas was in der Mitte agiert – kaum je einer adäquaten, nämlich archäologischen Analyse unterzogen wurde. Eine archäologische Schicht in den Medien selbst (ökonomische, technische, begriffliche, praktische, körperliche, ästhetische, politische, sprachliche etc.), an die zuletzt nicht einmal Denken, Begriff, Symbolisches, Performativität, Praxis, Theorie oder die Künste heranreichen. Und zwar deswegen, weil im „Geschehen“, in der „Praxis“, im unentwirrbaren Geflecht der Medien eine alte imperative Macht und Herrschaft (archē) waltet. Insofern hat auch die neue medienphilosphische Reflexion – „mit ihr beginnt die philosophische Reflexion, beginnt Medienphilosophie“ (Mersch) – den Kern der Medien wieder verschüttet, bevor ihre archäologische Frage erst überhaupt formuliert werden konnte. In dieser Studie geht es daher nicht bloß um die Relationen der einzelnen Medien, wie sie in dieser oder jener Form historisch erscheinen oder agieren (als Schrift, Sprache, Bild, Ton, Wort, Ware, Computer, Netzwerk, analog oder digital etc.). Sondern um das Medium (Einzahl) und die Medien (Plural) überhaupt, und zwar um die Probleme der Relation, ihres Dazwischen. Dieses mediale Dazwischen gehört nämlich zu den schwierigsten Problemen, mit denen sich jede Medienreflexion (ob Medientheorie, Medienwissenschaft, Kommunikationstheorie oder Medienphilosophie) auseinandersetzen muss, will sie ihren Namen auch gerecht werden. Ein Ort des medialen Dazwischen, der das ganze Gewicht der Medien oder des Mediums trägt (und zwar sowohl als Relation des Werdens, wie als ontologische Substanz des indikativen Seins und imperativen Sollens), um darin mit der ganzen wechselvollen Geschichte der Medien zugleich auf ihre alte archē (als Beginn und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 1 S. Arabatzis, Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie, DOI 10.1007/978-3-658-15879-8_1 2 1 Einleitung Herrschaft) zurückzuweisen. Eine Medienmacht, die darin immer zugleich als Herrlichkeit (doxa) sich inszeniert, während umgekehrt in der Medienherrlichkeit jene Medienmacht (als ökonomische, technische, kommunikative, poietische, juristische oder politische) in ihrer Monarchie und Polyarchie sich versteckt.1 Insofern gibt es in der Medienmaschine keine Narrative, keine kleine oder große Erzählungen, die als eine oder viele Geschichten zu erzählen wären (‚Es war einmal‘ oder ‚ist‘ oder ‚wird einmal sein‘), vielmehr nur den Imperativ: ‚Erzähle!‘. Dieses Buch will daher den Versuch unternehmen, die weit zerstreute Landschaft der Medien und ihre Reflexion in einer Gesamtübersicht ein wenig einzuordnen. Dabei ist der Gegenstand nicht nur das „Medium“ (plural Medien) in seiner Aktion, sondern ebenso die Wissenschaften, Theorien und Philosophien, die diesen alten und neuen „Gegenstand“ zu erfassen und zu reflektieren versuchen: die Sprachund Kommunikationswissenschaften, Medientheorien, Medienwissenschaften, Mediologien, Medienmythologien, Medienphilosophien oder Medientheologien. Das Buch sucht also nach einem gemeinsamen Gravitationsfeld, das all diese neuen Medienreflexionen umkreisen, ohne dabei den Blick fürs Detail zu vernachlässigen. Denn Detail und Ganzes hängen in der mediatisierten Sache auch zusammen. Es ist jedenfalls keineswegs so, dass das Ganze, von einem „übermenschlichen“ Ort aus gesehen, als ein bloßer undifferenzierter Zusammenhang erscheint, während umgekehrt der Detailversessene hier besser sieht. Vielmehr bilden Detail und Ganzes, Besonderes und Allgemeines im medialen Netz ein zusammenhängendes Gewebe, das weit in die Geschichte zurückreicht. Alle Medien führen uns somit in ihrer modernen Praxis auf ihre archäologische Schicht zurück, so dass erst ihre Archäologie den Weg zur Zukunft hin wieder eröffnet. Damit hat sich die Genese der Medien – vormals noch das transzendente Medium der Götter oder Gottes – nicht in grauer Vorzeit ein für allemal vollzogen; sie ist vielmehr ein Medienereignis, das unablässig geschieht, wächst, zirkuliert, transformiert und zunehmend beschleunigt. Denn Medien (physisch-unmittel- 1 In seinem Buch Herrschaft und Herrlichkeit hat Agamben versucht, Medien vor allem auf den zweiten Aspekt der Herrlichkeit zu beschränkten (Agamben 2010). In der westlichen Welt, so heißt es dort, hat die Macht die Form der Ökonomie angenommen, während sie der Herrlichkeit (doxa), d. h. eines medialen, liturgisch-zeremoniellen Aufwands bedarf. Medien bilden danach den zeremoniellen Aspekt der Macht und sind vornehmlich der Ort einer Machtinszenierung. In diesem Buch wird hingegen gezeigt, dass Medien nicht nur beide Aspekte (Medienmacht und Medienherrlichkeit; das ökonomische und doxologische Medium als Verschränkung der beiden Momente) umfassen, sondern als mediales „Geschehen“ und kreative Praxis (Subjektivierungsprozess) zugleich eine komplementäre, monarchische und polyarchische Struktur aufweisen. Zu Agamben siehe weiter unten Medien-Theologie. 1 Einleitung 3 bar-analoge wie technisch-vermittelt-digitale) wirken nicht einfach aus sich selbst heraus, um in ihrer unruhigen Dynamik (Dialektik, Werden, Prozess) in reiner medialer Unmittelbarkeit statisch wieder in sich zu verharren. Um eine rein aus ihnen selbst, aus ihrer Bewegung gewonnenen Aktualität braucht, um der Selbsterkenntnis der Medien willen, wenigstens den genealogischen Seitenblick auf das, was sie einmal in ihrem Ursprung (archē) waren, was sie dann in ihrem historischen Werden und Gewordensein scheinbar nicht mehr sind oder noch nicht sind – sei es in der Vielheit der Kulturen oder in der Einheit der globalisierten Kultur. Insofern möchte diese Studie das in Erinnerung rufen, was im Gebrauch der Medien, in ihrem „Geschehen“, in der „Praxis“ und „Theorie der Medien“ alltäglich vergessen bleibt. Eine mediale Sphäre, die sich heute (in der informatischen Welt) im Dazwischen verabsolutiert, darin aber auch ihren eigenen Todeskampf zelebriert; die bürgerlichen Medien, die vormals noch diskursiv, argumentativ und vernünftig gefeiert wurden, versinken heute in blinder Irrationalität (Hass, Wut, Zorn, Neid, Affekt, Aggression), womit sie wieder auf ihre alte archē zurückweisen. Damit wollen wir zeigen – so eine These dieser Arbeit –, dass der neue informatische, interaktiv-vernetzte Mensch nicht nur frei und kreativ-schöpferisch tätig ist. Sondern gerade darin auch im Dienst der neuen, systemischen, strukturellen, anonymen und psychopolitischen Mächte steht. Gewiss, im medialen Prozess gibt es kein Meta-Medium und auch keinen Webmaster, sondern nur das Netzwerk, den web, das Gewebe, die Knotenpunkte, die Schnittstellen, die faltigen, uferlosen Medien im Fluss des globalisierten Datenverkehrs, einer vermittelten und unmittelbaren Netzkultur; die progressiven Energien der vermittelten, objektiven Medien und die unmittelbaren, subjektiven Medien des sozialen Gesamtakteurs (wobei es hier unwesentlich ist, ob Medien in der Form einer physisch anwesenden Menschenmenge oder in den informatisch-technologischen Verfahren des weltweit agierenden Gesamtakteurs zum Ausdruck kommen). Aber auch wenn es hier keinen Weber, keine drinnenwohnende Spinne (materialistisch) und keinen darüber schwebenden Geist (idealistisch) mehr gibt, der im durchsichtigen Element irgendeines absoluten Wissens oder einer emanzipatorischen Praxis den ganzen Medienprozess sichten oder benoten könnte. So ist doch dieses Geschehen, diese Praxis der Medien (die Aktion von Theorie und die Aktion von Praxis) keineswegs so unschuldig und autopoietisch wie sie vielleicht modernistisch meint. Vielmehr hat sich im modernen Wirken, in der Wirkung der Medien ein Sein (das Werden als Sein) eingenistet, das darin ebenso von einer alten imperativen Macht und Herrschaft zeugt, womit das Medium als Heilmittel wieder zum Gift sich verwandelte – daher war einmal das Medium, in der philosophischen Apotheke Platons, 3 4 1 Einleitung das Mittel2 (pharmakon) einer priesterlich-ärzlichen Kunst, das Gift aber auch Heilmittel heißen konnte. Es sind die alten imperativen Mächte, die gerade in der neuesten, schöpferischen Kreativität des globalen und nationalen Gesamtakteurs die grenzenlose Vernichtung des Selbst und der Welt befehlen, aber in dieser Freiheit und Kreativität der Medien auch verdeckt bleiben. Wir haben es hier also auch mit einer umgekehrten „Ökonomie der Medien“ zu tun, so dass das Werk des mediatisierten Massensubjekts immer zugleich das Werk seines eigenen Werks ist – und das freilich als solches unbewusst bleibt. Dennoch: Mit ihren progressiven, instrumentell-poietischen Medien sieht sich die Menschheit nicht nur einer lähmenden Zukunft entgegen, die ihr außer Entleerung, Absonderung, Vernichtung, Verzweiflung, Verschuldung und Verweigerung des Gebrauchs nichts mehr zu bieten hat. Vielmehr kann sie auch auf die Totalität ihrer vergangenen Mediengeschichte zurückblicken, was ihr dann auch die Möglichkeit eröffnet, von den alten Medien, nach ihrer „Entgiftung“, einen neuen Gebrauch zu machen. Damit erstmals das zu leben, was in der abgesonderten Sphäre ihrer Medien (analoge oder digitale) ungelebt bleibt. Sofern wir hier also die alten und neuen Medien in den Blick nehmen, erschließen wir immer auch ihre eigene museal-abgestorbene Vergangenheit, damit freilich auch das Museum im Menschen selbst; die eine Welt, wie sie sich draußen oder im Innern des Menschen ausstellt, präsentiert und zugleich konsumiert wird. Deswegen sind wir hier zutiefst davon überzeugt, dass nur eine Archäologie der Medien uns wieder den Zugang zu den alten und neuen Medien ermöglicht. Solch eine Archäologie der Medien ist dann immer zugleich eine politische Praxis als Zukunftsforschung. Eine, die allerdings nicht mehr im Dienst der globalen oder nationalen Medienimperative steht, sondern die Resistenz in diesen Medienimperativen selbst meint. Erst durch ihre archäologische Vergegenwärtigung in ihrem täglichen Gebrauch werden sie nämlich in ihrem alten Gebrauch (die Unmöglichkeit ihres Gebrauchs) dekonta- 2 Freilich bleibt dieses Mittel noch problematisch und rätselhaft genug. So schreibt Derrida in der Interpretation des pharmakon in Platons Phaidros: „daß man in der Pharmazie nicht das Heilmittel vom Gift, das Gute vom Schlechten, das Wahre vom Falschen, das Drinnen vom Draußen, das Vitale vom Mortalen, das Erste vom Zweiten etc. unterscheiden kann“ (Derrida 1995). In dieser Indifferenz, wo das pharmakon keine Identität mehr aufweist, wird aber das Medium (Mittel) wieder giftig, weil der Ort seines Dazwischen kryptoontologisch-vampiristisch entleert wird – in Wirklichkeit eine Funktion des objektiven Desubjektivierungsprozesses. Denn die Urspur (différance) des Mediums ist ebenso in der profanen Spur des Mediums eingeschrieben und bildet darin eine komplementäre Identität: des monarchischen (ontisch-ontologischen, ökonomisch-theologischen) und polyarchischen (mythischen) Dispositivs. Deswegen ist Derridas Dekonstruktion nicht anarchisch, sondern immer noch archisch konstruiert. Sein Imperativ lautet: ‚Interpretiert!‘, ‚Dekonstruiert!‘. 1 Einleitung 5 miniert, um so für einen neuen Gebrauch heilsam und nützlich zu werden. In den Medien findet also ein nicht abgeschlossener Prozess statt, in dem sich entscheidet, ob der Mensch menschlich wird oder nicht menschlich bleibt beziehungsweise auf erhöhter historischer Stufenleiter der Globalisierung wieder wird. Diesen universellen Übergriff des Mediums im hyperrealen Hier- und Überallsein zu entfalten, darin zugleich eine archäologische Absicherung der Medien zu leisten, sie in ihrer Verabsolutierung (die historisch-gesellschaftliche Epochentotalität als Sein, Ist und Werden) als Funktion eines menschlich-göttlichen Imperativs (Sollen) zu begreifen, schließlich diese imperative Medienmaschine zu deaktivieren und die dekontaminierte Medien auf ein Anderes, Neues und Gemeinsames umzulenken, ist dann die Absicht dieser Studie. Literatur Agamben 2010: Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, dt. Berlin 2010. Derrida 1995: Jacques Derrida, Dissemination, dt. Wien 1995. 5 Der Imperativ der Medien 2 Der Imperativ der Medien 2 2 Die imperative Sprache der Medien 2 Die imperative Sprache der Medien Welche „Sprache“ sprechen heute eigentlich die Medien? Auf diese Frage können verschiedene Antworten gegeben werden, die aber alle um mindestens zwei Gra- vitationsfelder kreisen. Jedenfalls hat man heute den Eindruck, dass in der Spra- che weder die begründende Rede (logos), noch die gemächlich erzählende Rede (mythos), sondern ein ontologischer Imperativ waltet, der alle Sprache konfisziert. Ein Imperativ, der in seinen absolutistischen Wahrheitsansprüchen die Räume des Anderen, Andersdenkenden und -handelnden immer mehr einengt und abdichtet, so dass die imperative Befehls-Sprache3 (die auf ein Wahrheits-, Meinungs- und Herrschaftsmonopol vereidigt ist) sich in sich selber abschließt und dann keine Argumentation mehr zulässt. Diese Inbeschlagnahme der Sprache kann man heute an der imperativen Sprache (an der archaischen Regression; blinder Hass, Wut, Zorn, Rache, Feindseligkeit etc.) medial beobachten. Ein neuer Tonfall herrscht also in Europa, USA und weltweit. 3 Ich verstehe hier Sprache im Sinne eines kollektiven Gefüges und eines pragmatischen Gebrauchs. Eine semiotisch-pragmatische, logisch-rationale und poetisch-ästhetische Maschine, die alle Medien (Wort, Schrift, Bild, Ton, Ding, Körper etc.) in ihrer Aktion miteinander verwebt: „Solange die Linguistik sich an phonologische oder syntaktische Konstanten hält, bezieht sie die Aussage auf einen Signifikanten und die Äußerung auf ein Subjekt; daher verfehlt sie das Gefüge, sie führt die Umstände auf ein Außen zurück, betrachtet die Sprache als in sich geschlossen und macht aus der Pragmatik einen Rest.“ „Eine Lehrerin, die einen Schüler abfragt, informiert sich nicht; ebensowenig informiert sie sich, wenn sie eine Grammatik- oder Rechen-Regel lehrt. Sie ‚unterweist‘, sie gibt Anordnungen, sie kommandiert. (…) Spengler notiert, daß die Grundformen des Sprechens weder die Aussage eines Urteils noch der Ausdruck eines Gefühls sind, ‚sondern der Befehl, der Ausdruck des Gehorsams, die Feststellung, die Frage, die Bejahung, die Verneinung‘, also kurze Sätze, die das Leben bestimmen (…). Sprache ist nicht das Leben, sie gibt dem Leben Befehle“. (Deleuze 2005, S. 116 und 106 f.). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 7 S. Arabatzis, Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie, DOI 10.1007/978-3-658-15879-8_2 8 2 Der Imperativ der Medien Überall hallt es wieder von Losungen und Aufrufen, deren geistige Schlichtheit sich mit dem emotionalisierten Auftreten der Anhänger des globalkapitalistischen und nationalistischen Kultus verbindet und dabei nicht mehr an modernen Parteikämpfen, an Argumenten, Analysen, Vernunft und Aufklärung, sondern an atavistischen Religions-, Stammes- und Nationalkriegen erinnert. Verletzter Stolz, gekränkte Eitelkeit, Hass, Rache, Ressentiments und Zorn kehren nach langer Pause auf die Bühne der Geschichte zurück. Sie zeigen, dass es mit Aufklärung, Rationalität, Zivilisation, Wissenschaft und Humanismus nicht weit her ist. Wir haben es hier vielmehr mit einer affektgeleiteten und rachsüchtigen Enthemmungsmaschine zu tun, die Wissen (epistemé) in der Meinung (doxa) beschlagnahmt und so alle begründende Rede (logos) nicht bloß in Richtung Erzählung (mythos), Performanz und Gefühl – was vormals, zu Recht oder zu Unrecht, als eine Erweiterung der rationalistisch verengten Begriffsbildungen der Moderne angesehen wurde –, sondern im Imperativ eines Alleswissens und Alleskönnens außer Kraft setzt. In dieser Sprache wird eben nicht in einem vielstimmigen Meinungsstreit diskutiert (Habermas), auch wird hier nicht eine relative Wahrheit und Meinung behauptet, die nur innerhalb von verschiedenen Überzeugungssystemen als Wahrheit eines Systems oder Subsystems behauptet wird. Dieser bescheidene Wahrheits- oder Meinungsanspruch wird hingegen zugunsten des Imperativs aufgegeben, der heute mit voller Macht auftritt. Die Anmaßung der privaten und öffentlichen Meinung (doxa) alles zu wissen und alles zu können zwingt daher den Denkenden und Handelnden auf die Position des Nichtwissens und Nichttuns zurück, wie ja einmal auch die Philosophie mit dieser Annahme anfing. Denn wenn heute in der mediatisierten Welt Wissen und Doxa im Imperativ zusammenfallen, dann ist nicht nur der alte philosophische Gegensatz von epistemé und doxa, von wissenschaftlicher Reflexion und ungeprüfte Meinung hinfällig geworden. Vielmehr verweist diese logisch-alogische Einheit ihrerseits auf den Anfang (archē) eines imperativen Sollens und Müssens zurück, der lange von der philosophischen Reflexion – eigentlich seit der aristotelischen Unterscheidung des apophantischen vom nicht-apophantischen logos – verdeckt blieb. Eine imperative Maschine, die hinter der Sprache des Indikativs (Sein) metaphysisch oder aufklärerisch, modern oder human sich versteckte, aber bereits von Nietzsche als „Wille zur Macht“ aufgedeckt wurde – freilich hat er darin auch die ökonomische und politische Macht in ihrem ontologischen Imperativ übersehen: die „universale Herrschaft des Willens zur Macht“ (Jünger, Heidegger) als eine immanente und transzendente Form der ökonomisch-theologischen Maschine selber. Auf das inzwischen vergessene, ökonomische Phänomen Griechenland und Deutschland etwa angewandt: Es ist eben nicht die Sprache eines Homer, Pindar, Pythagoras, Aristoteles, Platon oder Paulus. Es ist auch nicht die Sprache eines 2 Die imperative Sprache der Medien 9 Kant, Hegel, Goethe, Schiller, Hölderlin, Adorno oder zuletzt Kittler, sondern die Sprache der Nationalisten, wie sie einmal auch von Goebbels, Rosenberg oder Freisler beschlagnahmt wurde. „Der ‚Führer‘“, so einmal Horkheimer, „ob er Stalin oder Hitler heißt, bezeichnet seine Nation als das ‚Höchste‘, er behauptet zu wissen, was das absolut Gute ist, und die anderen sind die absolut Schlechten. Dagegen hat Kritik sich zu wenden, denn wir wissen nicht, was das absolut Gute ist, bestimmt nicht die eigene oder eine andere Nation.“ „Seit Peter dem Eremiten im ersten Kreuzung bis zur Ära von Hitler und Stalin und seinen Nachfolgern sind die demagogischen Tricks im wesentlichen die gleichen geblieben. (…) Der Demagoge (…) wiederholt unermüdlich, daß ‚wir‘ die Guten sind und die anderen die Schlechten. Die anderen – die anderen in anderen Völkern (…) haben immer unrecht, nur er hat recht. (…) Es gibt keine Mitte, es gibt nur Gegensätze. (…) Ob dann gerade mit dem ‚wir‘ die Deutschen gemeint sind oder die Griechen, oder die Russen, immer sind ‚wir‘ ‚die Guten‘ und die anderen ‚die Bösen‘.“ 4 Diese Demagogie beschreibt freilich die Sprache noch im Rahmen einer „instrumentellen Vernunft“ (Adorno/Horkheimer), wo sie seit je her von der Macht als Mittel zur Verbreitung ihrer Ideologie eingesetzt wurde und damit, wie Agamben zu Recht festhält, als Instrument eines freiwilligen Gehorsams diente. „Aber heute hat diese als Mittel dienende Funktion (…) ihren Platz an ein anderes Kontrollverfahren abgegeben, das die Sprache in der Sphäre des Medienspektakels absondert, sie also leer sich um sich selbst drehen läßt (…). Wesentlicher als die Propagandafunktion, welche die Sprache als ein zweckgebundenes Instrument betrifft, ist die Beschlagnahme und die Neutralisierung des reinen Mittels par excellence“.5 Und: „Wenn die Medien in den modernen Demokratien eine so wichtige Rolle spielen, so nämlich nicht nur, weil sie die Kontrolle und Lenkung der öffentlichen Meinung ermöglichen, sondern auch und gerade weil sie die Herrlichkeit verwalten und zuteilen, jenen akklamatorischen und doxologischen Aspekt der Macht, der in der Neuzeit verschwunden zu sein schien.“6 Insofern hat sich der moderne journalistische Text nicht vom heiligen Text emanzipiert, wie die Säkularisierungsthese behauptet, sondern in der Verabsolutierung des Mediums (auch des Kommunikationsmittels) nun seinerseits resakralisiert. Kommunikation als magisches Mittel hat sich nicht modernistisch profaniert, vielmehr ist sie nun selbst zur stärksten aller Religionen geworden, ohne dass hier eine Identität oder gar Bedeutungsgleichheit mit den alten Religionen herrschen 4 Horkheimer 1981, S. 168-174. 5 Agamben 2005, S. 86. 6 Ders., 2010, S. 12. 9 10 2 Der Imperativ der Medien müsste. Eine linguistische Maschine, die in ihrem Indikativ – dieser ändert sich auch nicht, wenn statt des statischen ‚Seins‘ ein dynamisches ‚Werden‘ (UND… UND…UND) eingesetzt wird – immer zugleich imperativ-ontologisch auftritt: ‚Du sollst!‘ In ihrer globalen und nationalen Bewegung ist sie dann nur sie selbst und damit kein emanzipatorisches Mittel mehr zur Hervorbringung einer anderen Gemeinschaftsform. Sie entbirgt aus sich heraus auch keine Bewusstseinserweiterung mehr, wie einmal das bei Suhrkamp gedruckte Wort bewusstseinserweiternd oder therapeutisch gegen die manipulative Entfremdung der Springer-Presse wirken sollte; eine Manipulationsthese, der allerdings immer mehr selbst der Ruch der Dummheit anhaftete, weil die alte Kategorie der Ideologie (in der Dialektik von Geist und Materie, von Tauschwert und Gebrauchswert) in der ‚entmaterialisierten‘ virtuellen Welt nicht mehr greifen konnte und der Fetischismus (vormals noch als ein festes Objekt gedacht) die Form einer unzerstörbaren gespenstischen Präsenz annahm. Was die Kommunikationsmedien uns heute geben, vom ontologischen Imperativ aus gesehen, ist somit weder die Fähigkeit zur Bewusstseinserweiterung, noch die Fähigkeit zum „eigentlichem Selbstsein“ oder zur „Sorge“ (Heidegger), sondern die Fähigkeit zur psychischen und physischen Selbstentsorgung. Im Gegensatz zu jener Manipulation und Zerstreuung helfen hier nämlich keine bewusstseinserweiternden Lektüren, Konzentrationsübungen oder ontologisches Warten mehr – wie es einmal die „Hüter des Seins“ (Heidegger) gegenüber den planetarischen „Warenhütern“ (Marx) unternahmen –, weil der globale und nationale, gleichzeitig operierende Sender-Empfänger im Dienste des unbeschränkten Kapitalgottes sowie der beschränkten Nationalgötter7 steht. Damit steht auch der moderne Journalist im Dienste dieser komplementären, imperativ-linguistischen Maschine: der Manager und Kommunikationsdesigner von Sprache, der seinerseits von dieser globalen und nationalen Sprachmaschine8 designt, geträumt oder geschrieben wird. Einer, 7 Die Auseinandersetzung zwischen Monotheismus und Polytheismus war in den 1970er Jahren ein zentraler Kampfplatz, an dem politische Monotheologen (Schmitt, Voegelin, R. Altmann) und politische Polytheologen (Blumenberg, Marquard) aufeinander trafen. Während die einen auf den politischen Monotheismus setzten, leiteten die anderen die „Wende zum polytheistischen Mythos“ (Blumenberg, Marquard) ein. „Polymythie“, so die Kurzformel von Marquard, „ist bekömmlich, Monomythie ist schlimm.“ (Marquard 1983, S. 82). Hier bleibt die Komplementarität der beiden Phänomene noch verdeckt. Daher trifft eine dem Aristoteles zugeschriebene Abhandlung über die Ökonomie den korrelativen Sachverhalt eher: „Die Politik ist eine Polyarchie, die Ökonomie ist eine Monarchie.“ (Pseudo-Aristoteles, Oeconomica, Buch I, 1343a). 8 Auf das „Bündnis zwischen diesen beiden Imperativen“ hat einmal auch Derrida hingewiesen, auf das er allerdings selbst nicht verzichten wollte: „Muß man wachsam darauf achten, daß keine vereinheitlichende Hegemonie (keine Kapitale) wieder entsteht, so darf man doch auch umgekehrt die Grenzen, das heißt die Ränder und die Randge- 2.2 Medien total 11 der im Zeitalter von Flexibilität und Unsicherheit Stabilität und Sicherheit durch Kommunikation oder Kultur simuliert. Er ist der Experte in Magie, Beschwörung und Zeichengebrauch und beherrscht die ganze Serie von Tricks, mit denen er, in der vielgepriesenen Netzkultur, die gläubige Netzgemeinde global (in der Monoglossie des Englischen) oder national (Polyglossie) beeindruckt. Selbst ein von der ontologisch-imperativen Sprachmaschine Ferngelenkter, lenkt er die progressiven Energien der Telekommunikation, die ihrerseits die Nahkommunikation in ihrer Einheit (Monoglossie) und Vielheit (Polyglossie) prägen. Sofern also die Kommunikationsmedien dieser imperativen Sprache sich bedienen, handelt es sich hier um eine Art von Vampirismus, der alle Kommunikationsmedien in ihrer lebendigen Bewegung leersaugt. Dergestalt, dass hier eine Immunisierung gegen diese Medien als dringend und notwendig erscheint, wenn man nicht Opfer dieses medialen Vampirismus sein will. 2.2 Medien total 2.2 Medien total Medien in ihrer ganzen Durchschlagskraft zu begreifen heißt daher, sie nicht bloß als eine moderne Form von Propaganda (als Mittel zur Verbreitung von Ideologie) zu verstehen, die die Kontrolle und Lenkung der öffentlichen Meinung ermöglicht, sondern sie auch in ihrem verabsolutierenden Charakter (Medien als Mittel, die die Zwecke beschlagnahmen) begreifen und wahrnehmen zu lernen. Medien sind nicht mehr bloß die Mittel zur Verbreitung von Ideologie, weil sie inzwischen als eine Art Gerichtsvollzieher fungieren, der Sprache, Bilder, Schrift, Musik, Affek- te, Dinge und alle Äußerungen der Menschen konfisziert, um sie von sich selbst, von ihrer Natur, Kunst9 und Kultur (vom humanen Anspruch, der darin liegt) zu biete, nicht vervielfachen; dann dürfen die Unterschiede zwischen den Minderheiten, die unübersetzbaren Idiolekte, die nationalen Antagonismen, der Chauvinismus idiomatischer Wendungen nicht um ihrer selbst willen kultiviert werden. (…) Die Verantwortung scheint heute darauf hinauszulaufen, daß man auf keinen der beiden widersprüchlichen Imperative verzichtet.“ (Derrida 1992, S. 35). Wenn heute aber die Unterschiede und Grenzen wieder „kultiviert“ werden, dann deswegen, weil der Druck der Kapitale immer mehr zunimmt. Die vereinheitlichende Hegemonie der Kapitale und die vielfältige Hegemonie der A-Kapitale, der Grenzen und Heimaten bilden nur die eine Figur. 9 Demgegenüber heißt es bei Derrida: „Wie würden unsere großen Medienmaschinen im Jahr 1989 sich einem Rimbaud oder Lautréamont, einem Nietzsche oder Proust, einem Kafka oder Joyce gegenüber verhalten? Könnten sie überhaupt etwas mit ihnen anfangen?“ (Derrida 1992, S. 94). Die Frage hat sich heute erübrigt, weil die indikative, 11 12 2 Der Imperativ der Medien trennen. Ein universeller Unwelt-Schöpfer und Konsument, der seinerseits vom nationalen narzisstischen Kollektiv als einer falschen Tradition10 umrahmt wird: das doppelte mediale Phantasma der Ausschließung, das die sinnliche Verklärung und die Korrosion der Netze als ein totalitäres Regime betreibt. Insofern hat Design einerseits „das Wort ‚Revolution‘ ersetzt“ (Bruno Latour), andererseits beschwört es aber, als materielle und immaterielle Vernetzung, die bindenden und bewahrenden Kräfte: die beiden imperativen Kräfte aus Kapitale und A-Kapitale. Die alte sozialistische Designutopie, die Daseinsform sei so zu gestalten, dass die Welt zur Heimat wird, hat sich somit dahin transformiert, dass heute die Anhänger des neuen globalkapitalistischen und nationalistischen Kultus keine Heimat mehr haben – im Gegensatz etwa zu den alten Christen, die einmal wußten, dass ihre wahre Heimat im Himmel war. Wo sie sich aufhalten, wohin sie auch gehen, was sie kreativ hervorbringen, mit wem sie sich auch immer wieder vernetzen oder ihre Beziehungen gestalten, überall finden sie im Medium der Partizipation (als Arbeit und Kreativität) immer wieder nur dieselbe Unmöglichkeit zu wohnen, zu reisen, Dinge zu benutzen, Gegenstände zu teilen, zu gestalten oder kreativ zu sein vor, die sie schon von ihrem Ort, von ihren Wohnungen, Städten, Demokratien oder von ihren eigenen Kulturen her kennen. Denn hinter jeder Wohnung, jedem Auto, jeder Internetseite oder jedem Touristen steckt eine Idee vom Menschen, die aber ihrerseits bereits imperativistisch vordiktiert ist. Damit ist alles Design und alle Schöpfung, mit Aristoteles – jenseits der Differenz von Stoff und Form, die einmal fürs moderne Design herhalten musste –, der Triumph, den eine Potenz- ontologische Medienmaschine (Sein, Ist, Werden) inzwischen auch ihren zweiten, imperativen Pol (Sollen) global (das ökonomisch-theologische Dispositiv) wie national (kollektive Identitätsbehauptung) offenbart hat. Derrida selber behält aber noch ein Moment des Imperativs bei und bleibt damit zuletzt archisch. Sein Imperativ lautet: „Interpretiere!“, „Dekonstuiere!“. 10 Auf diese falsche Tradition hat einmal Benjamin hingewiesen: „Wovor kann aber etwas Gewesenes gerettet werden? Nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung, in die es geraten ist als vor einer bestimmten Art seiner Überlieferung. Die Art, in der es als ‚Erbe‘ gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte.“ (Benjamin 1991, S. 1242). Damit trifft er die falsche Tradition Sloterdijks. Dass sich die „schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (Peter Sloterdijk) von ihren Vätern lossagen, mit kreativen Errungenschaften auftrumpfen und als Nachfahren keinen Respekt mehr kennen, da sie rücksichtslos nur ihr eigenes Wohl verfolgen, ist schlicht und einfach unwahr; sie haben leider viel zu viel Respekt vor der imperativen Ontologie der „westlichen Werte“: freier Markt, Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Toleranz etc. sowie vor den neomythischen Mächten (eigene Nation, Ethnie, Kultur, Heimat etc.), die sie metaphysisch verewigen und verherrlichen. Zu Recht forderte daher einmal Žižek eine „Intoleranz“ gegen diese Art von Toleranz. 2.2 Medien total 13 zu-sein in ihrem Kampf mit einer Potenz-nicht-zu-sein davonträgt, während diese Potenz-zu-sein (Sein, Werden, Verwirklichen, Arbeiten, Gestalten) im Dienst des Imperativs steht: „Vernetzt euch!“. Diese Potenz-zu-sein ist nicht die Fähigkeit des Mediengestalters das Wesen der Dinge wie ein Philosoph zu erkennen, sondern beschreibt jene Unfähigkeit zur Operation, die dieses imperative Sein-Müssen (die beiden Imperative aus Kapitale und A-Kapitale) auf der Flucht und als Besitz beendet – vormals noch eine theologische Kategorie: Moses als Nomade, der außer Gottes ewig umherirrendem Wort keine andere Erde haben will, und Aron, der ein Territorium haben will und dies bereits als Ziel der Bewegung denkt. Insofern blockiert das Medium in seinem monarchischen und polyarchischen Design- oder Dazwischen-Charakter seinen eigentlichen Gebrauch. Damit war auch jene vormals vielgepriesene, interaktive Netzgemeinschaft nicht das Projekt einer neuen, rhizom-artig verzweigten Netzkultur, sondern das Produkt einer hochproblematischen Unkultur.11 Jene interaktiven Subjektivierungsprozesse haben sich nämlich auch als Desubjektivierungsprozesse erwiesen, die die netzförmigen Subjektivierungsprozesse (die subjektiv besetzten Knotenpunkte im globalen Datenverkehr) durchströmen, um so die Subjekte in ihrer Sprache und schöpferischen Potenz immer mehr lahm zu legen – eine unschöpferische Potenz, die aufzuheben und abzuschaffen wäre. Das heißt dann aber, dass jene vormals naive Medienkritik durch die Sache selbst, nämlich durch den universellen Agenten der Veränderung (die Menschheit im sakralisierten Kapitalbegriff) und durch sein Korrelat, den nationalen Agenten der Nichtveränderung (die Nationalgötter) eines 11 So wird heute versucht, jene Interaktivität wieder rückgängig zu machen: „Die größte Gefahr für die Debattenkultur im Lande geht dieser Sichtweise folgend nicht mehr von ‚den Mächtigen‘ aus, sondern von sogenannten ‚Trollen‘. Dementsprechend unflätig kann da schon einmal die Wortwahl werden, wenn Medienvertreter in Rage und ins Plaudern geraten. Dies gilt zumindest für den Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Giovanni di Lorenzo. Seiner Ansicht nach stellt das Feedback der Leser nicht nur eine Zumutung für jeden Journalisten, sondern mittlerweile sogar eine Gefahr für die Zukunft des Journalismus insgesamt dar. Ein Blick in die Kommentarspalten gleiche zuweilen, wie er jüngst in einer Podiumsdiskussion der Münchner Universitätsgesellschaft sagte, ‚dem Blick in die Kloake menschlicher Abgründe‘. Wenn sogar als ‚liberal‘ geltende Journalisten wie di Lorenzo einen Maulkorb für Otto Normalleser sowie das alleinige Recht fordern, darüber entscheiden zu dürfen, wer wie kritisiert oder beleidigt werden darf, dann fragt man sich, wie aus dieser Richtung ein wirkungsvoller Einsatz für die Verteidigung der Meinungsfreiheit erwartet werden kann.“ (Heitmann 2015). Der „Blick in die Kloake menschlicher Abgründe“ ist aber zugleich der „Blick in die eigene Kloake“, von der der aufgeklärte Journalist offenbar nichts mehr wissen will. „Mächtige“ und „Trolle“ bilden daher nicht die zwei, sondern nur die eine Figur (die Einheit aus neoliberaler Weltmarktidentität und Nationalidentität), die die Sprache für ihre unheilvollen Zwecke konfisziert hat. 13 14 2 Der Imperativ der Medien Besseren belehrt worden ist.12 Ein universeller Agent der Kreativität, der seine kleine Differenz (so etwas wie die Atomwaffe des Neoliberalismus) selbst in Ewigkeit und Utopie verklärt, während er zugleich jede andere Differenz als Utopie und Spekulation ausschließt. Denn die globale neoliberale Ordnung behauptet ja in ihrer ‚variablen Kreativität‘ und Neuigkeit von sich, die beste aller möglichen Welten zu sein. Die Zurückweisung der wirklichen Differenz, des Anderen, ‚Anteillosen‘ und wahrhaft Fremden endet so mit der Durchsetzung des eigenen Wahrnehmungs-, Konsum-, Ausstellungs- und Kreativitätsdispositivs, das damit keine wirkliche Differenz mehr zulässt, sondern diese in einen unsichtbaren und unscheinbaren Ort museal verbannt. Insofern besteht die Strategie dieses Imperativs darin, einerseits die Medien (Dinge, Worte, Schriften, Bilder, Klänge, Körper etc.) zu musealisieren, andererseits aber, ihre kreative Potenz einzugrenzen und sie so in Schach zu halten. Dieses mediale Dispositiv13 duldet dann keine Ausnahme mehr, weil es in seiner 12 „Staaten können zwar rechtlich geregelte Zonen darin einrichten und versuchen, die Verbreitung von Pornographie und Gewaltdarstellung, die Organisation krimineller Vereinigungen und das Herunterladen von Daten mit Eigentumstiteln partiell einzudämmen. Als Ganzes läßt sich das Internet nicht mehr in den Griff bekommen.“ (C. Türcke 2005, S. 170). Doch, hier waltet noch eine unkritische, romantische Naivität, die spätestens seit den Snowden-Enthüllungen oder dem Ausgriff des Google-Imperiums aufs ganze Leben diese unkritische Naivität eines Besseren belehrt hat. Diese mediale Gleichschaltung wird dann kaum besser, wenn man sie ins Medium „Geld“ transportiert: Seit der Urzahlung „hat alle Zahlung einen utopischen Überschuss. Wer immer Geld begehrt, begehrt etwas anderes als Geld: Trost, Genugtuung, Geborgenheit, Genuß, Potenz.“ (C. Türcke 2015, S. 467). Was diese Mythologie des Geldes („Es war einmal die Urzahlung“) hier unterschlägt ist der Imperativ (Sollen), der gerade im dialektischen Begehrungsüberschuss sich versteckt: ‚Begehre!‘, ‚Genieße!‘, ‚Finde in deiner Potenz unerfüllter und unerfüllbarer Phantasien Geborgenheit und Trost!‘ Das normalisierende Medienintegral bildet eben in seiner Taktung die absolute Immanenz, so dass alles, was sich von diesem unterscheiden will, in dieses zurückfällt, um pseudokritisch die Medienmaschine zu beschleunigen. Denn Kritik am Medium kann nur im Medium selbst stattfinden. Auch sie stellt Bewegungen im Kapital dar, die sich in anti-neoliberalistische Gegenaktionen fortsetzt, um weitere Kapital-Bewegungen zu erzeugen. Zu Recht stellt daher ein Rezensent fest: „Was er (Türcke) schließlich bietet, ist ein etwas vage gehaltenes Set der ohnedies bekannten und üblichen Maßnahmen, die den Raubtierkapitalismus ein bisschen dämpfen sollen, vom Schuldenschnitt, bis zur globalen Finanz- und Transaktionssteuer. Er erweist sich zu guter Letzt (…) dann doch als Keynesianer“. (Müller 2015). Damit erweist sich Türcke als der Totengräber der Kritischen Theorie, die einmal aufs Ganze ging. 13 Der Begriff Dispositiv geht auf Foucault zurück. Wo er noch größere Gebilde wie Irrenanstalten, Krankenhäuser, Schulen, Disziplinen, Diskurse, Praktiken, staatliche und kirchliche Regelordnungen usw. als gedankliche Konstruktion und Epochenbegriff über eine bestimmte historische Anordnung verstand, wird dieser Begriff später 2.2 Medien total 15 Normalität selbst die Ausnahme bildet. Überall, wo der neue Ausstellungs- und Konsumwert, wo das kultisch-rituelle System der Medien herrscht, sieht man ein Maximum an Kommunikation, an Bedürfnissen, Arbeit, Produktivität, Kapital, Bild, Ton, Wort, Mobilität, Kreativität, Konsum und Erregung, die sich dem Absoluten immer mehr annähern. Während der planetarische Demiurg seinerseits zugleich von der Reaktivität einer nationalen Identitätsbehauptung (Nationalismus) stabilisiert wird. Die progressiven Energien der subjektivierenden Nah-Fern-Rhizomatik (die Medien der körperlosen Telekommunikation und die Medien der unmittelbaren leibhaften Kommunikation; der eine Bild- und Leibraum der globalisierten Welt) sind somit immer zugleich die repressiven Energien einer imperativen (ökonomisch-theologischen, medien-ontologischen) Psychomacht, die sich des sozialen Verhaltens der Massen bemächtigt: die archē als Anfang und Herrschaft, die auch die psychē14 des mediatisierten Menschen steuert; das eigene Steuern als ein fremdes Gesteuertwerden. Das heißt, die expressiven Intensitätsdifferenzen der digitalen Netzkultur, der Prozess der Subjektivierung (nicht des bürgerlichen Subjekts) in den interaktiven Netzwerken des globalen Datenverkehrs, werden in ihrer Intensität immer zugleich von einer Gegenintensität des Dispositivs erzeugt, weil in diesen von Agamben nach hinten und zugleich nach vorne weit geöffnet. So versteht letzterer darunter auch „Federhalter, die Schrift, (…) die Zigarette, die Schiffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist, von dem sich vor Abertausenden von Jahren ein Primat (…) allzu leichtfertig hatte gefangennehmen lassen.“ (Agamben 2008, S. 26). Wir wenden diesen Inbegriff nun auch auf die Medien insgesamt an, um ihr monarchisches und polyarchisches Potenzial zu entschlüsseln. 14 In Über die Seele schreibt Aristoteles: „Da die Seele auch bewegendes und erkennendes Vermögen zu sein schien, kombinierten somit einige Denker ihre Ansicht aus den zwei anderen und sagten, die Seele sei ‚eine sich selbst bewegende Zahl‘.“ (Aristoteles 1995, 404 b). Für die globalisierte Moderne übersetzt und medienarchäologisch gelesen heißt dies: Die universellen digitalen Codes machen nicht nur alle Psyche gleichermaßen zugänglich und transformieren sie so, kosmopolitisch, zu einem Teil des weltumspannenden Datenverkehrs. Vielmehr erscheint nun auch umgekehrt das Auftauchen der universellen digitalen Codierung eine ursprüngliche Welterschließung zu sein, wo einmal Seele als „eine sich selbst bewegende Zahl“ erschien. Insofern wird das „Rad der Medientechnologie“ doch auch zurückgedreht: Das „Rad der Medientechnologie (…) lässt sich nicht zurückdrehen und die Seele, das Imaginäre aller klassisch-romantischen Lyrik, nicht zurückbringen“ (Kittler 1986, S. 129). Das heißt, die Bewegung der Psyche ist informatisch und mathematisch gedacht. Während die Zahl, als eine zugleich algorithmisch „beseelte“, in ihrer universellen Bewegung (energein; Im Akt-Sein) eine psychopolitische Kontrolle und Macht ausübt. Und zwar deswegen, weil diese dynamis (Möglichkeit), wie Aristoteles an anderer Stelle bemerkt, die adynamia (Impotenz), die dynamis me einai (Potenz nicht zu sein) nicht kennt. 15 16 2 Der Imperativ der Medien Aktionen immer die Macht oder die Mächte in Form des ökonomisch-theologischen (technisch-ontologischen) und mythisch-nationalen Dispositivs vorausgesetzt sind. Denn die Subjektivierungsfluchtlinien der modernen Individuen bleiben ja auf den globalen Markt und den Nationalstaat bezogen und meinen darin nichts anderes als ein manifestes Gewaltverhältnis. Dergestalt, dass diese modernistische Medienform immer zugleich auf den Imperativ der alten archē archäologisch zurückweist. Allerdings auch so, dass dieser Imperativ heute nicht mehr die alte Figur von Herr und Knecht, der „instrumentellen Vernunft“ (Adorno/Horkheimer), des „rechnenden Denkens“ (Heidegger) oder des „unbeweglichen hieratischen Königs“ (Deleuze) abgibt, sondern als Macht und Herrschaft im hochdynamischen Medienintegral selber sich versteckt. Damit lautet der neue ontologische Imperativ: ‚Sei mobil!‘; ‚Sei verkäuflich!‘; ‚Wachse unendlich!‘; ‚Inszeniere dich!‘; ‚Stellt dich öffentlich zur Schau!‘; ‚Konstruiere dein Selbst!‘; ‚Sorge um dich!‘; ‚Wünsche!‘; ‚Verwirkliche dein Potential!‘; ‚Sei wahrnehmbar!‘; ‚Sei präsent!‘; ‚Optimiere dein Selbst!‘; ‚Begehre!‘; ‚Sei schöpferisch-kreativ!‘; ‚Genieße!‘; ‚Entwerfe dich neu!‘15 So, dass auf diesen medien-göttlichen und kommunikativ-ontologischen Befehl die 15 Einmal hieß der Orakelspruch im Apollotempel zu Delphi: „Erkenne dich selbst!“ (gnothi seauton) oder Sorge um sich (epimeleia heautou). Später sollte dies rationalisiert und in „Ich denke, also bin ich“ (Descartes) neuzeitlich übersetzt werden, was vielleicht mit Foucault eher auf die erste Formulierung, also auf das Erkennen zutrifft. Heute hingegen wurde dies auch noch in den Willen, in die Affekte verlegt und heißt: ‚Ich inszeniere oder optimiere mich ständig, also bin ich‘. Diese individuellen und neurophysiologischen Affekte sind aber ihrerseits objektiv bedingt. Das heißt, der Konkurrent, der Konsument, der Selbstoptimierer, der Zurschausteller, der Bildsüchtige oder das hysterisierte Subjekt (nicht das sensibilisierte) sind ihrerseits fremd bestimmt, so dass das eigene Bedürfnis das Bezogensein auf den globalen Markt meint: der „Kampf sichtbar zu bleiben“ (Luhmann), der Kampf um Aufmerksamkeit. Insofern gelte es das (ökonomisierte, affektierte, narzisstische) Subjekt, die logisch-alogische Individualmaschine (die ihrerseits eine Funktion des individuellen Allgemeinen ist) als ganze zu deaktivieren, sie außer Kraft zu setzen: „Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. (…) Es bedeutet: Mach dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also etwas Böses – und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ‚Um dich zu dem zu machen, der du bist.‘“ (Kafka 1994, S. 59). Und für unsere Zeit übersetzt heißt dies: Bringe deine bestialisierenden Affekte, deine Bildersucht, deinen erregten Körper als ein hysterisches Affektmedium zum Stillstand, also ‚zerstöre deine zerstörerischen, verwilderten Affekte‘, wenn du in der mediatisierten Welt noch sensibel, emanzipatorisch, solidarisch oder human sein willst! Der Imperativ ‚Zerstöre dich!‘ wird hier also auf die Negativität (Zerstörung, Verwilderung, Bestialisierung) selbst angewandt, um sie außer Kraft zu setzen und so einen neuen, freien, anarchischen Gebrauch von den Medien (Wort, Bild, Ton, Affekt) zu machen. 2.3 Unbegreifliches Medienintegral 17 Subjektivität mit Wunsch, Sucht, Erregung und Angst antwortet, wenn sie in die globale und nationale Medienmaschine integriert, dabei und nicht ausgeschlossen sein will; die Selbstbehauptung des universellen Medienintegrals erhebt stets den Anspruch, dass das Individuum auf seinen Anruf, auf seine Anweisung, kognitiv wie affektiv antwortet. 2.3 Unbegreifliches Medienintegral 2.3 Unbegreifliches Medienintegral Dieses im strengen Sinne nicht mehr verstehbare Medienintegral – eben, weil Wort, Bild, Ton, Spektakel, Ausstellungswert oder Kultgegenstand keine menschlichen Produkte mehr sind, sondern ein menschlich-göttliches (kommunikativ-ontolo- gisches) Dispositiv darstellen – hat dann auch weitreichende Konsequenzen für das weltweit agierende Global-Kollektiv, wo das ‚man‘ in der Knechtschaft des Medienintegrals global wie national hysterisiert wird und so das Gemeinsame durch das Gemeine ersetzt wird. Wurde vormals, in der kulturindustriellen Gesellschaft, „das Radio zum universalen Maul des Führers“16 deklariert, das Mittel also zwecks Propaganda eingesetzt (eine manipulative Entfremdung, wo auf der anderen Seite das bewusstseinserweiternde Wort entgegenwirkte), so gingen schließlich alle Medien – nachdem sie sich einmal von der Magie, vom Kultus, vom Ritus, von der Liturgie und dem Zeremoniell emanzipiert hatten – dazu über, sich als Mittel immer mehr zu verabsolutieren. Aus medialer Sicht sind daher Magie, Beschwö- rung, Ekstase, Kultus, Ritual, Gottesdienst, Faschismus, Zauberei, Schamanentum, Religion oder Akklamation keine Zustände, die etwa historisch, aufklärerisch und modernistisch überwunden wären, vielmehr steht unser Leben heute ganz in ihrem Zeichen. Und zwar doppelt: in der Monarchie der Monoglossie (der universelle Agent der Veränderung und der planetarischen Synchronisierung) und in der Polyarchie der Polyglossie (die Reaktivität der ethnischen, nationalen, kulturellen, örtlichen oder familiären Identität). Sofern sie allein diese eine imperative Sprache 16 „In der totalen Hereinziehung der Kulturprodukte in die Warensphäre verzichtet das Radio überhaupt darauf, seine Kulturprodukte selber als Waren an den Mann zu bringen. Es erhebt in Amerika keine Gebühren vom Publikum. Dadurch gewinnt es die trügerische Form desinteressierter, überparteilicher Autorität, die für den Faschismus wie gegossen ist. Dort wird das Radio zum universalen Maul des Führers“. (Adorno und Horkheimer 1995. S. 168). Was Adorno und Horkheimer hier beschreiben ist im Grunde diese zweite ökonomisch-theologische, kommunikativ-ontologische Medienmaschine in ihrem Imperativ, die dann mit den nationalen Medienmaschinen in der Globalisierung eine komplementäre Einheit aus Monarchie und Polyarchie bildet. 17 18 2 Der Imperativ der Medien des Medienintegrals sprechen (in Korrelation von Mono- und Polyglossie) ist dann alle Kommunikation in einem doppelten Phantasma begraben, das unter dem Gesetz17 der Macht steht. Etwas, das die technisch-wissenschaftlichen, linguistischen, logisch-rationalen und poietisch-ästhetischen Maschinen heute hervorbringen, um die Kommunikationsmedien zu konfiszieren und damit die Menschen von sich selbst zu trennen. Es sind diese imperativen Mächte, die, wie Badiou formuliert, gegen die Stimmen der anderen dann taub machen: „Der Jude kann sich gegenüber dem SSler kein Gehör verschaffen. Der Arbeiter hat keinen Ort, an dem zur Kenntnis genommen würde, dass seine Arbeitskraft keine Ware ist. Der Wille einer Diskursart zur Hegemonie behauptet notwendigerweise zu wissen, was das Sein jedes Vorkommnisses sei. Dieser Wille behauptet, dass das Nicht-Sein ist.“18 Man kann diese sprachliche Ontologie auch umdrehen und sie aktualisierend, wie es neulich Habermas unternimmt, in der empirischen Beschreibung des politischen Phänomens selbst wiederfinden: „Sie (die Politiker aus Brüssel oder Berlin) sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen. Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.“19 Diese „Zombies“ können wir heute weltweit in Aktion sehen, wo die Menschen von sich selbst und damit zugleich von den anderen abgetrennt sind: ‚Willkommen in der Wüste des Unmenschlichen‘. Denn die „Menschlichkeit“ existiert heute nicht mehr Jenseits des sakralisierten Kapitalbegriffs, sie ist vielmehr darin eingebettet, während er zugleich von der nationalstaatlichen Fassung umrahmt wird. Es ist das universale und nationale Abschottungsimperativ, das die Mauern zwischen den Menschen hochzieht und damit alle Kommunikation hohl klingen sowie alle Gesten aggressiv werden lässt: das Eingreifen der beiden Imperative im performativen Akt, die sich in den konkreten Äußerungen verkörpern. Eine entsubjektivierte Subjektivität, die 17 „Es ist also kein Zufall, daß die Sphäre des Rechts und die des performativen Sprechakts von jeher eng miteinander verbunden und daß in den Handlungen des Herrschers Gesten und Worte unmittelbar wirksam werden.“ (Agamben 2010, S. 218). Daher könnte man sagen, dass in der performativen Äußerung nicht nur der Indikativ am Werk ist (ich wünsche, ich will, ich träume), sondern auch das Gesetz des Imperativs: ‚Wünsche!‘, ‚Träume!‘, ‚Wolle!‘. Eben genau dieser zweite, imperative Pol der Medienmaschine blieb in der Moderne und Postmoderne vergessen. Im subjektiven Wunsch werde ich zugleich gewünscht, gewollt und geträumt, so dass im performativen Sprechakt ‚ich schwöre‘ ein ontologischer Imperativ anwesend ist, der stetig befiehlt: ‚Schwöre!‘. 18 Badiou 2015, S. 142. 19 Habermas 2015. 2.3 Unbegreifliches Medienintegral 19 freilich nur unter der Bedingung dieser beider imperativer Fremdbestimmungen entstanden sein kann. Solch ein Abschottungs- und Absonderungsimperativ lässt sich dann nicht einfach mit dem Profitmotiv (Profitrationalität) beschreiben, vielmehr meint er die zwei fiktionalen Mächte, die inzwischen auch neurophysiologisch in den Körper eingesickert sind und dort Hirn, Sinne und Nerven beschlagnahmt haben. Dergestalt, dass der Trieb (das Wogen und Wallen der Empfindungen, Triebe und Impulse im Körper) – vormals als unersättlicher Trieb nach Sein mythologisch und metaphysisch verklärt – im Dienst dieser beiden imperativen Mächte steht, die die Medienmaschinen vorantreiben. Eine rasende, menschlich-göttliche Maschine als Fiktion, die ihrerseits von den Fiktionen der Nationalmaschinen polytheistisch umrahmt wird – und die Habermas einmal in der „universalistischen Wertorientierung“20 dem Untergang geweiht sah. Technik und Medien bringen eben nicht die Fiktion zum Verschwinden, wie Kittler noch meinte – alle Fiktion kollabiert in Technik und Medien –, sondern sie erzeugen (in ihrer Hardware und Software) eine doppelte Fiktion in der komplementären (globalen und nationalen) Kriegsmaschine. Daher sind die Informations- und „Unterhaltungsmedien“ kein „Mißbrauch von Heeresgerät“ (Kittler), vielmehr fungieren sie, in der „öffentlichen Meinung“ (doxa), selbst als eine Art von „Heeresgerät“, wo der demokratische Mensch (in der ‚consensus democracy‘) von den Strategien der fiktional-medialen Macht sich einfangen, ausrichten, manipulieren, kontrollieren und hysterisieren lässt – damit können wir den Satz Heraklits „Alles steuert der Blitz“ in: ‚Alles steuert der Imperativ‘ umformulieren. An die Stelle der Utopie einer universell-dialogischen Kommunikation, eines vernetzten „Computerkünstlers“ (Flusser) oder einer „globalen Umarmung“ (McLuhan; Flusser) trat die universelle und nationale Korrosion der dialogischen Netze, Netzwerke und Beziehungen ein (der Netze im Zentralnervensystem des 20 So schrieb einmal Habermas: „Wenn unter den Jüngeren die nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben (…), wenn nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierungen hindurchgetrieben werden – in dem Maße, wie das wirklich zutrifft, mehren sich die Anzeichen für die Ausbildung einer postkonventionellen Identität.“ (Habermas 1991, S. 75). Diese „postkonventionelle Identität“ sollte in Wirklichkeit eine des Weltmarkts, der Weltmarken und des Medienintegrals sein, die heute als Orientierungs- und Identitätsstifter (Bewusstein und Sinne gleichermaßen prägend) fungieren, während die nationalen Symbole immer stärker wurden, weil die Heimatlosigkeit (die mobile, neoliberale Welt) durch die Heimat der Nationalgötter stabilisiert werden muss. 19 20 2 Der Imperativ der Medien Menschen), so dass die ‚Menschheit‘ sich heute in ihrem medial-ontologischen und mythischen Dispositiv21 befindet und so von sich selbst abgetrennt ist. Begriff und Bild, Argument und Erzählung, Zahl und Musik, Wissen und Glauben, Logos und Doxa sind somit nicht die zwei Formen, die einmal Aristoteles in Apophantisches (Wahrheit, Episteme, Rationalität, Argument) und Nicht-apophantisches (Meinung, Rhetorik, Zauber, Magie, Mythos, Religion, Macht, Wille, Herrschaft) unterschieden und damit eine unheilvolle Tradition eingeleitet hat. Sondern sie bilden nur die eine logisch-alogische (logisch-rationale und poetisch-ästhetische) Figur und darin zugleich die Figur des atheistisch-theistischen Medienintegrals mit zwei Gesichtern – daher hatte Benjamin recht, als er Marx, Nietzsche und Freud als Priester der neuen, modernen Religion charakterisierte.22 Standen nämlich Medien vormals, theologisch, noch im ‚Dienste Gottes‘ (einschließlich des Menschen als Werkzeug Gottes), so sollten sie durch ihre moderne Verabsolutierung in den Dienst des monarchischen Kapitalgottes sowie der polyarchischen Nationalgötter eintreten, um so der Verherrlichung und dem Lobpreis der bestehenden Mächte (ökonomische, ästhetische, technische, informatische, kommunikative, psychische juristische, nationale etc.) zu dienen. Es sind die beiden komplementären Mediendispositive aus Kapitale (Globalisierung) und A-Kapitale (der kollektive, nationale Narzissmus als das andere der Globalisierung). Das heißt, der Modernist glaubt nicht bloß an die Macht von Zinsen, Bildern, Tönen, Worten oder an die Macht der scheinewigen Weltmarken (die freiwilligen und zugleich fremdbestimmten Konsumgemeinschaften und Konsumsekten, worin die Transzendenz Gottes als souveräne Macht auf irdischer Art übersetzt wurde). Vielmehr bilden hier die Anhänger des neuen kapitalistischen Kultes (die global keine Heimat haben) und die Anhänger des mythischen Nationalkultes (die auf eine inzwischen morsch gewordene Heimat, Region, Kultur, Familie oder Bluts- 21 Der Begriff Dispositiv geht auf Foucault zurück. Wo er aber in erster Linie größere Gebilde im Auge hatte (Irrenanstalten, Krankenhäuser, Schulen, Disziplinen, staatliche oder kirchlichliche Regelordnungen) und diese als Epochenbegriff über eine bestimmte historische Anordnung herhalten mussten, ist dieser Begriff später bei Agamben weit nach hinten und zugleich nach vorn geöffnet. 22 „Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. (…) Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchwachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit (…) hat Nietzsche präjudiziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (…) sind, Sozialismus.“ Auch die „Freudsche Theorie gehört zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte (…) ist das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst.“ (Benjamin 1991 a, S. 100 ff.). 2.3 Unbegreifliches Medienintegral 21 verwandtschaft pochen) nur die eine komplementäre Figur. Denn jede Kultur wird heute nur deswegen globalisiert, futurisiert und monotheistisch ausgedehnt und zugleich eingeschrumpft, weil sie immer zugleich mythisch von einer morschen Nationalität, Kultur, Lokalität, Trägheit oder einem Bestand umrahmt und so stabilisiert wird. Die Logik des vernetzten, globalisierten Zerfalls (das individuelle Allgemeine) ist somit nur denkbar, weil der nationale, heimatliche, kulturelle oder familiäre Rahmen (eine falsche Tradition der Abgrenzung) dieser monarchischen Einheitsmaschine eine polyarchische Fassung verleiht. Nur deswegen können die beschleunigten und zugleich entschleunigten Individuen von der integralen Medienmaschine (die Komplementarität aus Globalität und Nationalität) mobilisiert und gegeneinander aufgehetzt werden. Nein, die Goethe-Jugend hat nicht jene Hitler-Jugend außer Kraft gesetzt, wie Adorno nach dem 2. Weltkrieg noch glaubte, indem er gegen die autoritäre Erziehung antiautoritär-demokratisch und zugleich ästhetisch protestierte. Sondern, die bürgerliche Kunst, die Musik und die Buch-Lektüre transformierten in die interaktiven Medien des planetarischen Senders und Empfängers. Ein universell-monarchischer Agent der Veränderung (Weltmarkt), der sich mit dem polyarchischen Agenten der Nicht-Veränderung (Heimat, Nation, Ethnie, Familie), Blut und Boden kurzschloss, um so den neuen imperativen Mächten absolut zu dienen. Damit wurde die bürgerliche Goethe-Jugend zunächst durch den universellen „Künstler“ („Jeder Mensch ist ein Künstler“; Beuys) kreativ-schöpferisch abgelöst, während dieser schließlich vom universellen „Computerkünstler“ (Flusser) technologisch-wissenschaftlich umbesetzt wurde. Noch Flusser glaubte freilich, jene Hitler-Jugend in den Schaltkreisen der Computer humanistisch umbauen zu können – durch den „Umbau des Schaltplans“ sollte dieser „in den Dienst der menschlichen Freiheit und Würde“23 gestellt werden. Während er in Wirklichkeit nur diesen kryptoimperativen Schaltplan beschrieb, nach dem der planetarische Sender und Empfänger praktisch und kreativ agiert. Ein universeller Agent der Veränderung, der mit dem universellen Agenten der Nichtveränderung eine korrelative Einheit bildet, so dass hier, gegen Goethes Behauptung, das poetische Prinzip des Mythos mit dem monotheistischen Prinzip der Schöpfung sich sehr gut verträgt.24 23 Flusser 2009, S. 159. 24 „Die Titanen“, so Goethe, „sind die Folie des Polytheismus, so wie man als Folie des Monotheismus den Teufel betrachten kann; doch ist dieser, so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine poetische Figur. Der Satan Miltons, brav genug gezeichnet, bleibt immer in dem Nachteil der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag. Auch ist es ein schöner, der Poesie 21 22 2 Der Imperativ der Medien Das Leben unterm Bann der Medien ist freilich nicht durch eine gnostisch-kosmologische Phantastik als der dämonisch-satanischen Machination vorgestellt und ausgedacht, sondern von den Medienmaschinen des Menschen selbst geprägt. Von einer vollentwickelten instrumentell-poietischen Intelligenz des Menschen als des planetarischen Unwelt-Schöpfers, wie er sich in der Neuzeit, später in der modernen Industriegesellschaft und nun in höchster Potenz in der globalisierten Welt offenbart. Die poetische, hervorbringende „Mittlerfigur“ ist eben das verabsolutierende Medium, das mit der Vielheit der beschränkt-poetischen Figuren des Mythos (Nationalgötter) eine komplementäre Einheit bildet – das ist dann auch die Stelle, wo Goethe (die poetische Figur), Nietzsche (die Kunst des Übermenschen), Freud (seine Wissenschaftsgläubigkeit, der Glaube an den „Gott Logos“) oder Marx (Arbeit, Bewegung, Fortschritt, Tätigkeit) sich zusammenfinden, um das Bild des planetarischen Unwelt-Schöpfers zu vervollständigen. Damit ging auch das bürgerliche Bildungsmodell in die spektakuläre Herrschaft der Medien (materiell-dingliche, gestalterische, leibliche, wie immateriell-digitale, vernetzt kommunikative) über, die heute in ihrer Arbeit und Kreativität im Dienst der imperativen Mächte stehen. Das bedeutet, kein Zurückholen des Humanismus in Wissenschaft, Technik und Poiesis, sondern die Bestätigung der archaischen, monarchischen und polyarchischen Mächte auf der erhöhten historischen Stufenleiter der Globalisierung. Deswegen sind Medien heute keine Humanisierungsmedien mehr, sondern – sofern sie im Dienst dieser Imperative stehen – hochinfektiöse Dehumanisierungs-, Verwilderungs- und Bestialisierungsmedien. Aus evolutionstheoretischer Perspektive aus betrachtet hätten wir es dann mit einer ‚Hypertrophie des Gehirnorgans‘ (Medium, organon) zu tun, in dem die Natur und ihre ganze bisherige Evolution sich gegen sich selber wendet und zumindest auf diesem Planeten und mit ihm zusammen sich selbst liquidiert. Somit stellt sich der in Gang gekommene Welt-Betrieb (der gefeierte Globalismus samt nationalistischer Fassung) als das riesige phantasmatische Deckbild einer Selbstzerstörung heraus. Damit lautet die Frage an die inzwischen interaktiv-vernetzte, globalisierte Masse nicht mehr „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Goebbels; eine durch Propaganda aufgepeitschte Masse); vielmehr richtet sie sich nun auch an die Anhänger des neuen globalkapitalistischen Kultus und lautet: ‚Wollt ihr den totalen Markt, die totale Zurschaustellung, die totale Sensation, die totale Kommunikation, die totale Information, den totalen Konsum, die totale Zurschaustellung, die totale Mobilität, den totalen Wechsel, die totale Revolution des Kapitals (als Zahl, Bild, Ton, Wort, Ware, Hyperkonsum) in der Komplementarität mit der morschen Nation? zusagender Gedanke, die Menschen nicht durch den obersten Weltherrscher, sondern durch eine Mittlerfigur hervorbringen zu lassen“. (Goethe 1957, S. 533 f.). 2.4 Unterm Befehl stehende Medienmaschine 23 Wollt ihr den beiden, komplementären Imperativen aus Weltmarktidentität (das individuelle Allgemeine; das Bezogensein auf den globalen Markt) und Nationalidentität (die ethnisch-nationale Identitätsbehauptung als morscher Anker) absolut gehorchen?‘ Diese rhetorische Frage braucht heute freilich keine propagandistisch schreiende Person mehr, weil sie anonym, systemisch, strukturell ist und von der globalen imperativen Maschine und den schrottreifen Nationalmaschinen selbst gestellt wird: die zwei Fiktionen aus Weltmarktidentität (der Monotheismus der Globalität) und Nationalidentität (der Polytheismus der Nationalgötter) in ihrer beider komplementären Einheit. – Und in den Euphorien, Ekstasen und Hysterien der enthusiastisch zustimmenden und akklamierenden Masse, im Lobpreis der bestehenden Mächte (Vernunft, Rationalität, Aufklärung, Modernität, Fortschritt, Freiheit, Zivilisation, Meinungsfreiheit, Demokratie, Toleranz, freier Markt, westlichen Werte), verschwinden dann sowohl Frage als auch Antwort. 2.4 Unterm Befehl stehende Medienmaschine 2.4 Unterm Befehl stehende Medienmaschine Die unterm Befehl stehende Todes-Medienmaschine des planetarischen Demiurgen25 (linguistisch-pragmatische, virtuell-reale) ist also in ihrer Funktion eine integrale, so dass sie in ihrer globalen Bewegung auch Mythos, Metaphysik, Ontologie und Theologie kennt. Zur logisch-alogischen Verschiebung (Begriff und Bild, Zahl und Musik, Rationalität und Gefühl etc.) innerhalb der immanenten Mediensphäre gesellt sich so eine zweite: die Verschiebung der transzendenten Sphäre (theologisch, vormals die Transzendenz Gottes als absolute Macht) auf die immanente und umgekehrt. Damit bringt die Immanenz des Mediums seine eigene Transzendenz hervor, und zwar noch in Form der Affekte, Ekstasen, eines letzten Wunsches oder des Erre- gungsüberschusses, wo Körper, Leib oder Nerven etwas leisten sollen, was einmal Subjekt oder Vernunft vorbehalten war. Es sind diese zwei Verschiebungen – des immanent Logischen (Rationalität, Argument, Zahl, Profitrationales, Geometrie, Kälte) zum immanent Alogischen (Bild, Musik, Gefühl, Affekt, Emotion) sowie 25 „Tod, tot, das ist das einzige Urteil, und das macht aus der Verurteilung ein System. Ein Urteil. Aber der Befehl ist auch etwas anderes, das untrennbar damit verbunden ist, nämlich so etwas wie ein Alarmruf oder eine Fluchtmeldung.“ (Deleuze 2005, S. 149). Was aber, wenn auch der Alarmruf oder die Fluchtmeldung Teil der ganzen, virtuell-realen Maschine (die unauflösliche Einheit des einzigartigen Abstrakten und des kollektiven Konkreten) sind, so dass die abstrakten Maschinen und die Äußerungsgefüge unter dem Imperativ stehen? Auch der Tod muss also nicht unbedingt die Form eines unbeweglichen hieratischen Königs haben. 23 24 2 Der Imperativ der Medien des Immanenten (Atheismus) zum Transzendenten (Theismus) hin –, die heute eine Neubewertung der Medien dringend und notwendig machen; der universalen Codes, der universalen Netzkultur, der subjektiven Knotenpunkte im globalen Datenverkehr. Das heißt, Medien sind nicht bloß futurologisch, erfinderisch, interaktiv, kreativ oder rhizomatisch-abstammungsfrei26 zu denken, sondern vor allem archäologisch abzusichern. Eine Archäologie der Medien führt allerdings die Medien nicht bloß auf ihre alte archē zurück, die immer zugleich Beginn und Herrschaft bedeutet, vielmehr zeigt sie diese auch, auf einer erhöhten historischen Stufenleiter, in ihrer globalisierten Durchschlagskraft. Insofern hat Kittler27 recht und unrecht zugleich, wenn er schreibt, der Krieg als Vater aller Dinge (Heraklit) treibe auch in den Medien sein Unwesen. Dieses Wesen und Unwesen ist eben nicht bloß jenes mathematisch-technische Medienapriori, wie er meint. Sondern, die technische Medienmaschine ist selbst eine Form des Ökonomischen, Kulturellen, Zivilisatorischen, die ihrerseits ontologisch, theologisch und mythologisch kontaminiert ist. Die universelle Medienmaschine transformiert nämlich nicht nur alle Kulturgüter sowie die bürgerliche Hochkultur zu Teilen einer weltumspannenden Medienkultur, um dabei zugleich auf eine ursprüngliche Welterschließung zurückzuweisen, in der einmal, in der archē (als Anfang und Herrschaft), das imperative Medium (Sprache, Logos, Zahl, Alphabet, Musik, Organe) entsprang und in Gang kam. Vielmehr bedarf die monarchische Welterschließungsmaschine ihrerseits auch des Rahmens der mythischen Polyarchie, damit sie in ihrer universellen Bewegung überhaupt funktionieren kann. Die Unterschiede der Sprachen, der Dialekte, der Lebensweisen, der Charaktere, der Kleidung, der Architektur oder der körperlichen Merkmale, also alles, was einmal den Völkern und Generationen in ihrem begrenzten Rahmen Wahrheit und Lüge bedeutete. All das hat zwar für den mediatisierten Weltmarktmenschen jeden Ausdrucks- und Mitteilungswert verloren, da er all jene Unterschiede nur versammelt, um sie in den Weltmärkten zur Schau zu stellen und zu konsumieren. Aber die monarchische Welterschließungsmaschine bedarf eben 26 Anthropologisch naiv heißt es dagegen: „Niemand hat eine Vorstellung davon, wie kontrollierte Bewegungen bei größeren zivilisatorischen Einheiten auszusehen hätten. Können die beschleunigten, energetisierten und vernetzten Komplexe sich überhaupt anders verhalten als im Sturz nach vorn bewegen? (…) Ja, wer behauptet noch, auf unserem Schiff gebe es eine Kommandobrücke?“ (Sloterdijk 2014, S. 487) Ganz einfach: die beiden Imperative aus Kapitale (die vereinheitlichende Hegemonie in der Form einer doppelten Ontologie aus Sein und Sollen; die progressiven Energien der Einheit sind zugleich die repressiven) und A-Kapitale (das andere zur entgrenzten Globalisierung: die mehrwertige Hegemonie der Nationalstaaten). Damit weisen Moderne und Tradition auf die alte archē als Anfang und Herrschaft zurück. 27 Kittler 1986, S. 6. 2.4 Unterm Befehl stehende Medienmaschine 25 nach wie vor der nationalen Regulation – es gibt ja keinen Weltstaat –, damit sie in ihrer globalen Bewegung weiter laufen kann. Und zwar muss dieses nationale Dispositiv (die zweite Fiktion) in seiner scheinbaren Festigkeit proportional zur global-beschleunigten, monarchischen Ordnung immer mehr anwachsen, damit sie in der universellen Bewegung den Schein von Stabilität, Heimat und Ordnung erzeugen kann. Das heißt, Welterschließung geschieht durch Sprache: Sprache in ihrer alphabetischen, numerischen, phonetischen, ikonischen, musikalischen, informatischen, kommunikativen, gestischen oder leiblichen Form und Funktion. Aber Sprache muss immer zugleich auf ihrer aktuellen, zeitlichen, ökonomischen und technologischen Stufenleiter pragmatisch gelesen werden. Und genau hier ist dann die Stelle, wo die alten statischen Kategorien von Sprache (metaphysische, mythische oder dialektische) nicht mehr uneingeschränkt gelten können. Denn die universelle Bewegung der Medienmaschine beschreibt heute weder eine Linie (Geschichte), noch eine Kreisbewegung (Mythos; die ewige Wiederkehr des Gleichen), noch ein anthropologisches, invariantes ‚Immerschon‘, noch die statischen Figuren von Metaphysik, Ontologie und Theologie. Sondern eine exponentielle Kurve der universalen Konstruktion und Konsumtion, so dass noch die ontologischen („Was ist das Sein? Es ist es selbst“; Heidegger) oder negativ-dialektischen und theologisch-messianischen Figuren von einer „Vertiertheit“ (Adorno) oder „Verwolfung“ (Agamben) des Menschen hier nicht mehr gelten können. Eben, weil sie ja immer noch mit einer ontologischen Substanz oder mit einem ‚Tier‘ rechnen (der Umschlag von Kultur in Natur, der Politik in Bios), die aber inzwischen von der entmaterialisierten, virtuellen Wesenheit des Mediums außer Kraft gesetzt worden sind: im Phantasmatischen und Pseudokonkreten, Virtuell-Realen, Hyperrealen, worin Körper und Geist verschwanden. Erst auf dieser historischen, technologischen und ökonomischen Stufe gewinnt das Medium (in seiner imperativen Macht) die Form einer scheinbar unzerstörbaren gespenstischen Präsenz. Eine Macht und Herrschaft, die mit den alten anthropologischen, dialektischen oder ontotheologischen Kategorien nicht mehr messbar ist, weil sie eben unermesslich geworden ist, gegen unendlich geht und sich dabei mit dem Absoluten identifiziert. Genau diese unendliche Annäherung ans Absolute, bei der der planetarische Demiurg in seinem monarchischen und polyarchischen Prinzip aktivistisch verschwindet, weist dann wieder auf den archäologischen Anfang der Medien zurück, ohne dabei auf ein anthropologisches, dialektisches, metaphysisches oder theologisches Immerschon zu rekurrieren. Erst diese archäologische Absicherung der Medien würde uns also erlauben, das Medium einerseits von seiner Inbeschlagnahme durchs universale Medienintegral (als Sein und Sollen) zu befreien, andererseits aber das heute universell nutzlose Medium (sein Nutzen ist eben das anwachsende, virtuell-reale Nutzlose) paradox 25 26 2 Der Imperativ der Medien wieder nützlich zu machen. Das heißt dann aber: Es gilt die überflüssige Produktion nutzloser Müllberge, die medialen Wüsten, die anwachsenden Informations-, Kommunikations- und Daten-Deponien der globalen Netzkultur im Widerstand praktisch wie theoretisch zu verringern – eine theologische Askese, die später die abstrakte Kunst, die atonale Musik oder das Bauhaus profan-ästhetisch übernahmen, um gegen die Entsinnlichung der Sinne zu protestieren, und die heute wieder von Harald Welzer, in seinem „Transformationsdesign“, ökologisch neu gelesen wird (dabei aber auch eine Schlagseite zeigt, denn was wir zuletzt, im Sinne eines wahrhaft Neuen, zu transformieren hätten – nicht nur das, was in der westlichen Welt schon da ist – sind eben die alten Müllberge und Datendeponien selber, die auch im Menschen und in der Menschheit selbst liegen). In ihrer Verrohung, Verwilderung und Bestialisierung – in Wirklichkeit sind auch diese naturalisierten Begriffe überholt – zur Sprache bringen. Schließlich alle Medien im Widerstand in sich selbst umkehren und so einen neuen Gebrauch ermöglichen, ohne sie erneut durch Arbeit, Tätigkeit, Aktion oder Humanismus (ein idealistisches Konstrukt, das in seiner indikativen Maschine die Herrschaft und Macht des Imperativs leugnet) zu beschlagnahmen. Akustisch bedeutet dies nichts anderes, als den Lärm der universalen und nationalen Medienmaschinen durch einen anderen, widerständigen Klang zum Verstummen bringen, oder visuell, wie der Journalist oben formuliert, den Blick in die „Kloake menschlicher Abgründe“ richten, die immer schon auch die eigenen sind. Dies bedeutet aber auch, den historisch produzierten Abraum und ‚Abfall‘ (vormals eine theologische Kategorie, die einmal die alles durchdringende Kälte der Welt tilgen wollte, und die inzwischen in den Bereich der Ökologie verschoben wurde) aufheben und abschaffen. Damit zielt alle Medienkompetenz – sofern sie wirklich eine ist und nicht bloß mit der ständigen Produktion überflüssiger Datendeponien beschäftigt ist – nicht auf den unmöglichen Gebrauch der Medien (der Sprache, Bilder oder Töne im Sensations-, Aufmerksamkeits-, Ausstellungs-, Konsumtions- und Kommunikationsdispositiv) hin. Sondern auf die Abschaffung ihres versagenden, vernichtenden, verschuldenden, gespenstischen, aussaugenden oder hysterisierenden Prinzips, das heute als anonyme Übermacht eines verabsolutierenden Mediums auftritt, das zugleich polyarchisch umrahmt wird. 2.5 Archäologie und neuer Gebrauch des Mediums 2.5 Archäologie und neuer Gebrauch des Mediums Es gilt also diesem neuen ontologischen Imperativ des Sollens in den medialen Sphären und Formen nachzugehen, um ihn durch ‚Sprache‘, durch einen anderen Gebrauch des Mediums paradigmatisch außer Kraft zu setzen und so den allge- 2.5 Archäologie und neuer Gebrauch des Mediums 27 meinen „Wunsch nach Atonalität“ wieder zu „tonalisieren“ (Badiou). Dabei geht es nicht darum, das Medium auf seinen ontotheologischen, unverständlichen Anfang zurückzuführen (was einmal die Theologie als für die Vernunft unverständlich erklärte sollte nämlich später von der dekonstruktiven, kryptotheologischen Vernunft als ihre eigene Voraussetzung anerkannt werden). Sondern die unverständliche Medienmaschine (die öffentliche Macht des Medialen als Werden, Sein und kryptoimperatives Sollen) in ihrem Lärm, in ihrer Eschatologie und Teleologie (eine globale und nationale Medienmaschine, die auf ihr eigenes Ende zurast) wieder ‚verständlich‘, ‚wahrnehmbar‘ und ‚spürbar‘ zu machen. Konkret heißt dies: Gegen diese unterm Befehl stehenden Empörungs-, Enthemmungs-, Sucht- und Hassmaschinen Wiederstand leisten und Abstinenz üben. Oder, bei diesem grausamen Spiel Zug um Zug die Regeln verändern, zuletzt die Medien aus ihrem gespenstisch-aussaugenden Zustand paradigmatisch befreien, um die so gereinigten Medien (nicht die ontologisch reinen) mit der unkorrumpierbaren Idee der Menschheit (die heute im ontotheologischen Kapital- und mythischen Nationalbegriff verschwand) wieder in eine neue Beziehung zu setzen. Deswegen lauten hier die Fragen: Gibt es ein Medium, das sich dieser mediale Verrohung, Verwilderung und Bestialisierung widersetzt und das dann kein Meta-Medium (metaphysisches, ontologisches, theologisches) mehr ist, aber auch nicht erneut in ein Nichtmediales (Unaussprechliches) versinkt? Ist ein Medium denkbar, das alle Medien (auch der Mensch ist ja selber ein Medium; alle seine Organe sind ja nichts anderes als Medien) auf ein Nichtmediales, „Anteilloses“ (Ranciére), Neues, Fremdes und Anderes neu ausrichtet, ohne dieses Andere als Idee (worauf alle Medien hinzielen) wieder medial zu beschlagnahmen? Gibt es ein Medium, das nicht bloß das Werk des planetarischen Unwelt-Schöpfers betreibt, sondern das Werk der schlechten Veränderung (die globale Netzkultur in ihrer universellen Verstrickung) zuletzt selbst verändert und aufhebt, um so den Anspruch von Kultur und Humanität (als zweite und erste Natur) jenseits des universellen und nationalen Abschottungsimperativs paradigmatisch zu erfüllen? Auf all diese Fragen hätten wir heute jedenfalls eine Antwort zu geben, wenn wir uns nicht von den Hysterien, Affekten, Shitstorms oder den Verwilderungen der Medien infizieren lassen wollen. Allerdings können diese Antworten nicht mehr der Illusion erliegen, wir könnten wieder zur guten alten, argumentativen Auseinandersetzung (Rationalität, Wissenschaft, Vernunft, Wahrheit) zurückkehren und die imperativen Maschinen aus den indikativen einfach ausblenden: „Denn die Frage lautet nicht: wie kann man dem Befehl entgehen, sondern wie kann man dem Todesurteil entgehen, das er beinhaltet? (…) Wie kann man die revolutionäre Potentialität eines Befehls (…) freisetzen? (…) Ein Befehl löst wiederum einen Befehl aus. Beim Befehl muß 27 28 2 Der Imperativ der Medien das Leben auf die Antwort des Todes antworten, und zwar nicht mehr indem es flüchtet, sondern indem es bewirkt, daß die Flucht agiert und schöpferisch wird.“28 Diese revolutionäre Potenzialität des Befehls, die Deleuze hier gegen das alte Subjekt in Aktion setzt, ist aber auch ihrerseits von der imperativen Maschine kontaminiert. Denn das „Todesurteil“, das der „Befehl beinhaltet“, ist nicht nur das, was von einem alten Subjekt (Information, Kommunikation, Euklid, instrumentelle Vernunft, hieratischer, unbeweglicher Machthaber) gefällt wird. Sondern, es steckt vor allem im dynamischen Prozess der Subjektivierung selber – insofern ist Deleuzes kreatives Modell nicht anarchisch, wie er meint, sondern immer noch archisch konstruiert. Auch Deleuze – trotz seines scharfen Blicks für die Konstanten, Hierarchien, Eingrenzungen, Konturen und „Entwandlungen“ – bemerkt somit nicht, dass gerade das rhizomatisch verzweigte Global-Kollektiv (der weltweit agierende, virtuelle Gesamtakteur in seinen energetischen, biologischen, semiotischen, informativen oder ästhetischen Intensitäten) seinerseits unter den Imperativen der Macht steht. Nein, „der Meister der Verwandlung steht“ nicht „dem unbeugsamen hieratischen König gegenüber“.29 Vielmehr führt er in seinen Aktionen (die Aktionen von Theorie und Praxis) immer noch die Befehle des Königs (die Monarchie des ökonomisch-theologischen Dispositivs) sowie der Könige (die mythische Polyarchie der Nationalgötter) aus – solange er nicht gegen diese imperativen Mächte wirklich schöpferisch angeht, indem er nämlich im genuinen Widerstand diese pseudokreativen, pseudokritischen, neosakralisierten und neoheidnischen Maschinen deaktiviert. Eine Phänomenologie der Medien hätte jedenfalls – soweit hat Deleuze richtig gesehen – nicht bloß den „sacherfassenden und mitteilenden“ Aspekt des „Logos“ (der logos apophantikos des Aristoteles) im Phänomen „Medien“ zu berücksichtigen, sondern auch das, was darin nicht mitgeteilt wird, d. h. als Macht und Herrschaft ausdruckslos bleibt. Dies ist aber das universelle Medienintegral (als Logos, Begriff, Bild, Zahl, Musik, Gefühl, Wunsch, etc.) in seiner Ontologie des Seins (einai) und Sollens (estē). Die paradoxe Aufgabe besteht dann darin, alle verabsolutierende und imperative Macht der Medien, ihre ontisch-ontologische, menschlich-göttliche oder mythische Voraussetzung zu eliminieren. Eine gegenimperative, anarchische Kraft der Medien (ānarchon: etwas, was jenseits der archē, von Macht und Herrschaft liegt), die die Idee der „Menschheit“30 (die nicht nur die Beziehung ‚Mensch-Technik‘, sondern auch die von ‚Mensch-Tier‘ kennt) und eines Menschseins im Widerstand wahrhaft ‚aufklärerisch‘ bewahrt. Gewiss, die Menschen, deren leibliches, geistiges 28 Deleuze 2005, S. 106 f. 29 Ebd., S. 152. 30 „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.“ (Kant 1968, S. 210). 2.5 Archäologie und neuer Gebrauch des Mediums 29 und psychisches Ich heute durch die neuen Medien entmündigt wird, haben ihre „Mündigkeit“ (Kant) erst mit Hilfe der Medien (zunächst die von Sternenkunde, Alphabet, Geometrie, Arithmetik, Rechenkunst, Musik oder Logos) errungen. Ebenso sind dann Humanismus, Aufklärung und Modernität erst durch Technik und Medien (Buchdruck, entsprechende Lese- und Textverarbeitungstechniken, Manufaktur, Industrialisierung) in die Welt gekommen. Aber hinter der Bühne dieser rationalistischen, instrumentellen, ökonomischen, technischen und affektiven Medienmaschine (in ihrer indikativen Ontologie) hatte sich eben auch jene andere Medienmaschine des ontologischen Imperativs versteckt, die heute den Schleier der indikativ-ontologischen Medienmaschine herunterreißt, um in ihrer ganzen globalen und nationalen Pracht zu erscheinen – insofern kann unserer Zeit auch ‚positiv‘ gesehen werden, da jene alten Utopien nun wirklich handgreiflich geworden sind, aber auch von den Hysterie-, Enthemmungs- und Hassmaschinen blockiert werden; die Welt treibt jedenfalls zu diesen Extremen hin. Deswegen meint hier eine Archäologie der Medien nicht nur ihre kryptoimperative ontologische Herrschaftsgeschichte, sondern auch ihre anarchische Gegengeschichte, die Resistenz, den wirklichen Widerstand und die Solidarität in und außerhalb der Dynamik und Potenz (der Akt in seiner Wirklichkeit und Möglichkeit) der Medien. Das Geheimnis des Mediums besteht dann darin, sein verabsolutierendes Dazwischen, das im Dienst des Imperativs steht, aus der Mitte ‚dialektisch‘ zu entfernen und so aufzuheben. Während so zugleich die dekontaminierten Medien für einen neuen, möglichen Gebrauch frei werden. Medien in ihrer ganzen, menschlich-göttlichen Durchschlagskraft verstehen heißt daher, jene vormals euphorische Netzkultur in ihrer ganzen Herrlichkeit (in ihren subjektiv und kreativ besetzten Knotenpunkten) kritisch zu reflektieren, sie brechen, in den subjektiv-agierenden Netzknotenpunkten (in den progressiven und regressiven Energien) zugleich die Desubjektivierungsprozesse (das Kommunikationsdispositiv, das Kreativitätsdispositiv) erkennen und darin wahrnehmen und spüren lernen. Denn das Mittel (Medium) gewinnt heute dort seine volle Macht und Gewalt übers Leben, wo es seine Mittlerfunktion verliert, um auf der progressiven Hyperbel der Konstruktion und Konsumtion einerseits sich zu inszenieren, zu zelebrieren und zu glorifizieren, andererseits aber seinen universellen und nationalen Agenten zu hysterisieren: das globale Zählen als globale Erzählung; die Kommunikation (vermittelt-mediale oder unmittelbar-physische) als Faszination (Akklamation, Spektakel, Doxa); das Zeichen als Totalität; die Ware als Marke, das Kapital als mediale Form; der Tausch- und Gebrauchswert als Ausstellungswert; das Nützliche als Nutzloses; das Erwachen als Traum; das feste Objekt als ein flüchtiges Gespenst; das Materielle als immaterielles Wesen und virtuelles Gespenst; das Logische als Alogisches. Das heißt, das Medium 29 30 2 Der Imperativ der Medien in seiner Mittlerfunktion berauscht sich an sich selbst, was immer zugleich den Rausch, den Traum, den Willen, den Wunsch, die Imagination und die Erregung des rhizomatisch verzweigten Global-Kollektivs bedeutet. So wird das private und öffentliche Medium immer schon von seiner Selbstfaszination begleitet. In seiner ontologischen Selbstfaszination hat das Medium seine historische Beweglichkeit, Metaphorik, Spur und Signatur verloren und ist damit phantasmatisch, sinnlich verklärt, selbst zur Sache geworden – wie heute in der unbeweglichen Ontologie der „westlichen Werte“, Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Toleranz, im freien Weltmarkt, im Kultus der Arbeit, der Leistung, Akkumulation oder der Ausstellungen. Ein im Verborgenen wirkendes Prinzip als Voraussetzung der öffentlichen Doxa, das dann in seiner „Aufhebung“31 aus seiner Mitte paradox hervorkommt, in die Öffentlichkeit auftritt und zugleich aus der Mitte als „Stachel“32 entfernt wird, damit es als heilendes Mittel (die Doppelfunktion des pharmakon) in den Dienst einer wahrhaft menschlichen Gemeinschaft eintreten kann. Medien – sofern sie nicht das Geschäft des Imperativs betreiben – halten jedenfalls die Hysterie-, Zorn-, Enthemmungs-, Wut- und Hassmaschinen an, um ihren Lärm zu verbrauchen. Denn während man im neuen Gebrauch der Medien wirklich human spricht, sieht oder hört, arbeiten jene verwilderten (nicht bloß einschläfernden) Affektabfuhr- und Shitstormmaschinen nicht mehr – daher trifft die Formulierung von Habermas 31 Den „dialektischen“ Begriff „Aufhebung“ verwendet zunächst Luther in seiner Übersetzung (nomon katargoumen), um jenes „Gesetz“ zu beschreiben, das einerseits außer Kraft gesetzt, andererseits aber dadurch auch aufbewahrt wird („Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf“; Römer 3.31). Diese „Aufhebung“ verwendet später auch Hegel, um sie allerdings in den säkularisierten Prozess des Geistes einzubetten. Diskontinuität und qualitative Differenz sind damit freilich im Kontinuierlichen des Gesetzes selber aufgelöst (für Paulus ist dies aber das Gesetz dieser Welt, aber: „die Gestalt dieser Welt vergeht“; 1. Kor. 7, 31). Bei Hegel ist hingegen die „Aufhebung“ Attribut der Wahrheit des ganzen Prozesses: das „Ganze ist das Wahre“. Aber eben dieser ist, nach Paulus, der totale Schleier des gesetzlosen Gesetzes (anomia tou nomou), der „aufzuheben“ wäre. Der ganze Prozess des Kontinuierlichen (syneches) ist eben als solcher (aus messianischer Perspektive gesehen) nicht „wahr“, „ungerecht“, das heißt, die darin gelegene Diskontinuität des nyn kairos („Jetztzeit“; Benjamin) wird durch das Medium des säkularen „Begriffs“ um ihr ganzes Gewicht gebracht. 32 In einer Fußnote zitiert Deleuze Elias Canetti mit der Bemerkung: „Er geht davon aus, daß ein Befehl in Seele und Fleisch eine Art von Stachel hinterläßt, der eine Zyste bildet, eine Verhärtung, die ewig erhalten bleibt.“ (Deleuze 2005, S. 119). Auch diese „ewige Verhärtung“ scheint inzwischen in ihrer anthropologischen, mythologischen oder ontotheologischen Statik probematisch geworden zu sein, seit nämlich der technologisch-mediale Prozess in seiner Beschleunigung noch diese „Fleisch-Seele-Kontante“ der „Wunde“ nicht mehr gelten lässt. 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 31 das Medienphänomen nicht ganz: „Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.“33 Sie werden auf ihren Nullpunkt getrieben, um so Platz für jenen anderen, wahrhaft dialogischen und humanen Gebrauch der Medien zu schaffen. Solche Medien kündigen ihren Dienst an den alten imperativen Medienmaschinen auf, um im Gegenimperativ – insofern ist ein Moment des Imperativs nicht zu leugnen, da ja jeder Widerstand im Horizont der Macht sich bewegt, auch wenn er sie zuletzt außer Kraft setzt – zuletzt ohne Herrschaft (an-archisch, ohne archē, als Anfang und Herrschaft zugleich) das Band, das uns als Gemeinschaft verknüpft, neu zu knüpfen; ein Gemeinsames, das heute freilich in den universellen Netzwerken korrodiert und in der globalen und nationalen Kommunikation (unmittelbar-physisch wie medial-vermittelt) ausgebeutet wird. Diesen universellen Übergriff des Mediums im hyperrealen und hyperkulturellen Hier- und Überallsein heute zu lesen, darin zugleich die Archäologie der Medien zu entziffern, die archē der Medien (die historisch-gesellschaftliche Epochentotalität als ein zugleich kommunikativ-ontologisches und nationales Dispositiv) außer Kraft zu setzen, die dekontaminierten Medien schließlich auf das neue, andere Gravitationsfeld der unausdenklichen, unkonstruierbaren Idee der Menschheit umzulenken, um anschließend dieser Idee human zu dienen, wäre dann die politische Aufgabe, die eine medial sensibilisierte (nicht medial hysterisierte) Menschheit noch zu vollbringen hätte. 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine Guy Debord hat 1967 die Transformation der kapitalistischen Ökonomie sowie der Politik auf planetarischer Ebene beobachtet und dies als „eine unermeßliche Ansammlung von Spektakeln“ gedeutet, wo die Ware und selbst das Kapital die mediale Form des Bildes angenommen hatte. Später wurde diese Transformation als „emotionaler Kapitalismus“ (Eva Illouz) oder als „erregte Gesellschaft“ (C. Tür- cke) bezeichnet. Was ist aber der neue „spektakuläre, ästhetische und emotionale Kapitalismus“ noch weiter? Ist er etwa bloß ein ästhetisches Unternehmen, wo 33 Habermas 2015. Der Journalismus arbeitet eben nicht mit der diskursiven Rationalität, vielmehr sorgt er für die sofortige Affektabfuhr des Konsumenten, wie er sich dann auch produktiv in den Foren äußert. 31 32 2 Der Imperativ der Medien nun an die Stelle des alten Arguments (Rationalität, instrumentelle Vernunft) der Widerstand des Bildes (Ästhetik) oder der politischen Aktionsform tritt? Oder ist dieser „ästhetische Atheismus“34 als Widerstand nicht vielmehr auch nur Teil der Maschine selber. Unserer Antwort lautet: Als ein pseudokritischer Widerstand ist er nicht nur selbst Teil der Maschine, sondern treibt auch diese Maschine weiter voran: der nonkonformistische Widerstand ist Teil der monarchischen, imperativen Maschine selber (als Sein und Sollen); jeder leistet heute Widerstand (von Schwulen und Lesben bis hin zu kirchlichen Institutionen, die sich dem Anderen, Fremden und Ausgegrenzten angeblich öffnen), so dass der ganze Diskurs des Widerstands die globale Maschine in ihrer Funktion weiter am Leben erhält. Dabei ist aber nicht so sehr der Widerstand das Problem – ohne Widerstand bleibt eben alles bei der alten Possitivität. Sondern dass er sich in seinen kleinen Pseudoaktionen erschöpft und die große Operation als eine metaphysische Aktion verleumdet, oder diese jedenfalls in den kleinen Praxisformen auflöst. Damit lassen sich die kleinen, nonkonformistischen Schritte (ähnlich den konformistischen), die angeblich Widerstand leisten, wieder von den alten imperativen Maschinen einfangen. Die pseudokritische Gegenaufmerksamkeit wird dabei nicht nur zu einem Teil der globalen Aufmerksamkeitsmaschine, vielmehr bildet sie darin zugleich den Treibstoff, der die Maschinen weiter vorantreibt – so erklärte einmal George W. Busch angesichts der Demonstrationen in London: „Sehen Sie, genau dafür kämpfen wir: Daß das, was Sie hier tun – gegen die Politik ihrer Regierung zu protestieren – auch im Irak möglich wird!“35 Damit lässt sich der kritische Aufruhr nicht nur schwer von der neoliberale Maschine des kapitalistischen Triebes unterscheiden. Vielmehr sorgt er dafür, dass die medien-ontologische und mythische Maschine weiterhin läuft. Rückblickend erweisen sich daher die modernen Widerstandsprojekte, die internationalen Protestbewegungen als dialektische Beschleunigungsfaktoren, die 34 „Argumente verfangen nicht. Jeder Nachweis, dass dieser Gott keiner ist, macht sich lächerlich. Er rennt offene Türen ein. Hier hilft nicht Argument gegen Argument, allenfalls Aufmerksamkeitsfang gegen Aufmerksamkeitsfang, sozusagen ein ästhetischer Atheismus. Den darf man überall dort am Werk sehen, wo das kritische Erbe der modernen Kunst (…) sich fortentwickelt, in politische Aktionsformen und Diskurse eindringt und jene neue Mischung von Kunst, Event und Demonstration entsteht, an der Künstler wie Nicht-Regierungsorganisationen von sehr verschiedenen Ausgangspunkten aus arbeiten. (…) sowie geschehen, als Greenpeace die demonstrative Rückführung von heimlich abgeschobenem Atommüll ins Verursacherland veranstaltete, oder Hans Haacke auf dem Münchner Königsplatz Fahnen mit den Namen der deutschen Firmen flattern ließ, die in die Waffenprogramme des Irak verwickelt waren.“ (Türcke 2003, S. 152). Es handelt sich hier um einen Pseudoaktivismus, der sich offenbar als kritisch versteht, während er in Wirklichkeit eine alte, herakliteische Figur bildet. 35 Zitiert nach: Žižek 2009, S. 90. 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 33 die globale Medienmaschine inzwischen zur „Fluchtgeschwindigkeit“ (Virilio) verholfen haben. Noch die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Einübung in den zivilen Ungehorsam oder die Lockerung der Umgangsformen in den 68er Jahren sollten somit zu jener völligen Enthemmung des Menschen beitragen, die heute beklagt wird – darauf setzt heute die neue irrationale Reaktion, womit sie ein Wahrheitsmoment ausspricht, dass sie freilich nicht ganz versteht; so etwa, wenn sie wieder von „Respekt“36, Ordnung oder Disziplin spricht. Alle pseudokritischen, ästhetisierten Widerstandsformen (so einmal auch die „No-Logo!-Kampagne“) nähern sich daher nicht emanzipatorisch der Humanität, vielmehr erzeugen sie in der monarchischen und polyarchischen Medienmaschine die Vergiftungen ohne Ende. Dergestalt, dass erneut nach den konservativen Werten verlangt wird, die aber die medial-vermittelte und unmittelbar-physische Medienmaschine – der unbewusste Prozess der Verwüstung der Welt – nur noch weiter vorantreiben. Der „Griff nach der Notbremse“, wie ihn einmal Benjamin messianisch formulierte, wird eben hier durch jene kleine, pseudopolitische Aktionsformen (NGOs, Greenpeace, Boykotts der Konsumgesellschaft, Grüne etc.), durch das pseudopolitische „Gegenfeuer“ (Bourdieu) ersetzt, die in Wirklichkeit nur noch die Funktion haben, den imperativen Medienmaschinen immer wieder neue Nahrung zu verschaffen. Daher: Wenn man gegen den Neoliberalismus und seinen Theoretikern einwenden kann, dass sie noch an die Zauberkraft des Marktes oder an den hohlen „westlichen Werten“ festhalten, so kann man gegen die kritischen „Gegenfeueraktionisten“ die These aufstellen, dass sie letztlich den politischen, gegenimperativ-anarchischen Widerstand in die Hände der imperativen Medienmächte abgeben und damit Politik entpolitisieren. Alle diese kritischen Psedoaktionsformen haben nämlich inzwischen nur eines gezeigt: Sie haben die ökonomisch-theologische (medien-ontologische) Medienmaschine auf ihre „Fluchtgeschwindigkeit“ (Virilio) beschleunigt und sie so auf eine orbitale Bahn gebracht, wo noch jene Spekulationen der Johannischen Offenbarung, aus heutiger Perspektive aus gesehen, geradezu handgreiflich wirken; denn ihre Fiktionen verlassen nicht ganz die Erfahrungen der Menschen, während die neuen Apokalypsen, wie sie in den neuen ökonomischen, algorithmisch-ontologischen Spekulationsmaschinen organisiert werden, die Welt der menschlichen Erfahrung weitgehend verlassen haben. 36 „Eine Gesellschaft ohne Respekt, ohne Pathos der Distanz führt in die Skandalgesellschaft. (…) Ohne Ab-Stand ist auch kein An-Stand möglich. (…) Die digitale Kommunikation fördert diese pornografische Ausstellung der Intimität und Privatsphäre.“ (Han 2013, S. 7). 33 34 2 Der Imperativ der Medien Deswegen hat Agamben hier recht, wenn er schreibt: „Der Kampf gegen einen Feind, dessen Struktur einem unbekannt bleibt, endet früher oder später damit, daß man sich mit ihm identifiziert.“37 Eine Identifizierung, die heute auf der erhöhten historischen Stufenleiter der globalen vermittelt-unmittelbaren Medienmaschine stattfindet (die zwei Seiten ihres epistemisch-technischen und doxologischen Dispositivs). So sind auch Liberalismus und Utopie nicht mehr das, was sie einmal waren. Der liberale Begriff der Konkurrenz stammt nämlich noch aus einer relativ harmlosen Konkurrenzphase, die ihre Harmlosigkeit in der Ökonomisierung und Digitalisierung der Welt verloren hat. Die kleine immanent-ontische Differenz und die große metaphysisch-ontologische Differenz fallen nämlich in der neoliberalen Medienmaschine auch zusammen. Dialektik ist dann sowohl das Gift (das Mittel als pharmakon), als auch jene Operation (die zweite Bedeutung des pharmakon), die den Lauf der ontisch-ontologischen Maschine aufhebt, sie außer Kraft setzt und zugleich das gereinigte Mittel für einen neuen Gebrauch bewahrt.38 Insofern meint heute das kreativ-schöpferische Medienintegral 37 Agamben 2002, S. 22. 38 Hier hat sich Adornos negative Dialektik in eine Aporie verstrickt. Einerseits behauptet er: „Dialektik ist die Ontologie des falschen Zustandes“. Andererseits schreibt er: „Dialektik absorbiere die Kraft des Gegners, wende sie gegen ihn; nicht nur im dialektisch Einzelnen sondern am Ende im Ganzen.“ (Adorno 1992, S. 22 und 398). Gerade diese Schritte im „dialektisch Einzelnen“ als Widerstand gegen das Ganze halten aber den Lauf der dialektischen Maschine erst in Gang. Das Spiel läuft nämlich genau umgekehrt: die Gravitationskraft der universellen (menschlich-göttlichen) Maschine absorbiere die dialektisch-negative Kraft des Gegners und wendet sie schließlich gegen ihn selber. Geschichte bedeutet eben nicht metaphysisch, dass Sein werde (emphatische Geschichte) und nicht stets wieder Werden sei (Vorgeschichte), sondern Sein und Werden bilden hier nur die eine ontisch-ontologische Medienmaschine (einai), die immer zugleich im Befehl (Sollen: estē) einer archischen Macht steht: ‚Sei!‘, ‚Werde unendlich!‘ – bis du dich in deinen Aktionen völlig ruiniert hast. Adorno musste diese verdeckte Allianz der Dialektik (des über sich selbst hinauswachsenden Begriffs oder der besseren Praxis) mit der Macht unfreiwillig zuletzt selber eingestehen, als es einmal nämlich politisch sehr brenzlig wurde. Er sah sich plötzlich gezwungen aus seiner philosophisch-dialektischen Maschine auszusteigen, um nach der Polizei (archē; Herrschaft) zu rufen. Der autoritäre Charakter (archē) ist eben nicht das Gegenteil des demokratischen Charakters, sondern fällt mit dem auch zusammen. Das ist dann die Stelle, wo sich Adorno mit Deleuze trifft: „Indem sie sich den Dimensionen des Wissens und der Macht entziehen, scheinen die Subjektivierungslinien besonders geeignet, schöpferische Wege vorzuzeichnen, die zwar immer wieder scheitern, aber auch wiederaufgenommen und modifiziert werden, bis hin zum Bruch mit dem alten Dispositiv.“ (Deleuze 1991, S. 159). Bei Adorno heißt dies: „Dialektik absorbiere die Kraft des Gegners, wende sie gegen ihn; nicht nur im dialektisch Einzelnen sondern am Ende im Ganzen.“ (Adorno 1992, S. 398). Die Subjektivierungslinien entziehen sich eben nicht der Macht (archē), vielmehr sind sie 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 35 die absolute Immanenz, und diese zugleich die unendliche Desubjektivierung. Jedes Sein beharrt nämlich – eine Figur, die auf Spinoza zurückgeht – nicht nur in seinem Sein, sondern begehrt, in seiner dynamischen Strebung in der Zeit, in sich selbst zu verharren. Die Bewegung des Mediums fällt so mit derjenigen der immanenten Ursache zusammen, wo Aktion und Passion, Werden und Sein, Strebung und Beharren eins werden und bleiben. Deswegen beschreiben auch Konformismus und Nonkonformismus im medialen Prozess nur die eine Figur von Subjektivierung und Desubjektivierung im ökonomisch-informatischen Medienintegral. Auch als Gegenkraft entzieht sie sich nämlich nicht dialektisch oder schöpferisch der Macht (archē), vielmehr ist sie ein notwendiges Moment der Herrschaft, wo die erlahmte, neoliberale Medienmaschine durch Kritik, Widerstand und Kreativität – als Pseudokräfte – immer wieder neue Nahrung erhält. Deswegen müssen hier auch die Slogans eines Mao („Von Niederlage zu Niederlage zum Sieg“) oder eines Beckett („Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“) zuletzt notwendig scheitern. Denn auch das „besser scheitern“ ist nämlich nur der Treibstoff, der die universelle Maschine weiter am Leben erhält und sie weiter vorantreibt – so etwa, wenn man das Resultat der zahlreichen emanzipatorischen Projekte des letzten Jahrhunderts betrachtet: die Bremstätigkeiten der Avantgardekunst; die Revolutionen des Ostblock-Sozialismus als große Bremsprojekte gegen die kapitalistische Globalisierung; die antikapitalistischen Bewegungen in den Zentren der westlichen Welt; die Situationistische Internationale Ende der fünfziger Jahre; die internationale Protestbewegung der sechziger Jahre; die No-Logo!-Kampagne oder die zahlreichen Bewegungen gegen Weltbank, IWF, WTO, NSA, Google etc. Deswegen können wir heute feststellen, dass alle diese kritischen Bremsprojekte statt Befreiung oder Naturalisierung der Welt – an ihrem eigenen Anspruch gemessen, Entfreumdung oder Verdinglichung aus der Welt schaffen – zu mehr Dehumanisierung, Beschleunigung, Desubjektivierung und Denaturalisierung der Welt (industrialisierte Massentierhaltung, Biogenetik, biopolitisches Dahinvegetieren etc.) geführt haben. Es ist die vollkommene Unterwerfung unter einer ökonomisch-theologischen, technisch-ontologischen, psychopolitisch-transzendenten und menschlich-göttlichen Medienmacht. Im Paradigma möglicher Befreiung und Emanzipation sollte daher das imperative Element erkannt werden, das die völlige Unterwerfung unter einer universellen Bio- und Psychomacht besiegelt. In diesem Prinzip, das die Zuschreibung des Äußerungen der archaischen Herrschaft. In diesem Prinzip, das die Zuschreibung von Subjektivierung erlaubt, sollte also zugleich die Matrix der Desubjektivierung in der absoluten Immanenz entziffert werden. 35 36 2 Der Imperativ der Medien kreativen, kritischen und widerständigen Subjektivierungsprozesses erlaubt, sollte jedenfalls die Matrix der Desubjektivierung und Anpassung entziffert werden. Rationalität und Irrationalität bilden somit nicht nur die zwei Seiten des ästhetischen, emotionalen Kapitalismus (als Begriff und Bild, Zahl und Musik, Wahrheit und Lüge etc.). Vielmehr verdeckt er als immanentes Projekt (das subjektivistische Paradigma einer möglichen Glückseligkeit als Unterwerfung unter der universellen Psychomacht) die zwei ontologischen Maschinen von Sein (Werden, Arbeit, Tätigkeit, Aktivität) und Sollen (die imperative Macht) – die ihrerseits von den mythologischen umrahmt werden. Deswegen hatte Nietzsche recht, als er den Willen als „Wille zur Macht“ erklärte – allerdings hat dieser „Wille zur Macht“ inzwischen auch den „ewigen Kreislauf“ des Mythos verlassen, um auf der exponentiellen Kurve der Hyperkonstruktion und Hyperkonsumtion (das „übermenschliche“ Projekt) die Matrix der Desubjektivierung auf eine neue historische Höhe zu treiben. Damit beschreibt die Figur des „Willens“ zugleich den Willen des neoliberal-konformistischen Menschen und nonkonformistischen Gegen- und Übermenschen (als actus und potentia) – nicht die Utopie einer anderen Gesellschaft.39 Nein, der dialektische „Begriff“ (Medium), der seine identifizierende, klassifizierende und subsumierenden Seite gewahr wird, wächst nicht über sich hinaus (ein Begriff des „Wachstums“, der angesichts der digital-technologischen Beschleunigung als ein Relikt aus vergangener Naturzeit erscheint). Ebenso wenig weist, anthropologisch-kritisch, der affektive Erregungsüberschuss (als letzter Wunsch) über das monarchische und polyarchische Medienintegral hinaus. Vielmehr sind Begriffe und Affekte (geistige und leibliche Medien) Momente der globalen und nationalen Maschinen selber, so dass darin die Matrix der Desubjektivierung verdeckt bleibt; ihr scheinbar dialektisches oder pseudoanarchisches Moment ist notwendiges Teil der Maschine selber (der archē als Anfang und Herrschaft) – und das wahrhaft Anarchische (der herrschaftslose Zustand) wäre dann erst durch die Deaktivierung dieser ökonomisch-theologischen Maschine (das Gesetz) zu erreichen. Nietzsche hatte also recht als er schrieb: „Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht“.40 „Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir ‚unphilosophischer‘ –, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin (…), in jedem Willensakte gibt es einen kommandierenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem 39 „Wer das will, was die kapitalistische Gesellschaft verheißt, muß eine andere Gesellschaft wollen.“ (Türcke 2002, S. 306). 40 Nietzsche 1994, S. 22. 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 37 ‚Wollen‘ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrigbliebe!“41 Dieser irrationale Willensakt ist aber ebenso mit dem apophantischen logos (Wissenschaft, Profitrationalität, Technik, etc.) kontaminiert, so dass beide Momente hier die eine indikative Medienmaschine (Sein, Ist, Werden) in ihrer ganzen Dynamik beschreiben – eine Kontamination, wo schließlich, in politischer Sprache ausgedrückt, Linke und Liberale, Linke und Rechte, trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Denk- und Verhaltensweisen (eine unbegriffene Erbschaft der aristotelischen Unterscheidung) nur die zwei Aspekte der einen, doxologischen Medienmachtmaschine bilden, die sich in den zeitgenössischen Gesellschaften unablässig verflechten und trennen. So ist die Rückkehr der Gemeinschaft nicht der komplementäre Aspekt zum Individualismus. Vielmehr bilden das individualle Allgemeine (globale Weltmarktgesellschaft, das ökonomisch-theologische Dispositiv) und die nationalen, ethnischen, regionalen oder lokalen Identitäten (mythische Polyarchie) eine komplementäre Figur. Wir haben es hier nicht mit dem Trieb zum sozialen Verbund zu tun, der angeblich im Namen der Rationalität, des Nützlichen oder der Selbstverwirklichung verdrängt worden war und heute wieder von neuem, in den extremen, gewaltsamen, rearchaisierenden Formen zurückkehrt. Die „destruktive Gemeinschaft“ (Sennett) ist zwar eine Form der Gemeinschaft, die zugleich modern und archaisch erscheint, aber nicht so, dass sie der Beziehungsleere einer kalten, anämischen Gesellschaft die intensiven, emotionalen Affekte des kollektiven Zusammenhalts gegenüberstellt – und die dann durch den Ausschluss des Anderen darauf abzielen, die lokalen und selbsbezüglichen Identitäten wieder zu behaupten und zu verfestigen. Der Begriff der „destruktiven Gemeinschaft“ beschreibt vielmehr das Dispositiv der globalen Gesellschaft selbst, wo immer zugleich die regressiven, lokalen, kollektiven Identitäten im Schoß des Weltmarkts und der Demokratien wachsen. Kollektive Identitäten, die dann jede Möglichkeit von Verhandlung und Einverständnis eine Absage erteilen – diesen Zusammenhang von Medienherrschaft und Medienherrlichkeit im monarchischen und polyarchischen Mediendispositiv konnten die Kommunikationsverfahren eines Habermas bis heute nicht entziffern, weil sie bloß auf das apophantische Argument (das sie zweitgeteilt haben, instrumentelles Handeln und kommunikatives Handeln) setzen, ohne zu merken, dass alle Kommunikation ihrerseits durch das Nicht-Apophantische kontaminiert ist; unbeschränkter Kapitalismus und beschränkter Nationalstaat sind eben nichts anderes als die zwei Seiten desselben monarchischen und polyarchischen Herrlichkeitsdispositivs.42 41 Ebd., S. 26. 42 So deutet zuletzt Habermas auch den „Brexit“ als Regression: „Dem Beobachter hat sich die offensichtliche Irrationalität nicht nur des Ergebnisses dieser Wahl, sondern des Wahlkampfes selber aufgedrängt. Auch auf dem Kontinent nehmen die Hasskam- 37 38 2 Der Imperativ der Medien So liegt das Wahrheitsmoment dieser „destruktiven Gemeinschaften“ darin, dass sie immer mehr ahnen als sie wissen können: Dass die Begriffe (Medien) wie Kommunikation, freier Markt, neoliberale Freiheit, Humanität, Menschenrechte, Demokratie oder „westliche Werte“ leer sind und daher in ihrer Anwendung hohl klingen. Aber genau hier liegt eben auch die unbewältigte Erbschaft der aristotelischen Unterscheidung zwischen dem Apophantischen und Nicht-Apophantischen. Dergestalt, dass jene „destruktive Gemeinschaften“ auf diesen zweiten Aspekt des Nicht-Apophantischen abzielen, indem sie nämlich den Vorhang vor der Bühne des Imperativs fallen lassen. Damit aber auch auf die imperative Erbschaft des Apophantischen selber hinweisen, das im Namen von Wahrheit, Rationalität, Logik, Vernunft oder Kommunikation den Imperativ immer wieder von der Bühne zu vertreiben versucht. Denn in der globalisierten Gesellschaft haben wir es nicht bloß mit der kalten Rationalität zu tun, der dann komplementär die Gefühle der kollektiven Gemeinschaften hinzutreten, vielmehr ist diese Rationalität immer mit Affekten, Gefühlen, Emotionen sowie mit dem Imperativ eines Sollens kontaminiert. Nicht Profitrationalität, Entwurzelung, Utilitarismus, Tauschwert, Instrument, Zahl, Vermittlung, Abstraktion hier und Gefühle, Erregungen, Wärme, Unmittelbarkeit, Wurzel, emotionaler Zusammenhalt dort also, vielmehr ist das Kapital in seiner Rationalität immer auch affektiv und imperativistisch besetzt: der emotionale Zusammenhalt im universellen Kapitalbegriff selber, der darin eine modern-theologisch-monarchische und zugleich mythisch-polyarchaische pagnen zu. Die sozialpathologischen Züge einer politisch enthemmten Aggressivität deuten darauf hin, dass die alles durchdringenden systemischen Zwänge einer ungesteuert ökonomisch und digital zusammenwachsenden Weltgesellschaft die Formen der sozialen Integration überfordern, die im Nationalstaat demokratisch eingespielt waren. Das löst Regressionen aus.“ (Jürgen Habermas 2016). Die Imperative sind aber nicht bloß instrumentell (ökonomisch und digital), so dass die Argumente des kommunikativen Handelns davon unberührt bleiben, vielmehr haben sie sich inmitten der apophantischen, kommunikativen Verfahren und der transnationalen Demokratien niedergelassen, wobei letztere heute nur noch als regulierende Deregulierungsmaschinen fungieren. Es ist der infernalische Ort einer monarchischen Macht in ihrem universellen Identitätszeichen, worauf dann die morschen Nationalstaaten mir ihren Identitätszeichen ihrerseits regressiv reagieren, damit aber die Sache nur noch verschlimmern. Insofern hat Habermas wiederum recht, wenn er sagt: „Aber das Plädoyer für eine Rückkehr zum Format der kleinen Nationalstaaten leuchtet mir nicht ein. Denn diese müssten auf den globalisierten Märkten erst recht im Stile globaler Mischkonzerne geführt werden. Das bedeutet eine vollständige Abdankung der Politik vor den Imperativen unregulierter Märkte.“ (Ebd.). Diese „Abdankung der Politik“ hat er aber selber schon vorher geleistet, indem er nämlich das Politische in den kommunikativen Verfahren sowie in der „consensus democracy“ aufgelöst hat, so dass darin die wahren Imperative verborgen bleiben. 2.6 Widerstandsformen als Teil der globalen Medienmaschine 39 Figur bildet. Ein ökonomisch-theologisches (digital-ontologisches) Dispositiv, das immer zugleich von der Vielheit der archaischen Kollektive umrahmt wird: die zwei komplementären (monarchaisch-polyarchischen) Dispositive. Der Sachverhalt heißt hier also nicht: ‚In der Gesellschaft der aufgelösten Bindungen und der Gefühlslosigkeit, des Sinn- und Werteverlustes wächst mit der negativen Kraft der Wiederkehr des Verdrängten der Wunsch nach Identifikation und Zugehörigkeit auf, der sich dann in feindseligen und exlusiven Formen ausdrückt.‘ Sondern: Die globalisierte Gesellschaft ist eine der monarchischen Weltmarktbindungen, der Austellungs-, Design-, Konsum- und Erregungswerte (der globalkapitalistische Trieb), um in dieser Gestalt der einen, imperativen Macht absolut zu gehorchen. Während die blinde Rückkehr zur narzisstischen, kollektiven Identität nur die andere, komplementäre Figur zur (ebenso blinden) narzisstischen Weltmarktidentität bildet, wo dann zum Ritual des freien Weltmarkes, der neoliberalen Freiheit, der Menschenrechte, der Demokratie oder der „westlichen Werte“ das Ritual des Ortes, der Heimat, der Nation oder der eigenen Kultur sich hinzugesellt. Insofern hat Benjamin recht, als er schreibt, dass Marx, Nietzsche und Freud die Priester der neuen „kapitalistischen Religion“43 seien. Allerdings wollte Benjamin diese neue Religion der Zerstörung als bloße kultische Praxis ohne spezielle Dogmatik, ohne Theologie verstanden wissen (also nur als öffentliches Handeln), während sie in Wahrheit ohne das neoliberale Dogma (als öffentliche Meinung, Konsensdemokratie und Doxa) gar nicht funktionieren würde. Ebenso haben wir es hier nicht bloß mit den Anhängern des neuen kapitalistischen Kultes zu tun, die in der Unruhe der Globalisierung keine Heimat mehr haben – im Gegensatz zu den Christen, die einmal Fremdlinge auf Erden waren, weil sie wußten, dass ihre wahre Heimat im Himmel lag. Sondern ebenso mit den Anhängern eines neuen heimatlichen Kultes, die ihre inzwischen entleerten National-, Regional- oder Ortsbehälter immer noch in ihrer ganzen Fülle sehen und anbeten. Eine doppelte Absonderung also, wo alle Medien (in ihrer qualitativ neuen Beweglichkeit oder in ihrer örtlich-heimatlichen Statik) durch die imperativen Maschinen der Kapitale und A-Kapitale beschlagnahmt worden sind und in dieser musealen Entwirklichung und Aussaugung der Welt ihre Unmöglichkeit bekunden, eben 43 „Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. (…) Diesen Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt. (…) Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. (…) Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins (…) Sozialismus.“ (Benjamin 1991 a, S. 101 f.). 39 40 2 Der Imperativ der Medien bloß Medien zu sein. Denn was im „Zwischen“ (von dem weg zu dem hin) dieser Medienmaschine „denkt“, „macht“ oder „will“ (ob als nationales oder kapitales Ich) ist als immanente Strebung in der Tat „herrschsüchtig“. Aber dies ist keine anthropologische Konstante oder eine invariante Ausstattung des Seins, sondern etwas Objektives: die Herrschaft der unbewegten Kapitalgottheit in ihrer menschlich-übermenschlichen Bewegung. Diese ökonomisch-theologische Medienmaschine lässt sich dann nicht einfach ontologisch umdrehen, indem man etwa invariant behauptet: die ökonomische Macht ist bloß ein sekundäres Phänomen, das in Wirklichkeit nur die „universelle Herrschaft des Willens zur Macht“ (Jünger; Heidegger) verbirgt. Damit kann nämlich die „ontologische Differenz“ (in der Entbergung und Verbergung des Seins) von der ontischen Sphäre sich ganz verabschieden, um das Akzidentelle mit dem Substanziellen zu verwechseln. So wird die Ontologie zu einer tautologischen Medienmaschine: „Was ist das Sein? Es ist es selbst“ (Heidegger). Nicht das Kapital ist dann eine Form des Willens zur Macht (ein Epiphänomen), sondern der Wille zur Macht ist selber eine Form des Kapitals, aber darin eben zugleich das ökonomisch-theologische, medien-ontologische Dispositiv. Das Kapital ist ein sich selbst unbewusster, ontisch-ontologischer, menschlich-göttlicher Prozess der Zerstörung und Verschuldung der Welt, vorangetrieben nicht bloß durch das Profitmotiv (profitrational), sondern durch den planetarischen Demiurgen und Hyperkonsumenten, der damit die konkrete Figur des wahren „Übermenschen“ (Nietzsche) beschreibt. Das monarchische Kapital (samt seiner polyarchischen Fassung) ist nämlich nur es selbst. In seiner globalen Bewegung ist es kein Mittel mehr zur Hervorbringung einer anderen Gesellschaftsform, vielmehr das universelle Mittel bei sich selbst zu bleiben und darin, durch die absolute Freiheit des Menschen, Mensch und Welt unendlich zu vernichten – solange nämlich wie diese Aktionen und pseudokritischen Gegenaktionen sich nicht als solche begreifen. Und Wirklichkeit, Reales, Konkretes und Singuläres, die sich dieser Macht und Herrschaft (archē) als ānarchon wirklich entziehen, meinen dann jene Operation, die diese ontisch-ontologischen und mythischen Maschinen als ganze deaktiviert, sie außer Kraft setzt, um so einerseits das Mittel zu reinigen (aus seiner Beschlagnahme), andererseits aber dies auch auf die „ewige Idee“ einer wahren Menschheit neu auszurichten – eine Menschheit, die es heute freilich nur noch in der globalen Kapitalmaschine und in den Nationalmaschinen gibt. 2.7 Zwei antagonistische, moderne und unmoderne Imperative 41 2.7 Zwei antagonistische, moderne und unmoderne Imperative 2.7 Zwei antagonistische, moderne und unmoderne Imperative Der religiöser Widerstand beschreibt dann jene andere Medienmaschine, die der komplementären, monarchisch-polyarchischen Einheitsmaschine den Kampf angesagt hat. Sie ist nicht wie die anderen Maschinen dialektisch-dynamisch oder ethnologisch-national, sondern in ihrem statischen Imperativ religiös und darin ebenso blind. Auch ist sie keine des modernen Widerstands, der in der absoluten Immanenz des Mediums verschwindet – sei es in der neoliberalen Differenz oder im pseudokritischen „Gegenfeuer“ (Bourdieu). Diese religiöse Widerstandsmaschine ist vielmehr eine heterogene und antagonistische. Das heißt, nicht nur differente, sondern eine andere monarchische Medienmaschine zur modernen, universell-mo- narchischen Medienmaschine und von dieser selbst erzeugt, mag sie auch wie eine archaische Ablehnung der Moderne aussehen. Denn ihr anachronistisches Wesen ist ein Produkt der Moderne selbst, so wie das zeitliche Wesen der Modernität seinerseits ein anachronistisches ist. Diese religiöse, antagonistische Widerstandsmaschine hat somit mit ihrem religiös-monarchischen Imperativ der monarchischen Globalisie- rung den Kampf angesagt. In ihrem religiösen Imperativ verhält sie sich freilich zur Herrlichkeit der westlichen Medienmachtmaschine (Globalisierung) symmetrisch. Denn auf die totale Extrapolation des Guten (Kapitalgott) antwortet sie ebenso mit einem zweiten, archaischen antagonistischen Guten (Fundamentalismus): zwei abstrakte Universalismen und Wirklichkeitsfiktionen. Eine infernalische Dialektik des Guten, wo die eine antagonistische Macht mit der Ausweitung ihres modernen Systems parallel wächst, so dass die beiden Gegner in ihrem totalitären Konsens (der jeden echten Widerspruch und Widerstand erstickt und neutralisiert) nur Aus- schließung und Vernichtung im Sinn haben. Dies ist keine dialektische Beziehung mehr, vielmehr eine doppelte (menschlich-göttliche) Figur, die das „Ungleichgewicht“ (da die gegnerische Macht nicht über die Mittel der Kapitalmacht verfügt) des Schreckens beschreibt. Der Terrorismus ist also nicht einfach eine Antithese oder bloß der immanente Widerstand im System. Er ist vielmehr ein antagonistisches Anderes, das sich nicht vom modernen, globalisierten Medienintegral einfangen lässt. Auf den Triumph der Kapitale („westlichen Werte“, samt A-Kapitale als nationalstaatliche Fassungen) antwortet nämlich die islamisch-imperative Macht ebenso mit einem Triumph der „islamischen Werte“: Wert (monarchisch) gegen Wert (monarchisch); die Selbstzerspaltung des einen Prinzips. Auf dem Fortschritt des Guten (die Kapitalmacht in ihrer globalen Bewegung und Unbeweglichkeit) reagiert die zweite, antagonistische Macht mit einem rückständigen Guten (die Unbeweglichkeit des Korans). Dergestalt, dass wir es hier mit zwei Fiktionen zu tun haben, die sich in ihren Imperativen auf ewig den Kampf erklärt haben. Damit 41 42 2 Der Imperativ der Medien wird aber der Feind aus dem Innern des globalen Medienintegrals, oder aus dem Innern des koranischen Medienintegrals nach außen projiziert, um ihn dort auf ewig zu bekämpfen: „Es entsteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht eindringt. Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall, und er ist in jedem von uns. Terror gegen Terror also. Asymmetrischer Terror jedoch.“44 Dies ist aber etwas wirklich neues, wo Terrorismus als letztes Stadium der Globalisierung und der universellen Kapitalgottheit erscheint. Denn bisher war es der dialektischen, integrierenden Macht weitgehend gelungen, jede Kritik, jede Krise, jedes emanzipatorische Bremsen, jede Negativität im modernen Medienintegral zu absorbieren, um dadurch noch stärker zu werden – und nicht wie die immanente Dialektik oder der politische Widerstand meinen, dass sie die Kraft schwächen oder gar sie zuletzt beseitigen. Gerade die moderne Beinahe-Perfektion (eine moderne Macht, die sich dem Unendlichen asymptotisch immer mehr annähert und sich bei dieser Annäherung mit dem Schönen, Wahren, Guten und Menschlichen identifiziert: westliche Werte, Meinungsfreiheit, Toleranz, Humanität, Modernität, Aufklärung, Demokratie, freier Markt etc.) gebiert also in sich jene antagonistische Kraft, die sich ihrerseits in ihrer eigenen Perfektion (des Korans) inszeniert. Die Werte des islamischen Fundamentalismus verhalten sich daher zu den westlichen Werten antagonistisch – deswegen stellt für die westliche Globalisierung der islamische Fundamentalismus den Feind Nummer 1 dar. Das System sieht sich durch ein feindliches, ebenso imperatives Gegen-System (koranische Offenbarung) herausgefordert, das selber die eigene unbewegte Totalität meint. Dialektik meint hier dann nichts anderes, mit und gegen Hegel, als in diesen beiden antagonistischen Figuren einzugehen, bei diesen zu verweilen, um sie anschließend gegen sie zu wenden; sie haben sich alle Waffen (Medien – insofern hat Kittler recht, wenn er die Medien auf ihre kriegstechnische Herkunft zurückführt) der modernen Macht, alle Errungenschaften der globalen Zivilisation angeeignet, mit dem Ziel eben diese moderne Zivilisation zu zerstören. Das heißt dann aber, das globale System hat selbst die objektiven Bedingungen für die brutale Reaktion des islamischen Fundamentalismus hervorgebracht. Auf den Terror des Systems (die göttliche Verabsolutierung des Mediums) antwortet der islamische Terrorismus mit Gegenterror, der den Totalisierungskerker der Modernität sprengen möchte, dabei aber auch nur diesen Terror bestätigt, weil sein religiöses Medium (Koran-Buch) ebenso imperativ bleibt. 44 Baudrillard 2003, S. 20. 2.7 Zwei antagonistische, moderne und unmoderne Imperative 43 Bildersucht (Modernität) und Bildersturm (die „Widerständigkeit des Islam gegen die Modernisierung“45) beschreiben somit nur die eine, antagonistische Figur der Globalisierung. Damit fällt die stetige Bildersucht des planetarischen Hyperkonsumenten mit dem religiösen Bildersturm des fundamentalistischen Islamismus zusammen. Der nihilistische Konsumtions-, Sensations-, Kommunikations-, Ausstellungs- und Bildkultus des globalkapitalistischen und nationalistischen Menschen und der fundamentalistische Kult des Koran-Menschen bilden hier also trotz der Unterschiedlichkeit ihrer beider Verhaltensweisen nur die zwei Gesichter der einen Doxa-Figur (in ihrer modernen oder islamischen Herrlichkeit), die sich in der globalen Gesellschaft unablässig verschränken, vernetzen, verflechten und trennen. In ihrer Verflechtung bilden daher die progressiv-modernen und die regressiv-konservativen Kräfte nur die eine antagonistische Gestalt der Globalisierung: Die glorreiche, westliche Demokratie (wo jene Transzendenz Gottes als souveräne Macht nur auf die Erde versetzt wurde) und die glorreiche, koranische Offenbarug verschänken sich im antagonistischen Medienintegral des „globalen Dorfs“. Und diese moderne oder islamistische Verabsolutierung des Mediums bedeutet dann zugleich: Wir sind heute alle aus dem imperativen universellen Medienintegral ausgeschlossen. Wir sind alle ausgeschlossen von der Humanität, vom Gemeinsamen, von der Menschlichkeit, von der Natur, von der symbolischen Substanz und schließlich von uns selbst. Gerade in der vielgepriesenen, universellen Netzkultur herrscht nämlich der unendliche Mangel an Beziehung, der heute alle sozialen, psychischen, gesellschaftlichen, juridischen und humanitären Netze befällt und damit alle Netzwerke korrodieren lässt. Globalisierung und Islamismus sind somit die zwei hauptantagonistischen Kräfte, die heute als neue und alte Medienmaschinen der Ausschließung global, national und religiös fungieren. Literatur Adorno 1992: Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1992. Adorno 1995: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophi- sche Fragmente, Frankfurt/M. 1995. 45 Wäre „es aber nicht angemessener, die Widerständigkeit des Islam gegen die Modernisierung anzuerkennen? Und statt die Tatsache zu bedauern, dass der Islam sich als die Widerständigste aller großen Religionen gegenüber der Modernisierung erwiesen hat, sollten wir diese Widerständigkeit als eine offene Möglichkeit, als ‚unentscheidbar‘ konzipieren“. (Žižek 2004, S. 138). 43 44 2 Der Imperativ der Medien Agamben 2002: Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, dt. Frankfurt/M. 2002. Agamben 2005: Giorgio Agamben, Profanierungen, dt. Frankfurt/M. 2005. Agamben 2008: Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv? Zürich und Berlin 2008. Agamben 2010: Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, dt. Berlin 2010. Aristoteles 1995: Aristoteles, Über die Seele, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6, übers. von Willy Theiler und bearbeitet von Horst Seidl, Hamburg 1995. Badiou 2015: Alain Badiou, Das Abenteuer der französischen Philosophie seit den 1960ern, dt. Wien 2015. Baudrillard 2003: Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, dt. Wien 2003. Benjamin 1991: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I. 3, Frankfurt/M. 1991. Benjamin 1991 a: Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI, Frankfurt/M. 1991. Deleuze 1991: Gilles Deleuze, Was ist ein Dipositiv?, in: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, hg. v. F. Ewald und B. Waldenfels, Frankfurt/M. 1991. Deleuze 2005: Gilles Deleuze, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, dt. Berlin 2005. Derrida 1992: Jaques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, dt. Frankfurt/M. 1992. 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Frankfurt / M. 2009. 45 Medientheoretische, medienwissenschaftliche und 3 medienphilosophische Reflexionen 3 Medientheoretische Reflexionen 3.1 Neue Medientheorien und ihre archäologische Erbschaft 3.1 Neue Medientheorien und ihre archäologische Erbschaft Wenn wir heute versuchen die unterschiedlichen Medientheorien und Medienphilo- sophien auf einen Nenner zu bringen, so ist uns dabei immer auch die Schwierigkeit dieser Zuordnung wohl bewusst. Denn die jeweilige Ein- und Zuordnung verfügt über ein weites Konnotationsfeld, das ihre enge Eingrenzung als solche von innen her auch sprengt und sie dadurch mit den anderen Medientheorien und Medien- philosophien verschränkt und vernetzt. In den jeweiligen Zuordnungen haben wir es also immer mit den Vektoren der Sache und der Dynamik der Kategorien zu tun. Denn Begriffe, Kategorien oder Theorien festschreiben zu wollen, ist bereits der Beginn einer Versteifung. Sie enthalten nämlich in sich eine bewegte Geschichte und Vieldeutigkeit, eine eigene Dynamik, die ihrerseits nicht verabsolutiert und ontologisiert werden darf – obwohl wir auf dieses ontologisch-paradoxe Moment in der Bewegung der Medien nicht verzichten können, da von diesem aus auch alle historische Dynamik der Medien imperativistisch dirigiert wird. Deswegen kann dieses paradox-statische Moment, das die jeweiligen Medien und Medientheorien – wie problematisch auch immer – festzuhalten versuchen, erst aus den Widersprüchen der historischen Dynamik erschlossen werden. Ein Werden und Gewordensein der Kategorien, die wir in ihrer Bewegung allerdings ebenso archäologisch absichern müssen, wenn sie in ihrer bloßen Dynamik nicht selbst verabsolutiert werden sollen. Das statische Moment in der historischen Bewegung der Medien ist somit nicht als eine anthropologische Konstante oder als eine invariante Ausstattung des Seins zu hypostasieren – eine Hypostasierung, die sich dann ihrer dynamischen, historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit nicht mehr bewusst ist. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass die immanente Dialektik der Medien ihrerseits nicht verabsolutiert werden darf, wie etwa heute das digitale Medium sich selbst als ein vollkommen neues Medium inszeniert. Ein Verschleiß der medialen Dialektik © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 47 S. Arabatzis, Medienherrschaft, Medienresistenz und Medienanarchie, DOI 10.1007/978-3-658-15879-8_3 48 3 Medientheoretische Reflexionen zugunsten einer Ontologie, worauf einmal auch die Postmoderne – bewusst oder unbewusst – hingewiesen hat als sie die Medien der Moderne (die „instrumentelle Vernunft“) als abgenutzt und als unbrauchbare erklärte. Allerdings auch so, dass sie ihrerseits über ihre eigene historische, menschliche oder übermenschliche „Setzung“ hinweg täuschen wollte. Insofern hat Rainer Leschke recht, wenn er gegen diese angeblichen revolutionären Brüche schreibt: „Die Revolution ausbrechen zu lassen ist insofern eine Tabula-rasa-Strategie, die meint, wieder ganz neu und vollkommen unbelastet anfangen zu können.“46 Damit aber kippt die Postmoderne, mit Aristoteles ausgedrückt, wieder ins Nicht-Apophantische um. Während sie nämlich in diesem „vollkommen neu“ ganz sie selbst ist, verabschiedet sie sich vor dem Apophantischen und baut erneut im Innern des Menschen eine Schizophrenie ein – wie immer man dann diesen Dualismus verstehen und aufteilen möchte: in der Beschwörung der bewahrenden (postmoderne), oder der verändernden (moderne) Kräfte. So wie der Schizophrene, der sich ganz entgleitet und überführt ihn doch des Wahns, er hätte sich selbst hinter sich gebracht und wäre ein anderer als der, der er ist. Jeder Mensch (selbst ein Medium) trägt somit in sich eine archäologische Medien-Spur, ohne dadurch zwei Ich-Medien oder zwei Medien-Welten zu bilden: die Welt der vermittelnden Medien und die Welt der unmittelbaren Körper. Inneres Ansichsein und äußeres Mediensein erscheinen vielmehr verknotet, was einmal Schopenhauer den „Weltknoten“ nannte – selber freilich mit dem Dualismus von „Welt als Wille“ und „Welt als Vorstellung“ sich nicht daran hielt. Die Welt zerfällt also nicht in ein Außensein und Innensein, in ein vermitteltes Mediensein und in ein unmittelbares Körpersein. Denn es gibt keine Welt an sich und daneben, außer ihr, noch eine Medienwelt, sondern es gibt nur das Medien-Sein und die Art, wie es draußen oder innen erscheint. Jeder hat einen stofflichen Träger und schleppt unweigerlich etwas von dessen Naturgeschichte mit, aber dieser stoffliche Träger ist eben auch selbst Träger (Medium) eines medialen Außenseins und damit nicht physisch-unmittelbar. Diese mediale Verschränkung war dann auch der Grund dafür warum der Gestus der Postmoderne sehr schnell wieder erlahmte. Eben, weil darin urphänomenale, mediale Probleme liegen, die auch die postmoderne Rationalitätskritik keineswegs gelöst, vielmehr noch weiter verschärft hat. Zweifellos hat diese Kritik auch Freiräume geschaffen, die aber ihrerseits von der Hyperrealität des Mediums sehr schnell wieder eingezogen wurden, womit zuletzt auch die Dialektik von Freiheit und Zwang selbst betroffen ist. Denn Moderne und Postmoderne bilden keinen Bruch, wie vormals behauptet wurde, vielmehr eine Kontinuität in der exponentiellen Kurve der medialen Hyperkonstruktion und Hyperkonsumtion, 46 Leschke 2003, S. 279. Zu Leschke siehe auch weiter unten „Medien-Wissenschaft“. 3.1 Neue Medientheorien und ihre archäologische Erbschaft 49 die freilich auch ihre eigene imperative „Signatur“ vor sich selbst verbergen. Sie bildet dann das Mysterium sowohl des neuesten, digitalen Mediums als auch des ältesten, des Mythos und der Theologie. Dergestalt, dass alle Medien eine mythopoetische und schöpfungstheologische Hypothek in sich tragen. Eine monarchische und polyarchische Signatur in den Medien selber, mit der einmal auch Benjamin nicht ganz fertig wurde, als er in seiner ästhetisch inspirierten Medientheorie mit der Entzauberungstheorie eines Max Weber arbeitete (mit einem angeblich unvermeidlichen Fortschritts- und Entzauberungsvorgang), wo die bürgerlichen Menschen aus den Ornamenten der Gründerzeit in die klaren Linien und Flächen der Moderne herausgerissen wurden, um in dieser nüchternen Welt nun ihr Dasein zu fristen. Aber diese Anleihe von Weber argumentiert eben noch mit der alten aristotelischen Unterscheidung des Apophantischen und Nicht-Apophantischen (modern gelesen: mit der Rationalität und Entzauberung einerseits und mit der Irrationalität der Einmaligkeit, der Aura andererseits). So dass sie in dieser nüchternen, modernen Maschine nicht nur ihre Aura vergessen hat (ihre Reauratisierung), sondern darin auch die zwei Imperative (monarchische und polyarchische) in ihrer Komplementarität gar nicht erst erkannte. Der „Kultwert“47 verschwand eben nicht im „Ausstellungswert“48, vielmehr war er in der nüchternen Praxis des Proletariers selbst versteckt. Das neue Werk des „zerstreuten Massenkünstlers“ hat daher nicht auf die emanzipatorische Zukunft hingewiesen, vielmehr auf die neue liturgisch-zeremonielle Kultpraxis des planetarischen Demiurgen und Hyperkonsumenten. Eine, die heute der Verherrlichung und dem Lobpreis globaler und nationaler Mächte dient. Das Dazwischen des Mediums ist also noch viel mysteriöser als es noch Brecht ahnte als er den Kunstwerkaufsatz Benjamins mit den Worten beschrieb: „alles mystik, bei einer haltung gegen mystik“.49 Einerseits kommt man also in den Medien nicht um das Ursprungsphänomen herum, andererseits kann man sehr wohl vom Ursprung der Medien reden, ohne bloß ursprungsmythologisch oder -theologisch zu denken, d. h. in einer medialen Unmittelbarkeit. Vielmehr gilt es hier, das allerneueste, digitale Medium mit dem allerältesten Medium genealogisch in eine Beziehung zu setzen, ohne dieses vorausliegende „Medium“ wieder ontisch oder ontologisch medial zu beschlagnahmen. Was den Medien vorausliegt, muss also keineswegs ein erstes, reines, transzendentes Medium (Logos, Physis, Material, Sinn, Graphem, Phonem, Gott) sein, weil seine mediale Unmittelbarkeit auch in der medialen Vermittlung selbst anwesend ist: die paradoxe Ewigkeit in der Zeit selbst. So dass allein diese mediale Beziehung 47 Benjamin 1991. 48 Ebd. 49 Zitiert nach: Tiedemann 1983, S, 59. 49 50 3 Medientheoretische Reflexionen von Sein und Werden erst etwas über jenen anderen, verdeckten Imperativ im medialen Dazwischen (als Sollen) Auskunft gibt. Es handelt sich um eine Dynamik der Medien (Vielfalt) oder des Mediums (Einheit), die ihrerseits ein paradox-statisches Moment enthält, womit das Moment der Invarianz in der flüchtigen Figur der Medien selbst anwesend ist. Dynamische und statische Momente sind somit in allen Medientheorien, Medienwissenschaften und Medienphilosophien anwesend, aber in ihrem Werden und Sein gehorchen sie eben auch jenen verdeckten Imperativen (Sollen), die zuletzt gegenarchisch zu deaktivieren wären, damit die dekontaminierten Medien einmal an-archisch (ohne Herrschaft) werden. 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) Zur Kategorie „Medien-Ästhetik“ zählen vor allem die Medientheorien von Flusser bis Mersch50. Diese Theorien machen das Feld des Ästhetischen stark und sind bemüht, den künstlerischen Impuls in den Bereich der Medien zu übertragen. Sie kritisieren den Technizismus, die Rationalität und Logik der Medien, um „Medi- alität“ in „künstlerische Praxis“ zu überführen. Exemplarisch wollen wir hier die Medientheorie von Dieter Mersch näher betrachten. Wie andere auch, so möchte auch er das Paradoxon des „medialen Zwischen“ entfalten. Ein Gegenstand der Relationalität, des Mittlers zwischen A und B, zwischen Subjekt und Objekt. Genau auf diese Mitte beruft sich seine Arbeit, die er in der medientechnologischen Sphäre zugleich ästhetisch auflädt. Ausgehend von Flusser vertritt er „einen Kunstbegriff, der nicht von Werken oder Objekten ausgeht, sondern von ‚Listen‘ und ‚Strategien‘. Verknüpft sind damit die alten Bedeutungen von ars oder téchnē, gleichsam die andere Seite des Technischen im Sinne von ‚Geschmeidigkeit‘, ‚Gelenkigkeit‘ oder ‚Wendigkeit‘ – vergleichbar jener Figur vom winkelschlagenden Hasen, der plötzlich und unvorhersehbar seine Richtung wechselt, wie sie Joseph Beuys als Metapher für die Kunst immer wieder verwendet hat.“51 Wir haben es hier also mit einer starken Metaphorik und Rhetorik zu tun, die sich wenig um Argumente, Wissenschaft oder um diskursive Begründung bemüht, sondern das Ästhetische und die Kunst ins Zentrum des subversiven Interesses stellt. So zitiert er aus dem Kursbuch Medienkultur, wonach letztlich alles als „Medien“ bezeichnet werden kann. Er weist darauf hin, dass „die modernen Verwendungen des Medienbegriffs in eine verwickelte Geschichte zurück(reichen), die weit älter 50 Siehe hierzu meine Ausführungen (Arabatzis 2013, S. 130-144). 51 Mersch 2009, S. 16. 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) 51 ist als die Theorien selber“.52 Dennoch scheint er aber selbst keinen hinreichenden Einblick in diese Geschichte der Medien zu haben – wodurch seine Bemühung um eine archäologische Absicherung seiner Medientheorie ins Leere fällt. Denn sonst hätte er gesehen, dass nicht erst „Fritz Heider die Grundstoffe Licht, Luft und Wasser“53 als Medien entdeckt hat, vielmehr diese bereits in der Antike entdeckt wurden.54 Mersch unterteilt sein Buch in fünf Abschnitte: 1. Genealogie des Medienbegriffs, 2. Geschichte der Medientheorie. Von Platon zu Nietzsche, 3. Systematische Medientheorien: Marxistische Medienkritik und die Kanadische Schule, 4. Medienphilosophien, 5. Ausblick auf eine negative Medientheorie. In einem Gesamtüberblick zeigt er, woran die Medientheorien leiden, nämlich an Logik, Mathematik, Berechnung, Wissenschaft, Technizität, Funktionalität und Operativität, denen er emphatisch Ästhetik, Kreativität, Kommunikation und Kultur entgegensetzen möchte. Seine Perspektive ist die einer „negativen Medientheorie“, die bemüht ist, „den eher liegen gebliebenen ‚aisthetischen‘ Strang erneut aufzunehmen und den intimen Zusammenhang zwischen Künsten und Medien zu betonen.“55 So kritisiert er zu Recht den medientheoretischen Mythos der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, der der Rationalität verhaftet bleibt. Dies wird auch im zweiten Kapitel deutlich, wo er einen Bogen von Platon zu Nietzsche aufspannt. Ansatzpunkt ist hier Platons bekannte Schrift Phaidros, in der eine Schriftkritik formuliert wird. Hierzu schreibt Mersch: „Sie (die Schriftkritik) ist weniger eine Kritik der Schrift als vielmehr eine Kritik der Technik“.56 Ist dies aber nicht bereits eine Fehllektüre Platons? Ist doch für ihn Schrift selber auch eine téchnē (Kunst ist Technik, und Kunst ist Poesie und Schrift; Tische wachsen so wenig auf Bäumen wie Gedichte und Schriften). Aus dem Verhältnis von Schrift und Technik wird dann, so Mersch, im 18. und 19. Jahrhundert das Verhältnis von Bild und Text, worauf er über die Ästhetik Herders (Sprache aus dem Primat der Stimme und des Klangs, nicht der Schrift) schließlich bei Hegel landet. Damit ist er bei jenem Autor angekommen, der symbolisch für die logische Reduktion des Mediums steht: „Der Medienbegriff gerät 52 Ebd., S. 12. 53 Ebd., S. 10. 54 Was wir sehen, hören, spüren, vernehmen, so schrieb einmal Diogenes Laertius, nehmen wir durch ein Medium wahr: durch Luft, Licht, Klang, Wasser etc., so dass es „nichts in seiner reinen Gestalt vorliegt“. Die Eigenschaften der Dinge bestehen daher nicht substanziell, sondern nur in Relationen: „Die Verhältnismäßigkeit besagt, daß nichts an und für sich genommen wird, sondern immer nur in Beziehung auf ein anderes, weshalb es denn unerkennbar ist“. (Laertius 1990, S. 204). 55 Mersch 2009, S. 16. 56 Ebd., S. 33. 51 52 3 Medientheoretische Reflexionen damit vollständig unter die Norm der Rationalität, die am Beginn wie am Ende aller Philosophie steht: Hegel domestiziert das Mediale durch Begriff und Reflexion und räumt ihnen einen uneingeschränkten Vorrang ein.“57 Diese Erbschaft übernehmen dann auch die späteren Medientheorien: „An der Übernahme wie an der Fortsetzung des Systemgedankens unter veränderten Vorzeichen nehmen auch die Medientheorien teil, die vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das Erbe Hegels angetreten haben. (…) Das gilt, wie sich noch zeigen wird, gleichermaßen für Marshall McLuhan wie für Vilém Flusser und Friedrich Kittler: Was bei Hegel Begriff und Vernunft sind, wird bei ihnen zum Medium unter technischen Bedingungen, die, im Sinne eines eingeschriebenen technologischen Telos, von sich her zur Erfüllung drängen.“58 Hier sehen wir also auch eine Absetzung gegenüber Flusser, den er aber andererseits für seine „mediale Paradoxa“ wiederum ästhetisch-künstlerisch braucht. Dennoch wäre hier folgende Frage angebracht: Ist dieser Dualismus von Vernunft, Technik, Digitalität einerseits und Ästhetik, Stoff, Materialität andererseits überhaupt durchzuhalten? Wäre hier nicht vielmehr das Zauberwort „Vermittlung“ in die globale Marktbewegung, in den informatischen Techno-Code mit einzubeziehen, um auch das Ästhetische als Teil des medialen Prozesses zu bestimmen – im Sinne einer mediatisierten Wahrnehmung (aisthesis), die einmal auch Gegenstand von Benjamins Medientheorie war, wie Mersch im 3. Kapitel selbst hervorhebt? Allerdings ist Benjamins „messianische“ Medientheorie nicht mit Brechts Ansatz zu verwechseln, wo Mersch sie zuletzt unterbringen möchte. Brecht trifft sich dagegen eher mit Enzensberger, der, wie Mersch hier richtig bemerkt, Brechts Medientheorie aufgreift, um sie in den eigenen Baukasten einzubauen. „Enzensberger setzte also dort ein, wo Brecht seinen utopischen ‚Vorschlag‘ liegen ließ, um zunächst festzustellen, dass die Verwirklichung der Reziprozität kein eigentlich technisches Problem sei. Gleiches hatte, fast zeitgleich, auch Vilém Flusser postuliert: „‚Es gibt wenig ‚technische‘ Schwierigkeiten, etwa das Fernsehen dialogisch zu gestalten und zu einem ‚demokratischen Kanal‘ umzubilden.‘“59 In der Differenz von Distributionsund Kommunikationsmedien ist dies dann eine Perspektive der herrschaftsfreien Kommunikation, die entweder unverzerrt (Brecht, Enzensberger, Habermas) oder symmetrisch-dialogisch (Flusser) laufen soll, wobei sie bei Flusser an den vernetzten Computer gebunden bleibt. Was aber, wenn diese Kommunikationsfigur ihrerseits problematisch bleibt, weil sie als Akklamation und Herrlichkeit nur den liturgisch-zeremoniellen Aspekt der Macht (siehe unten Agamben) verdeckt? 57 Ebd., S. 44. 58 Ebd., S. 45. 59 Ebd., S. 74. 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) 53 Jedenfalls würde hier das aisthetisch-stoffliche Element (Medium), das Mersch unvermittelt als Kunst Jenseits von Medien und Logik rhetorisch und metaphorisch denken möchte, problematisch. Diese Problematik wird dann auch in seiner Auseinandersetzung mit der „Kanadischen Schule“ weitergeführt. Auch hier referiert er die bekannten Medientheoretiker, um jene „hegelianische(n) Züge“ zu zeichnen, die er bei McLuhan als einen unangemessenen Zugriff auf die Vergangenheit diagnostiziert. Vergangenheit und Gegenwart bilden aber eine Konstellation, wo das eine im anderen durchschlägt. Es ist nicht das abstrakte „Paradox des Medialen, sein (…) Verschwinden im Erscheinen“60, sondern das Paradoxon der vergangenen in der gegenwärtigen Medialität selber und umgekehrt, wo die absolute Medienintegriertheit zugleich ein Moment des unmittelbaren Mediums chiffriert: mit dem Medien-Inneren zugleich ein Medien-Außen und ein Medien-Anderes. Das „Paradox des Medialen, sein Verschwinden im Erscheinen“ meint dann die Verabsolutierung des Medialen (das Werden als Sein), wo das Mediale zugleich im Dienst (hyperetia) jener imperativen, archaischen Mächte (Sollen) steht, um ihre monarchisch-polyarchische Macht und Herrlichkeit (doxa) zu verherrlichen (doxazein). Insofern weist die Archäologie der Medien (als ökonomische, technische, informatische, juristische, poietische oder politische Mächte) immer zugleich auf eine Archäologie der Herrlichkeit (doxa) hin, so dass dieses zweite, doxologische Moment der Medien erst die Herrschaft der Medien begründet, legitimiert, rechtfertigt und ihnen Glanz verleiht. Zu Recht entdeckt dann Mersch in der behaupteten Nichtlinearität eines McLuhan, Flusser oder Kittler jene alte Linearität wieder, die sich in der Tat insofern durchsetzt, als „die Ordnung der Linearität der Ordnung des Netzes vorausgeht, nicht umgekehrt“.61 Gerade hier wäre aber nicht nur die Dialektik von Linearität (Logos) und Nicht-Linearität (Mythos) zu entziffern, sondern auch die neue Form von Linearität zu bestimmen, die im logisch-ästhetischen Code ihre alte profit-rationale und instrumentelle Form abgeworfen hat. Damit wäre auch das „punktuelle Mosaik“ Flussers als die unendlich zerkleinerte Linie zu entziffern, die, in Form von informellen und deterritorialisierten Punkten, angetrieben vom universellen Code, nun auf der Flucht sich befindet. Seine Utopie des Spiels und der Muße transformiert so zur Gegen-Utopie der neoliberalen, globalkapitalistischen Leistungsgesellschaft. Eine Freiheit der vernetzen Individuen62, die Mersch ästhe- 60 Ebd., S. 224. 61 Ebd., S. 221. 62 Die individuelle Freiheit im Netz beschreibt eben auch die unkooperativen Netzstrukturen selber, die vormals Frank Hartmann noch, mit Flusser, als kooperative Netzstrukturen entzifferte: „Subjektivität und Kollektivität sind in ein neues Verhältnis gestellt, weder 53 54 3 Medientheoretische Reflexionen tisch-künstlerisch zu reaktivieren sucht, schlägt ihrerseits in Zwang um, um die Fremdausbeutung zugleich als eine Selbstausbeutung zu zeigen. Flussers Utopie von den selbstlosen Punkten oder von der „Technik der Nächstenliebe“ erweist sich als eine narzisstische Ich-Maschine, die darin zugleich das Projekt des planetarischen Demiurgen betreibt. Das Projekt, zu dem sich das Subjekt befreien sollte, erweist sich als eine universelle Zwangsfigur, wo die egoistischen Subjektivierungsprozesse mit den Desubjektivierungsprozessen konvergieren. Eine Konvergenz, die den doppelten Prozess der einen Figur beschreibt. Mersch vermag weder diese Signatur, noch das ästhetische Moment im logisch-mathematischen Prozess selbst zu bestimmen, so dass er McLuhans, Flussers oder Kittlers Medientheorien auf den Rationalismus eines Descartes oder auf den Geist eines Hegel zurückführt – was sein Kollege Rainer Leschke aus Siegen hingegen ganz anders sieht, wie wir weiter unten darlegen werden. Jene Medientheorien speisen sich aber gerade von der absoluten Durchschlagskraft des integralen Mediums (als digitales oder dingliches), das, als ein Drittes, weder statisch noch dynamisch ist, sondern dynamisch und statisch zugleich. Im universellen Code Vereinzelung noch Vermassung sind angesagt, sondern der Verweis einzelner Teile aufeinander. In der Netzkultur überwiegen die kooperativen Strukturen.“ Der Computer, so Hartmann gegen Kittler, funktioniert als Medium sozialer Gruppen: „Mit der Frage nach der Hardware wird“ hingegen „der gesamte Sozialprozeß relativiert – der Computer existiert für diesen Ansatz der technischen Hermeneutik nicht als ‚Medium‘ sozialer Gruppen und als Katalysator autonomer Sozialprozesse, sondern als Manipulator. Genau das aber macht die Entwicklung des Netzes in den letzten Jahren aus; so interessant es im einzelnen sein mag, auf verborgene Aspekte der Hardwarestrukturen aufmerksam zu machen, so wenig erklären diese, was im Internet jenseits aller ‚instrumentellen Vernunft‘ vor sich geht. Es gibt hier natürlich die Möglichkeit, zwischen Produkten und Anwendern, zwischen Gruppen und Werkzeugen neue, kontextsensitive Interface-Strukturen zu schaffen.“ (Hartmann 2000, S. 321 und 325). Gegen diese von Flusser inspirierte Utopie schreibt Byung-Chul Han neulich: „Die digitale Kommunikation lässt die Gemeinschaft, das Wir, vielmehr stark erodieren. Sie zerstört den öffentlichen Raum und verschärft die Vereinzelung des Menschen. (…) Die digitale Technik ist keine ‚Technik der Nächstenliebe‘. Sie erweist sich vielmehr als eine narzisstische Ego-Maschine.‘ (Han 2013, S. 65). Die „instrumentelle Vernunft“, die sich freilich postmodern ästhetisch, mythisch und theologisch angereichert hat, sollte eben nicht die Utopie Hartmanns, sondern die Gegen-Utopie abgeben, weil die vernetzten Subjektivierungsprozesse zugleich als Desubjektivierungsprozesse erwiesen haben. Der „Manipulator“ sollte in der neoliberalen, globalisierten Leistungsgesellschaft der planetarische Demiurg sein, der sich in Autoaggressivität selbst vernichtet und ausbeutet. Das Medium als ein schönes, interaktives und emanzipatorisches Projekt erweist sich also als ein tödliches Projektil, das sich nun gegen seinen Erzeuger und Produzenten richtet. 3.2 Medien-Ästhetik (Mersch) 55 findet daher nicht nur die „‚Umrechnung‘ des marxschen Materialismus“63 statt, wie Mersch über Kittler schreibt, sondern auch die Umrechnung von Sensualität, Aisthesis, Emotionalität, Affektivität und Ethik, so dass das logisch-alogische Medium keinen aisthetischen Rest als unbestimmtes Medium mehr übrig lässt – der dann ästhetisch-künstlerisch verarbeitet werden könnte. Insofern wäre die medienmaterialistische Abklärung Kittlers noch einmal zurück in den historisch-gesellschaftlichen Raum umzurechnen: „Wenn er (Kittler) beispielsweise in der Vorlesung über Optische Medien fragt, ‚ob nicht Grundbegriffe aktueller Theorien, statt garantiert unabhängige und deshalb wahre Beobachtungsposten zu bilden, vielmehr eine direkte Folge der Medienexplosion unserer Epoche sind‘, wäre dies auch auf seinen eigenen Theorieansatz anzuwenden. Mehr noch: Dass Technologien umgekehrt in Diskursen gründen, verweist das ‚historische Apriori‘ von Medientechniken seinerseits auf die Geschichte des Denkens zurück.“64 Den Hinweis Kittlers schlägt Mersch aber sogleich in den Wind, wenn er die Technologien erneut auf Diskurse gründen will, statt die „Diskurse“ und die „Geschichte des Denkens“ umgekehrt auf den harten Boden der Realität, des technisch Materialen und damit auch des Ökonomischen, Aisthetischen, Medialen und Kulturellen zu gründen. Dadurch weist nämlich das „technische Apriori“ Kittlers seinerseits auf den Ausstellungswert, auf die Kultgegenstände, auf die Weltmarken, auf den Kampf um Aufmerksamkeit, auf die neuen orientierungs- und identitätsstiftenden Medien (digitale oder designgestalterische) hin, so dass das „Medium“ keineswegs aisthetisch-stofflich zu hypostasieren wäre. Sein uneinholbares aisthetisches Medium ist daher medial (logisch, ökonomisch, gesellschaftlich, historisch) kontaminiert, wie ja auch Natur bereits mediatisiert vorliegt. Mersch sieht hingegen das Ästhetische, den Stoff, die Natur oder die Materialität als eine invariante Ausstattung des Mediums und macht diese Auffassung gerade bei einem Soziologen, nämlich Niklas Luhmann ausfindig, vor allem in seiner Theorie der Kunst, die die Grenzen des Ein- (Form) und Ausschlusses (Nicht-Form) behandelt, wo man es überhaupt nicht vermuten würde – und was Leschke, wie wir gleich darlegen werden, wiederum ganz anders sieht –, nämlich in einer rationalistischen Tradition, in der Luhmann, in der „Differenz von Medium und Form“, angeblich einen Ausgang aus der medialen Sackgasse zeigt. Auf Kittlers oben zitierte Bemerkung, wonach nämlich die Grundbegriffe, statt unabhängige und wahre Beobachtungsposten zu sein, nur eine Folge der epochalen Medienexplosion sind, geht Mersch nicht weiter ein. Und Luhmann will eben nichts anderes, als die abstrakte Eigendynamik der Systeme und Subsysteme beschreiben (allerdings verkennt Luhmann selbst den 63 Ebd., S. 187. 64 Ebd., S. 191. 55 56 3 Medientheoretische Reflexionen Selbstlauf der Massenmedien, der nicht in den Massenmedien entschieden wird; die Eigengesetzlichkeit ist immer auch Fremdgesetzlichkeit), die weit von der „künstlerischen Praxis“65 entfernt liegen – die Kunst ist ja vor allem dadurch definiert, nicht nur einen Bereich der gesellschaftlichen Aktivität zu bilden, sondern die Gesellschaft selbst zu reflektieren und sie auszudrücken. Er will die autopoietischen Systeme und Subsysteme (1., 2. und 3. Ordnung in einem unendlichen Regress) aus einer stoischen Distanz beobachten, während wir in der logisch-alogischen, integralen Medialität mit Haut und Haaren, sozusagen embedded, drin sitzen, ohne deswegen vom Zauber der medialen „Vermittlung“ ganz umschlossen zu sein. Deswegen reicht hier keine „negative Medientheorie“ mehr, die apodiktisch feststellt: „Medien ‚vermitteln‘, ohne selbst ‚unmittelbar‘ zu sein.“66 Wenn Medien nur vermitteln, ohne selbst unmittelbar zu sein, d. h. ohne auch das Moment eines Unmittelbaren zu enthalten, dann wäre alles in der Tat nichts; die Mediatisierung des Wirklichen würde wieder in die Re-Ideologisierung des dynamischen Mediums umschlagen. Die Vermittlung der Medien ist daher nicht bloß totalitär, vielmehr zeigt der Ort des paradoxen Zwischen zugleich die Negativität des Unmittelbaren, die ebenso von einem Medien-Anderen und Medien-Außen negiert wird – wenn die Negativität des Mediums nicht absolut bleiben soll. Eine „Kunst“ hingegen, die die Vorzeichen nur umdreht, in dem sie behauptet, dass die „Medientheorie mehr zu zeigen hat, als umgekehrt die Medientheorie der Kunst zu sagen hätte“67, wird selbst zum Organon eines unablässig fortschreibenden, logisch-alogischen Mediums (die absolute Medienintegriertheit), das in seiner Paradoxie weder gezeigt noch gedacht werden kann. Die multimediale, rhizomatisch-unbestimmbare Vielheit, die als künstlerische Praxis angeblich jeden Bezug auf Identität kündigt, wird somit selbst zum Opfer der medialen Identität. 3.3 Medien-Wissenschaft (Leschke) 3.3 Medien-Wissenschaft (Leschke) Ist Mersch noch mit einer verschütteten Ästhetik und Kunst beschäftigt, so will Rainer Leschke sich nicht mehr mit Ästhetik und Kunst herumschlagen, vielmehr gerade umgekehrt die scharfen Waffen der wissenschaftlichen Analyse in Anschlag bringen. Seine Einführung in die Medientheorie ist daher so angelegt, dass sie auf 65 Ebd., S. 225. 66 Ebd., S. 219. 67 Ebd., S. 228. 3.3 Medien-Wissenschaft (Leschke) 57 „Problembewusstsein und analytische Kompetenz zielt“.68 Er entwirft ein Theoriedesign (Primäre Intermedialität, Einzelmedienontologien, Generelle Medientheorien, Generelle Medienontologien und Sekundäre Intermedialitätstheorien), bei dem die einzelnen Medientheorien in jeweils dafür vorgesehene Schubladen eingeordnet werden. Im Kapitel Primäre Intermedialität geht Leschke zunächst auf die alte Differenz von Oralität und Schrift zurück, um Platons Text im Spannungsfeld einer „Medienkonkurrenz“ einzuordnen. Anschließend geht er abrupt von der Schrift auf Film, Radio und Computer über, um bei Letzterem eine kulturelle Überfrachtung auszumachen, weil hier der „Gegensatz von Moderne und Postmoderne“ in der „Differenz von Rechner und Medium repräsentiert“ werden soll: „Die implizite Aufwertung, die das Medium dadurch erfährt, dass es zum Symbol einer Epoche avanciert, sorgt zugleich dafür, dass die durch das Medium Computer begründete intermediale Differenz eine besondere Bedeutung erhält.“69 Unter der Überschrift Einzelmedienontologien soll dann das einzelne Medium etwas umfassender und einheitlicher erklärt werden. Diese einzelmedienontologischen Modelle stützen sich nun nicht mehr auf die essayistischen Fragmente der medienwissenschaftlichen Konzepte, vielmehr „greifen sie auf die Wissensbestände anderer Disziplinen zurück.“ Das hat aber zum Nachteil, dass sie ihrerseits von außen importiert werden: „Die Wissenschaftlichkeit des neuen Theoriefeldes wird also quasi durch einen Import bzw. durch eine Applikation bestehender Wissenssysteme auf den neuen Gegenstandsbereich garantiert.“70 Das heißt dann aber auch, dass jeder Paradigmawechsel in den Geistes- oder Literaturwissenschaften mit einer gewissen Zeitverzögerung in den Einzelmedienontologien sich niederschlägt und dort auch den Gegenstand bestimmt: „So führte der linguistic turn der Literatur- und Sprachwissenschaften umgehend zu Film- und Radiosemiotiken, ohne dass sich an den medialen Produkten oder der medialen Produktion auch nur im Ansatz etwas geändert hätte.“71 Jedenfalls können auch diese formalästhetischen Einzelmedienontologien hier nicht ganz befriedigen, weil sie mit einem „additiven Konzept“ arbeiten. Insofern beschreibt auch Deleuzes’ Filmtheorie nur ein altes ästhetisches Konzept. Denn hier werden „in gleichsam klassischer Manier die Muster des Kunstsystems auf das Medium Film übertragen. Der rein ästhetische Diskurs wird dabei noch nicht einmal durch einen Anflug von Ökonomie oder 68 Leschke 2003, S. 5. 69 Ebd., S. 65 f. 70 Ebd., S. 91. 71 Ebd., S. 91 f. 57 58 3 Medientheoretische Reflexionen Soziologie unterbrochen (…) Der Film ist, sofern er ästhetisch ist, und er ist eben auch nicht wesentlich mehr als das.“72 Damit kommt Leschke zu seiner nächsten Hauptkategorie: Generelle Medientheorien. „Generelle Medientheorien werden nicht als Medientheorien geboren; sie erblicken stets in anderen Kontexten das Licht der Wissenschaft. Ihre Applikation auf die Medien ist jedoch in der Regel durch diese veranlasst.“73 „Das Modell einer generellen Medientheorie wird“ jedenfalls „von der Materialität der Medien allein gerade nicht unterstützt. (…) Medien sitzen so (…) zumeist in der zweiten Reihe: Sie sind vor allem Demonstrationsobjekt von als mehr oder minder universal konzipierten Theorien.“74 Auch die Generellen Medientheorien können somit dem Gegenstand kaum gerecht werden, zumal sie übers Ziel hinausschießen: „Wenn, wie im Falle materialistischer Theoriemodelle, die Reflexion der Medien noch von der politischen Dimension, also Fragen der Macht, begleitet wird, dann ist die Analyse der Macht auf jeden Fall das Drängendste und das Gefälle fällt hoffnungslos zu Ungunsten des Objekts, als der Medien, aus.“75 Kann man wirklich Medien von Macht, Politik oder vom Krieg trennen? – da sind Kittler, Baudrillard oder Virilio ganz anderer Meinung. Leschke sieht freilich die „nicht unerheblichen Stärken genereller Medientheorien“76, er kann sie aber in seinem Schema kaum unterbringen, wie auch das Verhältnis von Medientechnologie (Form) und Sozialphilosophie (Inhalt). „Die Medien befinden sich“, so etwa bei Adorno, „in sozialer Abhängigkeit und die Theorie der Medien ist in erster Linie Sozialphilosophie und Kulturtheorie und erst dann Wissenschaft von den Medien.“77 Ist diese scharfe Trennung von Form und Inhalt überhaupt durchzuhalten? Ist nicht die Form der Medientechnologie eine Funktion des eigentlichen Gehalts sowie der Inhalt eine Funktion der medientechnologischen Formbestimmung? So neigt sich Leschkes Medientheorie oft einem Unentschieden des „sowohl als auch“78 zu. Denn sobald er eine Theorie aus seinem System der Medien hinausbefördert hat, kommt sie durch die Hintertür wieder herein. So etwa, wenn er in U. Ecos Konzept ein gesellschaftliches Defizit registriert: „Die Diagnose der Frankfurter Schule überlässt dieses Feld jedoch nicht der Beliebigkeit des Willens, sondern ordnet es in den historischen Prozess ein und der verläuft – so jedenfalls ihre Diagnose – 72 Ebd., S. 126. 73 Ebd., S. 161. 74 Ebd., S. 163. 75 Ebd., S. 164. 76 Ebd., S. 164. 77 Ebd., S. 180. 78 Ebd., S. 185. 3.3 Medien-Wissenschaft (Leschke) 59 nicht unbedingt positiv.“79 Ein Defizit, das er dann ebenso bei Luhmann ausmacht: „Luhmanns Deskription des Mediensystems ist eine Sammlung eher zufälliger Beobachtungen. (…) Derartige Ratlosigkeiten, Vermutungen und Wiederholungen eines privaten Beobachters jenseits aller theoretischen Strenge und Stringenz sind allerdings auch nicht anschlussfähig und sie leisten damit eben genau das nicht, was Theorien eigentlich leisten sollten, nämlich Aussagen oder Erkenntnisse zu produzieren, die in anderen Kontexten weitere Verwendung finden können. (…) Geboten wird stattdessen – und das ist für die Lumannsche Systemtheorie relativ ungewöhnlich – eine Art privater Aphorismensammlung.“80 Die vorletzte Medientheorie, die generellen Medienontologien, die Leschke behandelt, soll sich dann aus der abnehmenden Akzeptanz der generellen Medientheorien gebildet haben, Medienontologien, die nun wesentlich kommunikativer, wendiger und elastischer sein sollen, als etwa die generellen Medientheorien, die „erheblich schwerer zu kommunizieren (sind)“.81 Sie „werden so – quasi aus der Not eine Tugend machend – autonom und begeben sich auf die Suche nach mehr oder minder autonomen Erklärungsmodellen.“82 Und das ist nur konsequent: „Da es gemäß Luhmanns Devise kaum etwas gibt, das sich der medialen Vermittlung gegenüber prinzipiell sperrt, ufert der Gegenstandsbereich der Medienwissenschaften sehr rasch aus (…). Medienontologie entwickelt sich auf diesem Wege nahezu zwangsläufig von der Ontologie eines gesellschaftlichen Teilsystems zu einer Universalontologie.“83 Es ist nun die „penetrante Allgegenwart von Medienprodukten“84, die offenbar zu einem Missverständnis verleitet. Damit werden die Medien zur Sache selbst und sind in der Tat nicht mehr medial. Dies heißt aber noch lange nicht, dass sie deswegen auch ihren ästhetischen, mythischen oder ontotheologischen Anteil loswerden, um im analytischen Modell Leschkes aufzugehen. Gerade dieser alogisch-ästhetische und ontologische Anteil im logischen und ontischen selber beschreibt dann ebenso eine „Wissenschaft von den Signaturen, Dispositiven, Ordnungen, Inbegriffen, Prinzipien“, die parallel zur Begriffsgeschichte der Medien verläuft (eine Konstellation von Praxis und Ontologie, von Relation und Substanz, die auch die medienwissenschaftliche Praxis Leschkes auf diese „postmoderne“, mythische und theologische Ordnung hinaustreibt). Es hilft also gar nichts, die „Universalität des Paradigmas“ (Moderne) gegen die „Universalität des Gegen- 79 Ebd., S. 191. 80 Ebd., S. 222. 81 Ebd., S. 235. 82 Ebd., S. 238. 83 Ebd., S. 241. 84 Ebd., S. 243. 59 60 3 Medientheoretische Reflexionen standes“ (Postmoderne) auszuspielen, weil jene modernen Modelle ebenso auf die Universalität ihres Gegenstandes hinweisen, und umgekehrt. Die Allgegenwart der Medien verlangt eben nach ihrer Dechiffrierung, ohne dass der ästhetisch-poietische und ontologisch-metaphysische Anteil der Medien aus ihrem logisch-rationalen Teil zu entfernen wäre. Genau dies aber versucht Leschke fortwährend, indem er gegen die Metaphorik der generellen Medienontologien polemisiert: „die rhetorische Qualität wird entscheidender als die argumentative.“85 Damit ist Leschkes Medientheorie dualistisch aufgestellt: Argument gegen Metapher, Logik gegen Bild, Kausalität gegen Rhetorik – als ob es nie eine Kritik der instrumentellen Rationalität gegeben hätte. Leschke will Belege für die kausalen Zusammenhänge sehen, die aber der Weltmarkt und die Verabsolutierung des Medialen längst schon liefern. Statt dessen werden stetig Dualismen aufgestellt: „für die Technik-Freaks den Enthusiasten, für die eher Ängstlichen den Apokalyptiker.“86 So schließt sich der Kreis in Leschkes Kosmos, ohne auf die Not zu reflektieren, die gerade aus der Dynamik der Medien resultiert. Leschke weiß freilich, dass die postmoderne, verabsolutierte Form eines inhaltlichen Korrektivs bedarf. Er kann aber diesen „Inhalt“ nicht mit der „postmodernen Form“ in eine Beziehung setzen, so dass er auch in seinem letzten Modell (Sekundäre Intermedialität) nur Bekanntes erblickt, da sie nur „auf eine Mediensituation reagiert“.87 „Im Prinzip bleibt Intermedialität jedoch ortlos: Sie droht zwischen den Medien durchzufallen, ist sie doch Rand eines Mediums oder aber Bezug zwischen Medien, ohne selbst Medium zu sein. Die Bestimmung der Intermedialität von den Grenzen her gibt keine Auskunft über das Material, aus dem die Bezüge – das ‚inter‘ – hergestellt werden: Zwischen den Medien ist zunächst einmal nichts, solange dort nicht etwas gefunden wird, was den Stoff der Intermedialität abgeben könnte.“88 Dieses intermediale Zwischen – auf das auch die transdisziplinäre Mediologie setzt, um den isolierten Gegenstand „Medien“ zu sprengen – beschreibt aber nicht nur die gegenseitige Kontamination der Medien, sondern auch den paradoxen Ort des verabsolutierenden, universal vermittelnden Mediums selber: das Bezogensein moderner Individuen auf den Imperativ des globalen Markts, auf dem sie sich behaupten müssen. Was „da durch die Medien wandert“89 sind die Prozesse der Gesellschaft, Geschichte, Kommunikation, der Übertragung, Übersetzung (auch im Sinne von Tradition, Kultur und 85 Ebd., S. 244. 86 Ebd., S. 264. 87 Ebd., S. 318. 88 Ebd., S. 313 f. 89 Ebd., S. 316. 3.4 Medien-Kultur (Debray) 61 Überlieferung) und Technik. Eine „intermediale Verunreinigung“90, die darin den paradoxen Ort des Medialen selber bildet: das Dispositiv der absoluten und integralen Medienmaschine, die ebenso mit ihrer leeren und vollständigen Weihung zusammenfällt, wie Agamben dieses ontologisch-technische Dispositiv in der ökonomisch-theologischen Maschine beschreibt. 3.4 Medien-Kultur (Debray) 3.4 Medien-Kultur (Debray) Damit wären auch die Fragen der „Mediologie“, wie Régis Debray sie entwirft, beantwortet, ohne jene künstliche Komplementarität von Einheit (Medien, Technik, Kommunikation, Information, Psychoanalyse, Soziologie, Raum, Oberfläche, Flüchtigkeit, Draußen, Gesellschaft, Objekt, Totes) und Vielheit (Kulturen, Übermittlung, Mediation, Zeit, Kontinuität, Historiker, Anthropologe, Ethnien, Tiefe, Beharrung, Drinnen, Subjekt, Lebendes) zu errichten.91 Eine Komplementarität, die er aus einem medialen Zwischen zu erschließen versucht, indem er dies als ein „Scharnier“ zwischen Einheit und Vielheit denkt. Er will die Dualität von Rationalität und Irrationalität überwinden und pendelt so unvermittelt zwischen „Technik“ und „Kultur“92 hin und her. Die Medien sieht er in einer technischen 90 Ebd., S. 315. 91 Debray 2003. 92 So hat einmal Herbert Marcuse versucht, zwischen Zivilisation und Kultur zu unterscheiden: „In der traditionellen Diskussion besteht weitgehende Übereinstimmung darin, daß die Beziehung zwischen kulturellen Zwecken und tatsächlichen Mitteln keine der Koinzidenz ist (und auch nicht sein kann?), und daß sie selten, wenn überhaupt, eine der Harmonie ist. Diese Ansicht hat sich in der Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation ausgedrückt, der zufolge ‚Kultur‘ sich auf eine höhere Dimension menschlicher Autonomie und Erfüllung bezieht, währende ‚Zivilisation‘ das Reich der Notwendigkeit bezeichnet (…). Und in der Tat ist der Begriff des Fortschritts nur auf dieses Gebiet (technischer Fortschritt) anwendbar, auf das Fortschreiten der Zivilisation; aber solches Fortschreiten hat die Spannung zwischen Kultur und Zivilisation nicht beseitigt. Es mag die Dichotomie sogar in dem Maße verschärft haben, wie die ungeheuren, durch den technischen Fortschritt eröffneten Möglichkeiten in zunehmenden Gegensatz zu ihrer beschränkten und verzerrten Realisierung erscheinen. Gleichzeitig wird jedoch dieses Spannung selbst immer mehr dadurch unterdrückt, daß die Kultur dem täglichen Leben und der Arbeit systematisch einverleibt wird.“ (Marcuse 1965, S. 149 f.). Hier hilft aber weder die Unterscheidung zwischen Kultur (Zweck) und Zivilisation (Mittel, Technik), noch die Unterscheidung von geisteswissenschaftlich-literarischer Kultur einerseits und naturwissenschaftlich-technischer Kultur andererseits. Eben, weil Geist und Literatur, wie Kittler hier zu Recht hervorhebt, in der Hardware der Technik 61 62 3 Medientheoretische Reflexionen Abstraktion, die rasant anwächst, während er die Kulturen als ein langfristiges Korrektiv empfiehlt, die so ein Gleichgewicht schaffen: „Im einen Fall wird man ein Hier und ein Anderswo in Bezug setzen und zwischen ihnen eine Verbindung herstellen (und damit Gesellschaft); im anderen Fall wird man ein Einst mit einem Jetzt in Bezug bringen und Kontinuität herstellen (und damit Kultur).“93 Auf diese Weise arbeitet er in seinen „Tabellen“ mit Dualismen, die er allerdings koordinieren und komplementär denken möchte: „Kommunikation und Übermittlung sollte man einander nicht gegenüberstellen, man muss sie koordinieren. Die beiden ergänzen einander. Kommunikation ist die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Übermittlung.“94 Debray spricht oft von Dialektik, Vermittlung, Prozess, Mediation („der Mittler zwischen zwei oder mehreren Seienden oder Wirklichkeiten“) und sieht die Mediologie „als die Freundin des Hermes, des Gottes der Straßen und Kreuzungen“95, kann aber nicht Weg und Ort, Haben und Sein, Zeit und Raum, Gesellschaft und Kultur, Flüchtigkeit und Kontinuität „dialektisch“ lesen, d. h. die Differenz in der globalen Bewegung selbst aufdecken: Den „Sprung“ in der „kontinuierlichen Katastrophe“ selbst ansetzen, wie Benjamin ihn einmal verstand, und den wir heute als wirkliche Differenz in der unmittelbar-physischen, subjektiv besetzten Rhizomatik des sozialen Gesamtakteurs sowie in der technisch-vermittelten, objektiven Rhizomatik der gesellschaftlichen Kommunikation zu lesen hätten. Er will ihn vielmehr ganz anders verstanden wissen: „Als müsste jeder Sprung, der uns dem Realen näher bringt, mit einer Aus-Flucht in entgegengesetzter Richtung, der Zauberei, bezahlt werden. Als brauchten wir bei jedem Fortschritt in der Erkenntnis der Dinge als Gegengift eine doppelte Dosis Euphorikum, um uns den verlorenen Schwung zurückzugeben und uns weiter hoffen zu lassen.“96 Das Euphorikum liegt aber bereits in der globalen (rationalen wie irrationalen), mythischen und religiösen Maschine selber, die sowohl die euphorisch-ekstatischen wie die panisch-hysterischen Massen zu mobilisieren weiß, während Debray diese Maschine bloß technisch versteht und sie dann in eine „weiße Technophilie“ und „schwarze Technophobie“ aufteilt: verschwinden. In dieser Einheit (Mittel und Zweck; Zahl und Musik) allerdings auch die Form (als Zivilisation, Kultur und Natur) einer hochproblematischen, unzerstörbaren gespenstischen Präsenz annehmen, und die dann ihrerseits nach einer wahren Differenz als Operation verlangt. 93 Debray 2003, S. 11. 94 Ebd., S. 23. 95 Ebd., S. 204. 96 Ebd., S. 212. 3.4 Medien-Kultur (Debray) 63 „Amerika übernimmt die euphorisierende, libertäre Vision und Europa die nostalgische, katastrophische.“97 Damit hat er jenen „Standpunkt“ verloren, den er am Anfang des Buches selber fordert, weil er nicht vom „Objekt“ ausgeht. Denn es geht hier in der Tat nicht um die objektive oder substanzielle Wahrheit, sondern um die Wahrheit der Position, von der aus man heute spricht. Diese Missdeutung der globalen Maschine, die bei ihm in „technische Konvergenz und ethnische Divergenz“ auseinanderfällt, hängt dann vor allem damit zusammen, dass Debray immer noch Marx’sche Kategorien in seiner Ethnologie undialektisch mitschleppt: „Immer wenn das Draußen über das Drinnen siegt, ‚verdinglicht‘ sich der Mensch (= wird zum Ding) oder ‚entfremdet sich‘ gar (= wird sich selbst fremd).“98 Freilich hat er aus revolutionären Enttäuschungen zunehmend erkannt, dass das „Kapital“ der „rein dogmatischen Teleologie des Fortschritts nicht entkam“: „Der Marxismus hat die idealistische Definition des Denkens als subjektive Determination, die ihren Sitz im Gehirn der Individuen hat, für bare Münze genommen, ohne zu begreifen, dass ein ‚ideologischer‘ Korpus der Geist eines Körpers ist, des kollektiven Organismus, den er reproduziert und der ihn produziert, und eines bestimmten Übermittlungswerkzeugs.“ So hat später Gramsci „die von den Rittern der epistêmê (Wissenschaft) so verachtete doxa (Meinung) ernst genommen – diese doxa, die einer Gesellschaft oder einer Partei ihren Zusammenhalt und ihre Vitalität gibt.“99 „Das handelnde Subjekt, imaginär und emotional, nährt sich mehr vom Mythos und der dynamischen Mystifizierung als von der kalten Objektivität.“100 Gerade diese doxa ist aber in der globalen Kommunikationsmaschine als Problem anwesend, weil sie der ökonomisch-technischen Maschine jene identitätsstiftende Vitalität verleiht, die darin die Form einer scheinbar unzerstörbaren gespenstischen Präsenz annimmt; die doxa beschreibt jene doxologische Funktion, welche die „kalte Objektivität“ in eine warme, glorreiche, „immaterielle“ Wesenheit verwandelt, und von der andererseits der planetarisch-rhizomatische Demiurg, in seiner progressiven Energie, seine Nahrung erhält. So sind auch Ware, Verdinglichung, Entfremdung und selbst das Kapital nicht mehr das, was sie einmal waren, da sie inzwischen die mediale Form angenommen haben, so dass Gebrauchswert und Tauschwert im Zwischen des „Ausstellungswerts“ und der Kultgegenstände gespenstisch verschwunden sind. Die kulturellen Identitäten, die Debray retten will, die Unterschiede der Sprachen, der Dialekte, der Lebensweisen, der Charaktere, der Kleidung, also all das, was einst 97 Ebd., S. 221. 98 Ebd., S. 31. 99 Ebd., S. 139 f. 100 Ebd., S. 210 f. 63 64 3 Medientheoretische Reflexionen die Völker verband, wurde inzwischen vom planetarischen Demiurgen ausgehöhlt, so dass seine identitäts- und orientierungsstiftende Maschine heute jene kulturellen Unterschiede versammelt, um sie in phantasmagorischer Leere zur Schau zu stellen und zugleich zu konsumieren. Debray möchte freilich diese Kulturen von der Globalität, die er bloß profitrational, technisch und mathematisch versteht, getrennt wissen und sie als kulturelle Fülle mit jener in einem Gleichgewicht halten: „Wenn mein Gegenüber aus Peking und ich, aus Paris, auf unsere Arithmetikkenntnisse, unsere Technosphäre reduzierbar wären, könnten wir uns mühelos verbrüdern, denn unsere Apparate – Elektrorasierer, Vergaser, Software usw. – funktionieren auf identische Weise, unabhängig von unseren Wertvorstellungen. (…) Es sind aber unsere kulturellen Charakterzüge, die einen Unterschied machen – Lebens- und Wohnstil, Küche, Kalender, Alltagsrhythmen, Aberglaube und Glaubensvorstellungen – und vor allem und zuallererst unsere Sprachen.“101 Was hier vereinheitlichend wirkt, ist aber nicht bloß das Rationale und Technische, sondern ebenso das Ästhetische, Emotionale, Musikalische, Ökologische oder Ethisch-Moralische (Stichwort: ethischer Konsum), was dann die Universalsprache der mediatisierten Globalisierung in ihrer physischen Unmittelbarkeit und objektiven, tele-rhizomatischen Vermittlung ausmacht. Die vom Weltmarkt erfassten Menschen in Paris, Peking, Nairobi, New York, Rio oder Mumbai (zunächst die Eliten, dann aber zunehmend die als Anhänger des neuen kapitalistischen Kultus heimatlos gewordenen, hyperkonsumistischen Massen – wo immer sie sich befinden und wohin sie auch gehen, überall finden sie in der rastlosen Welt dieselbe Unmöglichkeit zu wohnen vor, dieselbe Unfähigkeit, Dinge zu gebrauchen) – leben zunehmend in weitgehend identischen Wohnmaschinen, gehen auf ähnlich aussehenden Straßen, fahren die gleichen Autos, sehen dieselben Filme, tragen ähnliche Markenkleidung. Während zugleich die globale Maschine die Zahl der Mittellosen immer mehr anwachsen lässt. Insofern sind zwar die sozialen Einheiten (Klassen) zerfallen, was ihren Zusammenhalt betrifft, die in der Bildung kollektiver Identitäten einmal eine Rolle spielte, da auch die negative, kollektive Einheit des Unterdrücktseins nicht mehr gegeben ist. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Ungleichheiten auch abgenommen hätten, ganz im Gegenteil: In der globalen Integration ist der „Anteil der Anteillosen“ (J. Rancière) immer größer geworden, so dass Soziologen und Philosophen nach Kategorien suchen, die diesen „Anteil der Anteillosen“102 im mediatisierten Raum neu bestimmen helfen. 101 Ebd., S. 220. 102 Allerdings bleibt diese Bestimmung des „Anteils der Anteillosen“ nach wie vor problematisch, weil hier aus der Not des Intellektuellen die Tugend der kollektiven Identität gemacht wird. So zuletzt auch Žižek, der mit Badiou „die gute alte kommunistische 3.4 Medien-Kultur (Debray) 65 Wir haben es hier also mit einer Verabsolutierung des Medialen zu tun, die gerade darin das archaisch-magische, zauberische und religiöse Wesen ausstellt (das allgemeine, ontisch-ontologische Prinzip der vereinzelten Individuen) und konsumiert, und das sich dann mit den mythischen Kollektiven (die Verschmelzung der vereinzelten Individuen in den Nationalgöttern) komplementär ergänzt. Debray ahnt hier freilich die Problematik von Archaik und Modernisierung, wenn er schreibt: „Das Etikett archäo-modernistisch (…) würde auf den Anhänger einer kritischen Mediologie recht gut passen. Problematisch ist der Bindestrich. Er scheint irrational. Wie soll man ihn rechtfertigen?“103 So jedenfalls nicht, weil das Archaische ein Moment der globalisierten Maschine selber ist, die heute einen pseudoreligiösen Zauber verbreitet (pseudoreligiös, weil die irdische Monarchie jene Transzendenz Gottes als souveräne Macht bloß auf die Erde verschiebt, aber darum keine Erlösung, Entlastung oder Verwandlung der Welt mehr kennt, sondern nur noch unendliche Steigerung und Selbstoptimierung). Während die mythischen Zauberkleider der Kollektive in ihrer Reaktion nur dieses eine universelle Zauberkleid des planetarischen Demiurgen ausstellen: „Unter dem Technikeranzug (…) scheint das Harlekingewand der Kulturen täglich mehr durch.“104 Und zwar so, dass hier zum „Fanatismus des Neo“ die „Retromanie“ komplementär hinzutritt, um das Phantasma zu vollenden. Dass die Vitalität der Kulturen nicht so sehr für den „inneren Ausgleich“ sorgt, muss Debray schließlich selber zugestehen: „Dass rückwärts gewandte Erinnerungen mitten in Zeiten der Modernisierung geweckt werden, ist ein Indiz für ethnische Vitalität, die ins Düstere umschlagen kann.“105 Nicht „umschlagen kann“, sondern umgeschlagen ist, so dass diese Regression längst schon geschehen ist (wie wir bereits heute in Europa, USA und weltweit erfahren). Der „Kampf um die kulturelle Ausnahme“ ist nicht der „Widerstand gegen eine todbringende Homogenisierung“, vielmehr der komplementäre Anteil, der den „Kampf ums Dasein“, um Aufmerksamkeit, ums Wahrgenommenwerden im einheitlichen Weltmarkt ergänzt. Der Mediologe will zwar kein Überbringer einer sozialen Medizin sein, wohl aber ist er vom globalen Prozess zunehmend Formel des Bündnisses aus ‚Arbeitern‘, armen Bauern, patriotischem Kleinbürgertum und redlichen Intellektuellen“ (Žižek 2009, S. 265) ins Kampffeld führt. Bereits 1970 schrieb Horkheimer: „Das Ziel liegt in Wahrheit Proletariern nicht näher als den aufgeklärten Bürgern. Intellektuelle erfanden den Ausweg, die verzweifelt Arbeitslosen zusammen mit dem Lumpenproletariat seien die gegebene Avantgarde, womöglich verbunden mit anderen Gruppen am Rand der Gesellschaft. Der Einfall ist sympathischer als glaubhaft.“ (Horkheimer 1972, S. 158). 103 Régis Debray, a. a. O., S. 228. 104 Ebd., S. 230. 105 Ebd., S. 234. 65 66 3 Medientheoretische Reflexionen terrorisiert, jedenfalls „moralisch desorientiert“ und „von der Technik frustriert“. Er will sich „wehren gegen die panische Deregulierung der öffentlichen Dienste“, die doch in Wahrheit vom politischen und sozialen Akteur selbst in Gang gesetzt wurde. Daher bleibt zum Schluss nur noch der Appell, der zur medizinischen Vorsorge aufruft: „Ist es nicht an der Zeit, dieses Vorsorgeprinzip auf den Bereich der Zeichen und Formen auszudehnen und jeden Bürger davon zu überzeugen, dass er für die Kultur seiner Gemeinschaft als Individuum verantwortlich ist? Und dass es ein Wahnsinn wäre, seine Erinnerungsfähigkeit und seine Kreativität (denn jede ist Funktion der jeweils anderen) dem Markt und den Maschinen zu überlassen und damit die langfristigen Ziele den kurzfristigen zu opfern?“106 Diese verzweifelten Appelle, die darauf zielen, die „a-humane Menschwerdung zu humanisieren“, laufen aber ins Leere, weil sie die komplementäre Einheit von Globalität und Kulturalität verkennen und den Einzelnen auf „die Kultur seiner Gemeinschaft“ zurückstufen wollen. Eine wirkliche Diagnose zieht hingegen die Operation nicht von der globalen Maschinerie und deren Prinzip (Signatur) der ständigen Selbstrevolutionierung ab, um abstrakt an die Verantwortung des Einzelnen oder an seinen guten Willen zu appellieren, sondern ordnet Technik und Kulturen in den historisch-mythischen und religiösen Gesamtprozess ein, der nicht unbedingt positiv für die Kulturen verläuft. Was hingegen in der Mediologie allein fortdauert, sind die Kulturen und Übermittlungen, wo die Zeit in den Raum „gerammt“ wird: „ein aufgestellter Stein, eine Statue, ein sichtbarer Punkt, das ist in Raum gerammte Zeit, als ein doppelt kardinaler Punkt. Das ist Flüchtiges, das von etwas Fixem festgehalten, Fluides, das von Festem gezähmt wird.“107 Damit verkennt der Mediologe die Kontinuität in der globalen Bewegung der Medialität selbst sowie die Komplementarität der Kulturen, Ethnien und Nationen, die den globalen Kapitalgott polytheistisch stabilisieren, anstatt ihn durch eine „Operation“ zu stürzen. Insofern ergänzen sich beide Irrationalitäten (globale Identitätsmaschine und kollektive Identitäten) in der Tat: in der Verwüstung der Welt, des Selbst und der Kulturen. Denn die Hervorbringung, Angleichung und Veränderung wird durch die eine produktive und repressive Maschine betrieben, die darin den Ort der komplementären Intermedialität bildet: die geheime Waffe des globalen Kapitalismus, wo die Differenz im Gesamtprozess (in Technik und Kultur) verschwindet. Damit steht das „Kapital“ nicht außerhalb der kreativen Kapazität der kognitiven „Multitude“108, sondern bewegt sich innerhalb dieser 106 Ebd., S. 246. 107 Ebd., S. 39. 108 Eine Produktionskraft, die Negri in der vielgestaltigen, aphysischen Multitude der kognitiven Arbeiter als ein deterritorialisierendes revolutionäres Potenzial vermutet: 3.4 Medien-Kultur (Debray) 67 Multitude; innerhalb des Ausstellungswerts, der Konsumenten und Mitwirkenden, im „Zwang sichtbar zu bleiben“109, wo Ware und selbst Kapital noch die Form des Bildes, des Tones, des Wortes und der Moral (ethischer Konsum) angenommen haben. Das deterritorialisierende revolutionäre Potenzial des Kapitalismus ist somit sein eigenes Territorium, nicht die Lücke zwischen diesem Potenzial und der Form des Kapitals. Es ist nur es selbst, kein Mittel (Medium) zur Hervorbringung einer anderen Gesellschaftsform. In seiner äußersten Phase ist der globale Kapitalismus eine riesige Vorrichtung, um den Zweck im Medienspektakel, im Ausstellungswert, im Konsum oder im Logo zu beschlagnahmen. Damit ist auch der komplementäre logos der Mediologie mitbetroffen, weil er keinen anderen Ort erreicht, sondern in der Medienvorrichtung tautologisch bleibt. In der einen, menschlich-göttlichen Medienmaschine arbeitet der logos der Mediologie als ein Prozess des Vermittelns und Übermittelns, als Schöpfung des planetarischen Demiurgen, die er zugleich als göttliche Nahrung konsumiert, bis sie einmal deaktiviert, desemantisiert und unwirksam gemacht wird. Intermedialität und „Scharniere“ beschreiben also das ontologisch-mediale Dispositiv, das durch eine wirkliche „Operation“ zu deaktivieren wäre, die der Mediologe missversteht. Das paradoxe Zwischen ist damit der Ort einer Operation – nicht bloß das Herstellen von Beziehungen innerhalb der Maschine –, wo alle kommunikativen und informatischen Funktionen entschärft „Heute hingegen wird der General Intellect in der kapitalistischen Produktion hegemonial, denn die immaterielle und kognitive Arbeit wird unmittelbar produktiv; die intellektuelle Arbeitskraft befreit sich aus dem Unterordnungsverhältnis und das produktive Subjekt eignet sich selbst jene Arbeitsmittel an, die früher das Kapital zur Verfügung stellte. Das variable Kapital verkörpert so gesehen gewissermaßen das fixe Kapital. Das produktive Subjekt trägt, auf der Ebene des General Intellect, ein ganz außergewöhnliches Potenzial in sich, das in der Lage ist, das Kapitalverhältnis zu zerschlagen. Das heißt: Ich bin außerhalb meines Verhältnisses zum Kapital produktiv, und der Strom des kognitiven und gesellschaftlichen Kapitals hat nichts mehr zu tun mit dem Kapital als der ‚dinglichen‘ Struktur in den Händen der Unternehmer.“ (Negri und Scelsi, 2009, S. 151 f.). Die Gewalt, die vom „Empire“ ausgeht, wird als äußere Gewalt einer Fremdausbeutung gedeutet, während die „Multitude“ die wahre und innerliche Produktivkraft der sozialen Welt darstellen soll. Das „Empire“ ist aber keine bloß äußere herrschende Klasse, die die „Multitude“ ausbeutet – ohne dadurch dass die herrschenden Klassen sowie die Ausgeschlossenen und Anteillosen etwa verschwunden wären, ganz im Gegenteil –, sondern die „Multitude“, in ihrer wirklichen und möglich-kreativen Produktion, beutet sich auch selbst aus. Fremdausbeutung und Selbstausbeutung bilden zuletzt auch die eine Figur: die Signatur des herrschenden planetarischen Demiurgen. Auch die produzierende und kreative Multitude (nicht bloß das Produzierte als tote Arbeit) muss also in ihrer traurigen Potenzialität noch lesbar werden, will sie einmal wirklich heilsam und befreiend wirken. 109 Luhmann 1996, S. 93. Was Luhmann allerdings noch auf die Werbung beschränkt sah. 67 68 3 Medientheoretische Reflexionen und alle menschlichen und göttlichen Werke außer Kraft gesetzt werden. Eine Dekontamination der Medien, aber nicht der Medien als solcher, sondern ihrer sozialen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Effekte, die sie erzeugen. Operation wäre also jener Eingriff, der das mythisch-dialektische und ontotheologische Kontinuum des planetarischen Demiurgen unterbricht und so die Medien – als Medien „für Alle und Keinen“ (Nietzsche) und von Allen und Keinem (als kritische Masse) – in der Sache umschaltet, um so der Sache (der Menschheit des Menschen als „ewige Idee“) zu dienen. Daher müssen hier Intermedialität und Mediologie mythisch, ontologisch, metaphysisch und theologisch nacharbeiten, nicht um dadurch die Medien zum Verschwinden zu bringen (etwa in einer interaktiven Intersubjektivität wie bei Flusser, der die Utopie missverstanden hat), sondern um sie zu dekontaminieren sowie dadurch zugleich neue Möglichkeiten des medialen Gebrauchs zu eröffnen – ein dekontaminiertes Medium, das Agamben (siehe weiter unten) allerdings ohne den Zweck messianisch, bio-zoētisch und als Sabbatruhe denken will.110 Der mediologische „Standpunkt“ versagt also, weil er die Medien im mythisch-dialektischen Kontinuum (das Grundmuster historischen Fortschritts) entweder um ihren alogischen, ästhetischen, mythischen und ontotheologischen Anteil verkürzt, oder aber sie einfach mit kulturellen Invarianten inmitten der Globalisierung regressiv anreichert. Vor allem aber, weil die Mediologie die zwingende, seinsnotwendige Wesens-Komplementarität (Nichtmediales, Desemantisches, Atheologisches, Unvermitteltes, Medien-Außen, Medien-Anderes) von den Medien ethnisch-kulturalistisch abschneidet. In ihrer Beschäftigung mit den Medien (Kommunikation) und Kulturen (Übermittlung) verflüchtigen sich die Medien. Übrig bleiben nur die zwei Medienskelette aus Technik und Kultur, die dann technologisch oder kulturalistisch-ethnologisch klappern – ein „Ge-stell“, das auch Heidegger in seiner Einheit, als ein technisch-ontologisches, ökonomisch-theologisches Dispositiv nicht verstanden hat. Das universelle technologische Gestell, an dem die Mediologie ihre kulturell-ethnischen Lebensformen lose angehängt hat, hat sich aber gerade in ihrem komplementären (techno-kulturellen) Mediensystem niedergelassen, um den Leser aus den Tabellen dualistisch anzublicken. Dabei war Régis Debray dem Dispositiv des Mediums gar nicht mal so weit entfernt gewesen. Dem stofflichen Träger des Mediums, dem er sich in seiner Mediologie kulturalistisch und ethnologisch nachging, verflüchtigte sich aber schließlich zum Gespenst der Kulturen. Beim Versuch die Transportabilität des „Mediums“ zu beschreiben, das er zugleich kollektiv, kulturell und theologisch verstand, ist dies einfach abgehauen. So hat er zwar Theologie mit Transportwissenschaft der 110 Agamben 2010. 3.4 Medien-Kultur (Debray) 69 Materialien übersetzt, und diese wiederum zur Teildisziplin einer kulturalistisch angelegten Mediologie erklärt. Er konnte aber das reisefähige, monotheistische und polytheistische Medium nicht in der globalisierten Moderne lokalisieren und dingfest machen. Eine mediale Reise, die Debray von ganz sperrigen, schweren und harten Materialien, wie den ägyptischen Pyramiden, hin zu den leichteren (Schriftrollen) und dann noch leichteren Materialien (Bücher), bis hin zu den ganz leichten und flüchtigen Zeichen (digitale) denkt, die sich schließlich unendlich technisch oder kommunikativ immer mehr ausdünnen. Jedenfalls nimmt bereits der Mythos dieses Auszugs jene totale Mobilisierung vorweg, wie sie sich dann später im digitalen Medium universell entfalten sollte. Die versteinerten Götter der Ägypter verwandeln sich in der globalisierten Welt zu den flüchtigen digitalen Zeichen, die nun überall und nirgends sind. Die Transportabilität Gottes beschreibt also auch seine Umcodierung (vom Medium Stein über das Medium Schriftrolle zum späteren Medium Buch, um anschließend in den elektronischen Medien alle Schwere los zu werden), der dann das Paradoxon von „Beweglichkeit und Treue“, von „Wanderschaft und Zugehörigkeit“ im universellen Prozess selber bildet. Jenes versteinerte Absolute wird in der Tat im tragbaren Schrank transportfähig gemacht, so dass der „eingeschreinte Gott“ (R. Debray) ohne diese „Logistik“ gar nicht erst hätte überleben können. In seiner Mediologie wollte Debray also nicht bloß diesen Reiseprozess des Absoluten medial beschreiben, vielmehr auch wissen, was bei diesem „technischen Transport“ so alles schief ging. Nämlich, die „Verstärkung der technischen Verbindungen und Schwächung der symbolischen Bindung“. Damit stellt er aber erneut den Dualismus von „Kommunikation“ (kurze Zeitspanne, technisches Dispositiv, Marktlogik, Netz, Interaktivität, verdinglichtes Draußen, Maschine) und „Übermittlung“ (lange Zeitspanne, Erinnerung, Zugehörigkeit, nichtkommerzielle Institutionen, Geschichte, Anthropologie, Museum, Bibliothek, Erbe, Archive, autonomes Drinnen, Mensch) auf, den er freilich nicht als Gegensatz sieht, vielmehr „koordinieren“ möchte. Er benutzt also das äußerliche Moment des Mediums wie einen Schlitten, um – eine Art zeitliche Maschine – sowohl „vorwärts“ (in der „Werkzeugausstattung“) als auch „rückwärts“ (in der „Mentalität“) hin und her zu springen, um so zur eigentlichen, innerlichen, ethnologischen und kulturellen Vielfalt des Mediums zu gelangen: „Ethnologie ist die Wissenschaft von der Vielfalt der Gesellschaften; und Technologie die Wissenschaft von der Uniformität der Ausrüstungen. Die Mediologie, zwischen beiden angesiedelt, wirft die Frage nach ihrer Kompatibilität auf (die Schnittmenge als Problem). Sie fragt, wie auf der Erde Einzigartigkeit der Kulturen und Angleichung der Netze koexistieren können. Wie 69 70 3 Medientheoretische Reflexionen interagieren territoriale Subjektivitäten und durch Technikwissenschaft bedingte Normierungen?“111 Debray denkt also kollektivistisch in einem ethnologischen und kulturellen Horizont. Er möchte die „Einzigartigkeit der Kulturen“ als Wurzel ethnologisch vergraben und übersieht dabei, dass sie vom hyperkulturellen und hyperrealen Hier- und Überallsein des Mediums (als Netz und Realität zugleich) längst ausgegraben worden ist, und zwar so, dass auf diese universelle Heimatlosigkeit mit den regressiven Heimaten geantwortet wird: die zwei Seiten desselben archaischen Herrlichkeitsdispositivs, in seiner universellen Vermittlung und unmittelbaren, subjektiv-kollektiven Herrlichkeit. Denn Netze und Kulturen geben heute nur die eine topologische Figur des Mediums ab, wo das Draußen und Drinnen eins geworden und ineinander übergegangen sind. Eine neue Durchschlagskraft des Universalmediums, das so eine dreifache Umcodierung erzwingt: Die universelle Codierung transformiert die alte bürgerliche Hochkultur zu einem Teil des weltumspannenden Universalmediums herunter und macht andererseits alle ethnologischen Kulturgüter gleichermaßen zugänglich. Umgekehrt weist diese universelle Codierung (auch von Sprache und Schrift) auf eine ursprüngliche, archaische Welterschließung hin, in der einmal mit den alphanummerischen Codes überhaupt Kultur entsteht – insofern hat die Progression des modernen Mediums zugleich den Rückgang in die mediale Unmittelbarkeit angetreten. Die alten Unterschiede der kulturellen Sprachen, der Bilder, der Musik, der Dialekte, der Charaktere, der Lebensweisen, der Kleidung, der Wohnungen, der Städte, der Institutionen oder der körperlichen Merkmale, also all das, was einmal den Ethnien, Kulturen oder Generationen Substanz und Gehalt verlieh, all das hat heute für den planetarischen Demiurgen und Konsumenten jede Bedeutung, jeden Gehalt, jeden Ausdrucks- und Mitteilungswert verloren. Dieser versammelt vielmehr all jene kulturellen Unterschiede in seinen Weltmarken, Kultgegenständen oder Ausstellungen und stellt sie in einer phantasmatischen Leere zur Schau, die er dann konsumiert. Ein medien-ontologisches Dispositiv (Einheit), das seinerseits von den Kulturen und den Nationalgöttern (Vielheit) stabilisiert wird. Einzig die Wissenschaft vom Medienintegral sowie die Wissenschaft von der Komplementarität von globaler Einheit und kultureller Vielheit (das Koexistieren scheinbar heterogener, konträrer, polarer Relate) gräbt heute die Wurzel der bipolaren Medien-Maschine aus – nicht die Ethnologie als Wissenschaft von der Vielfalt der Gesellschaften –, um den unmöglichen Gebrauch des Mediums erneut einem neuen möglichen Gebrauch zuzuführen. Das Medium, das heute im globalen und kulturellen Museum stillgelegt und entleert ausgestellt wird, wendet sich in einer wirklich kulturellen, 111 Ebd., S. 217. 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 71 hymnischen und doxatischen Praxis erneut der Idee der Menschheit zu, um allein dieser zu dienen – was diese von sich aus anarchisch verlangt und dabei das Antlitz der Menschheit meint. 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 3.5 Medien-Theologie (Agamben) Während Mersch auf Kunst, Leschke auf Wissenschaft und Debray auf Technik plus Kulturen in den Medien setzen, haben wir es beim nächsten Autor Giorgio Agamben weniger mit einem Medientheoretiker im engeren Sinn zu tun als vielmehr mit ei- nem Denker, dessen umfassendes, archäologisches Werk Medien allerdings in eine Schlüsselstelle rücken. Agamben ist bekannt geworden durch die italienische Her- ausgabe der Schriften Benjamins, was vielleicht auch die theologische Ausrichtung seines Denkens erklären könnte. Vor allem ist er von einem Fragment Benjamins Kapitalismus als Religion angetan. Diese ökonomisch-theologische Figur verbindet er mit dem anderen, politisch-theologischen Paradigma von Carl Schmitt, wonach „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind“.112 Schon diese zwei Paradigmen, die er mit einer Archäologie der Herrschaft, der Ökonomie und der Medien theologisch absichert, machen eines deutlich: dass hier Säkulares in Sakrales übergeht, wie umgekehrt. So kommt er in Herrschaft und Herrlichkeit über das ökonomisch-theologische und über das politisch-theologische Paradigma schließlich zum Paradigma der „Medien“: „Laut Schmitt überlebt die Akklamation in den modernen Demokratien als öffentliche Meinung (…) ‚Die öffentliche Meinung ist die moderne Art der Akklamation. (…) Es gibt keine Demokratie und keinen Staat ohne öffentliche Meinung, wie es keinen Staat ohne Akklamationen gibt.‘“113 Damit kann er endlich das ökonomisch-theologische (Kapitalismus als Religion) und das politisch-theologische (die Kryptotheologie des Politischen) mit dem ästhetischen Dispositiv verbinden: „1967, mit einer Diagnose, deren Richtigkeit uns heute allzu selbstverständlich erscheint, beobachtete Guy Debord die Transformation auf planetarischer Ebene der Politik und der kapitalistischen Ökonomie in ‚eine unermeßliche Ansammlung von Spektakeln‘, in der die Ware und selbst das Kapital die mediale Form des Bildes annehmen. Verbindet man Debords Analyse mit Schmitts These von der öffentlichen Meinung als moderner Form der Akklamation, erreicht das Problem der heutigen spektakulären Herrschaft der Medien über jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens 112 Agamben 2010, S. 16. 113 Ebd., S. 303 f. 71 72 3 Medientheoretische Reflexionen eine neue Dimension. Es geht um nichts Geringeres als eine neue und unerhörte Konzentration, Multiplikation und Verbreitung der Funktion der Herrlichkeit als Zentrum des politischen Systems. Was einst auf die liturgische und zeremonielle Sphäre beschränkt war, konzentriert sich in den Medien, durch die es zugleich verbreitet wird und in jeden Augenblick und jeden sowohl öffentlichen wie privaten Bereich der Gesellschaft eindringt.“114 Agamben verlässt hier nicht nur das vormals profit-rationale Aktionsfeld der politischen Ökonomie, sondern ebenso ihre spätere Erweiterung im „ästhetischen Kapitalismus“, wie ihn zunächst Guy Debord115 formuliert hat und wie er dann auch dialektisch-kritisch (Christoph Türcke116; Eva Illouz117) erweitert wurde. Er schiebt 114 Ebd., S. 304. 115 Debord 1978. 116 „Sein ist Wahrnehmen“. Eine „audiovisuelle Dauerbestrahlung“, die zugleich „Bildersucht“ und „Bildersturm“ ist. „Der Griff nach der Notbremse, den die Kunst einst spektakulär vollzog, elementarisiert sich hier zu lauter kleinen alltäglichen Notwehrhandlungen. (…) Etwas so Läppisches wie die Entscheidung, ob man sich Hintergrundmusik im Restaurant gefallen läßt oder nicht, kann plötzlich zur Prinzipienfrage, zum Probierstein von Zivilcourage werden.“ (Türcke 2002, S. 64 und 311). Gegen diesen „nihilistischen Bildgott“ des „ästhetischen Kapitalismus“ helfen dann auch keine Argumente mehr: „Hier hilft nicht Argument gegen Argument, allenfalls Aufmerksamkeit gegen Aufmerksamkeit, sozusagen ein ästhetischer Atheismus. Den darf man überall dort am Werk sehen, wo das kritische Erbe der modernen Kunst (…) sich fortentwickelt, in politische Aktionsformen und Diskurse eindringt und jene neue Mischung von Kunst, Event und Demonstration entsteht, an der Künstler wie Nicht-Regierungsorganisationen von sehr verschiedenen Ausgangspunkten aus arbeiten.“ (Türcke 2003, S. 152). Türcke argumentiert hier noch mit dem Medienmodell der traditionellen Anthropologie, die Geist und Natur, Bewusstsein und Empfindung, Sinn und Sinne, Argument und Bild voneinander trennt (siehe hierzu auch: Agamben 2002, S. 159 ff.), um dann das dialektisch-kritische Bild gegen das Bild des Kapitals (als instrumentelle Vernunft) auszuspielen. Sein eschatothelischer, dithelischer Atheismus (der eigene Wunsch, der immer zugleich objektiver Zwang sei, enthält auch den „letzten Wunsch“ als potenziellen Überschuss – eine Beziehung von Akt und Potenz, die auf Spinoza zurückgeht), der sich gegen den nihilistischen Bildgott der kapitalistischen Gesellschaft richtet, ist aber als Wunsch- und Erregungsüberschuss nur der dialektische Treibstoff in der einen atheistisch-theistischen Kapitalmaschine. Türckes „ästhetischer Atheismus“ ist also von der imperativen Medienmaschine kontaminiert, so dass er in dieser Dynamik der Wünsche und der Affekte das archaische Disposiv nicht erkennen kann. Atheismus-Theismus ist keine Alternative – weder auf der theistischen Seite (Horkheimer), noch auf der atheistisch-ästhetischen, eschatophysiologischen Seite (Türcke) –, sondern nur das eine ontisch-ontologische Dispositiv, das heute in seiner Dynamik zu deaktivieren wäre. 117 Illouz 2007. 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 73 auch dieses ästhetische Element des Kapitalismus in den politischen, ontologischen und religiösen Raum hinein, so dass alle Ästhetik, Dialektik und Sprache in der Paradoxie der oikonomia der Medienspektakelreligion zum Erliegen kommt. Diese bedient sich freilich nicht bloß der Sprache als Mittel zur Verbreitung ihrer Ideologie. Wesentlicher als die Propagandafunktion, welche die Sprache als ein Instrument benutzt, ist heute vielmehr die Beschlagnahme und die Neutralisierung des „reinen Mittels“. Im System der Medienspektakelreligion wird so das „reine Mittel“ seines Zwecks enthoben und bloß zur Schau gestellt. Es zeigt seine eigene Leere vor, sagt nur sein eigenes Nichts, so als wäre keine neue Erfahrung des Worts mehr möglich. Diesen medialen kommunikativen Strang (Vermittlung) verbindet Agamben mit der unmittelbaren Form der Akklamation (Schmitt), wo auch die Demokratie, als „consensus democracy“ Habermas’schen Stils, zuletzt von der physischen, unmittelbaren Identität sich nicht mehr abzusetzen vermag. Unmittelbare, subjektive Medialität (Volk, Nation, gemeinsame Sprache) und vermittelte, objektive Medialität (die kommunikativen Verfahren der Medien) gehen ineinander über, so dass Agamben hier die konservativen mit den kommunikativen Denkern changieren sieht: „Wenn man gegen (…) die Theoretiker der Verbindung Volk/Verfassung einwenden kann, daß sie noch an gemeinsamen Voraussetzungen (die Sprache, die öffentliche Meinung) festhalten, kann man gegen Habermas und die Theoretiker des durch Kommunikation konstituierten Volks mit guten Argumenten einwenden, daß sie letztlich die politische Macht in die Hände der Experten und der Medien geben.“ Damit „laufen die ‚demokratischen‘, laizistischen Theoretiker des kommunikativen Handelns Gefahr, sich Seite an Seite mit konservativen Denkern der Akklamation wie Schmitt (…) wiederzufinden; doch ebendies ist der Preis, den theoretischen Entwürfe, die glauben, auf archäologische Absicherung verzichten zu können, zu zahlen haben.“118 Freilich würde Habermas hier einwenden, dass seine kommunikative Vernunft doch auch strikt von der bloßen Akklamation zu unterscheiden ist. So differenziert er in Strukturwandel der Öffentlichkeit,119 worauf Agamben sich bezieht, zwischen einer „kritischen Öffentlichkeit“ und einer Öffentlichkeit, die „zu Zwecken der Akklamation bloß hergestellt“ ist. Er marginalisiert also gerade jenen akklamatorischen oder systemischen Charakter der Massenmedien, um die Dominanz der Kommunikation über die Medien starkzumachen. Denn der „wahre Konsensus“ wird nicht „durch Zwänge behindert“; „Diskurse“, so Habermas, „herrschen nicht“.120 118 Agamben 2010, S. 306. 119 Habermas 1990. 120 Ders., 1971, S. 137. 73 74 3 Medientheoretische Reflexionen Habermas versucht eine idealistische Differenz im Diskurs selber einzubauen, die Agamben aber wieder in die linguistische Maschine einzieht, weil die ideale Kommunikation von der oikonomia der Regierungsmaschine kontaminiert ist und ihren glorreichen Aspekt darstellt. Das gegenwärtige Mediensystem hält für ihn eine ununterbrochene, tautologische Rede über sich selbst und beschlagnahmt so die Kommunikation der „reinen Mittel“. Es ist sein lobpreisender Monolog. Denn wie die liturgischen Doxologien Gottes Herrlichkeit erzeugen und festigen, so sind auch die profanen Akklamationen kein Ornament der politischen Macht, vielmehr begründen und rechtfertigen sie diese. Diskurse, so möchte hier Agamben gegen Habermas einwenden, herrschen eben auch dann, wenn sie sich als eine „kritische Öffentlichkeit“ ausgeben, so dass sie unfähig sind, das mediale Dispositiv zu brechen. Freilich bleibt diese mediale Regierungsmaschine auch bei Agamben noch problematisch genug, und zwar aus drei Gründen. Erstens sind es die zwei Seiten des Herrlichkeitsdispositivs (vermittelt und unmittelbar), die nicht ganz in die eine Figur mit zwei Gesichtern aufgelöst werden können. So gehen die vermittelnden Medien und die unmittelbare, subjektive Herrlichkeit der akklamierenden Völker, Nationen und Kulturen (Mehrzahl) nicht ganz in dieser monotheistisch-theologischen Einheit (Einzahl) auf, vielmehr – wie wir auch bei R. Debray gesehen haben – bilden sie eine korrelative Einheit. Denn die Nationalstaaten verschwinden ja in der Verabsolutierung des Medialen keineswegs, wie auch Habermas oder Negri fälschlich behaupten. Ganz im Gegenteil, gerade als lebende Tote – mit Hegel entsubstanzialisiert – werden sie immer stärker. Die Logik des universalen Zerfalls negiert so die traditionellen kollektiven Identitäten (Nationen, Kulturen, Ethnien) und macht sie zugleich immer stärker. Und zwar deswegen, weil der Druck der allumfassenden, spektakulären Medienmacht (als Kreativitäts-, Ausstellungs-, Konsum-, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsdispositiv) immer größer wird, worauf dann die scheinbar unmittelbaren, lokalen Identitäten (Nationen, Völker, Kulturen, Lokalitäten, Regionen) reagieren. Agamben scheint dieses komplementäre Element der globalisierten Kapitalmaschine zu übersehen oder gar zu verklären, wenn er historisch gewachsene partikulare Identitäten („lateinisches Europa“, „italienische Landschaft“, Kultur, Heimat, Tradition, „unsere Identität“) gegen die globale Einheit verteidigt. Hyperreale, hyperkulturelle, monotheistische Einheit (die ontisch-ontologische Kapitalmaschine) und polytheistische Vielfalt (Nation, Ethnie, Kultur, Heimat, Regionalität, unterschiedliche Lebensformen und Glaubensweisen) sind aber dialektisch-korrelative Figuren, die sich gegenseitig bedingen; so etwa heute der Überwachungsmarkt (der Steuerungs- und Lenkungsmarkt der Großkonzerne, die das soziale Verhalten der Massen von innen her durch eine mikrologische Psychopolitik bestimmen) vom Überwachungsstaat gestützt und reguliert wird. Die glorreiche, ökonomisch-theologische Universal- 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 75 maschine kann nur funktionieren, wenn diese globalisierte Welt polytheistisch stabilisiert wird; die monarchische Kapitalgottheit erfordert in ihrer Einheit die polyarchische Gewalt von außerhalb, um die Bedingungen für das Funktionieren dieser Maschine aufrechtzuerhalten. Die Tatsache, dass die globalkapitalistische Kultreligion eine Totalität ist, bedeutet, dass sie die dialektisch-korrelative Einheit ihrer selbst (monotheistische Globalität) und ihres anderen (der Polytheismus der Nationalgötter) darstellt – und die antagonistischen Kräfte, die dann auf diese scheinbar harmonische, komplementäre Einheit ihrerseits reagieren. In der Gesellschaft der Weltmarktbindungen (subjektiv-physisch-unmittelbar) und interaktiven, rhizomatischen Netzverbindungen (objektiv-vermittelt: im aktiven Generieren und passiven Konsumieren von Daten) blüht so mit negativer Kraft der mythische Wunsch nach unmittelbarer Identifikation mit dem eigenen Volk oder der eigenen Nation, so dass zum kultischen Ritual der Medien und Weltmarken (Kultgegenstände, Ausstellungen, Erregungen) die kultischen Rituale der nationalen Identitäten hinzukommen. Zweitens wäre hier in Agambens Modell auch die Analogie von sakral und säkular zu problematisieren, die zwar die Macht von der himmlischen Monarchie auf die irdische Monarchie des spektakulären Kapitalismus verschiebt, dabei aber auch die Medien in einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ stillstellt. Eine quasi mytho-theologische und ontologische Invariante, so dass hier die qualitativ-mediale Differenz zwischen der Steinschleuder (archaisches Medium) und der Atombombe, bzw. dem weltweiten Datenverkehr und dem universalen Mediendesign entfällt. Denn wir haben es hier ebenso mit einer neuen Macht-Asymmetrie zu tun (zumindest was die Dinge auf der Erde betrifft), wo der planetarische Demiurg in seinem unendlichen Projekt (das inzwischen in eine neue Phase eingetreten ist, wo nun auch die Natur selbst im Biodesign verdunstet) eine exponentielle Kurve der Hyperkonstruktion und Hyperkonsumtion betreibt. Während der allwissende, semantisch konstruierte Gott seinerseits allein die digitale Spiegelung der Welt darstellt, und in der er nun zu einer total überwachten und psychopolitisch gelenkten Gesellschaft transformierte. Eine neue Macht-Asymmetrie (Big Data, digitale Spiegelung, Biodesign etc.), die aber mit der alten Macht-Asymmetrie der Mythologie und der Religion wenig zu tun hat, weil diese noch zu statisch konstruiert waren und eine „Natur“, wie tragisch, unerlöst oder erlöst auch immer, noch gewähren ließen. Von den drei Phasen in der Ökonomie des Heils (wahre religio der Potenz ohne Akt; falsche religio der Modernität; und wieder wahre religio der Profanierung) wäre dann vor allem die mittlere (die religio der Modernität) schärfer in den Blick zu nehmen, weil sie als ein mediales Dazwischen in der Bewegung des planetarischen Demiurgen sich exponentiell nach außen und innen ausdehnt. Sie gleicht dann eher den Forschungen der neueren Physik und der dynamisch-explodierenden Beschleunigung des 75 76 3 Medientheoretische Reflexionen Universums. Aber eben auch so, dass im Gegensatz zum kosmischen Geschehen der Physik, die instrumentell-poietische Intelligenz des Menschen keine Natur mehr anerkennt, vielmehr sie immer mehr in der Konstruktion und Konsumtion auflöst. Das mediale Dazwischen kennt also weder die alten statischen Figuren von Ontologie und Theologie (als Heimat und Ziel), noch duldet es den unendlichen Aufschub des Ziels, wie es in den Symbolen des messianischen Minimalismus oder in den Metaphern der Literatur konstruiert wurde.121 Eben, weil die Zeitbeschleunigung, vorangetrieben vom planetarischen Demiurgen, den Menschen und seiner Welt wenig Zeit lässt. Was dann bei Agamben etwas zu statisch-ontologisch überbelichtet ist, ist vor allem die Opferseite der Medien (was sie mit uns anrichten), während bei ihm die faszinierende und attraktive Seite der rhizomatischen Mitmach-Netzwerk-Technologien und kreativen Netzkulturen etwas unterbelichtet bleibt. Er geht nämlich wenig auf die produktiv-schöpferische und attraktive Seite der Medien ein, die freilich ihrerseits vom Kreativitätsdispositiv des sozialen Gesamtakteurs vorangetrieben werden. Freilich, eigenes Bedürfnis (Kampf ums Da, die Sucht in den Medien zu sein) und objektiver Zwang (der Zwang im Weltmarkt sichtbar zu bleiben), Eigenbestimmung und Fremdbestimmung bilden hier zuletzt in der Tat 121 So etwa in der Metapher des Jägers Gracchus, wie sie Kafka erzählt: Der Jäger Gracchus ist bei der Gemsenjagt verunglückt: „Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits (der wahren Heimat des Menschen; S.A) tragen. Ich erinnere mich noch, wie fröhlich ich mich hier auf der Pritsche ausstreckte zum erstenmal.“ Er liegt und wartet, aber „dann geschah das Unglück“: die Totenbarke wird unversehens abgelenkt, sie verfehlt ihr Ziel und muss fortan auf den „irdischen Gewässern“ rastlos und ohne Aussicht auf Erlösung oder Vernichtung mit dem Wind fahren, „der in den untersten Regionen des Todes bläst.“ (Kafka 1994, S. 77 ff.). In diesem imaginären Zwischenreich sind sowohl die Endlichkeit als auch die Ewigkeit ausgefallen, weil beide in einem Dritten (nicht wirklich lebendig und doch auch nicht einfach tot) aufgehoben worden sind. Aber dieses Dritte ist eben mit den alten dialektischen Figuren einer „Vertiertheit“ (Adorno) oder „Verwolfung“ (Agamben) des Menschen nicht mehr zu beschreiben. Denn diese setzen ja immer noch eine Analogie der „Natur“ voraus, die uns aber in der instrumentell-poietischen Intelligenz des planetarischen Unwelt-Schöpfers inzwischen abhanden gekommen ist. Damit kann sich auch der „messianische Minimalismus“ nicht mehr in zwei Traditionen (mit Leibniz und Talmud gedacht, als Modernität und Messianismus: die Kontinuität der unmerklichen Übergänge als eine Theologie auf der Flucht) bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag gemütlich einrichten (auch nicht in der Kunst, wie es noch Adorno emphatisch-historisch dachte). Eben, weil die Katastrophalität der Zeit kaum Zeit hat – insofern hat nicht nur der Teufel wenig Zeit, wie es biblisch heißt, sondern auch das Gute (Schöne, Wahre, Gerechte, wahrhaft Natürliche und Menschliche), da ihm die Zeit explosionsartig davon läuft. 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 77 auch die eine Figur, die aber erst aus dieser ganzen „Dialektik“ der beiden Pole mühsam zu entwickeln und nicht bloß ontologisch-theologisch zu hypostasieren ist. Ein drittes Problem ergibt sich aus der globalen Bewegung der westlichen glorreichen Maschine, die in ihrem absoluten Mediendispositiv zugleich ein anderes Absolutes auf den Plan ruft und so in sich selber einen metaphysischen Antagonismus entstehen lässt. Ein absolutes westliches Dispositiv, das sich der Auflösung des Metaphysisch-Bösen in sich selber widersetzt und dies für obsolet unterstellt. Deshalb muss dies als ein von außen Kommendes oder aus dem eigenen Innern Ausgeschlossenes bekämpft werden, da dieses westliche Dispositiv wirklich Fremdes und Heterogenes nicht als Befreiung, vielmehr einzig noch als Bedrohung des Eigenen wahrnimmt. Die Illusion des Westens besteht also nicht in seinem „naiven Materialismus“, vielmehr, hier mit Agamben, in der Illusion, die eigene religiöse Maschine als eine nichtreligiöse, aufklärerisch-modernistische auszugeben. Zwar erkennt Agamben die absolute Fremdheit der westlichen theologischen Maschine, ohne aber auf die andere Macht als der „dualen Figur“122 einzugehen, die ja ebenso absolut auftreten möchte: die „ewige Umkehr“ in der einen monarchischen Figur. Insofern ist die islamische Rebellion gegen die westliche, menschlich-göttliche (technisch-ontologische) Zivilisationsmaschine das Produkt der globalen Zivilisationsmaschine selber, und nicht etwa bloß die Wiederholung einer alten Religion – die sich dann liberal aufzuklären hätte. Dergestalt, dass hier beide Figuren einen metaphysischen Antagonismus in der Globalisierung erzeugen und so von der wahren Gestalt der Menschheit ablenken: die Menschheit des Menschen, der den Menschen einwohnende Gott. Das theologische Problem, das Agamben im doxologischen System der Medien aufrollt, ist dann nicht so sehr der theologische Dualismus von kontaminiertem Mittel (Unprofanierbares) und unkontaminiertem reinem Mittel (Profaniertes) als vielmehr die Frage, wie die Verabsolutierung des Medialen gebrochen werden kann. Seine wiederholte Beschwörung des Spiels123 und der vita contemplativa weist zu Recht darauf hin, dass der heute medial zur Schau gestellte planetarische Demiurg in seiner Hyperaktivität und Unruhe eine Signatur verdeckt, die darin als eine paradox-statische Tätigkeit in ihrer Potenz entdeckt sein will. Diese ist aber nicht die 122 Baudrillard 2006, S. 139. 123 „Die Kinder verwandeln, wenn sie mit irgendwelchem Gerümpel spielen, das ihnen unter die Finger gekommen ist, in Spielzeug auch, was der Sphäre der Wirtschaft, des Kriegs, des Rechts und der anderen Aktivitäten angehört, die wir als ernsthaft zu betrachten gewohnt sind. Ein Auto, eine Schußwaffe, ein juristischer Vertrag verwandeln sich mit einem Schlag in ein Spielzeug. Gemeinsam ist diesen Fällen und der Profanierung des Heiligen der Übergang von einer religio, die schon als falsch und unterdrückend empfunden wird, zur Nachlässigkeit als wahrer religio.“ (Agamben 2005, S. 73). 77 78 3 Medientheoretische Reflexionen Kontemplation (das Verweilen der Aktion oder des Wortes im Anfang) als Gegensatz zur Aktion, sondern die Kontemplation in der Bewegung des Medialen selber, ohne diese ontische, musealisierte Welt sogleich im Stillstand, in der Deaktivierung der Maschine ontologisch als „reines Mittel“ auszuzeichnen. Agamben tut somit alles, um die Theologie im profanen Medium aufzusaugen. Zugleich erklärt er aber, dass diese Kryptotheologie des modernen Universalmediums in der Deaktivierung der Medienmaschine im „reinen Medium“ ungültig sei. Damit erklärt er aber ein Akzidentelles (freilich in seiner ontologisch-theologischen Kontamination) im „reinen Medium“ für ein Substanzielles und setzt sich so neben dem realen Prozess. Während es doch darauf ankäme, in der Deaktivierung der Maschine die nutzlosen Müllberge (die Design- und Datendeponien) auszustellen, um so erst die gereinigten Medien (nicht die reinen) zu gewinnen, um sie so auf das Gravitationsfeld der unausdenklichen, unkonstruierbaren und unkonsumierbaren Idee der Menschheit neu auszurichten, der sie allein dienen – nicht der Kapitalgottheit oder der mythischen National- und Kulturgötter. Denn das Problem, auf das Agamben hier ja zu Recht hinweist, besteht darin, dass die Aktion, Intention, Arbeit und Produktion als bloße Mittel den Zweck selber beschlagnahmen. Dann aber gilt es den Zweck (nämlich eine menschenwürdige Welt) nicht zu eliminieren, sondern aus dieser Beschlagnahme herauszulösen, schließlich ihn, in der Negation der Verabsolutierung des Medialen, in die Sache neu einzuführen, um so eine andere, neue Erfahrung des Wortes und der Praxis (eine wahrhaft hymnologische und doxologische Praxis des Mediums, das wirklich der Sache dient) zu ermöglichen. Nicht das ontologisch und messianisch „reine Medium“ also, sondern die Reinigung der ontisch-ontologischen (menschlich-göttlichen) kontaminierten Medien ist hier entscheidend. Der limes der Negativität (die Grenze, wo die fließende, immaterielle virtuelle Wesenheit als Form einer scheinbar unzerstörbaren gespenstischen Präsenz aufgelöst wird) ist dann diejenige Grenze, die das Gravitationsfeld des Mediums in der Sache umpolt. Damit wird das Medium in seiner menschlich-göttlichen Negativität dekontaminiert, während es sich so zugleich auf das neue Gravitationsfeld der unausdenklichen und unkonstruierbaren Idee bezieht. Insofern geht diese unvordenkliche, unkonstruierbare und unkonsumierbare Idee, wie Derrida mit seiner „Urschrift“ anpeilt, allen menschlichen und theologischen Medien voraus, und zugleich, paradox genug, doch nicht voraus. Eben, weil diese Idee ja ihrerseits nach wie vor an der Tätigkeit des Menschen gebunden bleibt. Bei Agamben aber ist diese Idee immer wieder dabei in der „Potenz nicht zu sein“ kontemplativ zu kollabieren, darin statisch zu werden, während sich so der Mensch seinerseits in seiner Profanierung als ein Göttliches inszeniert: „Nur wenn der Mensch den Ursprung der Bedeutungsfunktion, der ihm stets voraus ist, selbst zu fassen vermag, eröffnet sich für ihn die Möglichkeit eines freien Wortes, einer Sprache, die wirklich und vollständig seine Sprache wäre. Nur 3.5 Medien-Theologie (Agamben) 79 in einem solchen Wort fänden das philosophische Projekt eines absolut eigenen und ursprünglichen Wortes ihren Sinn und ihre Wirklichkeit. Freiheit kann nämlich nur Freiheit von der Natur und von der Sprache bedeuten.“124 Die Sprache des Menschen (er selbst ist ja auch nur ein Medium), die auf ein ganz Anderes, Nichtmediales verweist, bleibt aber immer auch ein Mediales, so dass die unvordenkliche, unkonstruierbare und nichtaneigbare Idee nie „wirklich und vollständig“ in „seinem Medium Sprache“ aufgelöst werden kann, obwohl sie freilich als Medium ihrerseits auf diese unvordenkliche und unkonstruierbare Idee bezogen bleibt. Auch die Freiheit des Mediums ist dann nicht schon das ontologische oder messianische Wahre, vielmehr zeigt diese zunächst auf die Unfreiheit der anwachsenden medialen Müllberge, auf ihre negative Ontologie hin, so dass der nutzlose Müll, den die zerfallenen medialen Gespenster freigeben, ihrerseits zugleich die dekontaminierten Medien bereit stellen, die einzig der Idee der Menschheit dienen können. Es geht also darum, in der Deaktivierung der ontisch-ontologischen Medien auch das Moment der unvordenklichen und uneinholbaren Idee zu entdecken, worauf das dekontaminierte Mittel, auf der erhöhten historischen Stufenleiter der Medien, nun seinerseits human antwortet und so Werktag und werkloser Sonntag (Sabbat) in einem zugleich untätigen und tätigen Kern des Humanen verschwinden. Deaktivierung der Medien meint also den Widerstand der Medien gegen sich selbst. Es ist die schöpferisch-poietische und denkerisch-intellektuelle Gewalt, die gegen das infernalische Gravitationsfeld des globalen Unwelt-Schöpfers angeht, um so die Deponien von Natur und Kultur, den Abraum aller Medien (als Sprache, Bild, Ton, Wort, Marke) für ein gereinigtes Medium zu gewinnen. Während so zugleich die Medien für einen neuen Gebrauch, für eine neue Lebensform frei werden. Die Frage ist dann nicht, ob wir Gewalt einsetzen – denn Gewalt ist ja in der Welt das absolut Herrschende, so dass jeder echte Widerstand nichts anderes als die antithetische Gewalt darstellt, die gegen die thetische Gewalt des menschlich-göttlichen (technisch-ontologisches, ökonomisch-theologischen) Dispositivs angeht. Sondern, ob wir der gegebenen Gewalt mit Gewalt ein Ende setzen können, um schließlich ohne Gewalt der Idee der Menschheit zu dienen. Die Gewaltsamkeit in der Deaktivierung der globalen Maschine verbindet sich somit mit der Option der Sanftheit und Pflege des gereinigten Mediums, das sich doxatisch, diakonisch und hymnisch um das Gravitationsfeld der „ewigen Idee“ versammelt. 124 Agamben 2013, S. 99. 79 80 3 Medientheoretische Reflexionen 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) Wenn statt Wissenschaft, Kunst, Kultur oder Theologie in der Medientheorie der Mensch im Vordergrund steht, so spricht man von Anthropologie. Mensch, Kör- per, Innerlichkeit, sind hier die Maßstäbe, an denen die äußeren digitalen Medien gemessen werden – was bereits die Problematik dieser These deutlich macht. Dies wurde schon in der negativen Anthropologie von Günther Anders deutlich, die er noch vom industriellen Zeitalter her formuliert hat und die wir hier als Einleitung zur digitalisierten Welt begreifen wollen. Und zwar deswegen, weil hier die spätere Problematik des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik bereits in vollem Licht erscheint. Dennoch bleibt seine Unterscheidung zwischen einer „gewordenen“ Natur und einer technisch „gemachten“125 Welt, zwischen einer „Wirklichkeit“ und einer „Medienwirklichkeit“ (das Modell hierfür war für Anders noch das Fernsehen) undialektisch. So bilde etwa das Bildmedium Fernsehen, nach Anders, die Wirklichkeit nicht mehr als Wirklichkeit ab, vielmehr wird die Wirklichkeit nach dem Abbild der Fernsehbilder konstruiert. Das führe zu tief greifenden an- thropologischen Veränderungen, die den Menschen vollkommen unfrei machen. Das hängt offenbar mit der ontologischen Indifferenz zusammen, wo Schein und Sein immer mehr in der neuen Medienwirklichkeit verschwimmen. Seine Hauptthese, wonach der Mensch als Macher (dafür steht die mythologische Figur des Prometheus) durch das von ihm Gemachte abgehängt wird, dass er sich also angesichts seines Machwerks „schämt“ und beginnt diesem sich anzugleichen (nach der Funktionalität seiner Geräte zu leben), ist aber etwas undialektisch gedacht. Ebenso undialektisch bleibt auch seine spätere Unterscheidung, in der er versucht, zwischen den wahrgenommenen Bildern (bei ihm noch die Fernsehbilder) und der wahrgenommenen Realität zu unterscheiden. Noch im Vorwort zur aktuellen Ausgabe seiner Antiquiertheit des Menschen und angesichts des Vietnamkriegs 1979 schreibt er seiner früheren These von der ontologischen Indifferenz (zwischen Schein und Sein) korrigierend: „Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts.“126 Wahrgenommene Bilder und wahrgenommene Realität bilden aber auch die eine dialektisch-komplementäre Figur des Mediendispositivs. Damit entfällt auch die Unterscheidung zwischen „Herstellen“ und „Vorstellen“. Es gibt nämlich kein modernes „Herstellen“ hier und ein „Vorstellen“ dort, so dass der Mensch sein Herstellen nicht mehr vorstellen kann. Es gibt nur das eine Mediensein und die Art, wie es draußen als Ansichsein oder eben in der Vorstellung des Menschen 125 Anders 1987, S. 24. 126 Ebd., Vorwort, VIII. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 81 erscheint. Spezifisch heute: als ein äußeres Wahrnehmungsdispositiv (das globale Ausgestelltsein) oder als inneres Kreativitäts-, Willens-, Sucht-, Imaginations- oder Wunschdispositiv. Es gibt also keine Welt der Herstellung und daneben, außer ihr, eine Welt als Vorstellung – hier ähnlich dem Denken Schopenhauers, der die Welt ebenso dualistisch als „Wille und Vorstellung“ aufteilt. Es gibt keine Asynchronität zwischen Herstellen und Vorstellen, ebenso wenig eine Asynchronität von technischer Vernunft und emotionalen Gefühlen. Vielmehr nur die eine emotionalisierte und technisch-rationalisiert-ökonomische Synchronwelt, die gerade in ihrer ontischen Verfassung ein ontologisches Moment in sich trägt. Daher kann auch der Mensch bzw. die Wirklichkeit nicht jenseits dieses Mediendispositivs existieren, das er vielmehr weiter mit Macht vorantreibt. Es ist dann keineswegs so, dass seine Geräte ihm entlaufen sind und er von ihnen abgehängt wurde, vielmehr trägt er seine technische Maschine von Anfang an im Rücken, während sie ihrerseits des stetigen menschlichen Einwirkens und der menschlichen Kreativität bedarf, damit sie überhaupt funktioniert. Darauf hat auch die posthumanistische Debatte hingewiesen127, die das heroische nicht mehr (no more; der Mensch, die Maschine sind nicht mehr dieses oder jenes) durch das immer schon (always already) ergänzt hat. Das heißt, zur Konstellation Mensch-Maschine gesellt sich hier die Konstellation Mensch-Tier, die keine anthropologische Invariante als Leib oder Körper mehr draußen lassen. Es gibt keinen ursprünglichen Menschen, der nach einer gewissen Zeit die Technik entdeckt, um sich darin prothetisch zu erweitern. Anstatt also auf Ursprünge, Anfänge oder Dualismen (Mensch-Technik; organisch-gewachsen/ industriell produziert; geworden/gemacht) zu setzen, sollte man immer schon von der Verschränkung zwischen Natur und Kultur, zwischen Anthropo- und Technogenese (samt der Ökonomie- und Wahrnehmungsgenese darin) ausgehen, die allerdings als eine immanente Sphäre ebenso Transzendenz, Ritus und Kultus mit einschließt. Das heißt, der Mensch ist immer schon ein technisches und darin metaphysisches Wesen gewesen, weil er die menschen- und gotterzeugende Technik bereits in seinem Rücken sowie in seinem Gehirn (Organon, Medium) hat – auch wenn das Medien-Resultat der Anthropotechno- und Ökonomiegenese zuletzt sich nicht mehr mit der primitiven Anthropotechnik von einst sich vergleichen lässt; Bogen, Pfeil und Tauschhandel lassen sich in ihrer qualitativen Durchschlagskraft nicht mehr mit der Atombombe, mit Big Data, Gendesign oder dem virtuellen Finanzkapital vergleichen. Nicht die technischen Medien ziehen also in ihrer ontologischen Indifferenz (zwischen Schein und Sein) die Differenz des Mediums ein, wo diese „Medienwirklichkeit“ dann durch „Leib“ oder „Wirklichkeit“ ergänzt wird, sondern das technisch-ökonomische und ontotheologische Mediendispositiv. 127 Wolfe 2003. 81 82 3 Medientheoretische Reflexionen Nicht die Technik in ihrer ontologischen Indifferenz – die ein wenig später McLuhan in „das Medium ist die Botschaft“ übersetzen wird –, sondern ihre unabtrennbare Durchdringung mit der globalkapitalistischen Verabsolutierung des Mediums (die bereits in der industriellen Gesellschaft voll in Gang war) bildet somit die „Phantomhaftigkeit“ der Welt. Und hier transformierte weder die alte Rezeption des ästhetischen Scheins zugunsten einer Passivität des bloßen Medienkonsums, noch meint dies die bloße Zerlegung des Individuums in eine Mehrzahl von Funktionen.128 Vielmehr ist die Phantomhaftigkeit der Welt (das Ausstellungsdispositiv) das synthetische Produkt des planetarischen Demiurgen und seines Kreativitätsdispositivs, wodurch er sich in seiner Doxa museal zur Schau stellt und konsumiert. In der doppelten (ontischen und ontologischen) Beschlagnahme des Mediums wurden somit alle geistigen und künstlerischen Kräfte, die vormals das Menschenleben definierten (die Religion, die Kunst, die Musik, die Philosophie, die Idee der Natur oder der Politik) ins Museum verfrachtet (der topische Ort draußen wie innen), um in diesem ausgestellten Design ein gespenstisches Dasein zu führen. Phantomhaftigkeit meint also weder den Menschen als bloßen Verbraucher, noch das bloße „Prinzip des Maschinellen“, wie Anders meint, sondern das technisch-ontologische und darin zugleich ökonomisch-theologische Mediendispositiv, das die Veränderung der Welt in ihrer Signatur einfängt, und die in der Tat, wie Anders hier zu Recht gegen Marx bemerkt, zu „interpretieren“129 wäre, soll die Universalmaschine nicht ewig bewusstlos bleiben und darin Mensch und Natur unendlich vernichten. Allerdings ist dieses neue Mediendispositiv in der Tat – darauf will die ontologische Indifferenz von Anders offenbar hinaus – nicht mehr verstehbar, weil es eben kein bloßes menschliches Produkt mehr ist. Vielmehr ist das Dasein in den nicht-mehr-verstehbaren Formen des Designs, in den postindustriellen Wüstenlandschaften, in den überflüssigen Müllbergen, in den musealen Kultgegenständen geworfen. Gerade in der Hermeneutik dieses Mediendispositivs – die keine geisteswissenschaftliche Hermeneutik ist – wird aber diese museale Welt wieder „verstehbar“, lesbar und erfahrbar. Kontingenz und Notwendigkeit, Freiheit und Zwang, Welt ohne Gott (säkular) und eine von Gott geschaffene Welt (sakral), bilden hier nämlich auch die eine Figur der glorreichen menschlich-göttlichen Maschine, die Anders in ihrer Signatur – offenbar in Ermangelung einer archäologischen Ausgrabung – nicht begreifen konnte. Das „ohne uns“ meint dann nicht die entlaufende Maschine (schon gar nicht eine technische oder die profitrationale Vernunft, die in Wirklichkeit mit dem Ästhetischen verschwistert ist; ästhetischer Kapitalismus), die uns angeblich 128 Anders 1987, S. 153 f. 129 Anders 1981, Motto. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 83 als eine Antiquität zurückgelassen hat. Es gibt kein „prometheisches Gefälle“130, wo der Abstand zwischen „Produktwelt“ und „Mensch-Antiquität“ von Tag zu Tag immer mehr zunimmt. Sondern nur das eine glorreiche geheime Zentrum der universellen Medienmaschine, die vom Kreativitäts-, Sucht-, Wunsch-, Wahrnehmungs- und Konsumtionsdispositiv des planetarischen Demiurgen vorangetrieben wird, darin aber als Imperativ eines Sollens und Müssens auch unbewusst bleibt. Es sind gerade seine musealen Kreationen, Ausstellungen und Wahrnehmungen und Erregungen, die die Möglichkeit eines neuen Gebrauchs oder einer neuen Erfahrung des Wortes blockieren. Denn Antiquität ist hier die technisch-ontologische (ökonomisch-theologische) Medienmaschine selber (samt der Menschheit darin: die von ihr hergestellten Produkte und sie selbst fallen in eins), worin sie alle geistige, künstlerische, natürliche und humanistische Medien (die Kunst, die Philosophie, die Musik, die Literatur, die Politik, die Idee der Natur) abgesondert hat, um sie in ihrer absoluten Leere auszustellen und zugleich zu konsumieren. Nur wenn es gelänge, dieses Mediendispositiv – das nicht der Medienwirklichkeit eine andere anthropologische Wirklichkeit entgegensetzt; auch dieser Anthropos lebt nämlich inmitten dieser Medienwirklichkeit, wo sonst? – mit einem Außen, mit einer politischen Operation wieder zu verbinden, bliebe noch Hoffnung für den Anspruch eines wirklich humanen Mensch- und Naturseins. In seiner Anthropologie bekommt somit Anders das technisch-ontologische Mediendispositiv – freilich noch von der industriellen Gesellschaft her konstruiert – nicht in den Griff, weil er nicht den Punkt angeben kann, wo die subjektiven Techniken der Individualisierung mit den objektiven Prozeduren der Totalisierung konvergieren. Allein diese Konvergenz aber, nicht bloß das Verschwinden des Menschen als Subjekt hinter seiner Technik, hätte, über die anthropologische Differenz hinaus, auch das göttliche Wirken in der säkularen Konstruktion des Menschen erkennen und entziffern können, um beide als Macht und Herrschaft in einer einheitlichen Medientheorie außer Kraft zu setzen. Die neueste, nun digitale Problematisierung dieses Verhältnisses (Medien hier und Mensch dort) unternimmt das Buch von Byung-Chul Han Im Schwarm. Ansichten des Digitalen,131 das sich vor allem mit der verlorenen Stille im Lärm der digitalen Medien beschäftigt. Allerdings auch so, dass er sich kaum noch um Dialektik, Argumente, Widersprüche, Antinomien oder Paradoxien in der Sache kümmert, weswegen seine Thesen (Meinungen) so schlicht wie einfach daherkommen. Es sind Thesen eines Hypertextes, der sehr leicht zu konsumieren sind, obwohl Han gerade gegen die Leichtigkeit und Schnelligkeit der digitalen Welt protestiert. So lautet auch 130 Ders.,1987, S. 16. 131 Han 2013. 83 84 3 Medientheoretische Reflexionen die schlichte Hauptthese seiner Bücher, die er regelmäßig auf den Markt wirft: Das digitale Medium in seiner Flüchtigkeit und Schnelligkeit verzerre die Innerlichkeit, die Stabilität, die Kontinuität, den Respekt, die Distanz, die Öffentlichkeit, den Anstand, das Vertrauen, das Versprechen, den Glauben, die Macht, das Ritual, die Versammlung, das Wir, die Seele oder den Geist und bewirkt so eine Abkehr von der menschlichen, innerlichen Zeit zugunsten jener unmenschlichen, äußerlichen, zerstreuten und digitalen Schwarmzeit. Eine digitale technische Zeit, die durch die „narzisstischen Ego-Maschinen“132 ausgedrückt wird. Dieses Terrain ist freilich allzu bekannt und auch historisch weitgehend erschlossen.133 Han hingegen glaubt hier – wie in seinen anderen Büchern – nicht nur auf eine archäologische Absicherung seiner Thesen verzichten zu können, sondern ebenso auf Widersprüche, Paradoxien und Antinomien, auf die hin bereits auch die neuere Literatur hingewiesen hat. So schrumpfen nicht nur seine Bücher, sondern auch seine Sätze auf ein Minimum zusammen, die scheinbar ohne Argumentation, ohne Widerspruch auskommen und in ihrer Unbeweglichkeit dann etwa so klingen: „Respekt heißt wörtlich Zurückblicken. Es ist eine Rücksicht. (…) Der Respekt setzt einen distanzierten Blick, ein Pathos der Distanz voraus.“134 Oder: „Das Vertrauen lässt sich als ein Glauben an den Namen definieren.“135 Oder: „Die heutigen Vorbilder sind frei von inneren Werten. Vor allem äußere Qualitäten zeichnen sie aus.“136 Lauter Behauptungen und Feststellungen, ohne die geringste Dynamik oder das, was einmal Hegel die Arbeit des Begriffs nannte. Begriffe oder Verhalten festschreiben zu wollen, ist aber bereits der Beginn einer Versteifung. Sie enthalten nämlich in sich eine bewegte Vieldeutigkeit, eine eigene Dynamik, obwohl sie – und hier hat Han wiederum recht – ihrerseits nicht verabsolutiert werden darf. Aber dieses paradox-statische Moment wäre eben erst aus der Geschichte des Begriffs, aus den Widersprüchen und der Dynamik der Sache zu erschließen und nicht einfach zu hypostasieren, wie etwa der Begriff des „Respekts“. Denn was heißt hier Respekt? Der Begriff „Respekt“ ist ja auch in einer Geschichte und Gesellschaft verstrickt und verweist 132 Han 2013, S. 65. 133 So etwa von E. Pulcini: „Tocqueville also steht (…) am Übergang vom prometheischen Ich der Frühmoderne (…) zum postmodernen narzißtischen Ich, das individualistisch und fordernd, im Gegenwärtigen verankert und ohne Weitblick, apathisch und entropisch, unfähig zur Beziehung und zur wirklichen Konfrontation mit dem Anderen und dem öffentlichen Leben entfremdet ist.“ (Pulcini 2004, S. 153). 134 Han 2013, S. 7. 135 Ebd., S. 9. 136 Ebd., S. 12. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 85 dadurch auf ein Herrschaftsverhältnis hin, das eben nicht respektiert werden soll.137 Das gilt auch für den heutigen Begriff des Respekts: Man insistiere nur auf die „Werte“ wie Toleranz oder „Respekt vor dem Anderen“ und schon ist man sofort nicht nur in der Geschichte des Begriffs, sondern auch, philosophisch, in einem „performativen Widerspruch“ verstrickt. Die Bereitschaft, andere Meinungen zu dulden und zu respektieren hört nämlich da auf, wo die bestehenden Verhältnisse (die neoliberale globalkapitalistische Ordnung) selber in Frage gestellt werden. Daher fordert Slavoj Žižek hier mit Badiou zu Recht eine „Intoleranz“ (Plädoyer für die Intoleranz) gegenüber diese Art von Toleranz.138 137 So beschreibt einmal Adorno „ein Ereignis aus Ernsttal“, um genau umgekehrt ein respektloses, anarchisches Moment stark zu machen: „Dort erschien eine Respektsperson, die Gattin des Eisenbahnpräsidenten Stampf, in knallrotem Sommerkleid. Die gezähmte Wildsau von Ernsttal vergaß ihre Zahmheit, nahm die laut schreiende Dame auf den Rücken und raste davon. Hätte ich ein Leitbild, so wäre es jenes Tier.“ (Adorno 1977, S. 308). 138 „Häufig ist genau dieser ‚Respekt vor den anderen‘ das Schädlichste und Böse. (…) Hier bekommt man üblicherweise folgenden Einwand zu hören: Verdeutlichen nicht schon Badious eigene Beispiele die Grenzen dieser Logik? Ja, Hass auf den Feind, keine Nachsicht mit falschen Weisheiten und so weiter – aber lautet die Lehre, die es auf dem letzten Jahrhundert zu ziehen gilt, nicht, dass wir, gerade wenn wir in einen solchen Kampf verwickelt sind, eine bestimmte Grenze respektieren sollten – nämlich die Grenze der radikalen Andersheit des Anderen? Wir sollten den Anderen niemals auf den Status unseres Feindes, auf den Status eines Trägers falschen Wissens und so weiter reduzieren: denn es gibt in ihm immer das Absolute des unergründlichen Abgrunds eines anderen Menschen. (…) Genau diese Argumentationsweise ist aber radikal abzulehnen. (…) Sollte man etwa Respekt vor dem Abgrund der radikalen Andersheit von Hitlers Persönlichkeit zeigen, die sich hinter all seinen Taten verberge?“ (Žižek 2004, S. 73 f.). In der Tat, wer sich zu den „westlichen Werten“ oder zu den neoliberalen globalkapitalistischen Verhältnissen abstrakt bekennt, der verhält sich zu diesen wie zu heiligen Schriften einer göttlichen Ordnung. Diese „Werte“ oder der „Respekt vor den anderen“ vertragen sich nämlich sehr schlecht mit dem Anspruch der Sache. Dennoch schießt hier Žižek, mit Badiou, auch übers Ziel hinaus. Gewiss ist die Figur des „Feindes“, wo die imperative Macht als tolerante Vielfalt sich versteckt, nicht aus der Welt zu schaffen. Aber diese historisch-gesellschaftlich-ontische Idee (die immer zugleich eine ontologische und theologische ist) ist keineswegs mit der Idee der radikalen Andersheit identisch – insofern steckt auch in „Hitlers Persönlichkeit“ dieses unverfügbare Moment, das Kant mit der Formulierung die „Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein“ zu beschreiben versucht. Denn diese Idee ist nicht bloß das ontische Medium einer zugleich ontologisch ausgezeichneten Geschichte, wie sie ja auch in Hitlers Persönlichkeit bestialisch wirkt, sondern sie bricht auch dieses bedingt-archaische Medium (die scheinbar unzerstörbare gespenstische Präsenz), um es zugleich auf ein Anarchisch-Unbedingtes zu beziehen. Damit kündigen die bedingten, gestalterischen Medien ihre imperative Dienstbarkeit, um als gereinigte nicht mehr der 85 86 3 Medientheoretische Reflexionen Freilich ist für Han jegliche Dialektik durch den Auftritt des digitalen Mediums bereits erledigt. Er bezeichnet sie als eine „verhängnisvolle Dialektik der Freiheit“139, womit er freilich nicht ganz unrecht hat. Nur, er müsste eben zeigen, worin denn dieses Verhängnis konkret besteht und es nicht einfach bloß deklarieren. Denn was heißt hier z. B. Respekt, der als Gegenpol zur Distanzlosigkeit des digitalen Mediums fungiert? Respekt: auch vor jedem Verbrecher und vor jeder Gemeinheit? Han trifft hier allerdings einen wichtigen Punkt des digitalen Mediums: seine Flüchtigkeit, Schnelligkeit, Äußerlichkeit und Gespensterhaftigkeit. Aber die flüchtige Äußerlichkeit gegen eine Innerlichkeit abzusetzen verfehlt eben die Dialektik, Komplementarität, Paradoxie, Antinomie oder die Stille des Mediums, die als Punkt (Klang) seinen digitalen Lärm (die „atonale Welt“; Badiou) in sich selber bricht, ohne dabei ein stabiles Fundament abzugeben, oder bloß das andere der Äußerlichkeit zu sein. Es gibt keine Welt als flüchtige Äußerlichkeit draußen und daneben eine Welt als Innerlichkeit im Innern des Subjekts. Es gibt nur die eine Welt und die Art, wie sie außen und innen erscheint: als eine flüchtige, immaterielle virtuelle Wesenheit (die Form einer scheinbar unzerstörbaren gespenstischen Präsenz) draußen sowie als Realtraum und Traumrealität (die Einheit von Realität und Fiktion) im Inneren; die denaturierte, hyperreale und vorgestellte Welt des Subjekts. Han hingegen baut fortwährend einen Dualismus auf: hier Empörungsgesellschaft, Hysterie, Shitstorms, Unberechenbarkeit, Instabilität, Zerstreuung – dort Stabilität, Konstanz, Kontinuität, Vertrauen, Sicherheit. Hans’ Sätze kommen somit als anthropologische Konstanten, als invariante Ausstattungen des Menschen oder des Seins daher, die sich so ihrer dynamischen, historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit nicht mehr bewusst sind. Denn die „Empörungsgesellschaft“140, von der Han hier spricht, weist ja objektiv auf die „Spektakelgesellschaft“ (Guy Debord), auf die „erregte Gesellschaft“ (C. Türcke), auf die „spektakuläre Herrschaft der Medien“ (Agamben), auf eine überwachte und gelenkte Gesellschaft hin, womit sie in ihrem Subjektivismus (insofern kann er auch kollektiv sein) objektiv bedingt ist. Ihre Affekte sind eben nichts anderes als die emotionale Begleitmusik der globalkapitalistischen Gesellschaft in ihrer imperativen Ontologie. So sind die „narzisstischen Ego-Maschinen“ in ihrer Eigensteuerung immer auch fremdgesteuert und darin der Ausdruck von ökonomischen, historisch-gesellschaftlichen und ontologischen Zwängen. Ihr Wille ist ein objektiv Gewolltes – der Wille, so Deleuze, ist nicht, was die Leute wollen, sondern das, was im Willen will. Insofern bedeutet auch „Zerstreuung“ immer Kapitalgottheit, sondern allein noch der unverfügbaren Idee der „radikalen Andersheit“ zu dienen. 139 Ebd., S. 66. 140 Ebd., S. 15. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 87 auch Konzentration, Stabilität, Konstanz und Kontinuität, worin sich das allgemeine Prinzip der Vereinzelung ausdrückt, um sich darin zugleich als „westliche Werte“ (freier Markt, Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Toleranz, Respekt) zu ontologisieren. Han hingegen will in diesem Prozess nur Zerstreuung sehen: „Die Empörungswellen schwellen plötzlich an und zerstreuen sich ebenso schnell“.141 Sie sind aber die Erscheinungsformen von weit aus umfassenden objektiven, mythologischen und theologischen Zwängen. Es ist der „heilige Geist“ des Weltmarktes, der Zurschaustellung, des Ausstellungswerts und des Konsums, der den digitalen Schwarm objektiv beseelt, aber von Han in der bloßen Zerstreuung allein gelassen wird: „Der digitale Schwarm ist schon deshalb keine Masse, weil ihm keine Seele, kein Geist innewohnt. Die Seele ist versammelnd und vereinigend. Der digitale Schwarm besteht aus einzelnen Individuen.“142 Gewiss, im digitalen Medium ist der alte traditionelle soziale Körper aufgelöst; er hat jene alte Beständigkeit und traditionelle Stabilität verloren. Aber nur, um eine andere, neue Stabilität im globalen Design, in den Weltmarken, oder in den Nationen und Kulturen zu etablieren. Es ist daher keineswegs so, dass die Individuen im „digitalen Schwarm kein Wir (mehr) entwickeln“143. Ganz im Gegenteil. Sowohl im digitalen Netzwerk als auch im physischen Alltag haben wir es sehr wohl mit „Konsumgemeinschaften“ und „Konsumsekten“ zu tun, die scheinbar selbst gewählt, freiwillig und demokratisch agieren. Während sie in Wirklichkeit in ihren Marken (die neuen Orientierungs- und Identitätsstifter) oder in ihren „westlichen Werten“ (die Akklamationen: „Es lebe die Demokratie! Es lebe der freie Markt! Es leben die Menschenrechte! Es lebe die Toleranz!“) einem objektiven, monarchischen und polyarchischen Zwang unterliegen. So ist auch das „Netzwerk selbst ein Göttliches“144, ein Wir, das die einzelnen „narzisstische(n) Ego-Maschine(n)“145 zuletzt im ontologisch-technischen (ökonomisch-theologischen) Dispositiv transzendiert. Eine Umwandlung der einzelnen Ego-Maschinen in ein Identitäts- und Einordnungsprinzip, das auf mythische und theologische Zusammenhänge zurückweist. So sind auch die traditionellen kollektiven, mythischen Identitäten (die lokalen oder nationalen „Wirs“) keineswegs verschwunden, vielmehr werden sie im Prozess der globalen Bewegung immer stärker, weil der Druck auf sie immer mehr zunimmt. Die auf „digitales Medium“ hier und „Innerlichkeit“ dort gegründete Anthropologie Hans beschreibt daher, trotz der Unterschiedlichkeit ihrer beider Figuren, 141 Ebd., S. 15. 142 Ebd., S. 19. 143 Ebd., S. 20. 144 Bolz und Bosshart 1995, S. 28. 145 Han 2013, S. 65. 87 88 3 Medientheoretische Reflexionen nur die zwei Gesichter der einen mediatisierten Welt (als logos und doxa zugleich), die sich im Netz und in der Realität verschränken und verflechten, um darin (in der digitalen und realen Welt) das eine technisch-ontologische Dispositiv abzugeben – wobei es hier unwesentlich ist, ob dies von einer physisch anwesenden Menschen-„Versammlung“ oder aber von einer „Ansammlung“146 der digitalen Netzbewohner zum Ausdruck gebracht wird. Han denkt daher an dieser dialektisch-komplementären Figur (physisch und digital zugleich) vorbei147, weil er in den digitalen Medien nur die alte bürgerliche oder proletarische Welt aufgelöst sieht – „der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft“ –, ohne dabei die neuen Zwangsidentitäten zu sehen, womit das Moment der Invarianz in der flüchtigen Figur selbst anwesend ist. In seiner dualen, invarianten Anthropologie, die digitale Äußerlichkeit und Innerlichkeit voneinander trennt, verwechselt Han dann auch noch die konkrete Figur des „Niemand“ und des „Jemand“: „Statt ‚Niemand‘ zu sein, ist er (der homo digitalis) penetrant Jemand, der sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt. Der massenmediale Niemand dagegen beansprucht für sich selbst keine Aufmerksamkeit.“148 Aber das Niemand- und Jemandsein ist eben auch objektiv bedingt: Das Bezogensein der „narzisstischen Ego-Maschinen“ auf den globalen Markt und seiner Ontologie, auf dem sie sich behaupten oder untergehen müssen – während die anderen narzisstischen Kollektive, in ihrer massenmedialen Verschmelzung und mythischen Vielfalt, ihrerseits auf diesen universellen Druck reagieren, ohne ihn abschütteln zu können. So ist dann auch die „Sorge um sich“149 immer auch eine Sorge um Aufmerksamkeit, um Wahrgenommen werden und entscheidet im Weltmarkt eben über Sein oder Nichtsein, über In- oder Outsein, Bemerkt- oder Ignoriertsein. 146 Ebd., S. 21 147 Hier steckt noch der alte Dualismus von Mensch/Technik, der bereits vom Posthumanismus (Wolfe 2003) durch das Verhältnis von Mensch/Tier korrigiert wurde. So hat die posthumanistische Debatte das alte heroische no more durch das always already ergänzt. Hieß es einmal, der Mensch, die Maschine, seien nicht mehr dieses oder jenes, so wurde dies durch das Immer schon ersetzt. Es gibt also keinen ursprünglichen Menschen, der nach einer Weile Technik oder Kultur entdeckt und sich dadurch prothetisch erweitert (so noch bei Günther Anders). Statt also auf Ursprünge und Anfänge zu setzen (hier Natur, Ursprüngliches, dort Kultur, Geist, Technik), ist von einer Dialektik oder Überschneidung der beiden Momente auszugehen. Dass es immer schon eine Verschränkung von Anthropo- und Technogenese (von Natur- und Kulturgenese) gegeben hat und weiterhin gibt. Freilich kommt man um das Ursprungsproblem (archē) nicht herum. 148 Han 2013, S. 21. 149 Ebd., S. 16. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 89 Recht hat Han allerdings da, wo er im digitalen Raum eine neue „Selbstausbeutung“150 ausmacht, und die dann die alte, bloß äußere „Fremdausbeutung“ außer Kraft gesetzt hat. Denn das heutige Leistungssubjekt ist „Täter und Opfer zugleich“. Dies beschreibt aber nur die eine Figur des technisch-ontologischen (ökonomisch-theologischen) Dispositivs in ihrer absoluten Herrschaft. Die Macht, die einmal von oben nach unter verlief, änderte eben nur ihren Charakter, sie wurde mikrologisch, vom ganzen Kollektiv verinnerlicht und transformierte schließlich zum allgemeinen Sozialisationszwang, aber eben auch so, dass dieser seinerseits auf alte monarchische und polyarchische Zusammenhänge hinweist. In dieser neuen, globalen und nationalen Sozialisationsfigur sind daher immer noch die alten mythischen und göttlichen Mächte wirksam. Han hingegen sieht nur eine Abflachung von Kommunikation, die jene ehemals elitären Repräsentanten („Meinungsmacher“) außer Kraft gesetzt hat: „Die heutige Meinungs- und Informationsgesellschaft beruht auf dieser entmediatisierten Kommunikation. Jeder produziert und sendet Information. (…) Das digitale Medium schafft jede Priesterklasse ab.“151 In dieser digitalen Präsenz ist aber keineswegs die alte Repräsentation verschwunden, wie er meint, die vielmehr in die Hände von Experten und in den Medien selbst gefallen ist. Daher gilt hier die Formel: keine narzisstische Ego-Präsenz im digitalen und realen Raum – in Wahrheit der museale Raum im neuen narzisstischen Präsentationsraum der Egos – ohne die allgemeine Repräsentation des ökonomisch-theologischen Dispositivs. Etwas, das nun als neues Evangelium von der neuen, medialen Priesterklasse verkündet wird – „der Kapitalismus selbst ist zur stärksten aller Religionen geworden“.152 Und: keine Einheit des technisch-ontologischen Dispositivs ohne die mythischen Rahmen der kollektiven (ethnischen, lokalen, nationalen) Identitäten. Die bloße Meinung der Einzelnen zersetze daher nicht, wie Han meint, den Raum der kollektiven Öffentlichkeit, vielmehr sind all diese Einzelmeinungen in der allgemeinen Doxa, in der spektakulären Herrschaft der Medien aufgehoben. Die Fiktion ist also nicht erst auf der Seite der digital-zeitlosen Welt zu finden, die von der realen, vergänglichen und physischen Welt getrennt wäre, wie Han meint: „Das digitale Medium ist ohne Alter, Schicksal und Tod.“153 Es gilt nicht die digitale Ewigkeit gegen die Vergänglichkeit von Physis, Leib und Körper auszuspielen, weil beide in der scheinbar unzerstörbaren gespenstischen Präsenz ineinander verschränkt sind und Ewigkeit keineswegs bloß den Ewigkeitsschein des Mediums 150 Ebd., S. 24. 151 Ebd., S. 27 f. 152  Bolz 1995, S. 248. 153 Han 2013, S. 43. 89 90 3 Medientheoretische Reflexionen (digital und physisch zugleich) meint. Sondern zuletzt auch das radikal Andere zur ewigen Vernichtung, Denaturalisierung, Dehumanisierung, Desubjektivierung, um dadurch den konkreten Tod (als digitale Fiktion und Realität zugleich) paradox- paradigmatisch aufzuheben. Insofern könnte man sagen, dass heute die digitalen Netzwerke den Menschen regelrecht angewachsen sind, wobei sie noch seine ontologische und anthropologische „Natur“ bestreiten, die heute nur noch als Rest vorkommen darf – daher wäre die Figur Mensch-Technik zugleich mit der Figur Mensch-Tier zusammen zu denken. Ein „Optimierungswahn“154, nicht bloß des Einzelnen, sondern auch des planetarischen Demiurgen als permanente Selbstrevolutionierung. Der „Kommunismus als Ware“ ist hier zwar, mit Han, „das Ende der Revolution“, weil das Kapital selber die Revolution darstellt, aber eben nur als säkularisierte Revolution (die sich als bloße Arbeit, Tätigkeit, Werk und unendliche Tathandlung versteht). So dass die echte Differenz auf die Deaktivierung der ökonomisch-theologischen (technisch-ontologischen, menschlich-göttlichen) Maschine hinweist. Allerdings hat Han wiederum recht, wenn er gegen Flusser schreibt: „Flussers Utopie des Spiels und der Muße erweist sich als Dystopie der Leistung und Ausbeutung.“155 Eine „Freiheit“, die in der Tat „in Zwang“ umschlägt, und „letzten Endes aus der Logik des Kapitals“156 sich ergibt. Was aber diese „Logik des Kapitals“ konkret sei, kann Han kaum noch entziffern, weil er traditionell dualistisch denkt: hier die Zahl, das Bild, das digitale Medium, dort die Realität, die Physis, die Innerlichkeit: „Das Wort ‚digital‘ verweist auf den Finger (digitus), der vor allem zählt. Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht.“157 Wieso, so ist hier man geneigt zu fragen, „zählt“ der Finger bloß und nicht etwa zeigt oder auf seine Haut oder Adern hinweist? Wieso beruht die digitale Kultur auf dem „zählenden Finger“? Han fällt hier offenbar auf ein traditionelles Modell – schon in der Renaissance ausgebildet – der Zahl und der Rationalität herein. Während heute die Durchschlagskraft des digitalen Mediums gerade auf seine Erzählung, Faszination, Herrlichkeit und Musikalität beruht, weswegen hier auch Friedrich Kittler von der Einheit von Mathematik mit Musik spricht – auch wenn er das Medium wieder remythologisiert. Die digitale Kultur beruht nämlich nicht bloß auf Zahl, Addition, Leistung, Effizienz und Profitrationalem, sondern ebenso auf Erzählung, Faszination, Markenkult, Inszenierung, öffentlicher Meinung, 154 Ebd., S. 43. 155 Ebd., S. 48. 156 Ebd., S. 50. 157 Ebd. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 91 Akklamation und Herrlichkeit. Und der Ewigkeitsschein des digitalen Mediums besteht dann darin, dass sich hier eine Erzählung durchsetzt, die uns aus dieser globalen Albtraumwirklichkeit nicht mehr aufweckt, wie Kant noch mit den alten Medien meinte, sondern uns medial ermöglicht weiter zu albträumen. Ein Realtraum, eine Traumrealität, die die Form einer unzerstörbaren gespenstischen Präsenz annimmt. Alles hängt dann davon ab, wie die „Zahl“ hier symbolisiert wird, welche phantasmatische Interpretation oder Erzählung sich durchsetzt und dann, in der Verabsolutierung des Mediums (als Zahl, Bild, Ton, Ware, Körper), die allgemeine Wahrnehmung bestimmt. „Man zählt“ also nicht „endlos, ohne erzählen zu können“158, sondern die phantasmatische Erzählung in ihrer Scheinewigkeit unterliegt selbst dem Imperativ: ‚Erzähle!, bis zu deiner völligen Vernichtung!‘ Das „Narrative verliert“ nicht „massiv an Bedeutung“159, wie Han meint, sondern ganz im Gegenteil: Es gewinnt immer mehr an Bedeutung (in der Zurschaustellung, im Konsum oder in den „westlichen Werten“) und sorgt so in der spektakulären Herrschaft der Medien für die Stabilität der ökonomisch-theologischen Medienmaschine. Gegen Hans’ Behauptung: „Macht und Information vertragen sich nicht gut“160, können wir somit feststellen: sie vertragen sich sehr gut. Die Erzählung ist nicht das andere zur digitalen Jagd, zur Transparenz oder Äußerlichkeit, vielmehr ist die „Innerlichkeit“ das Geheimnis der Äußerlichkeit selber und bestimmt damit den Grad der Bewegungen jener hysterischen, panischen, ekstatischen oder „narzisstischen Ego-Maschinen“. Han hat also da recht, wo er Flussers Utopie von den selbstlosen Punkten oder der Nächstenliebe zurückweist: „Die digitale Technik ist keine ‚Technik der Nächstenliebe‘. Sie erweist sich vielmehr als eine narzisstische Ego-Maschine. (…) Das Projekt, zu dem sich das Subjekt befreit, erweist sich heute selbst als Zwangsfigur.“161 Er kann aber nicht den Punkt angeben, wo die egoistischen Subjektivierungsprozesse mit den Desubjektivierungsprozessen konvergieren. Erst diese Konvergenz würde uns nämlich erlauben, den doppelten Prozess als eine Figur (die narzisstischen Ego-Maschinen als ein Identitäts- und Einordnungsprinzip) zu dechiffrieren und sie im Konkreten zu deaktivieren, um anschließend das dekontaminierte Medium auf das Gravitationsfeld eines wahrhaft Neuen und Anderen zu lenken. Die einzelnen Ego-Maschinen sowie die kollektiv-narzisstischen Maschinen sind somit komplementäre Elemente und bedingen sich in ihrer Aggression gegenseitig. 158 Ebd., S. 70. 159 Ebd., S. 51. 160 Ebd., S. 57. 161 Ebd., S. 65. 91 92 3 Medientheoretische Reflexionen Deswegen beschreibt die „Autoaggressivität“162 des Einzelnen immer zugleich die Autoaggressivität des Systems als eine menschlich-übermenschliche kollektive Praxis, die sich gegen sich selbst richtet. Auch das Fiktionale beschreibt dann nicht „die hohe Komplexität“, die die „digitalen Dinge gespenstisch und unkontrollierbar“163 macht, sondern die neue Kontrolle, die vom geheimen Zentrum der bipolaren (technisch-ontologischen, ökonomisch-theologischen) Maschine aus erfolgt. „Die Totalisierung des Konsums“164, von der Han spricht, beschreibt eben die Kontinuität der falschen Erzählung als neue „Verbindlichkeit“, die darin auch jene kritische Konsumkritik kennt: „Konsumkritik ist selbst Konsum geworden.“165 Han denkt sie aber bloß als das anthropologische Andere zum digitalen Medium: „Wie Versprechen oder Vertrauen bindet sie die Zukunft. Sie stabilisiert die Zukunft.“166 Genau dieses „Versprechen“ und „Vertrauen“ sind aber die Kennzeichen des neuen globalkapitalistischen Kultus, der Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammenstaucht, ohne den heute die Rituale der Aktienmärkte oder der Marken kaum denkbar wären. Er denkt das Reale und die Menschen als Gegensatz zur „Beliebigkeit und Kurzfristigkeit der Kommunikationsmedien“ und hat anschließend auch einen Vorschlag für die Krise der Politik parat: „Die Krise der Politik ließe sich allein durch ihre Rückkopplung an den realen Referenten, an die Menschen überwinden.“167 Gewiss, aber diese „Menschen“ gibt es eben heute nicht mehr jenseits des doxatischen Kapitalbegriffs. Einzig die Deaktivierung dieser logisch-alogischen und ontisch-ontologischen Figur reicht dann an jenes Menschliche heran, das Han zu Recht hervorhebt, aber auch anthropologisch entstellt. Er denkt also am Kern des verabsolutierenden Mediums vorbei, weil er Kategorien wie Vertrauen, Respekt, Versprechen oder Glauben in einer Innerlichkeit festmacht: „Das Vertrauen ist ein Glaubensakt, der obsolet wird angesichts leicht verfügbarer Informationen. Die Informationsgesellschaft diskreditiert jeden Glauben.“168 Schön wär’ es. In Wirklichkeit wäre sie nämlich ohne diesen Glauben gar nicht funktionsfähig. Das „System“ schaltet daher nicht von „Vertrauen auf Kontrolle und Transparenz um“169, vielmehr wird der neuen Gottheit in ihrer Kontrolle und Transparenz immer mehr vertraut – wie einer Bank. Denn die „Totalproto- 162 Ebd., S. 66. 163 Ebd., S. 75. 164 Ebd., S. 77. 165 Bolz und Bossshart, S. 111. 166 Han 2013, S. 80. 167 Ebd., S. 85. 168 Ebd., S. 91. 169 Ebd. 3.6 Medien-Anthropologie (Anders, Han) 93 kollierung des Lebens“170 wäre ohne das „Vertrauen“, ohne den „Glauben“ an das eine universale Medienintegral kaum denkbar, so dass darin die „Selbst- und die Fremdausleuchtung“ in eins fallen. Han hat freilich recht, wenn er an die Stelle der alten Biomacht die neue Psychomacht in den digitalen Medien entdeckt: „Die Psychomacht ist insofern effizienter als die Biomacht, als sie die Menschen nicht von außen, sondern von innen her überwacht, kontrolliert und beeinflusst. Die digitale Psychomacht bemächtigt sich des sozialen Verhaltens der Massen, indem sie auf seine unbewusste Logik zugreift.“171 Freilich bleibt hier eine Paradoxie und Antinomie in der Argumentation bestehen. Denn die Menschen, deren Psyche heute von „innen her“ durch die digitale Medien-Psychomacht kolonisiert und kontrolliert wird, haben ja einmal diese ihre psychische Freiheit erst mit Hilfe anderer medialer Psychotechniken (vormals etwa des Buchdrucks) errungen. Die Freiheit, die wir heute durch die Medien (digitale) verlieren, haben wir ja einmal selbst durch die Medien (alphabetische, nummerische, ikonische etc.) errungen. Gewiss, dieser dialektische Gedanke greift auch zu kurz, weil er unterstellt, dass wir bereits im Besitz der Freiheit und Aufklärung wären – was bekanntlich noch Kant bestreitet, weswegen er statt von einem „aufgeklärten Zeitalter“ „in einem Zeitalter der Aufklärung“ schreibt. Allerdings schien damals der Horizont der Menschheit noch weit geöffnet zu sein, während er uns heute weitgehend verschlossen bleibt. Dergestalt, dass noch die Dialektik des Liberalismus172 inzwischen vom ökonomisch-theologischen Dispositiv eingezogen wurde. Dann aber gilt es dieses Dispositiv als Medienmachtmaschine zu deaktivieren, damit das Medium für einen wahrhaft neuen Gebrauch wieder frei wird. Ein Medium, das endlich der Sache der Menschheit selbst zuwendet, statt jener unheimlichen, gespenstischen Kapitalgottheit, in ihrer Komplementarität mit den mythischen Nationalgöttern. 170 Ebd., S. 92. 171 Ebd., S. 101. 172 Diese hat bereits Adorno 1968 in einem frei formulierten Beitrag zum Soziologentag festgestellt: „Die Vorstellung, der Streit oder die Lebensnot seien produktiv, hat sicherlich einmal ihr Wahrheitsmoment gehabt. Angesichts der destruktiven Potentiale der gegenwärtigen Technik andererseits auch der Absehbarkeit eines wirklich radikal friedlichen Zustands glaube ich nicht, daß jene Vorstellung von der beflügelten Kraft des Streites noch gilt. Sie stammt eben wirklich aus einer relativ harmlosen Konkurrenzphase, die ihre Harmlosigkeit verloren hat. (…) Ich bekenne mich lieber zu der Kantischen Idee des ewigen Friedens als zum Idealismus von Fichte, bei dem die Dynamik Selbstzweck wird, wenn nur die freie Tathandlung der Menschen sich fessellos entfaltet.“ (Adorno 1979, S. 584 f.). 93 94 3 Medientheoretische Reflexionen 3.7 Medien-Mythologie (McLuhan, Flusser) 3.7 Medien-Mythologie (McLuhan, Flusser) Betrachtet man von heute aus die Leitfiguren der Medientheorie, so stellt man fest, dass McLuhans mythisches und Flussers ästhetisches Denken eine Konstellation bilden, die mit der Kategorialisierung „Medienontologie“ (Leschke) nicht ganz getroffen werden. Vielmehr muss man bei beiden von einer Medienmythologie mit zwei unterschiedlichen Mythen und Medienarchäologien sprechen. Denn beide operieren mit einem profanen Medienbegriff, der drei große Medienepochen beschreiben soll: Die erste ist die Epoche der magisch-mythischen Welt; die zweite die Welt der Schrift; die dritte die elektronische Welt (McLuhan) bzw. die Welt der Computer (Flusser). McLuhan beschreibt diese mythische Vorwelt freilich als eine „Welt des Ohres“173, während für Flusser die Epoche vor der Schrift eine Welt der „Bilder“ gewesen sein soll: „Diese dem Bild eigene Raumzeit ist nichts anderes als die Welt der Magie, eine Welt, in der sich alles wiederholt und in der alles an einem bedeutungsvollen Kontext teilnimmt.“174 Wiederholung ist aber die Haupt- figur des Mythos, der freilich von Flusser und McLuhan nicht in die Geschichte hineingezogen wird, vielmehr als solche vorhistorische Figur als „Bild“ oder „Ohr“ stehen gelassen wird. Beide Mythen, die drei große Menschheitsepochen beschrei- ben (magische Vorwelt, Schriftwelt, elektronische Welt), bleiben somit leer und bloße Deklarationen. So dient die erste Welt schließlich nur dazu auf den zweiten Epocheneinschnitt vorzubereiten: auf die Epoche des Alphabets, der Schrift, der Geschichte, der Linearität. Also, auf das große Kulturkontinuum, das erst im 20. Jahrhundert durch die elektronischen Medien (McLuhan) und die Erfindung des Computers (Flusser) glücklicherweise beendet wurde. Was zu dieser Erfindung der alphabetischen Zeichen vielleicht gedrängt haben mag – noch Platon spricht vom ägyptischen Gott Theuth, dem Vater der Buchstaben, der mit seiner Erfindung das Heilmittel (pharmakon) gegen die Vergessenheit (lethe) des Menschen gefunden zu haben glaubt, auch wenn diese Erfindung dem prüfenden Blick des Königs nicht standhalten kann – und was darin nicht vergessen werden sollte, was diese Buch- staben vielleicht lindern oder womöglich auch helfen sollte das Rätsel „Mensch“ zu lösen, interessiert hier den beiden wenig. Diese Vorgeschichte des phonetischen Alphabets (der Phoneme und Grapheme) wird von McLuhan und Flusser kaum thematisiert, vielmehr soll sie einzig dem Nachweis dienen, dass mit der Schrift alles anders wurde. Bei McLuhan wird mit dem „phonetischen Alphabet der Gebrauch aller Sinne reduziert“ und auf „einen 173 McLuhan 1995, S. 30. 174 Flusser 1994, S. 8 f. 3.7 Medien-Mythologie (McLuhan, Flusser) 95 rein visuellen Kode“175 übertragen. Diese „Einbeziehung der Technik des phonetischen Alphabets führt den Menschen aus der magischen Welt des Ohres hinaus in die neutrale visuelle Welt.“176 Es wird eine Kluft zwischen „dem Auge und dem Ohr geschafft“, wobei der „rein visuelle Kode“ hier die Herrschaft antritt. „Homogenität, Uniformität, Wiederholbarkeit: Dies sind die Hauptkomponenten einer visuellen Welt“, woran die neuen Denkformen „der griechischen Logik und Geometrie“177 dann anschließen. Flusser sieht diese Medienarchäologie genau umgekehrt, von der mythischen Bilderwelt zum bilderlosen „schreibenden Reißzahn“ verlaufen: „Der schreibende Reißzahn wendet sich gegen die Bilder (…). Er zerreißt unsere Vorstellungen von der Welt, um die derart auseinandergerissenen (‚explizierten‘) Vorstellungen zu ausgerichteten Zeilen, zu zählbaren, erzählbaren, kritisierbaren Begriffen zu ordnen“.178 Mit dieser logisch denkenden, kalkulierenden, kritisierenden, Wissenschaft treibenden, linearen und philosophierenden Welt kam die alte schöne Welt der Bilder abhanden. Denn „vorher dreht man sich in Kreisen“. Für McLuhan nahm das Visuelle im großen Kulturkontinuum des alphabetischen Menschen überhand; für Flusser wurde gerade das Visuelle durch den „schreibenden Reißzahn“ zerrissen. Und welche Medienarchäologie ist nun richtig? Sollen wir uns für die Welt des Ohres (McLuhan), oder aber für die Welt des Bildes (Flusser) entscheiden? Wird hier „ein Auge für ein Ohr“ (McLuhan) ausgetauscht, oder die Linie für das visuelle Bild (Flusser)? Freilich dienen beide Behauptungen dazu, dass hier die Schrift jener magisch-mythischen Welt ein Ende gesetzt hat und anstelle des mythischen Kreises nun Linearität, Logik, Kausalität, Wissenschaft treten. Linie und Kreis sind aber nicht bloß Gegensätze, vielmehr ineinander verschränkt. „Homogenität, Uniformität, Wiederholbarkeit“ als „die Hauptkomponenten der visuellen Welt“ (McLuhan) beschreiben dann nur die eine Figur, so dass was „vorher sich in Kreisen drehte“ (Flusser) vom Alphabet, von der logischen Linie, von der Kausalität und Wissenschaft nicht beseitigt wurde, vielmehr auch in ihnen selbst anwesend ist. Das Alphabet hat also nicht Mythos und Magie vertrieben, vielmehr haben sie sich darin niedergelassen. Umgekehrt sind die mythischen Erzählungen nicht etwa bar jeder Logik, gedanklicher Stringenz oder Kausalität. Denn die Mythen sind ja nichts anderes als erste Versuche, für das vorindividuelle Stadium der Menschheit, für das in der Sprache noch keine Worte gab, Worte (Medien) zu finden. Der metaphorisch-bildliche Charakter des Mythos ist somit nicht bar jeder Fassung, 175 McLuhan 1995, S. 56. 176 Ebd., S. 21. 177 Ebd., S. 33. 178 Flusser 1992, S. 17. 95 96 3 Medientheoretische Reflexionen Form, Logik und Identität – so wird bereits mit der Antwort des Ödipus, auf die Frage der mythischen Sphinx, die er zu Fall bringt, auch die Identität des Menschen gesetzt; im gleichen Augenblick, in dem das Wort „Mensch“ als Name die Sphinx in den Abgrund stürzt, fällt dem Menschen zugleich das Ich als Besitz zu; in dem Augenblick, in dem er die mythische Vielfalt im Medium der Sprache bannt, fällt ihm der Mensch als Identität zu, den er darin besitzt. McLuhans und Flussers Mediengenealogie ist also nicht nur widersprüchlich hinsichtlich der Priorität der Medien (Auge oder Ohr), sondern auch sehr dürftig, was die Verschränkung der jeweiligen Medien betrifft. Als sehr dürftig erweist sich dann auch der „zweite Hauptsatz“ von McLuhans Medientheorie, „Das Medium ist die Botschaft“179, wonach der Inhalt der Medien immer nur andere Medien sind. Denn wenn wir diesen Satz ernst nehmen würden, hieße er nichts anderes, als dass es nur noch Medien gibt. Sie wären dann die Sache selbst und damit nicht mehr medial. Von Medien kann man aber nur dann sinnvoll reden, wenn sie nicht alles sind, ein davon Unterschiedenes, Nichtmediales und Anderes gibt – sonst sind sie keine Medien mehr. Im medientheoretischen Mythos McLuhans und Flussers verschwindet freilich diese Differenz, die anschließend in der Dualität von Mythos (Kreis) und Logos (Linie) erstarrt wieder auftaucht. Beide machen aber selbst auf den mythischen Kreis in der historisch-schriftlichen Linie aufmerksam: der eine in der „Wiederholbarkeit der visuellen Uniformität“ (McLuhan); der andere in der Absetzung des mythischen Kreises von der Linie („Vorher dreht man sich in Kreisen“; Flusser). Das Grundproblem McLuhans und Flussers ist somit, dass beide unfähig sind, Medien medial, d. h. sie als ein Geschehen und dynamische Praxis zu denken – wobei freilich diese mediale Praxis selbst problematisch bleibt, weil darin auch etwas sich manifestiert, verkörpert, mitteilt und darin ein Effekt der archē (Herrschaft, Macht) ist. Dergestalt, dass die Medien in ihrer elektronischen (McLuhan) und dialogisch-computarisierten (Flusser) Form mythisch neu auferstehen: als Boten der elektronischen Epoche lösen sie die starr lineare Denkweise des Schriftzeitalters auf, um in eine viel komplexere und reichere Logik der Medien überzugehen. Dieser Dualismus wird bei McLuhan dann auch noch kosmisch, wenn er die „Gutenberg-Galaxis“180 gegen die Welt der elektronischen Medien austauschen möchte – als ob wir die kosmische Wohnung mit den neuen Medien einfach so verlassen könnten. Dies ist aber eine ahistorische Vision, weil die Menschen auch durch die neue Medienrevolution schön auf der Erde bleiben und ihre unbewältigte Vergangenheit weiterhin mitschleppen. McLuhans sehr stark verkürzter Medien- 179 McLuhan 1992, S. 17. 180 McLuhan 1995.