Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit 16 „Looking at real things, the human vision fastens itself upon a quick succession of small comprehensible incidents, and we form our eventual impressions, like a mosaic, out of such detail […] The director counterfeits the operation of the eye with his lens.“ David Wark Griffith, Filmregisseur, 1926* 16.1 Kadrierung und Bildfeld: Taxonomie im Anschluss an Deleuze 16.1 Kadrierung und Bildfeld: Taxonomie im Anschluss an Deleuze Wenn es um die Grundqualitäten des Kunstmediums Film geht, sind häufig Urteile wie „Film lebt vom Bild“ und „Filmkunst ist Bildkunst“ zu hören; sie werden allgemein als höchst einleuchtend betrachtet. In der Tat ist Film ohne seine Bildkomponente nicht denkbar. Zudem trifft der Kinobesucher gelegentlich auf grandiose Leinwanddarstellungen einzelner Handlungsmomente, die ihm in ähnlich nachdrücklicher Weise im visuellen Gedächtnis bleiben wie gelungene Werke der Malerei oder der künstlerischen Fotographie. Eindrücke solcher Art suggerieren auch dem Analytiker des Films, der sein Metier liebt und dessen Besonderheiten gerecht werden möchte, sich in seinem Bildverständnis der audiovisuellen Medien vornehmlich von jenen Gesichtspunkten und Kriterien leiten zu lassen, die sich bereits für die Erzeugnisse der Bildenden Künste traditioneller Art bewährten. Dass dies leicht zu Fehlschlüssen führen kann, erweist sich freilich sogleich, wenn man sich die naheliegende methodische Frage stellt, wie bei der Untersuchung ästhetischer Wirkungen mit der zeitlichen Dimension des Films umzugehen sei, besonders dann, wenn man deren systematische und psychologische orientierte Erforschung beabsichtigt. Denn die bildenden Künste der Vergangenheit brachten ja stets Werke hervor, für deren Erleben Gesetze der Ruhe- und nicht der Geschehenswahrnehmung zur Geltung kamen. Und auch wenn Arbeiten der Malerei oder Photographie sich häufig an die Darstellung von dynamischen Lebensvorgängen hielten, beschränkten sie sich dabei immer nur auf einen Moment derselben. Die Struktur des Films bildet jedoch, wie besonders anhand des Spielfilms deutlich wird, einen lebensähnlichen Prozess mit seinen Veränderungen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 451 P. Wuss, Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht, Film, Fernsehen, Medienkultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32052-2_16 452 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit ab, der sich sukzessive in der Zeit entfaltet, so dass er wie eine Erzählung von Ereignissen wirksam werden kann und auch als solche betrachtet wird. Der erzählerische Inhalt dieser Handlung folgt einer eigenen Logik, die sich allein aus dem visuellen Ausdruck einer Reihe prägnanter Momentaufnahmen wichtiger Szenen schwerlich erschließt. Auch wenn die Letzteren maßgeblich auf die kunstsemantischen Prozesse des Filmganzen Einfluss nehmen, werden sie doch in den Fluss der Handlung eingebunden und in ihrem partikularen Sinngehalt durch die Intention der Erzählung überformt. Die Aufgabe der Forschung, entsprechende Informationsverarbeitungsprozesse im Filmerleben hinreichend genau zu bestimmen, um daraus Kriterien für den Aufbau empirischer psychologischer Studien abzuleiten, ist gegenwärtig kaum lösbar. Im Wissen darum, dass die Bildwirkungen für das Filmerleben zwar obligatorisch sind, so dass ohne ihre Untersuchung die meisten Urteile über die Inhalte konkreter Werke unzulänglich bleiben, geeignete Verfahren zur Analyse des Gesamtprozesses und seiner Teilkomponenten aber fehlen und bis zur Konstruktion psychologischer Variablen noch diverse Hürden zu nehmen sind, muss ich mich hier darauf beschränken, bereits erkennbare partielle Funktionszusammenhänge zu erfassen und nahe am filmischen Beispielmaterial mögliche Ansatzpunkte für seine psychologische Interpretation zu suchen. Dafür ist es zunächst nötig, die filmwissenschaftliche Taxonomie auf eine Weise zu entwickeln, die sie befähigt, einerseits im Rahmen der Hermeneutik möglichst differenzierte und widerspruchsfreie Aussagen über die Resultate von Kameraarbeit zu ermöglichen, andererseits ihre Klassifizierungsbestrebungen zielführend auf eine Rezeptionsuntersuchung des Filmbildes zu lenken, die sich auf Erkenntnisse der Aufmerksamkeitspsychologie beziehen lässt. So ging der hier (in 15.4) vorgeschlagene psychologische Ansatz davon aus, dass das Filmbild eine Reizselektion vornimmt, welche den Gesetzen der Aufmerksamkeit folgt. Leider gibt es nur wenige theoretische Anstrengungen, sich den Gestaltungsverfahren des Kinos über Taxonomien zu nähern, die entsprechende Forschungen erleichtern können. Unter den raren neueren Versuchen solcher Art nimmt das zweibändige Werk des Philosophen Gilles Deleuze ([1983] 1997) „Das Bewegungs-Bild“ und „Das Zeit-Bild“ eine herausragende Stellung ein. Die dort entwickelte taxonomische Darstellung hat nicht nur zu einer differenzierten Klassifizierung filmtheoretischer Grundbegriffe beigetragen, sondern sie ermöglicht auch eine Sicht auf das Medium von einer philosophischen Warte aus. Auch wenn eine Annäherung an die Psychologie vom Autor nicht beabsichtigt war und sich viele Aussagen des Buches – schon wegen ihrer Abstraktionshöhe – für die unmittelbare Beförderung einer empirischen Untersuchung als ungeeignet erweisen, verbietet es sich, die dort fixierten Erkenntnisse zu ignorieren. So liegt ein Vorzug des Ansatzes darin, dass er die Struktur des Film-Bildes mit der temporalen Organisation des Mediums zu verbinden sucht, womit auf spezifische Weise der Irreversibilität der biologischen Zeit Rechnung getragen wird. Der Gedanke Bazins, den Tarkowski zur Metapher der „versiegelten Zeit“ des Films ausformte, erhält so eine philosophische Fundierung. Indem Deleuze den Film mit Thesen konfrontierte, die Bergson in „Matière et mémoire“ / „Materie und Gedächtnis“ ([1896] 1964) und „L’évolution créatrice“ / „Schöpferische Entwicklung“ ([1907] 1921) entworfen hatte, um einer wissenschaftlichen 16.1 Kadrierung und Bildfeld: Taxonomie im Anschluss an Deleuze 453 Situation gerecht zu werden, welche es nicht mehr erlaubte, die Bewegung als physikalische Realität in der Außenwelt und das Bild als psychische Realität als Gegensätze zu begreifen, ließen sich für die Charakterisierung des neuen Mediums begriffliche Differenzierungen wie: „Momentbild“, „Bewegungsbild“ und „Zeitbild“ gewinnen.85 Diese Differenzierungen erlauben u. a. ein vertieftes Verständnis zentraler filmwissenschaftlicher Fachbegriffe, die man für die Beschreibung der Bildfunktion des Films benötigt, wie „Kadrierung“, „Szenenaufgliederung“ „Einstellung“ und „Montage“. Ein solches Verständnis schließt die Relationen zwischen den Begriffen untereinander ein und macht auf übergreifende Zusammenhänge aufmerksam. In der Regel geht die Taxonomie vom Gegenstandsbereich der Gestaltungslehre aus und heftet sich jeweils an einen geläufigen Terminus technicus, den sie aber neu interpretiert, oft gestützt durch differenzierte Daten, so dass der Bildrahmen durch Inhalte definiert ist. Zu den Begriffen Kadrierung und Bildfeld notiert Deleuze (1997, I, 35): „Kadrierung ist die Kunst, Teile aller Art für ein Ensemble auszuwählen. Dieses Ensemble ist ein relativ und künstlich geschlossenes System. Das durch das Bildfeld bestimmte geschlossene System kann in Hinsicht auf die Daten, die es dem Zuschauer vermittelt, betrachtet werden – dann ist es ein entweder gesättigtes oder verknapptes Informationssystem.“86 Über die Einstellung steht zu lesen: „Die Einstellung ist das Bewegungs-Bild. Insofern sie die Bewegung auf ein sich veränderndes Ganzes bezieht, ist sie der bewegliche Schnitt einer Dauer“ (40). Deleuze veranschaulicht, wie dies zu verstehen ist, indem er sich auf eine Beschreibung beruft, die Pudowkin von einer Film-Einstellung gibt, welche eine Demonstration zeigt: „Das ist, als stiege man aufs Dach, um sie sich anzusehen, stiege dann hinab zu einem Fenster im ersten Stock, um die Losungen auf den Tragetafeln zu lesen und mische sich dann unter die Menge…Es ist nur ›als ob‹: denn die natürliche Wahrnehmung bringt Unterbrechungen, Stockungen, Fixpunkte und gesonderte Gesichtspunkte, ganz unterschiedliche Träger, wenn nicht Beförderungsmittel, mit sich, wohingegen die kinematographische Wahrnehmung kontinuierlich verfährt, in einer einzigen Bewegung, in der die Unterbrechungen – die nur Vibration in sich sind – als integrale Bestandteile dazugehören“ (40f). 85 „Wir sind nun in der Lage, jene so tiefe These aus dem ersten Kapitel von Matière et mémoire zu begreifen: 1. Es gibt nicht nur Momentbilder, das heißt unbewegte Schnitte der Bewegung; 2. es gibt Bewegungsbilder, bewegliche Schnitte der Dauer; 3. es gibt schließlich Zeitbilder, das heißt Bilder der Dauer, Veränderungsbilder, Relationsbilder, Volumenbilder, jenseits noch der Bewegung…“ (Deleuze 1997, I, 26). 86 Weiter heißt es dort: „Für sich und als Begrenzung gesehen ist es geometrisch oder physikalisch-dynamisch. Von der Beschaffenheit seiner Teile her ist es ebenfalls noch geometrisch oder physikalisch-dynamisch. Wenn man es im Verhältnis zum Blick- und Einstellungswinkel betrachtet, ist es ein optisches System; dann ist es im pragmatischen Sinne folgerichtig, oder es verlangt nach einer höheren Rechtfertigung. Schließlich determiniert es ein ›Außerhalb des Bildfeldes‹ in Gestalt eines umfassenderen Ensembles, in das es übergeht, oder in Gestalt eines Ganzen, in dem es aufgeht“ (Deleuze 1997, I, 35). 453 454 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit Ich habe (in 13) versucht, die angesprochene Überlagerung von Als-ob-Verläufen und Tatsachenwahrnehmung im Film aus dem Doppelcharakter von Fiktion und Fakten-Dokument zu erklären. Obwohl die Anstrengungen meines Modellansatzes zur Abstraktionshöhe der philosophischen Positionen von Deleuze nicht aufschließen können und ich auch dem Gesamtkonzept seines Werkes nicht folge, das mit Hilfe des Konstruktes vom Zeit-Bild die Bewertung historischer Entwicklungen vorzunehmen sucht, scheint es doch sinnvoll, die Bestimmung einiger Elementarbegriffe von dort zu übernehmen. Im Folgenden sollen wichtige Phänomene aus dem Problemkreis des Film-Bildes indes eine taxonomische Zuordnung erfahren, die ihre psychologische Interpretation erleichtert. 16.2 Kadrierung als Option für Aufmerksamkeitsprozesse 16.2 Kadrierung als Option für Aufmerksamkeitsprozesse Was den Zusammenhang zwischen Kadrierung des Films und Aufmerksamkeit des Zu- schauers betrifft, so erscheint er auf den ersten Blick als absolut zwingend und selbstverständlich. Welchen Sinn sollte es sonst haben, das Kameraobjektiv auf eine profilmische Situation zu richten und diese über konkrete Einstellungen in einem begrenzten Bildfeld zu erfassen, wenn man nicht der Zwecksetzung folgt, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf diese ausschnitthafte Situation zu lenken? Und dies unter Nutzung einer adäquaten Einstellungsgröße, die eine Selektion des Reizangebotes vornimmt und es im Bildfeld zu einem Ensemble vereinigt. So gesehen, mag das Kameraobjektiv sogar wie ein Vollzugsorgan der Aufmerksamkeitslenkung erscheinen, das mit der Wahl der Einstellungsgröße darüber entscheidet, in welchem Maße der Zuschauer in das Filmerleben involviert ist. Der Anschein trügt hier freilich. Sicher ist die Kadrierung immens wichtig, sie schafft aber lediglich eine Option für das Zustandekommen von Aufmerksamkeitsprozessen und bewirkt diese nicht per se. Die Wahl einer bestimmten Einstellungsgröße ist zwar eine notwendige, jedoch noch keinesfalls hinreichende Bedingung für das Zustandekommen der angestrebten Zuschauerhaltung, denn mit der Herstellung des Bildrahmens wird noch nicht darüber befunden, was innerhalb des Bildfeldes geschieht, geschweige denn, wie der Zuschauer diesen Bildinhalt verarbeitet. Wichtig ist aber nicht nur, was schlechthin „ins Bild gesetzt“ ist, sondern es sind mindestens noch solche Komponenten zu berücksichtigen wie die Figuren- und Objekt-Aktivitäten, die das Geschehen vor der Kamera formieren, diverse Kamera-Aktivitäten, welche dessen ausschnitthafte Abbildung gestatten, was wiederum mit der Option verbunden ist, ein breites Repertoire eigenständiger Kamerahandlungen zu nutzen. Erst in diesem GesamtZusammenhang entstehen jene Vorgaben für die Rezeptions-Aktivitäten des Zuschauers, die zum eigentlichen ästhetischen Erleben führen. Es handelt sich also um eng miteinander verflochtene Prozesse, die vielfach aufeinander zurückwirken und eine widersprüchliche Einheit komplexer Art bilden. Da die Theorie nicht hinlänglich entwickelt ist, um diese Komplexität analytisch zu erschließen, bleibt einstweilen nur der Weg, die vorhandenen 16.2 Kadrierung als Option für Aufmerksamkeitsprozesse 455 Erfahrungswerte im Umgang mit den Einstellungsgrößen zu sichten und an die sporadischen Erkenntnisse der Aufmerksamkeitspsychologie anzupassen: Aus technischer Sicht ist unter einer kinematographischen Einstellung die „endliche Folge von Phasenbildern zu verstehen, die fortlaufend nacheinander belichtet wurden“ (Rother 1997, 71). Für eine begrenzte abgebildete Situation ist damit eine kontinuierliche Geschehenswahrnehmung garantiert. (Um deren Realisierung geht es auch bei den analogen Einstellungen der elektronischen Medien, deren Aufzeichnung nicht mehr über jene Phasenbilder verläuft.) Die Einstellungsgröße gibt Auskunft über „die relative Größe, die das Abgebildete in einer Einstellung im Verhältnis zum Gefilmten einnimmt“ (Rother 1997, 73). Als Richtgröße dafür fungiert stillschweigend der menschliche Körper. Dies vermutlich darum, weil es in den meisten Filmen um die Darstellung von Situationen geht, die von Menschen getragen werden. Für die im deutschen Sprachraum üblichen Unterscheidungen findet sich dafür eine Skala von Einstellungsgrößen, die von „Panorama“ oder „Weit“ bis „Detail“ oder „Ganz groß“ reicht.87 Als Vorbild für Kadrierungsentscheidungen der Filmemacher dürfte ursprünglich der visuelle Umgang des Menschen mit Alltagssituationen gedient haben. Das Auge, das sich einem Gegenstand nähert, erkennt in der Regel ja mehr Einzelheiten an diesem, andererseits erleichtert ein größerer Abstand, die Relationen zwischen den entfernten Objekten besser zu beurteilen und Übersicht über eine umfassendere Lebenssituation zu gewinnen, damit eine leichtere Orientierung im gesamten Umfeld. Für die Wahl des besten Ausschnitts wurden also unterschiedliche psychologische bzw. kognitive Kriterien geltend gemacht. Ähnliche Kriterienwechsel dürften auch wirksam werden, wenn es um die Herausbildung von Aufmerksamkeitsprozessen beim Filmzuschauer geht, und die Analyse muss auf diese Unterschiede eingehen. Die Praktiker des Kinematographen lernten übrigens relativ schnell, die Einstellungsgrößen von Total bis Groß und Detail zu variieren, wobei es anfangs besonders problematisch schien, Großaufnahmen von Gesichtern auf die Leinwand zu bringen. Diese Ressentiments erklärten sich vor allem daraus, dass die Entscheidung für die Großaufnahme mit der Verletzung einer frühen Produktionsnorm des Kinematographen verbunden war. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ging man bei der Filmherstellung ja noch davon aus, dass die Kamera gegenüber der darzustellenden Szene eine unbewegte Position einzunehmen 87 Für das Panorama gilt, dass menschliche Figuren dort innerhalb der sie umgebenden, die Situation dominierenden Landschaft eher klein erscheinen, während die „Totale“ eine ganze Gruppe von Personen in deren Gänze darstellbar macht, ergänzt um situationsbestimmende Momente ihrer Umgebung. Von der „Halbtotalen“ aus verringert sich über „Halbnah“ bis zu „Nah“ der Ausschnitt der relevanten menschlichen Figur(en), beginnend mit der von Kopf bis Fuß noch vollständig im Bildrahmen erfassten Person bis zu jener, die lediglich durch Kopf und zwei Drittel des Oberkörpers repräsentiert wird. Die Einstellung „Groß“ meint in Bezug auf Personen meist die Erfassung des Gesichtsausdrucks, „Detail“, die eines mimisch oder gestisch hochbedeutsamen Ausschnitts des Gesichts – wie etwa der Augen- oder Mundpartie – oder der Hände bzw. der Füße. 455 456 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit hätte, die etwa der Distanz des Zuschauers von der Theaterbühne entsprach. In Amerika nannte man diese Standard-Entfernung „twelve-foot-line“. Einstellungsgrößen, die auf eine Verkürzung des Abstands hinausliefen, waren indiskutabel, auch wenn die Logik der Handlung sie als sinnvoll erscheinen ließ. Anekdoten belegen, wie der amerikanische Regisseurs David Wark Griffith sich dafür einsetzte, diese Vorurteile der Branche zu überwinden.88 Erste psychologische Aussagen, die auch als zeitgenössischer Kommentar zu den Anstrengungen Griffiths gelesen werden können, die Großaufnahme im amerikanischen Film zu etablieren, stammen von Münsterberg.89 Um die Großaufnahme zu rechtfertigen, hatte Griffith u. a. damit argumentiert, dass Charles Dickens die Aufmerksamkeit des Lesers oft über eine ähnliche Zuwendung zum Detail organisiert hätte. Pudowkin (1983, 235) untermauerte diese Erkenntnis später anhand einiger Szenen aus Griffiths INTOLERANCE (INTOLERANZ, 1916): „Eine Frau hört das Urteil des Gerichts, das ihren Mann, der am Verbrechen unschuldig ist, dem Tod übergibt. Der Regisseur zeigt das Gesicht der Frau: ein scheues, verängstigtes Gesicht, über das unter Tränen ein furchtsam besorgtes Lächeln huscht – und plötzlich sieht der Zuschauer die Hände dieser Frau, nur die Hände, die sich krampfhaft ineinander krallen. Diese Einstellungen gehören zu den stärksten Momenten des Films. Nicht einen einzigen 88 Noch in A WOMAN SCORNED (1911) hatten sich Griffith und sein Operateur Billy Bitzer – von einer winzigen Abweichung abgesehen – strikt an die twelve-foot-line gehalten. In den Folgejahren bemühte sich der Regisseur jedoch vehement, die Kamera näher an die Schauspieler heranzubringen. Der berufserfahrene Kameramann Bitzer soll sich indes lange gesträubt haben, die damaligen Normen zu verletzen. Und erst recht stieß Griffith bei den Produzenten auf Widerstand. So berichtet Lilian Gish in ihren Memoiren über eine Auseinandersetzung zwischen Griffith und Marvin, einem der Besitzer der „Biograph“: „Henry Marvin war erzürnt: ›Wir bezahlen den ganzen Schauspieler, Mister Griffith, und wir wollen ihn ganz sehen‹. Griffith schritt auf ihn zu: ›Sehen Sie mich an, Mister Marvin, können Sie mich etwa ganz sehen? Nein! Sie sehen nur die Hälfte von mir, nicht wahr? Und die Tür hinter mir ist auch nicht ganz deutlich zu sehen, stimmt’s? Was ich auf der Leinwand gezeigt habe, sehen Sie und jeder andere tausendmal am Tag‹“ (zit. in: Jampolski 1983, 666). Für seine Vorliebe von Detailaufnahmen und Großaufnahmen von Gesichtern auf der Kinoleinwand fand Griffith in anderen Fällen Argumente bei der Bildenden Kunst. Er verglich den Effekt von Nahaufnahmen mit Eindrücken einer Bildergalerie: „Die Museen sind gefüllt mit Kunstwerken, auf denen nur die großen und die Aufmerksamkeit fesselnden Gesichter von Bedeutung sind. Wenn das Gesicht das aussagt, was der Autor hat aussagen wollen, vergisst das Publikum schnell die fehlenden Füße, Hände, die Leber und die Lunge“ (zit. in Toeplitz I, 85). 89 „Allein das Gesicht kann mit seinen Spannungen in der Mundgegend, mit dem Augenspiel, mit der Art der Stirn und selbst mit den Bewegungen der Nasenflügel und der Form des Kiefers zahllose Schattierungen in den Gefühlston bringen. Auch hier kann die Großaufnahme den Eindruck bedeutend steigern. […] Die durch die Großaufnahme bewirkte Vergrößerung auf der Leinwand bringt diese emotionale Bewegung des Gesichts am deutlichsten zum Ausdruck. Oder sie kann uns das vergrößerte Spiel der Hände zeigen, in dem Ärger und Wut, leidenschaftliche Liebe oder Eifersucht eine unmissverständliche Sprache sprechen. In humorigen Szenen kann sogar das Flirten von verliebten Füßen in der Großaufnahme die Geschichte von den Herzen der dazugehörenden Menschen erzählen“ (Münsterberg [1916] 1996, 65). 16.2 Kadrierung als Option für Aufmerksamkeitsprozesse 457 Augenblick sehen wir die Frau in ihrer ganzen Gestalt. Wir sehen nur ihr Gesicht und ihre Hände.“ Der russische Regisseur interpretierte die spezifische Kadrierung der Szene dabei in engstem Bezug auf deren Inhalt, genauer, auf Konfliktsituation der Figuren. Um die Aufmerksamkeitsprozesse zu verstehen, die das Filmbild beim Rezipienten herbeiführt, scheint es höchst sinnvoll, einen ähnlichen Weg zu gehen und die Entscheidung über die Einstellungsgröße, die die filmische Mikrostruktur betrifft, aus ihrem Funktionszusammenhang mit der Makrostruktur der Erzählung bzw. deren Konfliktgeschehen zu deuten. Béla Balázs hat 1924 in seinem Buch „Der sichtbare Mensch“ einen ähnlichen Gedanken ausgeführt, wenn er dem Film nachsagte, dass sein Urstoff und seine poetische Substanz in der „sichtbaren Gebärde“ des Menschen liege ([1924] 1982, I, 60). Ein ganz entscheidendes Ausdrucksmittel des Films sah er im Mienenspiel der Darsteller und notiert dazu, dass „die Großaufnahme die technische Bedingung der Kunst des Mienenspiels und mithin der höheren Filmkunst überhaupt“ sei. „Die Großaufnahme ist die Kunst der Betonung. Es ist ein stummes Hindeuten auf das Wichtige und Bedeutsame, womit das dargestellte Leben zugleich interpretiert wird“ (1982, 83f.). Balázs hat nicht nur konkrete Film-Szenen beschrieben, die seine Ansichten zur sichtbaren Gebärde belegen, sein Buch enthält zudem wichtige Hinweise, die „Richtung der Bilder“ betreffend: Unterstrichen wird dort der Zusammenhang von Konfliktsituation, Handlungsverlauf und Aufmerksamkeit: „Jedes Bild muss unserer Ahnung eine Richtung geben, unsere Neugierde orientieren. Wir müssen von vorneherein wissen, wo wir etwas zu erwarten haben, damit eine Spannung entsteht. Mit dieser Richtung der Bilder, die sich oft aus einer einzigen Gebärde, aus einem stummen Blick ergeben kann, wird in einem guten Film der Konflikt des letzten Aktes schon im ersten angedeutet, und die erste Szene stellt schon die Fragen, die in der letzten beantwortet werden“ (1982, 122; Hervorh. i. O.). Während die Großaufnahme des Gesichts über das Mienenspiel des Darstellers die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf eine psychische Reaktion der Figur lenkt, die für die Bewertung einer Situation hilfreich sein kann, erfährt der Zuschauer bei der Einschätzung mancher Situationen auf der Leinwand eher dadurch eine wesentliche Hilfe, dass er Gebärde und Gestus der zentralen Figuren über deren gesamte Körperhaltung erfassen kann. Eine solche Option schafft eine Einstellungsgröße, die zwischen Halbnah und Nah liegt und in Europa meist als Amerikanische, in den USA hingegen als Italienische Einstellung bezeichnet wird.90 90 Angeblich soll dieser Einstellungstyp, der die zentralen Figuren möglichst nah, jedoch in einer Weise zeigte, dass sie mindestens vom Knie an deutlich sichtbar wurden, den Filmemachern des amerikanischen Western die Möglichkeit geboten haben, ihre Cowboy-Helden beim Ziehen des unter dem Gürtel hängenden Colts zu präsentieren, bevor sie dann aus der Hüfte schossen. In den westeuropäischen Filmen der Verhaltensweisen, etwa in den Arbeiten des Italieners Antonioni, ging es hingegen eher darum, sehr zivile und unspektakuläre Verhaltensweisen von Leuten einer frustrierten Mittelschicht so darstellbar zu machen, dass man bereits in Alltagssituationen aus ihrer Körperhaltung die permanente Unentschlossenheit, geringe Zielstrebigkeit und innere Widersprüchlichkeit dieser Persönlichkeiten entnehmen konnte. Die genannte Einstellungsgröße liefert dem Blick des Zuschauers dafür bestimmte Verhaltensmuster über ein Datennetz 457 458 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit All dies zeigt, wie eng die Kadrierung generell dem dargestellten Objekt, bzw. dem Konfliktmaterial des Films verpflichtet ist, das den Ausdruck der Figuren erzeugt. Manchmal wird dazu die Großaufnahme, manchmal jedoch eine halbnahe Einstellung gebraucht, oder auch eine Totale, die das Konfliktfeld in seiner Vielfalt und seinem Umfang adäquat abzubilden vermag, um dem Zuschauer eine grundsätzliche Orientierung zu ermöglichen. Vermutlich lässt sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers also optional über Filmbilder analysieren, deren Einstellungsgröße ein Ensemble von Reizkonfigurationen umfasst, das konflikt- und handlungsrelevante Beziehungen des Films möglichst adäquat zu fokussieren vermag. In vielen Fällen dürfte der Rekurs auf die Dramaturgie indes nicht ausreichen, weil die Aufmerksamkeit des Rezipienten noch durch andere Faktoren dirigiert wird. Eine sehr wichtige Rolle für die Formierung der Aufmerksamkeitsprozesse spielt der Grad der kognitiven Verarbeitung, dem das Reizangebot des Bildfeldes unterliegt. 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung Grundsätzlich lassen sich auch die einzelnen Einstellungen des Films als filmische Strukturen beschreiben, die die Bedingungen des PKS-Modells erfüllen, also eher perzeptionsgeleitet, konzeptgeleitet oder stereotypengeleitet sind. Sie seien hier benannt als: (1) Tatsachenbild; (2) Ausdrucksbild; (3) Symbolbild / Bildstereotyp. Aus ähnlichen Beweggründen wie im Bereich der Narration, wo ebenfalls von den auf- fälligen und bewusst rezipierten konzeptualiserten Strukturen ausgegangen wurde, um zu den schwerer beschreibbaren auf der Ebene von Perzeption und Stereotypenbildung vorzudringen, soll mit dem semantisch stabilsten konzeptgeleiteten Ausdrucksbild begonnen werden. 16.3.1 Ausdrucksbild Hier wird die Annahme vertreten, dass in der Formierung des Ausdrucksbilds das wirkungsmächtigste visuelle Gestaltungsverfahren zu sehen ist, um beim Zuschauer Aufmerksamkeit für die dargestellten Inhalte zu erreichen. aus, das sich an der Stellung des nahezu vollständigen Körpers und seiner Gliedmaßen ablesen ließ. Statt an punktuelle Ausdrucksmomente wie die, welche durch die Großaufnahme eines Gesichts gegeben sind, bindet sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers dort eher an ein weitmaschiges Geflecht von verteilt auftretenden Beziehungen. 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung 459 Ähnlich wie bereits an Handlungsstrukturen der Narration nachgewiesen wurde, kann auch die Bildstruktur der filmischen Einstellung den kognitiven Status der Konzeptualisierung erlangen, und in vielen Fällen geschieht dies auch. Die Bildinhalte zeigen dann Reizkonfigurationen, die maximal auffällig sind und dem Zuschauer bei der Rezeption bereits bei einmaligem Sehen hinlänglich bewusst werden, um sie auf den Begriff bringen zu können. Es ist naheliegend, die Erlebensqualität des Filmbildes hier ebenfalls als Folge von Invariantenbildung des Denkens zu interpretieren. Wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet, ergibt sich die Aufmerksamkeitsreaktion beim Zuschauer zwar optional über den visuellen Zugriff der Kamera auf die Reizkonfigurationen der profilmischen Situation, also dank einer bestimmten Einstellungsgröße, sie wird aber dabei maßgeblich durch Inhalte des Bildfeldes bestimmt, d. h. durch die konflikthafte profilmische Situation. In ihrem visuellen Ausdruck kann die Letztere einen unterschiedlichen kognitiven Status erlangen. Um zu einem Ausdrucksbild zu werden, braucht es für sie Handlungen, die sich in Richtung und Sinn schon bei einmaligem Sehen erschließen. Zentrale Objekte, vor allem aber die „semantische Geste“ des Geschehens, müssen einen Konzept-Status gewinnen. Für das kollidierende Handeln der Figuren ist dies besonders an jenen Punkten der Fall, wo die Auseinandersetzung der Konfliktpartner kulminiert, also an den plot points. Dort nämlich treten die Handlungsziele und -tendenzen der Figuren deutlich zutage. Ähnliches geschieht ebenfalls oft beim ersten Anvisieren eines Handlungsziels, wo die Gerichtetheit einer Aktion erkennbar wird. Auch der Rekurs auf diese Gerichtetheit verweist darauf, dass sich der bildliche Ausdruck stets im Zusammenhang mit dem System der Narration verwirklicht. Um die Vorgänge auf eine Weise ins Bild zu setzen, dass sie in einer Größe erscheinen, die es dem Zuschauer erlaubt, sie optimal auszuwerten, müssen die Einstellungsgrößen variabel sein. Eine rationale Begründung für eine derartige Optimierung der Einstellungsgröße ergibt sich möglicherweise aus dem Zusammenhang zwischen den Konfliktmomenten des Films und den durch sie hervorgerufenen Problemlösungsprozessen des Zuschauers, bei denen es um die Voraussage der Konfliktentscheidungen und den weiteren Verlauf der Ereignisse geht. Vielleicht ist die Wahl der Einstellungsgröße sogar das filmische Pendant für die Suchraum-Veränderung bei Problemlösungen. Denn im Prinzip geht es dort ebenfalls darum, über die Wahl der Großaufnahme die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf solche Reaktionen der Figuren zu fokussieren, die besonders den Einblick in die Konfliktentwicklung erleichtern. Die Kaschierung des optischen Suchraums wäre dann als Analogon zur Verengung des Problemraums zu deuten. Umgekehrt wäre eine Verschiebung von Groß oder Halbnah auf die Totale als ein spezifisches Verfahren des Kinos zu sehen, dem Zuschauer, der bei seiner Problemlösung nicht weiterkommt, neue Informationen aus dem Umkreis der beobachteten Situation zuzuführen, die bis dato vom Bildrahmen verdeckt waren. Die Kadrierung folgt mithin den Kriterien einer Suchraum-Optimierung, die sich an handlungsrelevante Momente der profilmischen Situation hält. Jedenfalls schafft der Wechsel der Einstellungsgröße für den Zuschauer die Chance, das Geschehen nicht mehr aus dem gleichen Abstand betrachten zu müssen und so zu einem neuen Verständnis der Handlung zu kommen. Die Großaufnahme hat dabei 459 460 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit ihre eigenständigen Möglichkeiten, die Italienische Einstellung andere, und auch über potenzielle Bedeutung der Totalen gibt es kaum Zweifel. Der klassische Hollywoodfilm hat diese Einstellungsgröße für den establishing shot empfohlen, also als erste Einstellung für eine neue Szene, erlaubt sie doch, Übersicht über eine komplexe und weiträumig entfaltete Situation zu erlangen und damit eine Art kognitiver Top-down-Strategie anzuwenden. Insgesamt zeigt sich, dass das Ausdrucksbild nicht nur dafür sorgt, eine optische Reizkonfiguration im Sinne einer Konzeptualisierung auffällig und bewusst zu machen, nicht zuletzt bewirkt es auch aufgrund der geeigneten Einstellungsgröße eine erhöhte Aufmerksamkeit des Rezipienten gegenüber dem Bildfeld und seinem Inhalt. Die Heuristik zur Reizselektion des Filmbildes findet hierin eine Bestätigung. Vermutlich gehört neben der Konzeptualisierung der zentralen optischen Reizkonfiguration zu den Bedingungen für die Etablierung des Ausdrucksbildes, dass über die Einstellungsgröße eine Fokussierung der handlungsrelevanten Momente innerhalb der profilmischen Situation erreicht wird, welche zugleich den Kriterien einer Suchraumoptimierung für die Problemlösungsprozesse des Rezipienten folgt. Das Ausdrucksbild selektiert diese Momente en bloc. Um den Bedingungen des Ausdrucksbilds zu genügen, reicht es indes nicht aus, den Forderungen der Dramaturgie nach der Repräsentation einer möglichst eindeutig bestimmbaren, konzeptualisierten Konfliktsituation zu entsprechen. Nicht minder wichtig ist vielmehr, dass die kinematographische Repräsentation zugleich einen signifikanten bildlichen Ausdruck findet, der in seinem Gestus der körperlichen Ausdrucksbewegung des Menschen vergleichbar ist. Bei der Wahl des Terminus „Ausdrucksbild“ dürften Überlegungen Eisensteins Pate gestanden haben, die sich auf die Bedeutung der menschlichen Ausdrucksbewegung für den Film bezogen. In dem frühen Aufsatz „Montage der Filmattraktionen“ (1924) heißt es: „Unter Ausdrucksbewegung verstehe ich eine Bewegung, die die Verwirklichung einer ganz bestimmten motorischen, realisierbaren Absicht offenbart, das heißt eine zweckmäßige Bereitschaftshaltung des Körpers und der Extremitäten zur motorischen Ausführung eines der Aufgabe entsprechenden Bewegungselements im gegebenen Augenblick“ (Eisenstein 1988, 35). In einer Analyse zeitgenössischer Konzepte zur Ausdrucksbewegung, besonders jenes von Klages (1923), arbeitete der russische Regisseur heraus, was ihr Wesen ausmachen könne: Assoziatives Ansteckungsvermögen, Herausbildung eines rein mechanischen Schemas der Bewegungsvariante, Zergliederung in primäre Bestandteile, die zu Nachahmungsprimitiva für die Zuschauer führen könnten u. a. M. (vgl. Eisenstein 1988, 32ff.). Dies lässt sich zur Annahme über das Filmbild weiterführen: Nicht nur die Figuren, sondern auch die bildhaften Formen, die im Kino auf die Leinwand projiziert werden, offenbaren die ihnen zugrunde liegenden Intentionen des Werks über den Gestus von optischen Zeigehandlungen, welcher dem der körperlichen Ausdrucksbewegung nahe kommt. Und wie dieser verfügt das Ausdrucksverhalten des Bewegungsbildes über ein starkes assoziatives Ansteckungsvermögen, führt zur Herausbildung mechanischer Schemata der Bewegungsvarianten, unverkennbar auch zu Nachahmungsprimitiva beim Zuschauer. Auf jeden Fall sorgt er bei Letzterem für Aufmerksamkeit. Es gibt also gute Gründe, sich 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung 461 der Wirkung des Filmbildes weniger über dessen piktoriale Details als über diesen handlungs- und körpergeprägten Gesamtgestus seiner Bild gewordene Ausdrucksbewegung zu nähern. Leider fehlt bisher ein konsistenter theoretischer Ansatz, der dazu befähigt, die so unterschiedlichen Erkenntnisse zum bildhaften Ausdruck des Films zusammenzufassen. In einigen Fällen kommen im Kino Verfahren für die Schaffung Aufmerksamkeit erzeugender Ausdrucksbilder zur Anwendung, die über die technisch bedingte Standardform hinausgehen und diese auch ersetzen können. Zu den frühen, doch inzwischen wenig gebräuchlichen Verfahren gehört die dezidierte Fokussierung bestimmter mimischer Regungen oder Haltungen von Figuren, wie sie von Standbildern oder Kreisblenden erreicht wurde. Eine sehr anspruchsvolle und reizvolle andere Methode hat sich über längere Zeit gehalten. Sie nutzt Arrangements der Mise-en-scène, die für das Ausdrucksverhalten der Figuren eine zusätzliche Rahmung bewirken. Gemeint sind etwa Einstellungen, welche Gesichter der Filmhelden hinter der Glasscheibe eines Fensters zeigen, die, wie Christine Noll Brinckmann belegt, „überdurchschnittlich oft und ganz unabhängig vom Charakter des Werkes“ (1996, 9) erscheinen und „das Gesicht hinter der Scheibe viel relevanter“ werden lassen „als der Anlass, der diese Bildkomposition inszeniert hat. Als eine Art gesteigerter Großaufnahme, die stets ein Stück weit zur Annäherung an die Figur verhilft, sie ein wenig fiktionalisiert, scheint das gerahmte Gesicht Inneres preiszugeben“ (1996, 21). Eine ähnliche Funktion haben Spiegel (18f.), die etwa Gesichter und Haltungen der Figuren rahmen, doch diese in ihrem Ausdrucksverhalten zugleich aus unterschiedlichen Perspektiven sichtbar und damit für den Zuschauer bewusster machen können. Situationen, einzelne Figuren und Objekte können im Film nicht nur über Rahmungen einen höheren Grad an Auffälligkeit und Bewusstheit erfahren, sondern auch über eine Verschiebung der Relationen innerhalb des visuellen Reizangebotes, wie sie durch Lichtgebung und Farbe geschieht, Momente, in der sich die Gestaltungsebenen von Kamerablick und Mise-en-scène kreuzen. Zu den Desideraten der Filmwissenschaft gehört leider auch eine systematische Ausarbeitung der Kategorie Mise-en-scène, die neben der Kameraarbeit maßgeblich für die Bildwirkung zuständig ist und sicher auch Konsequenzen für die Aufmerksamkeitslenkung und deren Untersuchung hat. Neben der Wahl der Einstellungsgröße gibt es natürlich noch ein weiteres Grundverfahren, das Bildfeld über technische Parameter zu bestimmen und damit die Bedingungen für die Aufmerksamkeitszuwendung zu verschieben, nämlich über die Nutzung der Filmformate. Gemeint sind diverse Breitwand-Formate bis hin zum 70mm-Film, inklusive Split-screenVerfahren und variablen Größen innerhalb des gleichen Films. Genauere Ausführungen dazu würden aber hier zu weit führen. 16.3.2 Tatsachenbild Der Terminus „Tatsachenbild“ („l’image-fait“), auch übersetzt als „Fakten-Bild“, stammt von André Bazin und wurde von ihm und seinem philosophischen Interpreten Deleuze bei Überlegungen zur Bildgestaltung im Italienischen Neorealismus entwickelt (vgl. Bazin 461 462 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit 2004, 321f.). Wenn er hier übernommen werden soll, dann deshalb, weil ich die Einschätzung beider Autoren teile, dass es einen besonderen Terminus für eine Kameraführung geben sollte, der es darum zu tun ist, Tatsachen im Sinne von Reizangeboten der Lebensrealität der Wahrnehmung des Zuschauers so zu überantworten, dass er dabei eigene Empfindungen und Wertungskriterien aktiv zur Geltung bringen kann, ähnlich wie bei einer unmittelbaren Realitätserfahrung. Das Beschreibungsmodell unterstellt dem Reizangebot des Bildausschnitts zudem einen besonderen kognitiven Status, nämlich den der perzeptionsgeleiteten Strukturen. Die Repräsentation der Lebensfakten erfolgt dabei zwar auf optisch zuverlässige Weise, jedoch nicht so, dass die Dinge oder Ereignisse innerhalb des Bildrahmens en bloc als Formzusammenhang mit Ausdrucks- und Bedeutungsfunktion besonders auffällig gemacht würden und bewusst rezipiert werden könnten. Vielmehr nimmt der Zuschauer große Anteile des Bildfelds eher vorbewusst zur Kenntnis. Das einzelne Tatsachenbild gewinnt damit oft einen semantisch instabilen, neutral-unbestimmten oder mehrdeutigen Charakter, zumindest anscheinend. Bei genauerer Betrachtung schafft es aber für den Zuschauer die Möglichkeit, innerhalb des Reizangebotes Neues zu entdecken, setzt bei ihm Wahrnehmung-Aktivitäten in Gang und appelliert an seinen Willen zur perzeptiven Eigenleistung.91 Das PKS-Modell kommt diesen Bestimmungen noch weiter entgegen, indem es das Moment des aktiven Sehens im Zuge der perzeptiven Invariantenextraktion zur Funktionsbedingung erhebt, denn im Unterschied zum Begriffsverständnis von Bazin und Deleuze ist das Tatsachenbild unter den Rahmenbedingungen des PKS-Modells essenziell mit der Annahme der Invarianten-Extraktion verbunden. Der Einstellung fällt auch die Funktion zu, ähnliche Reizmomente aus anderen Bildausschnitten über Wiederholung semantisch wirksam zu machen. Angenommen wird also, dass von der Kamera nicht nur Vorgänge schlechthin abgebildet werden, sondern dass dabei zugleich eine intuitive, doch zielführende Wahrnehmungsstrategie vorgezeichnet wird, welche dem Neisser-Zyklus folgend zur perzeptiven Hypothesenbildung führt. Das Geschehen auf der Leinwand wird zwar (wie beim Ausdrucksbild) sehr wohl durch Konflikte und dynamische Vorgänge bestimmt, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich ziehen. Im Fall des Tatsachenbildes gilt die ungeteilte Aufmerksamkeit indes nicht 91 Nach der Interpretation von Deleuze (1991, II, 11) handele es sich für Bazin bei den neorealistischen Arbeiten um eine neue Realitätsform, „die man sich dispersiv, elliptisch, richtungslos oder schwankend [ballante] zu denken habe und die durch Blöcke mit betont schwachen Verbindungen und fließenden Ereignissen charakterisiert ist. Das Reale werde nicht mehr repräsentiert oder reproduziert, sondern ›gemeint‹. Statt ein bereits dechiffriertes Reales zu repräsentieren, meine der Neorealismus ein zu dechiffrierendes und stets zweideutiges Reales; aus diesem Grunde trete die Plansequenz zunehmend an die Stelle der Montage von Repräsentationen.“ Für die Bildstrategie des Neorealismus, deren Kennzeichen „gerade das Anwachsen rein optischer Situationen“ sei, hat Deleuze (II, 13) den treffenden Ausdruck „Kino des Sehenden“ (cinéma de voyant) parat, den er dem gängigen „Kino der Aktion“ entgegenstellt, das keiner forcierten Wahrnehmungsaktivitäten bedarf. 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung 463 wie im Ausdrucksbild dem gesamten, vom Bildrahmen eingegrenzten Reizkomplex en bloc, sondern jeweils partiellen, verstreut vorkommenden Reizkonfigurationen aus diesem Ensemble. Diese gelangen dann bevorzugt zur Selektion, wenn sie dank intratextueller Wiederholung für die Extraktion perzeptiver Invarianten von Belang sind. In Abhängigkeit vom kognitiven Status des Filmbildes kommen also offenbar unterschiedliche Aufmerksamkeitsstrategien zum Zuge. Im Falle des Tatsachenbilds dürfte das Bildfeld im Hinblick auf Reizkonfigurationen arrangiert werden, die für die wichtigsten werkspezifischen Zyklen perzeptiver Invarianten relevant sind. Bazin hat sein Verständnis des Tatsachenbildes in einem pragmatischen Zusammenhang entwickelt, worin es weniger um dessen filmtheoretische oder gar -psychologische Ausarbeitung ging, als um die Beschreibung und Bewertung eines damals neuen und vielfach unverstandenen filmischen Gruppenstils, eben des Neorealismus. Er hat darum die spezifische Bildqualität dieser Stilrichtung weder aus der filmischen Gesamtkomposition noch der kulturellen Intention der ganzen Formtendenz herausgelöst, sondern die Bildwirkung stets unter den spezifischen Bedingungen der Erzählung, Montage, Figurenaktivitäten usw. betrachtet. In diesem Sinne hat er die Bildsprache auch dramaturgisch fundiert und damit wichtige Kontext-Voraussetzungen für ein Funktionieren des Tatsachenbildes bestimmt, u. a. dessen Entfaltungsmöglichkeiten jenseits einer klassischen Erzählstruktur. Beispielhaft dafür ist seine quasi rezeptionsästhetische Interpretation einer Filmpassage aus der letzten Episode von Rossellinis PAISÀ: „1) Eine Gruppe italienischer Partisanen und alliierter Soldaten ist von einer Fischerfamilie, die mitten im Sumpfgebiet des Po-Deltas auf einer Art Bauernhof lebt, mit Nahrungsmitteln versorgt worden. Man gibt ihnen einen Korb voller Aale, und sie machen sich auf den Weg. 2) In der Dämmerung gehen der amerikanische Offizier und ein Partisan ein Stück durch den Sumpf. In der Ferne eine Gewehrsalve. Aus einem elliptischen Dialog geht hervor, dass die Deutschen die Fischer erschossen haben müssen. 3) Bei Tagesanbruch liegen Männer und Frauen tot vor der Hütte, ein halbnacktes Baby hört nicht auf zu schreien“ (2004, 318). Bazin merkt hierzu an, dass in der Filmpassage „große Ellipsen“ oder „Lücken“ zu erkennen seien. „Eine ziemlich komplexe Handlung ist auf drei oder vier kurze Fragmente reduziert, die, verglichen mit der Realität, die sie abbilden, für sich schon elliptisch sind.“ (318) Er kommentiert: „Rossellinis Technik bewahrt sicher eine gewisse Verständlichkeit in der Abfolge der Tatsachen, doch diese greifen nicht ineinander wie eine Kette auf einem Zahnrad. Der Verstand muss von einer Tatsache zur anderen springen, wie man von Stein zu Stein hüpft, um einen Bach zu überqueren. Bisweilen zögert der Fuß, welchen Stein er nehmen soll, oder er rutscht aus. So ergeht es auch unserem Verstand. […]. Tatsachen sind Tatsachen, unsere Vorstellungskraft benutzt sie, doch sie haben nicht a priori die Funktion, ihr zu dienen“ (ibid.). Aus Beobachtungen solcher Art entwickelt Bazin sein Konzept des Tatsachenbildes als einer stilistischen Eigenheit: „Die erzählerische Einheit in PAISÀ ist nicht die ›Einstellung‹, ein abstrakter Blickwinkel auf die zu analysierende Wirklichkeit, sondern die ›Tatsache‹. Ein Bruchstück der unbearbeiteten Wirklichkeit, für sich genommen vielfältig und mehrdeutig, dessen ›Sinn‹ sich erst im Nachhinein ergibt, dank anderer ›Tatsachen‹, zwischen 463 464 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit denen der Verstand Beziehungen herstellt. Zweifellos hat der Regisseur diese ›Tatsachen‹ sorgfältig ausgewählt, doch er beließ ihnen die Integrität als ›Tatsachen‹“ (Bazin 2004, 321). Sicher hat Bazin die bedeutsame Rolle des Wiederholungsprinzips innerhalb der Tatsachenauswahl erkannt, sie jedoch eher hermeneutisch dargestellt.92 Das PKS-Modell bringt in die Analyse ein, dass das Wiederholungsprinzip der Invariantenextraktion innerhalb des Tatsachenangebots auf der Leinwand als Regelhaftigkeit erkennbar wird. Außerdem macht es plausibel, dass die Iteration sich erst unter Bedingungen durchsetzen kann, die es der Aufmerksamkeit des Zuschauers gestatten, die jeweiligen Ähnlichkeitsmomente überhaupt aufzufinden und für seine perzeptive Hypothesenbildung zu nutzen. So scheint es etwa notwendig, dass die relativ schwachen visuellen Codes im Rezeptionsprozess dadurch wirksam bleiben, dass die mit ihnen verbundene Absenkung der Reizschwellen beim Zuschauer nicht aufgehoben wird. Wo die Strukturen im Bildfeld unauffällig oder fragil sind und weiterhin so bleiben müssen, darf ihre Rezeption beispielsweise nicht durch semantisch weit stabilere Abstraktionsleistungen überformt werden, wie dies etwa durch die Einwirkung von starken Codes der klassischen Erzähloder Montageformen geschehen könnte. Eine Aufhebung der von Rossellini kunstvoll arrangierten elliptischen Erzählweise etwa würde zwar manche lineare Kausalbeziehungen des Geschehensverlaufs verdeutlichen, die vom Tatsachenbild präfigurierte Aufmerksamkeitsstrategie aber vermutlich ruinieren, weil diese einen „sehenden Zuschauer“ braucht, der über die Wahrnehmung von Ähnlichkeitsmomenten im Bild selbstständig bestimmte Zusammenhänge herstellt. Gruppenstile wie der Neorealismus, das Westeuropäische Verhaltenskino oder auch der Dokumentarische Spielfilm im Osten Europas, ebenso manche Arbeiten des amerikanischen Independent Films (wie z. B. die Filme von John Casavetes) verleihen dem Tatsachenbild, das wohl in jedem Film vorkommt, eine stilprägende Kraft. Für diese historischen Gruppenstile gilt übrigens, dass sie dem Tatsachenbild offenbar dadurch eine dominante Wirksamkeit verschaffen, dass ihre narrativen Strukturen vornehmlich im Bereich der perzeptionsgeleiteten Topik-Reihen verbleiben. Damit kommt die Kompositionsweise den vorhin geäußerten Vermutungen entgegen, wonach Tatsachenbilder sich nur dort durchsetzen können, wo die schwachen Codes der visuellen Wahrnehmung, auf denen ihre kommunikative Wirkung beruht, nicht von den starken Codes der klassischen Erzählung oder Montage nivelliert werden. Eine vergleichbare narkotisierende Wirkung auf die Reizangebote des Tatsachenbildes, wie sie durch dominante Ausdrucksbilder erzeugt wird, kommt übrigens den stereotypengeleiteten Symbolbildern 92 „Auch bei Rossellini nehmen die Tatsachen einen Sinn an, doch nicht wie ein Werkzeug, dessen Funktion seine Form im Voraus bestimmt. Die Tatsachen folgen aufeinander, und der Verstand [i. O. 1994, 280: l’esprit ] kann im Grunde nicht anders, als ihre Ähnlichkeit untereinander zu bemerken, und dass sie, da sie sich ähnlich sind, am Ende etwas bedeuten, was in jeder von ihnen schon enthalten war und was, wenn man so will, die Moral der Geschichte ist. Eine Moral, der sich der Verstand gerade deshalb nicht entziehen kann, weil sie ihm von der Wirklichkeit selbst vermittelt wird“ (2004, 319). 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung 465 zu. Auch in ihrem Umfeld verschieben sich offenbar die Kriterien für Aufmerksamkeit, die das Tatsachenbild beim Zuschauer erzeugt, wenngleich der Effekt ein anderer ist. 16.3.3 Symbolbild Anhand von narrativen Strukturen konnte bereits gezeigt werden, was es generell mit Stereotypenbildung im Kino auf sich hat. Auch Filmbilder, namentlich kürzere Einstellungen von überschaubaren Objekten oder Vorgängen, deren Reizangebote beim Zuschauer bereits zu einer Konzeptualisierung geführt und Zeichencharakter angenommen haben, können zu stereotypengeleiteten Strukturen werden, für die hier die Bezeichnung „Symbolbild“ gelten soll. Für die Erkennung dieser Bildstereotype gilt ebenfalls die Bedingung, dass sie in ähnlicher Form auch in anderen Filmen oder visuellen Darstellungen des nämlichen kulturellen Repertoires vorkommen, also der intertextuellen Wiederholung unterliegen. Als Resultat eines mitunter längeren kulturellen Lernprozesses sind diese Bilder zu stereotypengeleiteten Strukturen geworden, die bei der Rezeption ein ganzes Unterprogramm psychischer Reaktionen in Gang setzen, d. h. Komplexe aus Wahrnehmungsprozessen, Kognitionen, Emotionen, Vorstellungen und Wertungen. Der von Ernst Cassirer geprägte Begriff der „symbolischen Form“, durch die „ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“ (Cassirer zit. in Panofsky 1974, 108) ist seit längerem in das Instrumentarium der Kunstwissenschaften eingegangen. Im Hinblick auf die Erzeugung von Aufmerksamkeit gelten vermutlich für das Symbolbild ebenfalls spezifische Bedingungen, die sich aus dem kognitiven Status ableiten. So scheint es für die Funktion des Symbolbildes notwendig zu sein, dass das Reizmaterial innerhalb des Bildfeldes zum einen die Verarbeitungsstufe der Konzeptualisierung erreicht hat, zum anderen aber auch zu einem kulturellen Zeichen geworden ist, das sich über seine intertextuelle Verbreitung nachweisen lässt. Die vom Symbolbild präformierte Aufmerksamkeitsstrategie appelliert daher implizit an das Erinnerungsvermögen des Zuschauers, im Formengut eines aktuell rezipierten Films Strukturangebote aus früheren Kino-Erlebnissen auszumachen und ihre Wirkungen zu reaktivieren. Auf die Symbolbilder trifft zu, was für filmische Stereotypenstrukturen generell gilt: Dass sie zwar im Rahmen der Analyse relativ leicht auffindbar und beschreibbar sind, jedoch im konkreten Rezeptionsprozess hinsichtlich ihres Auffälligkeits- und Bewusstheitsgrades eine große Variationsbreite zeigen. Manche Symbolbilder sind sehr auffällig und drängen mit Vehemenz in das Bewusstsein des Zuschauers, andere erkennt dieser kaum und nimmt sie bestenfalls beiläufig wahr, was sich auch als ein Resultat von Habituation gegenüber zu oft wiederholten gleichartigen Formangeboten deuten lässt. So enthielt die zu Anfang des Buches (in 3.2.2) beschriebene kurze Expositionsszene von Wajdas ASCHE UND DIAMANT gleich mehrere Symbolbilder: Sie zeigte eine Kapelle in der Frühlingssonne, ein Blumen pflückendes kleines Mädchen, einen pflügenden 465 466 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit Bauern – Bilder des Friedens, die inzwischen freilich auch einen kulturellen Verschleiß erlitten haben dürften. Im Verlauf der Handlung kommen indes andere Symbolbilder vor, wo dies kaum der Fall sein dürfte: Als der Held des Films, der junge Kämpfer der Heimatarmee Maciek, auf Befehl seiner Vorgesetzten den alten Kommunisten erschießt, taumelt dieser auf ihn zu, so dass sich beide für einen Moment in den Armen liegen wie Vater und Sohn, während im Hintergrund das Feuerwerk zum Tag des Sieges den Himmel illuminiert. Und der Film endet mit jener bekannten Film-Metapher, die den tödlich verwundeten Helden auf einer Schutthalde zeigt, was an die fragenden Verse Norwids erinnert, die den Titel des Filmwerks bestimmen: ob Asche nur bleibe oder auf deren Grund ein Diamant entstehe. Die Filmgeschichte kennt eine Unzahl von Bildern mit metaphorischer Funktion. Im sowjetischen Revolutionsfilm der 1920er Jahre finden sie sich u. a. in Pudowkins MAT´ (DIE MUTTER, 1926), Dowshenkos ZEMLJA (ERDE,1930). Einige davon sind regelrechte Schlüsselbilder, wie etwa jenes der Mutter aus PANZERKREUZER POTEMKIN, die mit ihrem schwer verletzten Sohn auf dem Arm als Pietà-Gestalt die Odessaer Treppe hinaufgeht, den schießenden Kosaken entgegen. Der kognitive Modellansatz erlaubt es, zwischen Film-Metaphern zu unterscheiden, die sich auf verschiedene Abstraktionsleistungen beziehen. Etwa auf genuin filmisches Reizmaterial – wie in jener Szene aus ERDE, worin der alte Bauer friedvoll auf einem Berg geernteter Äpfel entschläft. Andere stützen sich auf bereits vorhandene sprachliche Metaphern – wie die Schlusspassage von DIE MUTTER, in der Bilder der machtvollen Arbeiterdemonstration mit solchen vom Eisgang auf dem Fluss alternieren. In seltenen Fällen rekurrieren die Filmbilder auf kulturelle Symbole anderer Herkunft – wie etwa in Eisensteins OKTJABR (OKTOBER, 1928), wo einige Zeit nach der Demontage eines Zarendenkmals die Zusammenfügung von dessen Bruchstücken gezeigt wird, um die politische Restauration zu charakterisieren. Der unterschiedliche Stereotypisierungsprozess dürfte Konsequenzen für die Aufmerksamkeit der angesprochenen Zuschauergruppen haben, die vielleicht empirisch fassbar sind. 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung, Intensivierung von Aufmerksamkeit 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung … Die Kadrierung und das Bildfeld mit seinem Reizangebot haben erfahrungsgemäß nicht nur Einfluss auf die kognitiven Prozesse des Zuschauers, sondern auch auf dessen affektive Erregungen und Emotionen. Denkbar ist daher, dass sich analoge Hypothesen zu jenen über die Wirkung von dramaturgisch relevanten Widersprüchen (vgl. 7. Kap.) entwickeln lassen, denen zufolge Konfliktmomente innerhalb der Handlung dafür sorgen, dass der Zuschauer im Rezeptionsprozess Diskrepanzen erlebt, die zur Quelle seiner affektiven Erregung werden und damit seine emotionale Haltung gegenüber dem dargebotenen Geschehen beeinflussen. 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung … 467 Entsprechend diesen Annahmen sind Emotionen freilich stets von der Bedeutung abhängig, die das Reizmaterial für den Rezipienten und seine Kontrollkompetenz gegenüber der Situation besitzt. Der Rückgriff auf übergreifende filmische Konflikte und Handlungsabläufe im Makrobereich der Komposition erlaubt es meist, Diskrepanzen aus dem Situationsverlauf der Geschichte abzuleiten sowie deren Bedeutung für Figuren und Betrachter einzuschätzen. Wenn man indes den filmischen Makrobereich verlässt und sich in dem Mikrobereich der Bild-Gestaltung zuwendet, ist es in der Regel nur schwer möglich, zuverlässig zu beurteilen, welche Diskrepanzen sich aus dem Formenangebot für den Zuschauer ergeben dürften. Per se erlauben die visuellen Besonderheiten eines Filmbildes hier kaum je Beobachtungen, die begründete Rückschlüsse auf ihre affektiven Konsequenzen zulassen. Dennoch lassen sich dort, wo sich deutliche Differenzqualitäten der Gestaltung zeigen, Differenzempfindungen in Form von Diskrepanzen vermuten, und man kann davon ausgehen, dass diese sich auch anhand von psychophysiologischen Reaktionen empirisch nachweisen lassen, die man als affektive Erregungen interpretieren kann. Dies führt zu der Annahme, dass man auch die Differenzqualitäten innerhalb jenes filmischen Reizmaterials, das im Zuge von Kameraarbeit und Bildgestaltung formiert wurde, als mögliche Quelle bzw. Auslöser von Affekten ansehen darf, die sich zu emotion episodes dieser oder jener Art entwickeln können. Interessant für die Analyse ästhetischer Wirkungen wird diese Annahme besonders dort, wo sie die Aufmerksamkeitsproblematik berührt. Auch wenn die meisten bisherigen Untersuchungen zum Aufmerksamkeitsaspekt aus der Kognitionsperspektive vorgenommen wurden, ist dabei nie die intensivierende oder mobilisierende Funktion ernsthaft in Abrede gestellt worden, welche die Aufmerksamkeitsaktivitäten für den psychischen Haushalt des Menschen haben. Dass die menschliche Aufmerksamkeit im Filmerleben eine Intensivierung und Mobilisierung erfährt, und bei der Rezeption von gelungenen Filmen wohl unbedingt, zählt eher zu den Grunderfahrungen der Medienbranche. Es scheint daher produktiv, diese Intensivierungskomponente innerhalb der medialen audiovisuellen Kommunikation im Hinblick auf ihre Bindung an die Differenzqualitäten des Bildes und deren affektive Wirkung zu untersuchen. 16.4.1 Konflikte im Bildausschnitt als Diskrepanzen im Erleben Überlegungen, wie man bereits über die konfliktbetonte Gestaltung der einzelnen Filmeinstellung psychische Wirkungen beim Zuschauer erzeugen kann, darunter auch emotionsbezogene, finden sich schon bei Eisenstein. In seinem mehrfach veränderten und ergänzten Vortragstext von 1929, der in Fachkreisen unter dem Titel „Stuttgart“ (vgl. Albera 1989) bekannt wurde und in seiner deutschsprachigen Urfassung unter dem Titel „Dramaturgie der Filmform /1/“ (Eisenstein 1989) zur Publikation gelangte, dient für die Filmanalyse ein Konfliktbegriff als Ausgangspunkt, der sich eng an den philosophischen 467 468 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit des dialektischen Widerspruchs anlehnt, weil dieser laut Eisenstein eine „dynamische Auffassung der Dinge“ (1989, 29) erlaube. Das dem Widerspruch zugrunde liegende Gegensatzpaar demonstrierte der Regisseur an unterschiedlichen konkreten Formangeboten von Bildausschnitt und Montage, in der Hoffnung, damit zu einer „ganz neuen Auffassung des Problems der Film-Form“ (1989) beizutragen.93 Obwohl der Text vor allem Überlegungen des Regisseurs enthielt, die die kognitiven Prozesse betonten, welche sein damaliges poetologisches Konzept vom Intellektuellen Film stützten, heißt es darin, dass die „Dynamisierung des Stoffes“ aufgrund der Konflikthaftigkeit auf psychologischem Gebiet eine „EMOTIONELLE DYNAMISIERUNG“ bewirke (1989, 35; Hervorh. i. O.). Der funktionale Zusammenhang zwischen Konflikt und Emotion im Leben wie in der Kunst war Eisenstein tief vertraut, und der Regisseur kannte auch die wichtigsten zeitgenössischen psychologischen Theorien dazu, vor allem die seiner Landsleute Wygotski und Lurija, aus erster Hand.94 Die vorliegenden Varianten des Stuttgart-Texts lassen ein generelles methodisches Problem der Filmanalyse erkennen, welches schon Eisenstein beschäftigte: Dass der im Bildfeld dargestellte Konflikt zwar sinnfällig macht, wie das Prinzip des dialektischen Widerspruchs diesen Bereich der filmischen Komposition zu beherrschen vermag, jedoch noch schwerlich Aussagen darüber erlaubt, was sein Erleben beim Zuschauer ausrichtet, d. h., welche Diskrepanz mit affektivem Potenzial sich daraus für den Rezipienten ergibt. In einem Ergänzungstext führte er daher eine gestalterische Differenzqualität an, die sich auf eine deutliche Normabweichung bei der Kadrierung bezog: Der gewählte Bildaus- 93 Die beigegebenen Illustrationen (aus eigenen Filmen) überschreibt er mit: „(1) graphischer Konflikt / (2) Konflikt der Bildebenen (orig: ›der Pläne‹) / (3) Konflikt der Volumen / (4) RaumKonflikt / (5) Beleuchtungs-Konflikt / (6) Tempo-Konflikt, […] /(7) Konflikt zwischen Stoff und Ausschnitt (erzielt durch räumliche Verzerrung aus der Einstellung der Kamera. […] /(8) Konflikt zwischen dem Stoff und seiner Räumlichkeit (erzielt durch optische Verzerrung mittels des Objektivs / (9) Konflikt zwischen dem Vorgang und seiner Zeitlichkeit (erzielt durch Zeitlupe und Multiplikator) und schließlich / (10) Konflikt zwischen dem ganzen optischen Komplex und einer ganz anderen Sphäre. So ergibt Konflikt zwischen optischem und akustischem Erleben: TONFILM, welcher realisierbar ist als VISUAL-TONALER CONTRAPUNKT“ (Eisenstein 1989, 32f.; Hervorh. i. O.). 94 Zu beiden Psychologen unterhielt er enge persönliche Kontakte, die in Plänen zu interdisziplinären Forschungsprojekten gipfelten. Die inhaltliche Nähe dieser durchaus unterschiedlichen Autoren-Konzepte im Hinblick auf Konflikt und Affekt ließen ein künftiges Gemeinschaftsprojekt als vielversprechend erscheinen. Hier sei nochmals an die zentrale These aus Lew Wygotskis Habilitationsschrift „Psychologie der Kunst“ von 1925 erinnert, worin es über das gattungsübergreifende „Gesetz der ästhetischen Reaktion“, die er als „Katharsis“ bezeichnet, heißt: „Sie beinhaltet einen Affekt, der sich in zwei entgegengesetzten Richtungen entwickelt und der auf dem Gipfelpunkt gleichsam in einem Kurzschluss vernichtet wird“ (Wygotski [1925] 1976, 250; Hervorh. i. O.) Alexander Lurijas Buch „The Nature of Human Conflicts“ (1932) betont ähnliche Wirkmomente. 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung … 469 schnitt eines Pudowkin-Films zeigte absichtsvoll Personen, deren Köpfe durch die obere Bildkante abgeschnitten wurden.95 In der Tat dürfte eine solche Anomalie im Umgang mit dem Bildausschnitt gleichermaßen für eine affektive Erregung wie eine Verschiebung der Zuschauer-Aufmerksamkeit gesorgt haben, auch für eine inhaltliche Neubewertung des Geschehens. Die Protagonisten aus dem damaligen Establishment erscheinen nun als kopflose Werkzeuge der Staatsmacht. Dieses Vorgehen bekräftigt einen methodischen Hinweis für die Analyse, der im Zusammenhang mit den Gestaltungsmitteln schon mehrfach erfolgte: Dass es nicht nur darum geht, eine gestalterische Differenzqualität aufzufinden, was im konkreten Falle aufgrund der robusten Anomalie leicht fällt, sondern die Diskrepanz für die Formerwartung des Zuschauers auch im Hinblick auf die Konflikte und Sinnbildungsprozesse des ganzen Werks zu interpretieren. Im gegebenen Beispiel ist auch dieser Inhaltsbezug offenkundig, weil sich die Konfliktkonstellationen im Makro- und Mikrobereich an die gleiche soziale Auseinandersetzung binden. Im Rahmen der Filmkultur ist eine solche Situation indes selten. In der Regel sind weder die gestalterischen Differenzqualitäten im Rahmen der filmischen Mikrostruktur noch die Konfliktentwicklungen der Handlung mit deren Sinntendenz einsichtig, und kaum je sind sie identisch und führen auf so direkte Weise zu einer Bedeutungsinterpretation des Filmganzen. 16.4.2 Visuelle Diskrepanzen und affektives Feld Um die generelle Hypothese, dass sich Affekte und Emotionen im Film aus Diskrepanzen bei seiner Reizverarbeitung ergeben, welche sich aus dem Konfliktfeld des Werks ableiten lassen, auch auf formale Differenzqualitäten in der Anwendung technikbasierter Gestaltungsmittel anwenden zu können, werden offensichtlich andere Analyseverfahren benötigt. Theoretisch naheliegend scheint es etwa, die Beschreibungsverfahren nicht nur auf eine, sondern zugleich auf mehrere Differenzqualitäten im Formenangebot zu beziehen, die Diskrepanzen also von einem breiten Feld von gestalterischen Verschiebungen und Anomalien abzuleiten. Eine derartige multifaktorielle Betrachtung könnte unterschiedliche filmische Gestaltungsebenen von Bild, Ton, Montage und Mise-en-scène einbeziehen, die miteinander kovariieren, im Verbund auftreten und mehr oder weniger stabile Cluster bilden. Implizit geht die hermeneutische Kunstuntersuchung im Grunde seit jeher ganz ähnlich vor, wenn sie sich um Genre- oder Stilanalysen bemüht. Bei Filmuntersuchungen 95 Unter der Überschrift „Das elementarste Beispiel für die buchstäbliche Anschaulichkeit des Konflikts zwischen Kamera und Gegenstand“ erklärte er, dass sich aufgrund dieses Konflikts ein „neuer ›psychologischer‹ Wert, d. h. der Wert einer nächsten Dimension“ ergebe und belegte dies mit einem Fallbeispiel. Pudowkin habe in DAS ENDE VON ST. PETERSBURG für die Episode über die Kriegserklärung zwei Sitzungen von Senatoren und Industriellen gezeigt, die er jeweils mit „abgeschnittenen“ Köpfen filmte, indem Letztere durch die obere Bildkante gleichsam abgeschnitten waren. Damit habe er eine brillante soziale Charakterisierung erreicht (vgl. Eisenstein 1989, 41). 469 470 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit solcher Art richten sich die Anstrengungen auf die intuitive Herausarbeitung von Formzusammenhängen, die sich über mehrere Gestaltungsebenen erstrecken, um etwa das Bedingungsgefüge für die Funktion eines bestimmten Genres bzw. eines Filmstils zu erfassen. Zu den Vorzügen traditioneller Kunstkennerschaft gehört es, dass sie im Rahmen der Hermeneutik einen solchen multifaktoriellen Datenabgleich oft nahezu spielerisch meistert, sozusagen kongenial zur Kunstproduktion. Professionelle Kritiker des Films etwa sind vielfach in der Lage, in ihren hermeneutischen Darstellungen präzise Aussagen zu formulieren, was neu und ungewöhnlich am visuellen Stil eines einzelnen Filmes oder einer ganzen Gruppe von Arbeiten ist, und nicht selten finden sie auch zu treffenden Urteilen über emotive Wirkungen. Mit formalisierten Verfahren gelingt dergleichen weitaus schwerer. Außer den zahlreichen Operationen, die für die Bestimmung der einzelnen psychologisch relevanten Wirkmomente nötig sind, müssen hierfür u. a. geeignete Referenzsysteme entwickelt werden, die einen wissenschaftlich zuverlässigen Nachweis der gestalterischen Differenzqualitäten ermöglichen. Gäbe es große Datenmengen, die die wichtigsten Gestaltungsweisen einer regional und historisch bestimmten Filmkultur differenziert erfassen könnten, ließen sich wohl statistische Größen für einen entsprechenden Formvergleich gewinnen, wobei hinzuzufügen wäre, dass diese Resultate einer ominösen Kunstsoziologie durch adäquate einer Zuschauer-Soziologie ergänzt werden müssten. Da dergleichen nicht vorhanden ist, scheint es sinnvoll, bei der Ermittlung von gestalterischen Differenzqualitäten eines Filmwerks einstweilen bewusst approximativ vorzugehen und zunächst mit groben Schätzwerten zu arbeiten, wie sie etwa durch gestalterische Idealtypen fixiert werden, die sich in der Kommunikation der Medienpraktiker herausgebildet haben. Die Medienpraxis nutzt bei der Einschätzung konkreter Filmwerke mitunter eine Dichotomie, die den „klassischen Spielfilm“, der die künstlerischen Normen für das Mainstream-Kino formulieren half, dem (westeuropäischen) „Autorenfilm“ gegenüberstellt, welcher dem kulturellen Verständnis eines Arthouse-Kinos oder Art-Cinema folgt. Für beide Idealtypen haben sich in der Praxis unterschiedliche Beschreibungsschemata, Produktionsnormen, Gestaltungskriterien, Wirkungsstrategien und Distributionsprinzipien herausgebildet, die jeweils ein recht stabiles semantisches Netz gegensätzlicher Merkmale bezeichnen, das auch zu verständlichen Begriffen in der Alltagssprache geführt hat. In einer umfangreichen Untersuchung hat Thomas Schick (2015, 170) diese Dichotomie fixiert und eine Opposition von Idealtypen dazu verwendet, systematisch die gestalterischen Differenzqualitäten darzustellen, welche die Filme der so genannten Berliner Schule charakterisieren und damit einen ganzen Gruppenstil prägen. Besonders an den visuellen Gestaltungsverfahren dieser Arbeiten konnten starke Abweichungen gegenüber den klassischen Normwerten nachgewiesen werden, mitunter deutliche Anomalien, die Formangebote auf mehreren Gestaltungsebenen im Verbund erfassten. Damit konnte der Autor seine zentrale Hypothese stützen, der zufolge diese oft wenig bewusst aufgenommenen Nuancen filmkünstlerischer Gestaltung zu Diskrepanzen im Zuschauererleben führen, die mit spürbaren Konsequenzen affektiver und emotiver Art verbunden sind. 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung … 471 Auch wenn sie zunächst im Rahmen der Hermeneutik verbleiben, schaffen Überlegungen zu solchen psychologischen Aspekten eine neue Sichtweise auf die Zusammenhänge von subtilen Kunstmitteln und ihren potenziellen affektiven Wirkungen. So machen sie etwa auf die mögliche Entstehung von Kino-Gefühlen aufmerksam, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer visueller Diskrepanzen ergeben können. Bei der Interpretation einzelner Filmwerke bestätigt sich hier übrigens der methodische Wert eines analytischen Vorgehens, auf den schon an anderer Stelle hingewiesen wurde: Dass es effektiv ist, zwischen der Funktion der filmischen Mikrostruktur und den Sinnbildungsprozessen der dramaturgischen Makrostruktur einen funktionalen Zusammenhang herzustellen, namentlich anhand der Konfliktsituation, die für die Filme der Berliner Schule beispielsweise durch das häufige Auftreten intrapersonaler Konflikte geprägt ist. Das Verfahren von Schick, sich bei der Konstruktion von Referenzsystemen für die Bestimmung der relativ schwachen Differenzqualitäten filmspezifischer Gestaltung an Idealtypen zu orientieren, die sich auf einen Verbund unterschiedlicher visueller Mittel oder Stilfaktoren stützen, erscheint in der gegenwärtigen Anfangsphase der Forschung produktiv und auch für nachfolgende Überlegungen von Wert. Letztere gehen vermuteten Kausalbeziehungen nach, die von der gestalterischen Differenzqualität des Filmbildes über die Diskrepanz bei der Reizaufnahme des Zuschauers zu dessen affektiver Erregung führen, die wahrscheinlich auch die Intensivierungsfunktion der Aufmerksamkeit verstärkt. Eine kursorische Übersicht soll zunächst dafür sorgen, dass das breite Feld der visuellen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Kameraarbeit einer filmwissenschaftlichen Taxonomie unterstellt werden kann, die sich der Emotions- und Aufmerksamkeitspsychologie öffnet. In Analogie zum „Konfliktfeld“, spricht Schick (2015, 198ff.) von einem „affektiven Feld“. Die affektiven Wirkungen aufgrund von Diskrepanzen aus den technikfundierten Gestaltungsverfahren charakterisiert er als solche, (1) die sich auf die Herausbildung von semantischen Beziehungen auswirken, (2) dies jedoch stets im Rahmen von Wechselwirkungen mit den strukturellen Beziehungen im Makroraum der Erzählung und damit in Abhängigkeit von diesen tun, (3) sich auch kaum als bewusste Prozesse, sondern eher im Zuge einer modifizierenden Cue-Funktion realisieren. Meines Erachtens lassen sich diese Eigenheiten auf die Aufmerksamkeitsfunktion der filmischen Reizangebote beziehen. Zu prüfen wäre beispielsweise, ob über die Schaffung von Differenzqualitäten im Bereich der visuellen Gestaltung nicht eine Verstärkung der intensivierenden Aufmerksamkeitsfunktion erfolgt, die sich durch empirische Studien auch nachweisen ließe. Die Untersuchung von Schick präzisiert die Erfahrung, der zufolge die affektiven Wirkungen, die von den Diskrepanzen der audiovisuellen Gestaltungsmittel herrühren, offenbar potenziell in der Lage sind, die Sinnbildungsprozesse des gesamten Werkes zu verändern, dies jedoch auf limitierte Weise, werden sie doch durch die Emotionalstruktur dominiert, die die gesamte Erzählung vorgibt, so dass sie im semantischen Bereich nur eine Hinweisfunktion erlangen. Zu den praxisrelevanten Fragen, die mit den berührten Problemen zusammenhängen, gehört u. a., ob sich durch die Zuspitzung gestalterischer Anomalien im Rahmen der Kameraarbeit beim Zuschauer affektive Erregungen steigern 471 472 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit lassen, etwa verbunden mit einer Erhöhung des Bewusstheitsgrads des rezipierten Reizangebots. Ein tiefgründiges Wissen um derartige Kausalbeziehungen wäre sicher auch hilfreich, um die angemessene inhaltliche Interpretation eines Autorenfilms wie SEHNSUCHT (2006) von Valeska Grisebach zu befördern, der in Schicks Untersuchung auch als ein Beispiel für die Stilrichtung der Berliner Schule steht. Der Film handelt von einem jungen Feuerwehrmann aus ländlicher Umgebung, der glücklich verheiratet ist, gelegentlich eines Lehrgangs in einem Nachbarort aber eine andere Frau kennenlernt und sich sogleich in sie verliebt. Die Situation, sich zwischen den beiden Frauen entscheiden zu müssen, verkraftet er aber nicht, und er sucht einen Ausweg im Freitod, welcher zwar misslingt, jedoch bei den Dorfkindern – und vermutlich auch beim Publikum – zu einem Nachdenken über Liebe und Lebensglück beiträgt. Die Geschichte folgt der Strategie offener Erzählungen, die dem Zuschauer nahelegt, wichtige Zusammenhänge innerhalb des Geschehens, die die Komposition ihm vorenthält, über eigene kognitive Aktivitäten zu ergänzen, in diesem Falle etwa hinter der emotionalen Konfusion des Helden dessen eigentliche Handlungsmotive zu erkennen. Schick (2015, 562) kommentiert in seiner Untersuchung, dass die Autorregisseurin in SEHNSUCHT ähnlich anderen Vertretern der Berliner Schule „eine Suchbewegung ihrer Protagonisten“ beschreibt, die sich auf ein erfülltes Leben in der modernen Gesellschaft richtet, und er zitiert (562) den Kritiker Rebhandl (2006), der in diesem Zusammenhang von einem „Realismus des Wünschens“ spricht, den die Autorin für das deutsche Kino entdeckt habe. Eine rezeptions-psychologisch intendierte Analyse könnte herausarbeiten, welche Rolle dem Einsatz audiovisueller Gestaltungsverfahren zukommt, um auf diese merkwürdig affektgeladene, doch gesellschaftlich bedeutsame Suchbewegung des Helden aufmerksam zu machen, nicht zuletzt, um dabei den Suchprozess des Zuschauers nach dem Sinn der Geschichte zu erleichtern. Für die künstlerischen Verfahren mag eine Passage stehen, die den Treuebruch der Hauptfigur exponiert. Generell scheinen dem introvertierten, wortkargen Helden Markus nicht nur Liebesabenteuer, sondern auch Gefühlsausbrüche völlig fremd zu sein. Doch unerwartet beginnt er bei einem Bierabend der Feuerwehrleute unter dem Einfluss von Alkohol plötzlich lange und inbrünstig zu tanzen, dies allein und nach dem bekannten Song „Feel“ von Robbie Williams. Dass der Held seinen durch sachliche Vorgänge geprägten Alltag verlassen und in einen selbstvergessenen Tanz verfallen kann, schafft nicht nur eine gewisse psychologische Erklärung für seine spätere Liebesaffäre, sondern auch einen fühlbaren emotionalen Kontrast zu den bisher gezeigten kargen Erlebnisbereichen. In einer Sequenz ähnlicher Einstellungen, die den ekstatischen Helden in Großaufnahmen zeigen, welche seine mit Musik unterlegten Ausdrucksbewegungen in buchstäblichem Sinne zu einem Ausdrucksbild generieren, sorgt die Kamera für eine ungewöhnliche ästhetische Differenzqualität, die beim Zuschauer zu Diskrepanzen und Affekten führen dürfte. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den besonderen psychischen Zustand des Helden, macht den Stimmungsgehalt der Szene dem Publikum so deutlich bewusst, dass sie zum metaphorisch-symbolhaften Schlüsselbild wird. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 473 Nach einem jähen Schnitt erkennt man den Hinterkopf des Helden in Nahaufnahme; Markus erwacht in einem Bett und sucht sich zu orientieren. Er ist allein in einem Raum, den der Zuschauer nicht kennt und Markus offenbar auch nicht. Erst nach einem vorsichtig tastenden Erkundungsgang über den Korridor, bei dem die Kamera ihn begleitet, stellt sich heraus, dass der Held sich in der Wohnung der Kellnerin Rose befindet, die beim Feuerwehrtreffen serviert hatte. Sie sitzt in der angrenzenden Küche und bietet Markus unsicher lächelnd einen Kaffee an, während sie sich anschickt, zur Arbeit zu gehen. Markus kennt zu diesem Zeitpunkt ihren Namen noch nicht, auch fehlt ihm jede Erinnerung an das, was vorgefallen ist. Der alkohol-bedingte Blackout schafft im Erzählfluss eine Ellipse. Für den Erzähl- und Montagefluss des Films wird sich die Ellipse mit ihren Zeit- und Handlungslücken generell als paradigmatisch erweisen. Sie etabliert den Suchgestus des Helden gewissermaßen im Wahrnehmungsprozess des Zuschauers. Dies in einem Kompositionszusammenhang, der auch in anderer Hinsicht für einen sprunghaften Wechsel im Charakter der Bilder sorgt, verlangt dieser dem Rezipienten doch immer wieder ab, seine Einstellung gegenüber dem Bildinhalt zu ändern. Soziale Beobachtungen zum Landleben werden etwa abrupt durch stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen abgelöst, bzw. durch Dialogszenen der Hauptfiguren, die einen hohen Abstraktionsgrad erreichen. Erst aus dem Zusammenspiel von elliptischen Montagen und wechselnden Abstraktionshöhen bei der Darbietung des Geschehens ergibt sich offenbar eine Rezeptionshaltung des Zuschauers, die ihm erlaubt, den meist verdeckten psychischen Strebungen des introvertierten Helden zu folgen. Diese Strebungen machen den jungen Mann trotz gesicherter Lebensexistenz und vorhandener Liebesbeziehungen zu einem chaotischen Glückssucher, der sich über das Vertrauen seiner Nächsten spontan hinwegzusetzen vermag – was, falls die Beobachtung sich als verallgemeinerbar herausstellt, gegenüber den Grundhaltungen vieler unserer Landsleute kein geringer Vorwurf sein dürfte. Wie Monika Suckfüll (2019) gezeigt hat, ist es möglich, die affektiven Potenziale eines solchen Films bereits unter den gegenwärtigen Bedingungen empirisch zu erfassen. Um Untersuchungen der Aufmerksamkeitszuwendung zu erleichtern, scheint ist es jedoch unabdingbar, noch andere Aspekte der Bildgestaltung zu berücksichtigen. Dies setzt aber eine filmwissenschaftliche Taxonomie voraus, die sich den Argumenten der Psychologie stärker öffnet. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit Bei der Beurteilung der Kadrierung eines Filmbildes bezieht man sich stets auf eine pro- filmische Situation, die an einen konkreten drei-dimensionalen Handlungsraum gebunden ist. Die filmische Einstellung kann diese Situation in mehrfacher Hinsicht nur ausschnitt- haft darstellen, wobei für den Praktiker wohl vor allem zwei Fragen relevant sein dürften: Erstens, ob die zutreffende visuelle Information über die Situation in ihren entscheidenden Wirkmomenten vom Bildrahmen erfasst und dort angemessen organisiert wird, und 473 474 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit zweitens, ob dabei der Handlungsraum mit seinem Geschehen hinreichend zur Geltung kommt, besonders dann, wenn entscheidende Momente desselben nicht nur innerhalb, sondern außerhalb des Bildrahmens liegen und für den Zuschauer daher unsichtbar bleiben. Theoretisch gesehen wäre für die Beantwortung beider Fragen neben der Bewertung der Kamerahandlung auch die Analyse der Mise-en-scène nötig, doch ist dieser kategoriale Bereich nicht hinreichend ausgearbeitet, um von dort her zuverlässige Aussagen erwarten zu können. Für eine psychologische Interpretation der filmwissenschaftlichen Erkenntnisse sollen gestalterischen Faktoren, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers gegenüber dem Filmbild beeinflussen, hier darum lediglich auf die Kameraarbeit bezogen werden, und zwar gruppiert unter zwei pragmatischen Zielstellungen: Die eine Faktoren-Gruppe ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen Kadrierung und Handlungsraum und bindet sich an praxisrelevante Problemkreise wie Tiefeninszenierung, Kamerabewegung sowie Szenenaufgliederung (Découpage). Die andere Gruppe von Faktoren bezieht sich auf die optische Organisation des Bildausschnitts. Sie umfasst Problemkreise wie die informationelle Zugänglichkeit, synonym mit Objekt-Leserlichkeit (Legibility) sowie die optische Bildfeld-Organisation im engeren Sinne, die mit der Darstellung des Handlungsraums im On- und Off-screen-Verfahren verknüpft ist. 16.5.1 Kadrierung und Handlungsraum: Tiefeninszenierung, Kamerabewegung, Szenenaufgliederung Die Medienpraxis hat Verfahrensweisen entwickelt, die im Umgang der Kamera mit dem Handlungsraum das Augenmerk auf lapidare pragmatische Produktionsentscheidungen lenken, sich entweder mehr auf die Inszenierung innerhalb der gesamten Raumtiefe zu konzentrieren, auf die Möglichkeiten der Kamerahandlung im engerem Sinne oder auf die der Szenenaufgliederung (Découpage). Für jeden dieser Bereiche gibt es zahlreiche Erfahrungswerte, die mitunter in „Theorien mittlerer Reichweite“ münden. David Bordwell, der die historische Entwicklung des Films unter den drei Aspekten Tiefeninszenierung, Découpage und Kamerabewegung skizziert hat (1997, 198ff.; 2001), äußert im Anschluss an die Kadrierungsbeschreibung einer konkreten Filmszene: „Was die Filmfigur sieht, ist nicht so wichtig. […] Das Entscheidende ist, was wir dem Zuschauer an Information zuführen oder vorenthalten. Unser Blickwinkel zählt und nicht derjenige der Figuren. Betrachtet man die Geschichte des Kinos im Hinblick auf seine visuellen Gestaltungsweisen (visual design), so kann man also sagen, dass es ihm stets darauf ankommt, auf sehr unterschiedliche Weisen unsere Aufmerksamkeit zu wecken und zu fesseln sowie uns relevante Informationen über die Welt zu vermitteln, die auf der Leinwand gezeigt wird“ (Bordwell 2001, 13; Hervorh. i. O.). Diese generalisierende These erweist sich im Hinblick auf die hier fokussierte Aufmerksamkeitsproblematik als produktiv. In der Tat ergaben sich im Verlaufe der Kinogeschichte auf jeder dieser Gestaltungsebenen spezifische Möglichkeiten, die Aufmerksamkeitszuwendung des Zuschauers separat und im Zusammenwirken mit den anderen beträchtlich zu beeinflussen. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 475 16.5.1.1 Intensivierung von Aufmerksamkeit durch Tiefeninszenierung Zu Beginn der kinematographischen Entwicklung standen die Filmemacher, die damals nur über eine stationäre Kamera verfügten und den Bild-Streifen noch nicht montieren konnten, vor dem Problem, dem Zuschauer von einem einzigen Blickpunkt aus alles für das Erleben der Situation Notwendige zu zeigen, und zwar so, dass sie dafür auch dessen Aufmerksamkeitszuwendung erhielten. Besonders die Inszenierung hatte dafür Sorge zu tragen, dass der exponierte Handlungsraum vom Vordergrund bis in die Bildtiefe hinein für die Vermittlung des Geschehens genutzt wurde. Ohne Frage setzten die verfügbaren Aufnahmetechniken (Leistungsfähigkeit der Objektive, Empfindlichkeit des Filmmaterials, Beleuchtung betreffend) enge Grenzen für die Verfügbarkeit der Tiefenschärfe, Faktoren, die es hierbei natürlich auch zu berücksichtigen galt. Bei vielen Inszenierungsproblemen des Films knüpfte man an Erfahrungswerte aus der bildenden Kunst und der Theaterbühne an, die davon ausgingen, dass der Betrachter von einem festen Blickpunkt aus in einen perspektivisch angelegten Raum hineinsieht, der bereits durch seine Staffelung in die Tiefe das Reizmaterial so organisiert, dass es sich dem Spotlight der Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Weise zu stellen vermag. So hat die Malerei für die Anlage von Figurenbildern Prinzipien der Komposition erarbeitet, die es erlauben, die Tiefe des Bildraumes dafür zu nutzen, bestimmte Figuren oder deren Handlungen zu akzentuieren. Die Bühne sah andere Möglichkeiten, darunter die, einen Vorgang so zu arrangieren, dass er sich vom Hintergrund in den Vordergrund bewegte und umgekehrt. Das Kino suchte all dies zu adaptieren. Im Unterschied zum Theater, das für die an verschiedenen Stellen des Saales sitzenden Zuschauer variable Sichtachsen veranschlagen muss, war die Sichtachse im frühen Film für das gesamte Publikum pauschal durch den starren Standort der unbeweglichen Kamera festgelegt. Letztere nahm Einblick in einen fixierten schlauchartigen Raum, der sich nach hinten trapezähnlich erweiterte. Damit folgte sie Rahmenbedingungen, deren schematischer Aufbau die architektonische Anlage der damaligen Studios prägte. Diese Voraussetzungen erlaubten es, die Tiefenanordnung systematisch zu nutzen und die gezeigten Vorgänge im Hinblick auf die Aufmerksamkeitszuwendung des Publikums durch Einhaltung einfacher Faustregeln hierarchisch zu ordnen, etwa, indem man sie in den Vordergrund der bespielten Trapezfläche brachte, womöglich unterstützt durch starke Bewegung. Oder aber, indem man sie an gut sichtbarer Stelle im Hintergrund platzierte, so dass es dem Zuschauer leicht fiel, sie in enge Beziehung zum Hauptgeschehen zu bringen.96 96 Beispielsweise wird in Griffiths THE BIRTH OF A NATION (DIE GEBURT EINER NATION, 1915), der vom Kampf der amerikanischen Nordstaaten gegen die sklavenhaltenden Südstaaten handelt und dabei Partei für die Letzteren nimmt, im Hintergrund eines Vorgartens, worin vorn am Zaun junge weiße Frauen und Mädchen stehen, ein Schwarzer gezeigt, der unablässig zu ihnen hinstarrt. Die Tiefeninszenierung macht den Zuschauer absichtsvoll auf ihn aufmerksam. Später geschieht die Vergewaltigung eines weißen Mädchens durch einen Farbigen, was maßgeblich die rassistische Argumentation des Films stützt. 475 476 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit Ähnlich einsichtige Verfahrensweisen dienten dazu, die freie Sicht der Kamera und damit des Zuschauers auf manche Objekte gelegentlich zu verhindern, indem Vorgänge im Hintergrund durch solche im Vordergrund verdeckt wurden.97 Die erwähnten elementaren Inszenierungsverfahren, aus der Beobachtung von Vorgängen in der Bildtiefe beim Zuschauer Ahnungen und Vermutungen über künftige Geschehnisse zu entwickeln bzw. zunächst beim Publikum bestimmte Vermutungen zu schüren, die Belege dafür jedoch noch eine Weile verdeckt zu halten, finden sich heute eher selten an, haben sich aber im Prinzip erhalten. In TOPIO STIN OMICHLI (LANDSCHAFT IM NEBEL, 1988) von Theodoros Angelopoulos sorgt z. B. eine Sichtbarriere dafür, dass der Filmzuschauer, der zur Kenntnis nehmen musste, wie ein vierschrötiger Lastwagenfahrer die 12-jährige Heldin des Films auf einem Parkplatz hinter das Verdeck seines Laderaums drängte, um dort endlos lange bei ihr zu verbleiben, angesichts der grauen Plane nur schlimme Mutmaßungen anstellen kann, die sich dann leider bewahrheiten. Zu gestalterischen Differenzqualitäten mit einem hohem Innovationswert führen die Formen architektonisch gestaffelter Tiefeninszenierung, wie Peter Greenaway sie in seinem postmodernen Werk PROSPERO’S BOOKS (PROSPEROS BÜCHER, 1991) auf bravouröse Weise nutzt, um die Aufmerksamkeitsaktivitäten des Zuschauers zwischen verschiedenen Erscheinungen innerhalb des Bildausschnitts zu verlagern, die auf unterschiedlichen Bildebenen liegen. Im Ensemble der opulenten Formangebote, die Kameramann Sasha Vierny durch unentwegte Anleihen bei Stilen verschiedenster Zeiten und benachbarter Künste wie Architektur, Tanz, Oper und sogar Buchkultur vornimmt, nehmen Aufnahmen von theatergemäß choreographierten Abläufen einen wichtigen Platz ein. Als Ausgangspunkt für diese dient dort meist eine Totale, die in der offenkundigen Kulissenwelt symmetrisch auf einen zentralen Fluchtpunkt hin komponiert ist. Viele Einstellungen nutzen die Bildmitte als Zentrum. Und betont wird dieses Verfahren noch durch eine klare Staffelung des Bildraums, die jeweils dafür sorgt, dass ein zentraler Vorgang im Hintergrund durch einen anderen im Mittelgrund akzentuiert wird und einen Rahmen erhält, der wie ein Bilderrahmen angelegt ist, oder gar wie ein Versatzstück aus der Theaterwelt. Vorhänge, Säulen, Treppen, Balkone, Fensterkreuze – sie organisieren die Blickführung, schaffen Aus- und Einblicke für den Filmzuschauer. Manchmal sorgt eine Einstellung dafür, dass der Letztere bereits im Arrangement auf der Leinwand Schaulustige vorfindet, die die Vorhänge zur Seite raffen und auf das Spektakel im Bildzentrum blicken, wo auch er gerade hinschaut. Das gefilmte Geschehen erfährt mitunter mittels post-production eine zusätzliche Rahmung. Manchmal wird im Bildfeld noch ein Quadrat 97 Detaillierte Untersuchungen (vgl. Brewster / Jacobs 1997; Bordwell 1997; 2001, 43–53) haben gezeigt, mit welchem Raffinement bereits frühe Arbeiten wie Le Bargys L’ASSASSINAT DU DUC DE GUISE (DIE ERMORDUNG DES HERZOGS VON GUISE, 1908) oder Sjöströms INGEBORG HOLM (1913) Einzelheiten im Verhalten handlungstragender Figuren durch winzige inszenatorische Verschiebungen für den Zuschauer zeitweise verdeckt hielten, um sie zur rechten Zeit unvermutet zu enthüllen, dies mit beträchtlichen Konsequenzen für die Affekte des Zuschauers. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 477 ausgestanzt und über paint-box, HDTV, Computeranimation autonom gefüllt. Bilder im Bild werden erzeugt, vergleichbar den Wappen im Wappen einer construction en abyme. Die in diese Experimente einbezogenen Einstellungen sind selten statisch angelegt. Viele der Bilder zeigen unablässig Bewegung, etwa solche von Massenprozessionen und Defilees der kostümierten bzw. nackten Statisten. Und sie sorgen für einen bewegten Fokus, wenn die Kamera z. B. große Panoramen abschwenkt und an Massenszenen entlangfährt, deren Arrangements nach dem Muster des tableau vivant gestaltet sind. Deren Inszenierungsweise baut auf den Gestus manierierter, theatralisch verzögerter Bewegungen, die streckenweise eine „Ästhetik des Erhabenen“ wiederzubeleben suchen, was für die Postmoderne nicht untypisch ist. Die Differenzqualitäten der Form, die neben den erwähnten Verfahren der Bildgestaltung quasi alle verfügbaren Mittel des Mediums zum Einsatz kommen lassen, sind dank ihrer affektiven Felder für das Publikum in hohem Maße spürbar, wird ihm doch bei der Rezeption eine Art von Aufmerksamkeit abgefordert, welche zugleich melancholischen Gleichmut gegenüber dem Geschehen ins Spiel bringt. Psychologisch beschreibbar sind diese Reaktionen aber darum noch längst nicht. Hier sei dazu lediglich die Annahme formuliert, dass der Modus von Aufmerksamkeit, den die Tiefeninszenierung in der Regel vorbildet, sowohl durch jene psychische Funktionsweise bestimmt werden kann, die traditionellerweise als „fokussierte“ (focused) Aufmerksamkeit benannt wird, als auch durch eine andere, die man als „geteilte Aufmerksamkeit“ (divided attention) bezeichnet. Der Zuschauer, der mit einem heterogenen Feld von Reizangeboten in Gestalt unterschiedlicher Objekte, Personen und Ereignisse konfrontiert ist, wird bei seiner Selektionstätigkeit also mit der Option ausgestattet, jeweils auf verschiedenartige Weise vorzugehen. Vermutlich dürften die damit jeweils verbundenen Diskrepanzen auch Folgen für die affektiven Erregungen des Zuschauers haben. 16.5.1.2 Intensivierte Aufmerksamkeit durch Kamerabewegung Nach der Erfindung des Kinematographen blieben sowohl der Blickpunkt der Kamera als auch der vom Objektiv erfasste Handlungsraum mit seinem Reizangebot nicht lange statisch und unveränderlich. Bekannt sind ganz frühe Aufnahmen realer Ereignisse, die von einem fahrenden Zug aus gemacht wurden, wobei sich die Entfernung des Kamerastandpunkts zu den aufgenommenen Objekten, Aufnahmewinkel und Sichtachsen der Kamera veränderten. Diese Veränderungen, die meist mit einer Annäherung an das relevante Objekt bzw. das interessierende Geschehen verbunden waren, schienen den naiven Intentionen eines Betrachters zu entsprechen, der während seiner Aufmerksamkeitszuwendung sein Auge näher an das Objekt heranzuführen suchte. Sie blieben jedoch nicht darauf beschränkt, technische Kopien elementarer motorischer Aktivitäten zu liefern, die den gängigen Aufmerksamkeitsprozessen entsprachen, sondern sie erweiterten sich und differenzierten sich aus. Dabei stellte sich heraus, dass der sensible Umgang mit den Aufnahme-Apparaten Möglichkeiten der visuellen Darstellung erschloss, die als Resultate eigenständiger Kamerahandlungen in Erscheinung traten. 477 478 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit Eine Kamerafahrt bedeutet unter diesen Voraussetzungen nicht nur, sich einem Objekt bzw. einer Situation zu nähern oder diese zu begleiten und aus sinnvollem Abstand zu beobachten, sondern damit zugleich einen angemessenen bildhaften Ausdruck der Darstellungsobjekte in ihrem Handlungsraum zu finden. Im fiktionalen Film hat etwa das Grundverfahren der Wegfahrt diverse Ausarbeitungen erfahren, die den emotionalen Gehalt einzelner Passagen auf kunstvolle Weise zu steigern vermochten. Man denke etwa an die Szene aus HIGH NOON (vgl. 6), in der der Marshall vor sein Büro auf den menschenleeren Dorfplatz tritt und Zeuge wird, wie seine junge Frau und die frühere Geliebte mit einem Pferdegespann zum Bahnhof preschen, um die bedrohte Stadt mit dem Mittagszug zu verlassen. Nachdem die Frauen den Zug erreicht haben und sich ihr Weg mit dem des eintreffenden Banditen Miller kreuzt, der auf der Station von seinen Kumpanen begrüßt wird, zeigt die Kamera den Helden erneut, wie er allein auf dem staubhellen Platz steht. Aus der Obersicht, vom Kran aus in einer langen Wegfahrt gedreht, sieht man Kane dank der zunehmenden Aufnahme-Distanz, immer kleiner werden, vor einem kahlen Handlungsraum, der seine Einsamkeit unterstreicht. Dies in einem Ausdrucksbild, das für viele Zuschauer zum Schlüsselbild geraten dürfte. Um im Film eigenständige Kamerahandlungen zu nutzen, braucht es keine Kranfahrten, erst recht nicht derart kunstvolle. Denn im Grunde genommen ist ja jede Aufnahme mit einer solchen Handlung verbunden. Dem Außenstehenden fällt sie nur oft nicht auf. Im Zusammenhang mit analytischen Bestrebungen sei indes auf ihren obligaten Charakter hingewiesen. In jedem Falle von Filmbelichtung handelt es sich um eine Reizselektion im Dienste der Aufmerksamkeitslenkung – wenn schon mitunter auch um eine misslungene. Wie gesagt, haben sich im Verlaufe der Geschichte des Mediums die künstlerischtechnischen Verfahren und mit ihnen die Kamerahandlungen ständig entwickelt und ausdifferenziert (vgl. Arijon 1991; Salt 1992; Bordwell 1997; 2001). Und zwar derart, dass die Kamera bald eine nahezu totale Ubiquität erlangte und eine Haltung gegenüber dem Handlungsraum und den Objekten einnehmen konnte, die weit über jene Flexibilisierung der imaginären vierten Wand hinausging, wie sie dem Kino im Vergleich zum Theater gerne zugesprochen wird. Mit gutem Gewissen darf man diese Haltung nicht einmal als anthropomorph bezeichnen, da sie gelegentlich von Blickpunkten aus operiert, die nicht mehr denen des Menschen, sondern jenen der Vögel oder der Fische im Wasser bzw. imaginierten Wesen entsprechen. Aus technischer Perspektive sind die unterschiedlichen Kamerabewegungen relativ leicht überschaubar. Das filmische Handwerk hat sich die Variantenvielfalt souverän zu Eigen gemacht, und vor vielen einzelnen Arbeitsresultaten steht man voller Bewunderung. Welche psychologisch-ästhetische Funktion den technischen Verfahren dabei indes zukommt, können wir kaum belegen. In methodologischer Hinsicht ist aufschlussreich, dass man selbst bei einer Betrachtung so handfester und durch technische Parameter bestimmter Beziehungen wie des Kamerastandpunktes und der Sichtachsen nicht umhin kommt, auf einen Raum zu rekurrieren, der Eigenheiten des Imaginären an sich hat bzw. einschlägige Spekulationen herausfordert, sobald man sich anschickt, die Wahl des Blickpunktes etwa rational erklären zu wollen. Zwar geht es bei dieser Auswahl am Ende mit hoher Wahr- 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 479 scheinlichkeit um Prozesse der Aufmerksamkeit, die aber unter den genannten Prämissen nicht als Reaktion eines Individuums anzusehen ist, sondern eher als eine Art geistiger Instanz. Warum die Regie im konkreten Falle zu diesem oder einem anderen Blickpunkt greift, lässt sich oft ebenso schwer sachlich erklären wie die Kamera-Ubiquität als solche. Im Folgenden wird anhand einiger exzellenter Kamerahandlungen ein Modus von Aufmerksamkeitsprozessen beschrieben, der offenbar darauf beruht, dass die Kamerabewegung, die meist der räumlichen Verschiebung des Handlungszentrums folgt, nicht nur schlechthin eine Reizveränderung vor dem Objektiv erfasst, die für den Rezipienten zu Diskrepanzen und affektiven Erregungen führt, sondern dank der dabei vonstattengehenden Dynamisierung des Blickpunktes auf das Geschehen dieses Diskrepanz-Erleben noch zu steigern vermag, was vermutlich zu einer Intensivierung der Aufmerksamkeitsprozesse führt, die sich sogar empirisch nachweisen lässt. In King Vidors THE CROWD (1928) wird die Situation eines jungen Mannes, der aus der amerikanischen Provinz in die Metropole kam, durch eine eindrucksvolle Sequenz erlebbar gemacht, die sich auf lange Kamerafahrten stützt. Nachdem Bilder der von Menschenmassen überfüllten Großstadtstraßen zu sehen waren, fährt die Kamera vom Fuße eines Wolkenkratzers an dessen Fassade hoch bis zum 20. Stockwerk, um vor einem der Fenster zu verweilen und den Blick auf einen riesigen Büroraum freizugeben, worin in gleichmäßigen Abständen unzählige Schreibtische angeordnet sind, an denen jeweils Angestellte sitzen. In einer langen Fahrt nähert sich die Kamera dann einem Bürotisch, bis sie den Helden halbnah im Visier hat, so dass man ihm ins Gesicht blicken kann. Die Sequenz gipfelt dergestalt in einem Ausdrucksbild, das für die gesamte Filmhandlung stehen kann, für die der deutsche Verleih den Titel EIN MENSCH DER MASSE gefunden hat. Ins Karree der Büroeinrichtung gepresst, erscheint die Menschenmenge, die eben noch die überquellenden Straßen füllte, für einen Augenblick domestiziert, und die Kamerahandlung dokumentiert diese Situation. René Clairs früher Tonfilm SOUS LES TOITS DE PARIS (UNTER DEN DÄCHERN VON PARIS, 1930) exponiert das Milieu, in dem sich dann die zentrale Liebesgeschichte abspielt, über eine Sequenz von mehreren ausgiebigen Kamerafahrten, welche vom Blick auf die Dächer eines Arbeiterviertels mit seinen Schornsteinfluchten hinunter auf die Straße führen, wo Einwohner der Gegend beieinander stehen, um ein Chanson einzuüben, das ein Straßenmusikant ihnen vorsingt. Mit Beginn der zweiten Liedstrophe fährt die Kamera, die auf dem Sänger und seinem Publikum zur Ruhe gekommen war, parallel zu einer Hausfassade nach oben, wobei sie Stock für Stock auf die Balkone und in die Zimmer der Leute blickt, bis sie wieder das Dach erreicht hat. Der Szenenkomplex erzählt dann, wie ein Taschendieb während des Gesangs die arglosen Leute bestiehlt, was durchaus gegen den Willen des Sängers geschieht, der sein Publikum zu warnen sucht und besonders eine junge Dame vor dem Dieb beschützt, welcher, wie eine spätere Kamerabewegung an der Hausfassade abwärts belegt, unter dem Publikum ganze Arbeit geleistet hat, denn auf vielen Etagen beklagen sich seine Opfer im Familienkreis. Begleitet durch freundlichen Gesang führt die Kamerahandlung innerhalb dieses Szenenkomplexes zunächst in eine 479 480 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit ausgesprochene Idylle, bevor sich dort nach und nach verschiedenste Konfliktmomente erkennen lassen. Der Ufa-Film von Erik Charell DER KONGRESS TANZT (1931) enthält eine Passage, in der der Wiener Handschuhverkäuferin Christine, gespielt von Lilian Harvey, die Einladung des russischen Zaren überbracht wird, verbunden mit der Aufforderung, sogleich in eine wartende Kutsche einzusteigen, die sie in „ihre Villa“ bringen solle. Vor den Augen der staunenden Ladenmädchen besteigt Christine die Kutsche, die beschwingt eine Runde durch Wien dreht, wobei sie gemeinsam mit den begeisterten Passanten am Wegesrand „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder …“ singt. Die Kamera begleitet die Heldin dabei in langen durchgehenden Fahrten. Bereits die erste Einstellung dauert zweieinhalb Minuten. Die gegenüber der Kutschenfahrt häufig versetzte Kamerabewegung erlaubt es, sowohl die Protagonistin wie die gesamte Szenerie aus mehreren Blickwinkeln und damit viel plastischer wahrzunehmen. Für die Ästhetik der Kamerabewegung ergibt sich der erstaunliche Effekt, „dass wir das Gefühl haben, von der Erdenschwere, die die anderen Figuren herabzieht, losgelöst zu sein. Durch die Kamerabewegung können wir zu einer Art unsichtbarem Auge werden, das sich freischwebend bewegen kann, wohin es will. Sie verleiht uns Ubiquität, wie wir sie von der Montage kennen, aber das geschieht ohne die Abgehacktheit, ohne die abrupten Wechsel, die durch die Schnittfolgen entstehen“ (Bordwell 2001, 79). Die weit ausschwingende Bewegung der Kutschenfahrt ändert sich etwas, wenn die Heldin die Villa erreicht, verliert jedoch nicht an Intensität. Die Sequenz endet mit einer Reihe von übermütigen Sprüngen, die die junge Frau auf dem weiß umflorten Bett vollführt, das sie wie ein Trampolin nutzt. Die gesamte Passage, namentlich jedoch die erste Phase der Kutschfahrt, die die Heldin in einer überraschend neuen Situation zeigt, und dies mit musikalischer Untermalung, gehört sicher zu den populärsten des frühen deutschen Tonfilms. Und dies zweifellos aufgrund ihrer starken emotionalen Wirkung. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers richtet sich dabei weniger auf die zentrale Figur denn auf die körperliche Greifbarkeit einer völlig utopischen Situation, die von der Dynamik der Blickposition mitgetragen wird, welche die Kamerahandlung induziert. Alberto Lattuadas IL BANDITO (DER BANDIT, 1947) zeigt, wie ein italienischer Kriegsheimkehrer in seinem Heimatort eintrifft und begleitet von lauter amerikanischer Radiomusik die Straße zu seinem früheren Heim entlang kommt. An einer Stelle macht er halt und schaut in eine Lücke zwischen den Häusern. Die Kamera folgt seinem Blick und vollzieht dann unter dem Geplärre des Radios einen Schwenk nach rechts um 180 Grad. Zu sehen ist aber weiterhin nur die Häuserlücke, die Reste eines zerbombten und bereits abgetragenen Wohnhauses erkennen lässt. Während der amerikanische Schlager immer noch zu hören ist, dreht der Heimkehrer sich weg und betritt eines der erhaltenen Nachbargebäude, wo er sich gegenüber einer alten Frau als Freund ihres Sohnes zu erkennen gibt, der im Haus nebenan gewohnt hat. Der lange Schwenk dürfte hier ähnlich wirksam werden wie eine Kamerafahrt. Als er zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt ist, befinden sich Protagonist und Zuschauer in einer neuen Situation, die sie nicht erwartet haben. Sie sehen, dass es für den Ankömmling gar kein Zuhause mehr gibt. Ohne Zweifel schafft dies affektive Wirkungen beim Publikum, das mit Aufmerksamkeit dem weiteren 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 481 Schicksal des Protagonisten entgegensieht, welches, wie der Titel ahnen lässt, eine ungute Richtung nimmt. Ein anderer höchst bemerkenswerter Schwenk beendet eine Sequenz aus Vittorio de Sicas LADRI DI BICICLETTE (FAHRRADDIEBE, 1948). Als der Held des Films, der Arbeitslose Ricci, erfährt, dass er einen Job bekäme, wenn er noch im Besitze seines versetzten Fahrrades wäre, reißt seine Frau sogleich die Bettbezüge von den Kissen, um sie zur Pfandleihe zu bringen. Das Geld, das die Eheleute dort dafür erhalten, kann Ricci zum Nachbarschalter tragen, um sein Fahrrad auszulösen. Während er auf die Aushändigung des Rades wartet, sieht er, wie im Inneren der Halle ein Mitarbeiter der Pfandleihe das eben eingelieferte Bettwäschepaket zu verstauen sucht. Er muss dafür ein hohes Regal hinaufklettern, dessen Fächer bis oben hin mit ähnlichen Paketen vollgestopft sind. Erst auf der sechsten Etage kann der Mann das weiße Paket unterbringen. Ricci blickt ihm bei dem beschwerlichen Aufstieg nach, und die Kamera schwenkt dabei nach oben. Ihr gelingt das Ausdrucksbild einer Situation, das die prekäre soziale Lage der Menschen widerspiegelt. Unter Einsatz all ihrer Kräfte schaffen es die Protagonisten lediglich, das Loch auf der einen Seite mit Materialien zu stopfen, die ihnen auf der anderen fehlen werden, und sie teilen dieses Dilemma offenbar mit vielen anderen, deren Bettzeug sich ebenfalls auf dem Regal stapelt. In LETJAT SHURAVLI (DIE KRANICHE ZIEHEN,1957) aus der politischen „Tauwetter-Periode“ der Sowjetunion haben der georgische Regisseur Michail Kalatosow und sein russischer Kameramann Sergej Urussewski die Liebesgeschichte eines jungen Paares erzählt, das durch die Kriegsverhältnisse getrennt wird. Ihre ungewöhnliche Emotionalität verdanken die dargestellten Vorgänge nicht zuletzt der bewegten Kamera, deren Handlungen für ein sehr dynamisches affektives Feld sorgen. Als der junge Mann Boris sich nach dem Überfall der Hitlerwehrmacht zum Militärdienst meldet, erlauben es die Umstände dem Mädchen Veronika nicht, sich von ihm zu verabschieden. Eine lange Passage zeigt, wie sie zur Wohnung seiner Familie eilt, jedoch auf dem Wege durch fahrende Panzer aufgehalten wird, bis sie schließlich von Familienangehörigen den Stellplatz erfährt, an dem sich Boris einfinden sollte. Als sie den Platz endlich erreicht hat, ist dort eine Menschenmenge versammelt, denn zur Verabschiedung der Männer sind zahlreiche Angehörige, Freunde und Kollegen erschienen. Obwohl Boris nach ihr Ausschau hält und sie sich verzweifelt den Weg durch die Menge bahnt, findet Veronika ihn nicht, und als sie ihn endlich erblickt, hat sich seine Marschkolonne bereits unaufhaltsam in Bewegung gesetzt. Ihre Rufe erreichen Boris nicht, und die Kekse, die sie ihm zuwirft, werden unter den Stiefeln der Rekruten zermalmt. Die Kamera vollzieht die jeweiligen Anstrengungen der Hauptfiguren gleichsam mit. Gemeinsam mit diesen heftet sie ihren Blick auf die spannungsvolle Umgebung, die den Kriegsbeginn im Hinterland zeigt. Immer wieder wird das Tun der Helden behindert, selbst dort, wo das Geschehen überhaupt nicht feindselig, sondern nur unberechenbar ist. Als das Mädchen ihren Liebsten im Chaos nicht mehr erreichen kann, ist die individuelle Situation der Helden essenziell umgeschlagen in eine solche des Kriegserlebens. Eine der verblüffendsten Kamerafahrten, die zugleich unterschiedliche Lebenssituationen miteinander verknüpft, findet sich im Finale von Andrej Tarkowskis NOSTALGHIA (NOSTALGIE, 1983). Der russische Dichter Andrej Gortschakow, der im Exil ein liebe- 481 482 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit volles Verhältnis zur italienischen Architektur gewonnen hat, erleidet in einer riesigen Kirchenruine Italiens eine Art Ohnmacht. Im Traum war ihm immer wieder das Land seiner Kindheit erschienen, und plötzlich sehen wir ihn zusammen mit einem Hund vor einer Holzhütte sitzen, im Hintergrund Bäume, vor sich eine von Wasser überflutete Wiese, wie man sie dort nach der Schneeschmelze kennt. Es scheint, als sei der Held nun wieder in seine Heimat zurückgekehrt, da fährt die Kamera weiter zurück, und das nostalgische Bild von dem russischen Haus erweist sich als ein kulissenhaftes, künstliches Arrangement, das wie eine Insel in dem weiten Kirchenschiff steht, dessen hochragende Fensterbögen sich in dem vermeintlichen Schmelzwasser spiegeln. Der Tod in der italienischen Kirchenruine erscheint — wie diese selbst — als eine Schimäre, als ein Vorstellungsbild, das für einen Moment von einem noch stärkeren, weil durch Emotionen beladenen, verdrängt worden ist. All diesen Kamerahandlungen ist gemeinsam, dass sie geeignet sein dürften, Diskrepanzen im Erleben des Zuschauers zu schaffen, die sich unmittelbar an den Einsatz signifikanter Gestaltungsverfahren im visuellen Bereich binden, an Bewegungen der Kamera, namentlich an lange Fahrten oder Schwenks. Der Zuschauer spürt während dieser dynamischen Phasen stärkere affektive Erregungen, die mit einer Intensivierung seiner Aufmerksamkeit einhergehen. Die affektiven Felder ergeben sich dabei mitunter aus ästhetischen Differenzqualitäten innerhalb der jeweiligen Komposition, oft aus solchen innerhalb eines kulturellen Umfelds, in dem Kamerabewegungen solcher Art ungewöhnlich und innovativ waren. Entsprechend der hier formulierten Annahmen müssten sich die Affekte im Prinzip zwar empirisch über psychische bzw. physiologische Reaktionen nachweisen lassen, für die Konstruktion tragfähiger psychologischer Variablen sind indes noch weitere Arbeitsschritte nötig. Die skizzierten Beispielszenen mögen indes wenigstens methodische Ansatzpunkte für solche Aktivitäten veranschaulichen, die den wichtigen Zusammenhang zwischen Sinntendenz der Erzählung und visuellem Reizangebot betreffen. Im Hinblick auf künftige empirische Studien ist etwa denkbar, dass sich die Komplexität des Zusammenhanges zwischen narrativ und bildhaft organisierten Stimulusangeboten vor allem über das Zusammenwirken von endogener und exogener Aufmerksamkeitssteuerung erschließen lässt, um hier zwei von Posner (1980) vorgeschlagene komplementäre Mechanismen ins Spiel zu bringen: Die narrativen Strukturen und Abläufe, die sich auch an den erwähnten Bildsequenzen nachweisen ließen, sorgen im Aufmerksamkeitsprozess der Zuschauer für eine endogene, intentionale Orientierung. Gleichzeitig kommt es aufgrund der Kamerabeobachtungen von bildhaften lebensweltlichen Situationen und von Ausdruckverhalten der Figuren immer wieder zu einer exogenen, d. h. reizgetriggerten Orientierung über periphere Hinweisreize. Ein Standardwerk über Aufmerksamkeit fasst die Reaktionen summarisch: „Reflexive orienting is triggered and proceeds automatically, and if both reflexive and voluntary orienting mechanisms are pulling in the same direction they have an additive effect. However, if they are pulling in different directions, their effects are subtractive“ (Styles 1997, 66). In den erwähnten Beispielsequenzen für Kamerabewegung haben wir es vornehmlich mit Tendenzen für endogene und exogene Aufmerksamkeitssteuerung zu tun, die in die 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 483 nämliche inhaltliche Richtung gehen, was entsprechende Konsequenzen für die Sinnvermittlung haben dürfte. Es gibt indes in den meisten Fällen neben einer Veränderung des konkreten Handlungsraums auch einen qualitativen Wechsel der Lebenssphäre zu beobachten. Die Hinweisreize aus der Umgebung bereiten diesen Wechsel der Figurensituation kunstvoll über exogene Aufmerksamkeitsteuerung vor. Vielleicht begünstigen Detailbeobachtungen zu solchen oder ähnlich gearteten Gestaltungsphänomenen einen Anschluss an die Aufmerksamkeitsforschung. Im Hinblick auf die Kamerabewegung lässt sich notieren, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers dabei vermutlich durch mehrere Faktoren mitbestimmt werden kann, die jeweils für Erwartungsdiskrepanz sorgen: (1) die Veränderung des Reizangebotes innerhalb des dargestellten Bildausschnittes, die während jeglicher Kamerabewegung stattfindet, (2) die dynamische Veränderung der Blickrichtung auf die dargestellte Situation, die besonders bei der Kamerafahrt spürbar wird und (3) die inhaltlich bedingte Reizverschiebung beim Übergang zwischen zwei Situationen oder Handlungsräumen, welche für qualitativ verschiedene, vor allem kontrastierende Lebenssituationen oder -sphären stehen. Als möglicher Ansatzpunkt für eine psychologische Interpretation bietet sich die Dialektik von endogener und exogener Aufmerksamkeitssteuerung zwischen zentralem Handlungsgeschehen und ihrem Umfeld an. 16.5.1.3 Notiz zu Szenenaufgliederung (Découpage) und Plansequenz Filmische Situationen und Handlungen lassen sich in ihrer Kontinuität nur selten vollständig auf der Leinwand repräsentieren; in der Regel sind sie dafür zu lang oder zu verzweigt. Um die Tendenz eines Handlungsgeschehens zu erfassen, reichen indes meist bruchstückhafte Passagen aus, was in den Filmstudios zu einer Auswahl mit entsprechender Szenenaufgliederung führte, die bereits im Drehbuchstadium getroffen wurde. Der in Deutschland genutzte Terminus der „Szenen-Aufgliederung“ (oder: „Auflösung“) gilt als Äquivalent zum französischen découpage oder découpage technique. Zu diesem Ausdruck sei angemerkt, dass er keineswegs eindeutig ist, weil er nach Noël Burch (1973, 3f.) für drei Homonyme steht, kann er doch bedeuten: (1) eine Endfassung des Scripts (vergleichbar dem deutschen Drehbuch), (2) die mehr oder weniger präzise Aufgliederung der Erzählung in separate Einstellung und Sequenzen vor dem Drehprozess; und (3) das Arbeitsresultat, das durch eine Anpassung der im Drehprozess hergestellten Folge von räumlich und zeitlich determinierten Fragmenten entsteht und in seiner definitiven Dauer und Zusammensetzung erst am Schneidetisch zustande kommt. In dieser dritten, vor allem im französischen Sprachgebrauch üblichen Version, bezieht sich der Ausdruck découpage damit also auf die genaue Struktur der Endfassung. Damit gerät er in die Nähe des Montage-Begriffs. Beide Begriffsinhalte scheinen zu konvergieren, was leicht zu Verwirrungen führen kann. Wenn in diesem Buch, das sich durchweg mit Endfassungen der Filmproduktion befasst und sich im Folgekapitel explizit der Montage zuwendet, der Begriff der découpage dennoch 483 484 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit erscheint, dann vor allem deshalb, weil dies m. E. das Verständnis eines Spezialfalls von Szenenaufgliederung erleichtert, der im modernen Film an Bedeutung gewann, jedoch nicht die Grundeigenschaft der klassischen Montage erfüllt, Folgen mehreren Einstellungen zu umfassen. Gemeint ist die Plansequenz, die die aufgenommenen Geschehnisse jeweils in einer einzigen, nicht durch Schnitte unterbrochenen Einstellung zeigt. Dieses Phänomen, für das sich im Rahmen der gegenwärtigen Filmtheorie kein eindeutiger logischer Ort finden lässt, ist indes geeignet, Aufschlüsse über das Zusammenwirken von visuellen Formangeboten, affektiven Erregungen und Aufmerksamkeitszuwendung des Zuschauers zu geben. Obwohl die gestalterischen Besonderheiten der Plansequenz in einem gesonderten Kapitel noch genauer behandelt werden, seien gelegentlich der Szenen-Auflösung bereits erste Vermutungen geäußert, die den hier diskutierten Funktionszusammenhang betreffen. So zeigen Beobachtungen zur Wirkung vieler Plansequenzen, dass diese oft zwei oder mehrere Ereignisse heterogener Art enthalten, die durch starke Konfliktmomente gekennzeichnet sind, welche jeweils zu Diskrepanzen und affektiven Erregungen beim Zuschauer führen und so dessen Aufmerksamkeit intensivieren. Vorzugsweise geschieht dergleichen offenbar dann, wenn diese Ereignisse in einem unmittelbaren raumzeitlichen Zusammenhang auftreten, eben innerhalb derselben Kamera-Einstellung, und zudem auch inhaltlich zusammengehören, insofern sie auf die zentralen Sinnbildungsprozesse der Erzählung maßgeblich Einfluss nehmen. Eine konkrete Filmpassage mag dies etwas verdeutlichen. Sie stammt aus 4 LUNI, 3 SĂPTĂMȂNI ȘI 2 ZILE (4 MONATE, 3 WOCHEN, 2 Tage) (2007) des rumänischen Regisseurs Cristian Mungiu. Im Mittelpunkt des Filmgeschehens steht eine Abtreibung im Rumänien der Ceaușcescu-Diktatur. Die schwangere Studentin Gabita will den Eingriff, der unter hoher Strafe steht, durch einen Laien-Operateur in einem Hotelzimmer vornehmen lassen. Bei der Organisation der illegalen Unternehmung wird sie von Otilia, mit der sie das Internatszimmer des Studentenheims teilt, tatkräftig unterstützt. Als der Operateur feststellt, dass Gabita nicht, wie angekündigt im dritten, sondern bereits im vierten Monat schwanger ist, was im Falle einer Entdeckung für ihn ein weit höheres Strafmaß nach sich ziehen würde, verlangt er außer dem vorgesehenen Honorar, dass beide Frauen mit ihm schlafen, was diese auch tun. Nach dem unprofessionellen Eingriff, dessen Folgen für Gabita noch nicht absehbar sind, bleibt sie allein im Hotelzimmer zurück, während Otilia zu einer obligaten Familienfeier eilt. Die Mutter ihres Freundes hat Geburtstag, und das Mädchen sucht der allgemeinen Erwartung nachzukommen, neben ihrer angehenden Schwiegermutter einen Ehren-Platz am Esstisch einzunehmen. Während einer etwa sieben Minuten langen statischen Plansequenz, die mit der Handkamera gedreht ist und ein und denselben engen Handlungsausschnitt zeigt, der sich auf die frontal gegenüber sitzende Otilia sowie den seitlich von ihr platzierten Freund und dessen Eltern beschränkt, erlebt der Zuschauer zunächst, wie die junge Frau sich an das arglose familiäre Geschehen anzupassen sucht und ihr Verhalten den gesellschaftlichen Konventionen unterwirft, obwohl sie weiß, dass die Freundin im Hotel sie jetzt dringend nötig hätte. Als nebenan das Telefon klingelt, dessen Nummer sie Gabita für den Notfall gegeben hatte, bleibt sie indes auf ihrem Stuhl sitzen und lässt es wortlos geschehen, dass niemand aus der lärmenden Gesellschaft an den Apparat geht. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 485 Die lange Plansequenz sorgt beim Zuschauer für Emotionen, die aufgrund der erlebten Diskrepanzen im Figurenverhalten quälend und verstörend sein dürften. Die junge Frau wird als Opfer schlimmer Umstände gezeigt, die sie in Ohnmacht versetzt haben, jedoch auch dazu führen, dass sie selbst moralische Schuld auf sich lädt. Durch die gewählten visuellen Gestaltungsverfahren, die den Blick des Zuschauers die ganze Zeit unerbittlich auf die Protagonistin lenken, wird dessen Interesse zweifellos gesteigert und emotional intensiviert, was im Rahmen geteilter Aufmerksamkeit geschieht. Die lange Plansequenz fördert hier und an anderen Stellen des Films eine Sichtweise auf das Geschehen, die auch Konflikte intrapersonaler Art, wie die inneren Auseinandersetzungen von Otilia, verdeutlicht. Die beschriebene Szene fixiert das Bild einer Gesellschaft, in der äußere Restriktionen und Anpassungen des Einzelnen einander zuarbeiten und die Kräfte des Individuums lähmen. Gelegentlich seiner Suche nach Quellen für die affektiven Reaktionen der Zuschauer auf Besonderheiten der Kameraarbeit hat Thomas Schick (2015, 188) betont, dass die Anstrengungen der Bildgestaltung ohne die Konfliktfelder der Figuren gegenstandslos wären. „Letzten Endes wirken in dieser Szene stilistische Konflikte, interpersonale Konflikte und intrapersonale Konflikte zusammen, um eine besonders intensive affektive Erfahrung aufseiten der Zuschauer zu erzeugen.“ Hier sei hinzugefügt, dass die Plansequenz es gestattet, unterschiedliche konflikthafte Momente des Geschehens innerhalb der gleichen Einstellung montageartig aufzugliedern. Im russischen Sprachgebrauch gibt es dafür den anschaulichen Fach-Ausdruck der „innerbildlichen Montage“. Bevor die Bedingungen für die ästhetische Wirksamkeit der Plansequenz (in 18) genauer herausgearbeitet werden sollen, sei hier die Annahme vorausgeschickt, wonach diese Art der Szenenaufgliederung ihren ästhetischen Wert wesentlich daraus gewinnt, dass sie die Koinzidenz heterogener lebensweltlicher Handlungsfaktoren im nämlichen raumzeitlichen Zusammenhang über geteilte Aufmerksamkeitszuwendung darstellen kann, damit das Prinzip des Konflikts oder dialektischen Widerspruchs in die einzelne Einstellung zu tragen vermag, ohne es in Montage-Takes zu zergliedern. Selbstredend ergeben sich bei der Rezeption von Plansequenzen hinsichtlich ihrer kognitiven, emotiven und imaginativen Funktionsweise spezifische Bedingungen. 16.5.2 Optische Organisation des Bildfeldes: Datenmengen, informationelle Zugänglichkeit optischer Reizangebote, Onscreen vs. Offscreen Ging es im vorigen Abschnitt vornehmlich um den Zugriff der Kamera auf die dargebotene Situation innerhalb ihres konkreten Handlungsraums, so werden hier eher jene Faktoren fokussiert, die im engeren Sinne mit der optischen Organisation des Bildfeldes zusammenhängen und die Erkennbarkeit sowie das affektive und imaginative Potenzial des Reizangebotes beeinflussen, damit auch die Bedingungen und Strategien der Aufmerksamkeitslenkung. 485 486 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit 16.5.2.1 Organisation von Datenmengen im Bildfeld Sucht man sich den psychologisch-ästhetisch relevanten Wirkmomenten des Filmbildes theoretisch zu nähern, wird man sich der Tatsache stellen müssen, dass der Bildausschnitt nicht nur konkrete, mehr oder weniger erkennbare physische Objekte erfasst, sondern dies jeweils über Abbildungen mit eher piktorialen Qualitäten tut, die eine bestimmte Organisation der optisch wirksamen Datenmengen aufweisen. Diese Organisationsform macht sie unterscheidbar, woraus sich vermutlich differenzierende Faktoren für die Erlebens- und Aufmerksamkeitsprozesse des Bildes herleiten. Deleuze benannte zwei solcher Antinomien bzw. durch sie gegrenzte Spektren: Gesättigtes vs. verknapptes Bildfeld sowie Geometrisches vs. physikalisch-dynamisches Bildfeld.98 Diese Bestimmungen, die der Autor durch überzeugende Fallbeispiele stützt, dürften sich bei der Konstruktion psychologischer Variablen als nützlich erweisen. Der Zusammenhang zwischen den filmischen Sinnbildungsprozessen und diesen Abstraktionsformen optischer Reizangebote ist indes beim gegenwärtigen Materialstand der Forschung schwer herstellbar, so dass es nicht zweckmäßig scheint, diese Problemkreise hier zu behandeln. Selbst Charakteristika, die die Organisation des Bildfeldes in Abhängigkeit vom Objektcharakter betreffen wie: statisch vs. dynamisch flächig vs. plastisch undifferenziert vs. differenziert, erweisen sich momentan für den Modellansatz als ungeeignet, weil zu abstrakt. Sinnvoller scheint es, sich Aspekten zuzuwenden, die die Chance geben, von semantisch relevanten filmischen Strukturen zu modellhaften Beschreibungen vorzudringen, um beispielsweise differenziertere Aussagen über die jeweilige informationelle Zugänglichkeit von Reizangeboten machen zu können. 16.5.2.2 Informationelle Zugänglichkeit optischer Reizkonfigurationen So sorgen z. B. die filmtechnischen Mittel und Verfahren dafür, dass die von der Kamera erfassten Objekte, wozu auch ganze Situationen der Handlung gehören können, nicht nur 98 Nach Ansicht von Deleuze konstituiert das Bildfeld (cadre) ein Ensemble, „das aus einer Vielzahl von Teilen, das heißt Elementen besteht, die ihrerseits zu Sub-Ensembles gehören“ (1997, I, 27) Im Hinblick auf das erstgenannte Spektrum heißt es: „Das Bildfeld ist also nicht zu trennen von zwei Tendenzen: seiner Sättigung oder Verknappung. Besonders Breitwand und Schärfentiefe haben eine Vervielfachung unabhängiger Daten ermöglicht, derart, dass eine Nebenszene im Vordergrund erscheint, während sich die Hauptszene im Hintergrund abspielt (Wyler), oder Haupt- und Nebenszenen überhaupt nicht mehr zu unterscheiden sind (Altman).“Außerdem sei das „Bildfeld von jeher geometrisch oder physikalisch, je nachdem, ob es hinsichtlich bestimmter ausgewählter Koordinaten oder einer Auswahl von Variablen ein geschlossenes System darstellt. So wird das Bildfeld einmal als eine Raumkomposition aus Parallelen und Diagonalen aufgefasst, als Auffangvorrichtung, in der der Andrang der Bildmassen und -linien ein Gleichgewicht und deren Bewegungen einen festen Halt finden“ (28). 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 487 schlechthin im Bildfeld vorhanden und damit kommunikativ wirksam sind, sondern dank der ästhetischen Organisation des optischen Reizangebotes dies jeweils in sehr unterschiedlichem Grade gestatten. Bestimmte Gestaltungsverfahren stehen für informationelle Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit des relevanten optischen Reizangebotes, was zu einer Verstärkung oder Verringerung der Aufmerksamkeitsreaktion führen kann. Noël Burch hat in seiner „Theory of Film Practice“ ([1969] 1973, 51ff.) wichtige Eigenheiten dieses optischen Wirkungspotenzials unter dem Begriff der Legibility i. e. (Objekt-) Leserlichkeit zusammengefasst. Hierbei geht es um Teilaspekte von Bildwirkung wie: Schärfe vs. Unschärfe; Lange vs. kurze Verweildauer; Beleuchtetes vs. unbeleuchtetes Objekt (mit Spezialfall Gegenlicht); Normalsicht vs. optische Manipulation (Winkel, Filter etc.). Im Kontext mit dem übergreifenden Problem der Leserlichkeit des Filmbildes spielt etwa eine Rolle, ob ein Objekt auf der Leinwand in voller Schärfe sogleich sichtbar ist oder erst nach gewisser Zeit diese optische Qualität gewinnt und damit vom Zuschauer erst nach einer Verzögerung erkennbar wird. Dass für die Erfassung einer Reizkonfiguration auf der Leinwand eine gewisse Verweildauer derselben nötig ist, schafft ebenfalls vergleichbare Konsequenzen für die Wahrnehmung. Mit der Einführung von Breitwandverfahren stellte sich übrigens heraus, dass dort generell mit einer längeren Dauer der Präsentation gerechnet werden muss, um manche Erscheinungen für das Publikum „lesbar“ zu machen, was sich etwa an Resnais’ LETZTES JAHR IN MARIENBAD exemplifizieren lässt (vgl. Burch 1973, 52). Auf den ersten Blick trivial scheint der Hinweis, dass ein Vorgang, der beleuchtet ist, auf der Leinwand besser wahrgenommen und damit anders erlebt werden kann als ein solcher, der im Dunkel liegt. Zwischen den beiden Extremen liegt jedoch ein Feld von Übergängen, welches die Rolle der Beleuchtung als relevant und anspruchsvoll in ihrer Bewertung erscheinen lässt. Über die Dreharbeiten von Francis Ford Coppolas APOCALYPSE NOW (1979) ist etwa verlautbart, dass sie in einer sehr wichtigen Phase, nämlich während der Aufnahmen des Finales, allein von einer Entscheidung zur Lichtführung abhingen. Am Filmende gibt es eine Szene, in der der CIA-Agent Willard nach einem langem und gefahrvollen Anmarsch durch das Kriegsgebiet in Vietnam endlich dem gesuchten US-Colonel Kurtz gegenüber steht, den er beseitigen soll, weil er sich von seinen Befehlshabern abgewendet hatte, um in einem entlegenen Urwaldgebiet zu einer Art Dschungel-Imperator zu mutieren. Für die Begegnung der beiden Hauptfiguren war im Drehbuch ein Dialog vorgesehen, in dem Kurtz seinen Verfolger, der ihn wegen seiner früheren militärischen Glanzleistungen eigentlich rückhaltlos bewundert, heruntermacht und als armseligen Laufburschen beschimpft. Marlon Brando, dem höchst eigenwilligen Darsteller des Kurtz erschien diese Szene aber als nicht spielbar, er legte Protest ein, und das Schicksal des teuren Filmunternehmens stand auf der Kippe – bis der Kameramann Vittorio Storaro vorschlug, der Colonel solle zunächst aus der Finsternis seiner Erdbehausung heraus agieren und sprechen, um seine imposante Gestalt erst nach und nach, oft verdeckt durch die Schlagschatten der Bäume, 487 488 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit ins Licht zu setzen. In der Tat verlieh dieses Auftauchen aus der Dunkelheit dem Auftritt des Königspielers Brando dann einen unheimlichen, dämonischen Zug, was seine Konfrontation mit dem Gegner zu einer eindrucksvollen Filmszene werden ließ. Ein anderes kunstvolles Verfahren, die Beleuchtung der Hauptfiguren handlungswirksam zu variieren, findet sich in SEHNSUCHT, worin der Held und seine Ehefrau immer in vollem Licht agieren, die Szenen erotischer Annäherungen an die Geliebte indes stets im Halbdunkel stattfinden, so dass der Zuschauer ihren Inhalt erst über einen Wahrnehmungsakt erschließen kann, der ihm zusätzliche Anstrengungen abverlangt wie die Suche nach den wirklichen Motiven des konfus handelnden Protagonisten. Andere Verfahren, die informationelle Zugänglichkeit der abgebildeten Vorgänge zu variieren, also ihre Lesbarkeit künstlich zu verändern, können hier kaum gestreift werden. Dass es Unterschiede beim Erleben von Vorgängen oder Personen gibt, die man auf der Leinwand statt aus der Normalperspektive aus einem Kamerawinkel der Untersicht oder Draufsicht wahrnimmt, ist naheliegend; andere optische Manipulationen, wie sie etwa durch Filter oder gar Weichzeichner wie Vaseline vor dem Objektiv erzeugt werden, haben vergleichbare Folgen. Jene Techniken, die dazu dienen, Bildinhalte durch ihren unterschiedlichen Farbstatus – Schwarz/Weiß, Farbe oder monochrome Tönung – zu markieren, um sie bestimmten Gestaltungsebenen, etwa Zeitebenen oder mentalen Zuständen wie Erinnerungen oder Träumen, besser zuordnen zu können, verändern zwar nicht deren Leserlichkeit im engeren Sinne, wohl aber den Modus der Objektdarbietung, welcher die Haltung des Zuschauers gegenüber der dargestellten Situation verschiebt. Im Autorenfilm der 1960er Jahre war ein Effekt beliebt, der dazu diente, zentrale Figuren auf eine Weise vorzustellen, dass ihre Gesichtszüge anfangs unerkennbar blieben, weil ihr Kopf im Gegenlicht stand oder nur von der Rückseite zu sehen war wie die Heldinnen von Godards VIVRE SA VIE (DIE GESCHICHTE DER NANA S., 1962), WEEK END (WEEKEND, 1967) oder Fellinis GIULIETTA DEGLI SPIRITI (JULIA UND DIE GEISTER, 1965). Die informationelle Unzugänglichkeit der Gesichtszüge sorgte in diesen Fällen für eine merkwürdige Verrätselung der Figuren. Besonders in VIVRE SA VIE hat Godard damit Vorstellungsbilder und Projektionen beim Zuschauer hervorgebracht, die seine Hauptfigur, eine junge Verkäuferin aus Paris, dezent mystifizieren und als Persönlichkeit aufwerten. Als Nana etwa im Kino einen Film über die Jungfrau von Orleans sieht, liegt es für den Zuschauer nahe, die Unbekannte aus der Gegenwart mit der mythischen Gestalt zu vergleichen. Der chinesische Regisseur Zhang Yimou geht in DÀ HÓNGDENGLÓNG GAOGAO GUA (ROTE LATERNE, 1991) hinsichtlich der Mystifizierung der Hauptfigur noch weiter, wenn er den Mandarin, um dessen Macht-Intrigen und Affären es in dem Film geht, nie von vorn zeigt, so dass der Zuschauer ihn als Individuum wiedererkennen könnte. Man sieht nur seinen Rücken oder seine Gestalt undeutlich aus größerer Entfernung. Doch wenn er eine seiner vier Frauen besucht, wird vor deren Haus eine rote Laterne angezündet, die seine Existenz gleichsam illuminiert. 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 489 16.5.2.3 Geschlossene und offene Bildkonfiguration: Onscreen vs. Offscreen Seit der Erfindung des Kinematographen gibt es ein Grundverständnis der filmischen Darstellung, demzufolge es darauf ankommt, bestimmte Vorgänge auf der Leinwand deutlich sichtbar zu machen, um gegebenenfalls ganze visuelle Erzählungen zu formulieren. Diese Position scheint vernünftig und selbstverständlich. Das Kino soll etwas Bestimmtes zeigen, das ist sein Hauptgeschäft. Und diesem Grundsatz hat auch die Theorie zu genügen, zumal eine modellgestützte Erkenntnis mit ihm gut zurechtkommt. Danach bietet die profilmische Situation der Kamera ein konkretes Geschehen in einer bestimmten Umgebung dar, das durch die Kamera-Aufnahme eine neue raumzeitliche Bestimmung erhält, indem dort ein gerahmtes Bildfeld entsteht, ein cadre, das über die konkreten Vorgänge Auskunft gibt, weil es eben diese zeigt und wahrnehmbar macht. Das cadre aber ist nicht realisierbar ohne Begrenzungen, die das Angebot der profilmischen Geschehnisse in mancher Hinsicht verdecken und der Wahrnehmung entziehen. Bazin hat darum das Verständnis des cadre an das des cache gebunden, des „Verstecks“ für die nicht wahrnehmbare Umgebung der optisch fokussierten Handlung. Er hat damit die Aufmerksamkeit der Theorie auf das hors-champ gelenkt, auf das „Außerhalb des Bildfeldes“, welches in die visuelle Kommunikation den Modus des Off einführt. Überlegungen zu dieser anscheinenden Selbstverständlichkeit erweisen sich keineswegs als müßig. Denn die praktische Erfahrung belehrt darüber, dass es durchaus nicht von vorneherein feststeht, welche Vorgänge und Details vom Bildfeld überhaupt erfasst werden müssen. Außerdem ist problematisch, wann, über welchen Zeitraum und wie dies zu geschehen hat. Die Gedanken zum hors-champ erscheinen damit als berechtigt und notwendig. Burch hat diesen Problemkreis auf explizite Weisere reflektiert und seine Annahmen anhand einer Reihe von Beispielen aus dem Œuvre von Renoir, Bresson, Antonioni, Ozu und anderen belegt, besonders umfassend und sorgsam an Renoirs NANA (1926), worin es statische Halbnahaufnahmen gibt, deren Bildrand den Figuren häufig die Gliedmaßen und sogar den Kopf abschneidet (vgl. Burch 1981, 28f.). Viele dieser theoretischen Überlegungen finden Rückhalt bei Argumenten des gesunden Menschenverstandes, der einem nahe legt, diverse Details einer profilmischen Situation schon darum im Off zu belassen und damit zu ignorieren, weil ihre Kenntnis für das Verständnis der Erzählung völlig unerheblich ist, oder aber, weil es sich für den Zuschauer von selbst versteht, was in diesem Moment jenseits des Bildrahmens geschieht. Hierzu sei an die Exposition aus Aki Kaurismäkis ARIEL erinnert, worin der entlassene Bergmann Taisto in der Kneipe Zeuge wird, wie sein früherer Vorgesetzter am Ende eines Statements, das die Aussichtslosigkeit der sozialen Lage beschreibt, eine Pistole entsichert und in die angrenzende Toilette geht. Nachdem der Held das Geräusch eines Schusses vernommen hat, folgt er dem anderen und blickt nach unten auf den Boden. Die Kamera verzichtet aber darauf, den Toten zu zeigen. Auf der Leinwand ist nach dem Schnitt vielmehr eine graue Winterlandschaft zu sehen. Taisto hat sie vor Augen, als er in der nächsten Einstellung beim Kofferpacken aus dem Fenster seiner Unterkunft blickt. 489 490 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit Die Informationsvergabe sorgt hier dafür, dass es für den Zuschauer keinen Zweifel über den Tod des Steigers geben kann, der nun schon zur Vergangenheit gehört. Das Suizidopfer hier nicht zu zeigen, geht auf eine künstlerische Entscheidung der Filmemacher zurück. Das Mainstream-Kino hätte kaum darauf verzichtet, sicherheitshalber auch das Selbstverständliche noch ins Bild zu rücken. Objektive Kriterien für diese Entlastung des Bildfeldes sind indes schwer auszumachen, und dies gilt besonders für den Umgang mit zweitrangigen Details einer Situation. Außer der eher pragmatischen Grundsatzentscheidung, bestimmte Objekte, Figuren oder Vorgänge auf der Leinwand zu zeigen oder sie eindeutig in das Off zu verweisen, gibt es eine Vielzahl von Zwischenlösungen. In manchen Fällen scheint es etwa von Belang, ob das Umfeld einer abgebildeten Szene trotz seiner peripheren Bedeutung für den Zuschauer erfahrbar ist, auch, wie und wann dies geschieht. Dies, weil sich etwa gerade aus dem Nichtwissen um dieses Umfeld eine gewisse Verrätselung der gezeigten zentralen Situation ergibt, die mitunter für das Erleben des Gesamtvorganges beträchtliche Konsequenzen nach sich zieht. Manchmal sind gerade die Spannungen, die sich aus der unüblichen Kadrierung ergeben, für die Aufmerksamkeitsprozesse des Zuschauers wichtig. Moderne und Postmoderne des Kinos haben eine Vielfalt von Differenzqualitäten solcher Art angeboten. Diese Normabweichungen sind nicht als alleinstehende Attraktionen zu verstehen, sondern ihre innovativen Momente sind in der Regel durch die Handlung des Films motiviert und korrespondieren eng mit anderen Bereichen des gesamten Stilsystems eines Werkes bzw. eines Œuvres oder einer ganzen Stilgruppe. Von der Funktion der „abgeschnittenen Köpfe“ der Figuren in Pudowkins DIE LETZTEN TAGE VON ST. PETERSBURG war schon die Rede. In anderen Handlungszusammenhängen kann eine analoge KadrierungsVariante eine davon sehr abweichende inhaltliche und emotionale Rolle spielen. In O MELOSSOKOMOS (DER BIENENZÜCHTER,1986) von Angelopoulos etwa wird erzählt, wie ein pensionierter Lehrer den jährlich praktizierten Brauch, seine Bienenstöcke an einen blumenreichen Ort zu fahren, als Vorwand für eine längere Reise an wichtige Orte seiner Biographie nutzt, mit der er sich dann gleichsam vom Leben verabschiedet. Unterwegs läuft ihm eine junge Tramperin zu, die ihn fortan begleitet. Sie nutzt den alten Mann auf kameradschaftliche Weise aus und leistet es sich sogar, in das gemeinsame Hotelzimmer Liebhaber mitzubringen. Gegen Ende der Reise übernachtet der Hauptprotagonist in einem ehemaligen Kinotheater, das einmal seinem Vater gehörte, und er richtet auf der Bühne unter der leeren Leinwand seinen Schlafplatz ein. Das Mädchen bettet sich neben ihn. Sie tut dies völlig nackt, und die Kameraführung von Arwinitis verzichtet während der ganzen Szene darauf, ihren Kopf ins Bildfeld zu nehmen. Zelebriert wird dort ein Abschied vom Leben, und für das notwendige Ausdrucksbild von Sex wird das Gesicht der Frau offenbar als bedeutungslos angesehen. In den meisten Fällen verläuft die Amputation einer gängigen Formgestalt durch die Kadrierung nicht so radikal. Wie Christian Mikunda (1986, 110) schreibt, werden die Objekte meist „vom Bildrand gewissermaßen angeschnitten. Bei ästhetisch geschickter Handhabung entstehen dadurch in unserem Wahrnehmungssystem Impulse zur Ergänzung der Form, woraus sich die visuelle Spannung des Bildes erklärt.“ Der Autor demonstriert 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 491 am Beispiel der schon mehrfach erwähnten Passage aus HIGH NOON, in der der Sheriff sich auf das Duell mit den Banditen vorbereitet, dass dort etliche Einstellungen angeschnittener Formen, darunter Großaufnahmen von Gesichtern, vorkommen (vgl. 109f.). In einer dringe der Bildrand etwa tief in die Gesichtsform der drei wartenden Banditen vor. In einer anderen ist die Rundung des Haaransatzes in einem Porträt von Kanes junger Frau angeschnitten, in einer dritten oben und unten das runde Zifferblatt der Uhr, deren Zeiger kurz vor Zwölf stehen. Das Anschneiden sei in Hollywood übrigens ein fixer Bestandteil von extremen Großaufnahmen, den so genannten choker close-ups (vgl. ibid.). In welchem Maße das Verfahren in HIGH NOON vor diesem kulturellen Hintergrund noch eine Diskrepanz bedeutete, ist schwer abzuschätzen. Dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers über die genannte Passage eine extreme Intensivierung erfährt, dürfte indes unbestritten sein. In jedem Falle ist es wichtig, welche Beziehung das, was man als Zuschauer im Bildfeld sieht oder nicht sehen kann, für das Verständnis der Handlung und die Entwicklung der Konfliktsituation hat. Dazu gehört in der Regel eine genauere Kenntnis der Hauptfiguren, weil von deren Handlungspotenzial der Verlauf des Geschehens weitgehend abhängt. In Steven Spielbergs Debütfilm DUEL (DUELL, 1971) geschieht es, dass ein Geschäftsmann es besonders eilig hat, mit seinem Auto voranzukommen, weil er zwei Terminabsprachen einhalten möchte. Auf dem Highway überholt er einen großen Lastwagen, dessen Fahrer ihm dies aber offenbar so verübelt, dass er ihn mit aller Brutalität in ein Duell auf Leben und Tod verwickelt, welches das gesamte Filmgeschehen über andauert. Weder der Geschäftsmann noch der Zuschauer bekommt den Angreifer jemals richtig zu Gesicht. Hinter den Sichtbarrieren, die das Fahrzeug ihm bietet, sind hin und wieder lediglich die gestiefelten Beine des anderen oder seine Hände am Lenkrad zu erkennen, in Form von Ausdrucks- oder Symbolbildern, die für die gesichtslose Bedrohung stehen, welche den Menschen der modernen Gesellschaft unverhofft heimsucht. Ein besonderer Umgang mit dem Bildfeld manifestiert sich in dem spezifischen Verhältnis zur Leere desselben, genauer, zur zeitweiligen Abwesenheit einer aktiven physischen Handlung der Figuren im cadre oder gar dieser Handlungsträger selbst. Fabienne Liptay (2006) hat in einem Aufsatz über dieses Kino-Phänomen Wolfgang Isers Begriff der „Leerstelle“ verwendet, um zahlreiche Beispiele und Gestaltungsvarianten zu beschreiben und auch darauf hinzuweisen, dass die Auffüllung dieser so genannten Leerstellen „nicht ins Belieben des Rezipienten gestellt sei, sondern nach Anweisungen des Textes erfolge“ (Liptay 2006, 109). Zu den Aufgaben der Filmpsychologie dürfte es gehören, die Anweisungen der filmischen Rezeptionsvorgabe zu entschlüsseln, auch was die Affizierung von Vorstellungsaktivitäten betrifft. Als typischer Vertreter dieses Gestaltungsverfahrens, das die Handlung quasi temporär ins Off zu verlegen scheint, gilt der japanische Regisseur Yaujiro Ozu. Seine Arbeiten greifen so häufig darauf zurück, dass man versucht ist, diese Verschiebung als unverzichtbares Merkmal seines Personalstils anzusehen. Donald Richie notiert über Ozus Filme: „Die Szene beginnt oft mit dem leeren Raum. Dann kommt jemand herein. Dann, wenn ein Element der Erzählung es verlangt, kommt jemand dazu. Dann wird etwas gesagt oder getan, was 491 492 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit nötig ist, um die Erzählung voranzutreiben. Dann geht der eine. Dann vielleicht auch der andere. Die Kamera bleibt im Raum. Normalerweise, unter der Sklaverei des Handlungsablaufs, müsste die Szene spätestens jetzt beendet werden. Bei Ozu ist das anders. Die Kamera läuft weiter, es entsteht eine Leere des Raums, eine Leere der Zeit, und plötzlich sind wir befreit von der Bürde einer Erzählung oder eines Handlungsablaufs. Wir merken, dass Leben mehr bedeutet als das, was als nächstes passiert. Eigentlich denken wir nicht daran, während wir den Film sehen, aber sicherlich beeinflusst dies unser Sehen“ (Richie 1997, 154). Das akzentuierte Verfahren der Bildgestaltung ist eng mit anderen Kunstmitteln verbunden, die den Stil des Werks und des Regisseurs prägen.99 Der auch in Japan höchst seltene Kamera-Standpunkt der Ozu-Filme, dessen ObjektivHöhe knapp einen Meter beträgt, was nicht der gängigen anthropomorphen Kamerasicht entspricht, sondern etwa der Position nahekommt, in der ein japanischer Gastgeber und sein Gast sich auf Tatami-Matten kniend gegenübersitzen, bricht ähnlich wie die anderen benannten Gestaltungsmomente mit den goldenen Regeln des Regie-Handwerks. Dem Japaner suggeriert er vermutlich die Haltung, die der Teilnehmer einer höflichen traditionsbewussten Konversation einnimmt, auf jeden Fall scheint er beim Zuschauer aber eine besondere Rezeptionsweise zu befördern, die durch einen ungewöhnlichen Modus von Aufmerksamkeitslenkung geprägt ist. Welche konkreten gestalterischen Faktoren als Hauptursache für eine derart subtile Zuschauerdisposition anzusehen sind, lässt sich gegenwärtig kaum beantworten, es ist jedoch anzunehmen, dass die „leeren“ Einstellungen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Beobachtungen an europäischen Filmen wie SANS TOIT NI LOI (VOGELFREI, 1985) von Agnès Varda stützen eine solche Hypothese. Auch in dieser Filmgeschichte, die Ausschnitte aus dem Leben einer jungen französischen Tramperin zeigt, geht es um die differenzierte Bewertung menschlicher Grundhaltungen. Die sympathische Heldin, die sich als Aussteigerin aus der westlichen Gesellschaft begreift, ist innerhalb der gesamten Filmhandlung unablässig präsent. Dies jedoch nicht immer über ihre unmittelbare physische Aktion, sondern auch in den Erinnerungen und gedanklichen Reflektionen anderer Menschen, die ihren Weg kreuzten. Zeitweilig drängen die Interviews mit diesen Zeugen ihrer Vita die Hauptfigur sozusagen dramaturgisch ins Off. Häufig kommt es aber auch vor, dass der Kamerablick auf einem menschenleeren Stück der kargen südfranzösischen Landschaft ruht, bis dann die Tramperin ins Bild kommt, die dort unterwegs ist. Das dramaturgische Off wird hier durch ein solches ergänzt, das über die Kamerahandlung organisiert ist. Dies übrigens nicht nur vor, sondern auch nach dem On-screen der Figur; manchmal verlässt die Protagonistin einen Handlungsort, und die Kamera zeigt diesen 99 „Ozus Stil ist das Ergebnis einer einzigartigen Vereinfachung und Reduzierung der Mittel, die das Äußere, die Struktur und den Geschmack des Films bestimmen: seine Aura./ Diese Vereinfachung umfasst die folgenden Elemente: einen festen Kamerastandpunkt, eine fast konstante Unbeweglichkeit der Kamera, eine gleichförmige Struktur der Szenen und Sequenzen, ein scheinbar unveränderliches Tempo, ein gleich bleibendes visuelles Interpunktions-System und im allgemeinen sehr ähnliche Themenstellungen“ (Richie 1997, 145). 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 493 noch eine ganze Weile ohne sie. Innerhalb der Handlung schaffen diese Momente der Leere eine Pause. Diese bietet Gelegenheit zur Formierung psychischer Reaktionen, etwa solchen affektiver Art, doch auch für Reflexionen oder Vorstellungen. Gegenüber der Figur und ihren Handlungen entsteht dabei eine gewisse Distanz, die aber nicht zu gleichmütiger Kontemplation führt, sondern eher den Modus der Aufmerksamkeit so verändert, dass man sich als Zuschauer der Protagonistin näher fühlt, sie mit zunehmendem Interesse und anhaltender Empathie sieht. Innerhalb eines Geschehens, das über weite Strecken eine physische Handlung bietet, die eher auf subtilen Verhaltensweisen denn starken Aktionen beruht, sind diese Passagen mit verknappter Bildinformation Orte, die Freiräume für Vorstellungsaktivitäten schaffen, welche bei der Interpretation der unmerklichen Ereignisse hilfreich sind. In Wong Kar-Wais IN THE MOOD FOR LOVE, dessen Komposition hier schon mehrfach zur Debatte stand, sorgt der Autorregisseur nicht nur dafür, dass die treulosen Ehepartner der Hauptfiguren gleichsam ins Off gedrängt werden, indem sie nie als Personen zu erkennen sind, weil statt ihrer Gesichter bestenfalls Hinterkopf oder Rücken im Bild erscheinen. Es finden sich nach Ansicht von Kayo Adachi-Rabe (2005, 186), die auf die starke Präsenz des Liebespaares in Nahaufnahme hinweist, darin zudem unzählige Passagen, die „eine komplexe Form der Abwesenheit im Film erzeugen“, begünstigt durch das Breitwandformat, schließe doch die Nahaufnahme im Breitwandbild ihre Umgebung, vor allem den oberen und unteren Teil der Szene, explizit in den hors-champ aus, so dass auf der Leinwand ständig „leere“ Stellen entstünden, die nicht durch die handelnden Figuren besetzt werden. Ein besonderes Spiel mit dem Off wird in jener Szene lanciert, in der die Radio-Botschaft von Mr. Chan aus Japan eintrifft, der seiner Frau ein Lied zum Geburtstag widmen möchte.100 Im Umfeld von stark konturierten Vorgängen, ja, ausgesprochen harten Szenen, gewinnen Einstellungen mit verknappter Bildinformation manchmal den Charakter von „Nullbildern“, um hier einen Ausdruck des von Liptay zitierten Kameramanns Michael Ballhaus (2003, 54) zu übernehmen. Gemeint ist ein Bild, „das nicht ablenkt und wo sich deshalb die Fantasie ganz und gar auf die Situation konzentrieren und gleichzeitig entfalten kann.“ Ballhaus bezieht sich dabei auf eine Einstellung aus dem Film MARTHA (1974), den er für Rainer Werner Fassbinder fotografiert hat. Zu sehen ist darauf das blaugrüne Meer, wie es sich dem Fensterblick aus dem Hotel erschließt. Das neutrale Bild beendet einen Schwenk, der einer Szene im Hotelzimmer folgt. Darin hat Marthas Ehemann sie gerade mit Gewalt genommen, als sie nach einem Sonnenbrand fiebernd und mit knall- 100 „Ein süßliches Schlagerlied ertönt. In einer Totalen sitzt Mrs. Chan auf einem Stuhl und lehnt nachdenklich an der Wand der Küche. Sie denkt aber keinesfalls an ihren Mann im fernen Off, sondern an den Nachbarn im relativen Off. Die Kamera schwenkt nach links, wobei sie durch die Wand zwischen den beiden Wohnungen durchgeht, so dass eine von Francesco Casetti so genannte ›irreale objektive Ansicht‹ praktiziert wird. An der anderen Seite der Wand sitzt Mr. Chow mit dem Reiskocher auf dem Schoß genauso in Gedanken versunken. Die Liebenden können die Präsenz des anderen im hors-champ genießen, auch wenn sie füreinander nicht sichtbar sind“ (Adachi-Rabe 2005, 190). 493 494 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit roter Haut auf dem Bett Kühlung suchte. Indem das Rauschen des Meeres ihre Klagelaute übertönt, gibt es den Vorstellungen, die der Zuschauer aus dem Nullbild gewinnt, eine bestimmte emotionale Richtung. Ein „Nullbild“ mit anderer emotionaler Konsequenz ist die erwähnte Einstellung der grauen Winterlandschaft nach der Selbstmordszene in Kaurismäkis ARIEL (vgl. 3.2.1). Im Zusammenhang mit dem Finale von DAS LEBEN IST SCHÖN wurde eine Einstellung beschrieben, die sich nach dem turbulenten Wechsel von komischem Defilee des Hauptprotagonisten vor den Augen seines versteckten Sohnes, seiner tragischen Erschießung in letzter Minute und der Flucht der Lagerwachen angesichts der anrückenden US-Armee ereignet. Man blickt auf den Hof, der lange still und menschenleer ist. Auch dies ist wohl ein „Nullbild“ im Sinne von Ballhaus. Erst nach und nach füllt es sich mit befreiten Häftlingen, die offenbar zum Ausgang wandern und damit eine neue Phase von Handlung, Problemlösung und emotionaler Grundtendenz einleiten. Hier wurden einige Szenen angeführt, die deutlich werden lassen, dass der Umgang mit dem Bildrahmen sich nicht darauf beschränkt, das Kerngeschehen einer filmischen Situation mit der Kamera „einzufangen“, sondern dass er für den künstlerischen Ausdruck der Szene immense Wichtigkeit erlangen kann. Die bewusste Herstellung entsprechender Effekte, darunter krasser Anomalien, wird als Dekadrierung (décadrage) bezeichnet, womit zugleich ein Prinzip benannt ist, welches die Spannung zwischen Sichtbarem und Nicht-Sichtbaren bezeichnet und im modernen Film als Gestaltungsmittel Bedeutung erlangt hat (vgl. Bonitzer 1978; 78–85; Deleuze 1997,I, 31; Adachi-Rabe 2005, 97–103). Ähnlich wie sich für die Cinéasten der souveräne Umgang mit den unterschiedlichen Einstellungsgrößen erst über experimentelle Anstrengungen und Gewöhnungsprozesse herstellte, steht auch hinter der künstlerischen Verwendung des cache kein Automatismus. Vielmehr brauchte es einen längeren kulturellen Lernprozess für Filmemacher und Publikum, um die Dialektik von Onscreen und Offscreen zu meistern.101 Die Autorin erwähnt in ihrer Dissertation übrigens mehrfach, welche Bedeutung die Einführung des Tonfilms für den Prozess des Nachdenkens über das hors-champ hatte. In der Tat spielt es für die Erkundung der Situation außerhalb des Bildes oft eine große 101 Theoriehistorische Untersuchungen machen deutlich, dass sich die allgemeine Sicht auf das neue Medium, das solche Möglichkeiten nutzte, zeitweilig änderte. So zeigt Kayo Adachi-Rabe (2005, 8f.). dass das hors-champ schon vor seiner expliziten Erwähnung durch André Bazin und Noël Burch bereits für die klassischen Theorien von Balázs, Eisenstein, Arnheim und Kracauer ein zentrales Thema darstellte. Diese so genannte erste Generation der Theorie des hors-champ wurde von ihr als „Theorie der Sichtbarkeit“ bezeichnet, „da sie danach strebte, die Identität der Filmkunst als ›sichtbare Kunst‹ zu etablieren. […] Die oben genannten Theoretiker nahmen den Rahmen der Filmeinstellung zunächst als Grenze der visuellen Darstellung des Films wahr, wiesen aber zugleich auf die Möglichkeit hin, diesen als Stilmittel zu nutzen. […] Bazin, Burch und Jean-Pierre Oudart sind die Protagonisten einer zweiten Generation der Theorie des horschamp, die im Kontrast zur vorangegangenen […] als ›Theorie der Nicht-Sichtbarkeit‹ bezeichnet wird. Sie unterscheidet sich von der älteren Theorie dadurch, dass sie die Nicht-Sichtbarkeit dezidiert als Potenzial der filmischen Darstellung affirmiert.“ 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit 495 Rolle, ob der Zuschauer nun Hinweise akustischer Art über dieselbe erhält oder schon aus technischen Gründen ohne dergleichen auskommen muss. Hier kann auf die spezifischen asymmetrisch und komplementär angelegten Wahrnehmungsprozesse nicht weiter eingegangen werden. Die (in 15.4) angesprochenen cross-modalen Wahrnehmungsprozesse verweisen aber zugleich auf ein epistemologisches Grundproblem: Auch die informationelle Aneignung der kadrierten Film-Situationen erfolgt offensichtlich im Rahmen einer ökologischen Wahrnehmung, allerdings einer solchen, die das artifizielle Reizmaterial auf eine komplexe reale Lebenswelt bezieht, welche auch eine Komponente der geistigen Kultur umfasst. Für den Umgang mit diesem Reizangebot spielt niemals nur eine Rolle, was der Zuschauer gerade aktuell auf der Leinwand sieht, sondern ebenso das, was er über Vorgänge dieser oder ähnlicher Art weiß bzw. sich aufgrund eigener und kollektiver kultureller Erfahrungen vorzustellen vermag. Gedächtnisinhalte und Wissensbestände über die reale Welt sowie die der kulturellen Fiktionen werden dabei aktiviert, so dass sie auch helfen, das Umfeld jenseits des Bildrahmens zu definieren. Um es ein wenig zu trivialisieren: Den weißen Hai in dem bekannten Film JAWS (DER WEISSE HAI, 1975) von Steven Spielberg bekommt der Zuschauer nur wenige Male auf der Leinwand zu sehen, und dies auch nie sehr lange, doch bleibt er stets gegenwärtig, und das Erlebnis der Bedrohung, das seine Existenz in den Vorstellungen des Publikums schafft, hält zumindest während der Laufzeit des ganzen Films vor. Obwohl all diese Aussagen keinen Zweifel darüber lassen, dass die konkrete Dialektik von On- und Offscreen dem Zuschauer (und vor ihm dem Filmemacher) stets psychische Aktivitäten auf der Ebene der Imagination abverlangt und ohne einen wissenschaftlichen Rekurs auf diese eigentlich nicht beurteilbar ist, haben die bisherigen theoretischen Anstrengungen leider wenig dazu beitragen können, die spezifische Rolle zu erhellen, die die menschlichen Vorstellungen im Schaffens- und Erlebensprozess dieser Kameraphänomene spielen. Entsprechend nachdrücklich ist die Herausforderung, den Problemkreis der Imagination in die filmpsychologische Analyse einzubeziehen. Die Existenz und zunehmende Anwendung von Dekadrierungsphänomenen, die neben dem Inhalt des Bildfeldes (on-screen) auch das Umfeld des Bildrahmens (off-screen) für den ästhetischen Erlebensprozess nutzen, verweist auf die Notwendigkeit, die damit verbundenen mentalen Aktivitäten des Zuschauers bei der Analyse zu berücksichtigen. Statt die Wahrnehmung eines relevanten Geschehens vor allem über dessen optimale visuelle Zugänglichkeit im Bildfeld sicherzustellen, sorgt eine Dekadrierung des gängigen Reizangebotes durch explizit eingesetzte Anomalien beim Zuschauer nicht nur für Diskrepanzen, die mit affektiven Erregungen verbunden sind, sondern sie verlangt ihm auch zusätzliche Vorstellungsaktivitäten ab. 495 496 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit 16.6 Mögliche Untersuchungsansätze für die Analyse von Bildwirkungen 16.6 Mögliche Untersuchungsansätze für die Analyse von Bildwirkungen Obwohl es ein starkes Interesse an den Wirkungen des Film-Bildes gibt, ist es gegenwärtig schwierig, psychologische Aussagen über sie zu machen, nicht zuletzt darum, weil dergleichen stets eine Einbeziehung der visuellen Effekte in die kunstsemantischen Gesamtprozesse des gesamten Filmwerks nötig macht. Ein Verfahren, das es erleichtern dürfte, zumindest bei der hermeneutischen Analyse den Verlauf der Erzählung mit ihrer Sinntendenz im Auge zu behalten, besteht im permanenten Rekurs auf die Konfliktentwicklung, weil über deren jeweilige Stationen die Sinnvermittlung des Ganzen am deutlichsten zutage tritt. Generell erscheint es als sinnvoll, Wirkungen der Bild-Gestaltung, wie sie im Rahmen von Kamerahandlungen entstehen, auf Erkenntnisse der Aufmerksamkeitspsychologie zu beziehen, schafft doch bereits die Festlegung des Bildfeldes im Zuge der Kadrierung eine Grundvoraussetzung für die Selektionsfunktion der Aufmerksamkeit. Dass die Aufmerksamkeitsprozesse des Filmerlebens dabei nicht nur unter ihrem kognitiven Aspekt betrachtet werden sollten, sondern auch im Hinblick auf ihre emotive und imaginative Dimension zu sehen sind, liegt auf der Hand. Eine Film-Einstellung macht den Zuschauer ja nicht nur darauf aufmerksam, welche Momente aus der Lebenssituation auszuwählen sind, sie sorgt zugleich auch für eine Intensivierung seiner Affekte und eine Ausrichtung seiner Vorstellungsaktivitäten. Für eine kognitive Beschreibung der filmischen Einstellung empfiehlt es sich, dem dreistufigen Schema des PKS-Modells folgend, eine Zuordnung des Reizangebotes zum (1) Tatsachen-, (2) Ausdrucks- oder (3) Symbolbild vorzunehmen, lassen sich doch die strukturellen und funktionalen Unterschiede zwischen den jeweiligen Bildauffassungen meist empirisch nachweisen. Theoretisch gesehen, sollten sich auch Annahmen zum emotiven Potenzial filmischer Einstellungen über gestalterische Differenzqualitäten visueller Art gewinnen lassen, welche zu Diskrepanzen und entsprechenden affektiven Reaktionen beim Rezipienten führen dürften. Gegenwärtig gibt es hierzu jedoch lediglich erste Darstellungen, die sich zudem nicht auf einzelne Wirkmomente der Filmstruktur beziehen, sondern nur auf deren Auftreten im Verbund, in Reiz-Kombinationen, die von Differenzqualitäten unterschiedlicher Formangebote stammen, wie man sie etwa an Stilmerkmalen beobachten kann. Als Anknüpfungspunkte für die Ausarbeitung psychologischer Variablen zu visuellen Wirkungen des Films lassen sich Teil-Erkenntnisse aus der neueren Psychologiegeschichte heranziehen. Denkbar ist es etwa, Wirkmomente des Filmbildes aus der Perspektive jener dichotomischen Konzepte zu betrachten, die auf Begriffspaare rekurrieren wie: (1) willkürlich vs. unwillkürliche Aufmerksamkeitszuwendung, (2) fokussierte (focused) vs. geteilte (divided), (3) endogene vs. exogene Aufmerksamkeit, (4) verdeckte (covert) vs. offene (overt) Aufmerksamkeitsausrichtung. Denn bei der Charakterisierung von Filmbildern treten mitunter Eigenheiten hervor, die sich anhand dieser Dichotomien genauer empirisch bestimmen lassen. 16.6 Mögliche Untersuchungsansätze für die Analyse von Bildwirkungen 497 So steht jeweils die Wirkungsstrategie von Ausdrucks- und Symbolbild vermutlich eher für eine willkürliche, die des Tatsachenbildes hingegen für eine unwillkürliche Aufmerksamkeitszuwendung des Zuschauers, also für psychische Reaktionen von unterschiedlichem Bewusstheitsgrad. Auch zeigt das Ausdrucksbild eine deutliche Affinität zu fokussierten bzw. endogenen Aufmerksamkeitsaktivitäten, die bewusst und zielführend vonstattengehen, während das Tatsachenbild einen Spielraum für geteilte und exogene Aufmerksamkeitsbestrebungen bereithält, das auch nahezu unbewusste Erlebnisgehalte, z. B. in Gestalt beiläufiger Kamerabeobachtungen berücksichtigt. Versuche, filmische Verfahren der Tiefeninszenierung, der Kamerabewegung oder der Szenenaufgliederung mithilfe der erwähnten Dichotomien unterschiedlichen Optionen der Aufmerksamkeitssteuerung zuzuordnen, erweisen sich für eine analytische Darstellung ebenfalls als hilfreich. Auch wenn sie noch keine Konstruktion psychologischer Variablen gestatten, erleichtern sie doch eine präzisere hermeneutische Beschreibung mancher Gestaltungsnuancen und befördern Fragen an ihre Wirkungsweisen sowie Annahmen zu Funktionszusammenhängen. So bringt z. B. eine Kamerafahrt, die eine veränderte Konflikt-Situation im Handlungszentrum verfolgt und zudem einen Wandel des Umfelds im Hintergrund exponiert, damit vermutlich ganz unterschiedliche Diskrepanzen ins Spiel, die für den Zuschauer zu einer Quelle affektiver Erregung werden können, auch zu einer emotionalen Veränderung der Gesamtsituation beitragen können, die sich auf die Intensivierung der Aufmerksamkeit auswirkt. Ein solcher mehrschichtiger Prozess dürfte sich übrigens nicht nur in jenen psychophysiologischen Daten des Rezipienten widerspiegeln, die bereits in den früheren Kapiteln erwähnt wurden, sondern auch deutliche Konsequenzen für die Evokation von Sakkaden haben, eine Reaktion. die für overt attention steht. Ähnlich gute Aussichten für eine differenzierte Beschreibung von Zuschauer-Reaktionen ergeben sich für die Plansequenz, auf die (in 18) noch eingegangen werden soll. Im Hinblick auf die optische Organisation des Bildfeldes, die mitunter Probleme der informationellen Zugänglichkeit dargestellter Objekte und des Handlungsraums außerhalb des Bildrahmens umfasst, sind ebenfalls vorsichtige Annahmen und sinnvolle Datenerhebungen möglich: So ist anzunehmen, dass schwer erkennbare Objekte, z. B. nicht identifizierbare Personen, eine fokussierte Aufmerksamkeit beanspruchen, verbunden mit entsprechenden EEG-Reaktionen und Sakkaden-Mustern. Höchst wahrscheinlich provozieren solche Arrangements von Bildausschnitt und Mise-en-scène auch die Vorstellungsaktivitäten des Zuschauers. Die Dialektik von On- und Offscreen, die mit der Dekadrierungstendenz neuerer Stilentwicklungen an Bedeutung gewonnen hat, erfasst neben Problemen der Kognition auch solche von Affekt- und Vorstellungsgenerierung, welche die Aufmerksamkeitsprozesse modifizieren. Denn wohl fast immer wird die Verlagerung eines handlungsrelevanten Situationsdetails in eine Offscreen-Position vom Zuschauer als Diskrepanz empfunden und in eine affektive Reaktion umgesetzt. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass die durch das Bildfeld verbriefte Situation um die eigenen Vorstellungsbilder des Zuschauers ergänzt wird, 497 498 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit was auf eine Aktivierung von Gedächtnisinhalten zur Lebensrealität, doch auch Glaubensannahmen über fiktionale Ereignisse sowie offensichtliche Wunschbilder schließen lässt. Trotz vieler wissenschaftlicher Desiderate erscheint also eine empirische Untersuchung künstlerischer Effekte von Kameraarbeit nicht hoffnungslos. Dies umso mehr, als sich in den letzten Jahren gravierende Fortschritte in der Entwicklung von Techniken und Verfahrensweisen der Sakkaden-Analyse ergeben haben. Diese Verfahren von eye tracking werden bei der Untersuchung visueller Filmwirkungen sicher nicht allein zum Einsatz kommen, sondern in Kombination mit anderen psychophysiologischen Studien einen wichtigen Stellenwert gewinnen.