Film, Fernsehen, Medienkultur Peter Wuss Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht Zum Wirkungspotenzial des Spielfilms Film, Fernsehen, Medienkultur Schriftenreihe der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF Reihe herausgegeben von Jens Eder, Potsdam, Deutschland Lothar Mikos, Potsdam, Deutschland Michael Wedel, Potsdam, Deutschland Claudia Wegener, Potsdam, Deutschland Die Verbindung von Medien und Kultur wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Medien können als integraler Bestandteil von Kultur gedacht werden, zudem vermittelt sich Kultur in wesentlichem Maße über Medien. Medien sind die maßgeblichen Foren gesellschaftlicher Kommunikation und damit Vehikel eines Diskurses, in dem sich kulturelle Praktiken, Konflikte und Kohärenzen strukturieren. Die Schriftenreihe der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF knüpft an eine solche Sichtweise von Medienkultur an und bezieht die damit verbundenen Themenfelder ihren Lehr- und Forschungsfeldern entsprechend auf Film, Fernsehen und digitale Medien. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, in denen es gleichermaßen um mediale Formen und Inhalte, Rezipienten und Kommunikatoren geht. Die Bände der Reihe knüpfen disziplinär an unterschiedliche Fachrichtungen an. Sie verbinden genuin film- und fernsehwissenschaftliche Fragestellungen mit kulturwissenschaftlichen und soziologischen Ansätzen, diskutieren medien- und kommunikationswissenschaftliche Aspekte und schließen Praktiken des künstlerischen Umgangs mit Medien ein. Die theoriegeleiteten Untersuchungen, historischen und empirischen Studien der Schriftenreihe erfolgen vor dem Hintergrund eines zunehmend beschleunigten technologischen Wandels und wollen der Entwicklung von Film und Fernsehen im digitalen Zeitalter gerecht werden. Neue Formen des Darstellens und Erzählens werden ebenso in den Blick genommen wie veränderte Umgebungen und Muster der Nutzung audiovisueller Bewegtbilder, die sich durch Mobilität und Interaktivität von traditionellen Praktiken des Mediengebrauchs unterscheiden. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12512 Peter Wuss Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht Zum Wirkungspotenzial des Spielfilms Peter Wuss Berlin, Deutschland ISSN 2524-3047 ISSN 2524-3055  (electronic) Film, Fernsehen, Medienkultur ISBN 978-3-658-32051-5 ISBN 978-3-658-32052-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32052-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhalt Inhalt Inhalt 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Ein neues Medium, eine Siebente Kunst, unerforschte Wirkungen . . . . . . . . . . 2 1.2 Zum Kategorien-System einer produktionsnahen Erfahrungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Anomalien der Gestaltung als Herausforderung für die Filmanalyse . . . . . . . . 7 1.4 Zur Schlüsselrolle der Psychologie in zukünftigen Analyseprozessen . . . . . . . 9 1.5 Die Auffindung psychologischer Wirkmomente des Films . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.6 Werkmodelle zur psychologischen Deskription filmischer Strukturen . . . . . 16 1.7 Kontinuität und Umbrüche im Lern- und Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . 20 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Von der intuitiv vorgehenden Hermeneutik zur Modellkombination . . . . . . . 26 2.1.1 Zur Rolle der Hermeneutik bei der Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.2 Systemforschung und wissenschaftliche Modellierung . . . . . . . . . . . . . 28 2.2 Ein Wirkungsgefüge elementarer ästhetischer Funktionen des Films . . . . . . 31 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen durch Ästhetik und Kunstwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3.1 Künstlerische Originalität als Differenzqualität von Reizangeboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3.2 Das Kunstwerk als Rezeptionsvorgabe im Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3.3 Kunsterleben als optimierte Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . 38 2.3.4 Kunstprozesse als Zeichenprozesse mit Regelfunktion . . . . . . . . . . . . . 43 2.3.5 Filmerleben als Regulation psychischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3.6 Film als autopoietisches System im soziokulturellen Raum . . . . . . . . . . 49 2.3.7 Die Möglichen Welten des Films und ihre imaginative Funktion . . . . 51 2.4 Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4.1 Bewusstheit von Strukturen als Voraussetzung ihrer Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4.2 David Bordwells Cognitive Film Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 V VI Inhalt 2.4.3 Peter Ohlers Kognitive Filmpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.5 Wege zur Differenzierung und Erweiterung des kognitiven Modells . . . . . . . 59 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen: Das PKS-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2 Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells . . . . . . . 68 3.2.1 ARIEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.2.2 ASCHE UND DIAMANT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.2.3 BERUF: REPORTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.3 Beschreibungsaspekte und hypothetische Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen . . . . . . . . . . . . . . 79 3.4.1 Perzeptionsgeleitete Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.4.2 Konzeptgeleitete Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.4.3 Stereotypengeleitete Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.4 Exkurs: Interdisziplinäre Erfahrungen mit Stereotypenphänomenen und ihr Widerschein im Film . . . . . . . . . . . . 89 3.5 Zur Anwendung des PKS-Modells bei der Filmanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4 Filmisches Erzählen und seine kognitive Modellierung: Topik-Reihe, Kausalkette, Erzählstereotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.1 Klassische Narrationstheorie und filmisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.1.1 Zur Forschungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1.2 Was ist eine Erzählung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.1.3 Hinweise der Theaterwissenschaft zur Erzählanalyse . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1.4 Fabel-Auszüge als anschauliche Modelle für Erzählzusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2 Kognitive Modellierung narrativer Basisstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.3 Die Kausalkette und ihre Funktion für die geschlossene Erzählung . . . . . . . 106 4.3.1 Kausalketten der Ereignisse als mögliche Basis der Narration . . . . . . 106 4.3.2 Zur philosophisch-psychologischen Interpretation der Kausalkette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.3 Besonderheiten der Kausalkette filmischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . 117 4.3.4 Exkurs: Zur Dichotomisierung von Erzählstrukturen . . . . . . . . . . . . . 119 4.4 Topik-Reihe und offene filmische Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.4.1 Zum Verständnis des Topik-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4.2 Spielarten offener filmischer Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.4.3 Die Topik-Reihe filmischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.5 Erzählstereotyp und konventionalisierte Erzählweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.5.1 Das filmische Erzählstereotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.5.2 Traditionslinien des Erzählstereotyps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.6 Zur Generalisierbarkeit des Narrationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Inhalt VII 5 Zur Anwendung des Narrationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1 Übersicht idealtypischer Merkmale der narrativen Basisstrukturen . . . . . . . 143 5.1.1 Merkmale der Kausalkette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1.2 Merkmale der Topik-Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.1.3 Merkmale des Erzählstereotyps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.2 Wechselwirkungen der narrativen Basisstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.2.1 Semantische Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.2.2 Semantische Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.2.3 Semantischer Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.3 Veränderungen filmischer Erzählweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.3.1 Dominanzverschiebung narrativer Basisstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.3.2 Wandel von Erzählweisen bei Antonioni, Kaurismäki und Jarmusch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.3.3 Veränderungen des Erzählens im Werk von Fassbinder und Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.4 Zusammenfassend über die Anwendung des Narrationsmodells in filmwissenschaftlichen und psychologischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . 169 6 Konflikt und Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.1 Zur Bestimmung und geistigen Tradition des Konfliktbegriffs . . . . . . . . . . . 173 6.2 Das Konfliktfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.3 Die Variationsbreite filmischer Konfliktmomente (in HIGH NOON) . . . . . 179 6.3.1 Personenbezogenheit: interpersoneller vs. intrapersoneller Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.3.2 Handlungsoption: offene vs. eingeschränkte Handlungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.3.3 Wirkungsmächtigkeit: Haupt- vs. Nebenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3.4 Lösbarkeit: lösbarer vs. unlösbarer Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.4 Filmische Konflikte als Startpunkte für Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.4.1 Aktive und passive Kontrolle von Konfliktsituationen . . . . . . . . . . . . . 186 6.4.2 Passive Kontrolle der Filmkonflikte im IDEAL-Modell . . . . . . . . . . . . 189 6.5 Anwendung des IDEAL-Schemas: Phasen von Problemverarbeitung . . . . . . 190 6.5.1 Problem-Identifizierung durch Wiederholung invarianter Reizangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.5.2 Problem-Lösung dank konzeptualisierter Reizmomente . . . . . . . . . . . 192 6.5.3 Rückschau auf vorhandene Problemlösungsstrategien . . . . . . . . . . . . . 195 6.6 Bilanz und Perspektive kognitiver Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7 Das Konflikt-Diskrepanz-Modell der Kino-Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.1 Von den Lachsalven bei Chaplin zur empirischen Emotionsforschung . . . . 199 7.2 Zum Emotionsverständnis der Kognitiven Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7.3 Annahmen zur Entstehung von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 VII VIII Inhalt 7.4 Der konfliktbetonte Ansatz der Emotionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.5 Konflikte und Diskrepanzen im Filmerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.6 Wechsel filmgenerierter Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.7 Modell-Anwendung (anhand von FATHER AND DAUGHTER) . . . . . . . . . 210 7.8 Notiz zur Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.9 Appraisal-Style von Genre-Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.10 Narrative Strukturen und Stärke von Kino-Emotionen (DANCER IN THE DARK; STRANGER THAN PARADISE; IN THE MOOD FOR LOVE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 7.11 Aspekte der empirischen Untersuchung von Kino-Emotionen . . . . . . . . . . . 221 8 Figur und Vorstellung: Von der Intention des Protagonisten zur Intentionalität des Filmschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 8.1 Zum Begriff der Filmfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 8.2 Merkmale von Filmfiguren aus medienpraktischer Perspektive . . . . . . . . . . 228 8.3 Vorleistungen der Figurentheorie für die psychologische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.4 Figurenintentionen als Grundlage filmgenerierter Vorstellungen . . . . . . . . . 232 8.4.1 Vorstellungsaktivitäten von Figur und Zuschauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 8.4.2 Figurenintention und Willensprozesse: die Rubikon-Metapher . . . . . 237 8.4.3 Individuell verantwortliches Handeln der Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8.5 Zur Rolle der Figurenintention im Konfliktfeld des Films . . . . . . . . . . . . . . . 242 8.6 Die Intention der Figur im Rezeptionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 8.7 Hinweise der Sprechakttheorie für die Deskription von Filmschlüssen . . . . 247 8.8 Drei Idealtypen finaler Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 8.9 Konkretisierung der finalen Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 8.10 Exkurs: Hintergrundfaktoren bei der Anwendung des Intentionalitätsmodells in empirischen psychologischen Studien . . . . . . . . . 257 8.11 Von konkreten einfachen Variablen zur komplexen Zusammenschau psychologischer Wirkmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 9 Narrative Spannung und Suspense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 9.1 Zum Verständnis des Spannungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 9.2 Erfahrungen Hitchcocks (YOUNG AND INNOCENT) . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 9.3 Kognitionspsychologische Interpretation filmischer Erzählspannung . . . . . 270 9.4 Typen von Erzählspannung (THE BIRDS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 9.5 Kognitive Strategie von Spannungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 9.5.1 Latente Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 9.5.2 Fokussierte Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 9.5.3 Konventionalisierte Spannung und Suspense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 9.6 Emotionalität von Erzählspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Inhalt IX 9.7 Spannung und Imagination (DANCER IN THE DARK; IM NEBEL) . . . . . 285 9.8 Zur empirischen psychologischen Untersuchung von Erzählspannung . . . . 289 10 Filmgenres: Funktionsmuster klassischer Genres und Deskription von Hybridformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 10.1 Das Filmgenre als ästhetische Erfahrung und kulturelle Instanz . . . . . . . . . 293 10.2 Theoretische Probleme im Umgang mit filmischen Genres . . . . . . . . . . . . . . 294 10.3 Auffindung genrespezifischer Funktionsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 10.4 Zur Modellierung von Wirkungsstrategien klassischer Genres . . . . . . . . . . 306 10.4.1 Dramatisches Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 10.4.2 Verfremdung und Komik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.4.3 Tragische Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 10.5 Über Anwendungen der Modellvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10.5.1 Hypothesen zu klassischen Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10.5.2 Beschreibung von Genre-Hybriden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 10.5.3 Modellkombinationen zur Deskription von Polygenres (DAS LEBEN IST SCHÖN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 10.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 11 Prinzip Hoffnung: Kino-Träume und ihre Utopie-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 335 11.1 Das Prinzip Hoffnung und die antizipative Funktion von Kunst . . . . . . . . . . 335 11.2 Traumdarstellungen im Autorenfilm des Mise-en-conscience . . . . . . . . . . . . 338 11.3 Zur Funktion der Traumdarstellungen in Fellinis ACHTEINHALB . . . . . . 341 11.4 Traumähnliche Momente in Tarkowskis DER SPIEGEL . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 11.5 Unbewusster Symbolismus in Traum, affektiven Schemata und Spiel . . . . . 351 12 Spiel in Realität, Filmhandlung und Erlebensprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 12.1 Spiel als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse und Aspekt der Filmuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 12.2 Hypothesen zur Rolle des Spiels im menschlichen Leben anhand einer Szene aus EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST . . . . . . . . . . . 358 12.2.1 Spiel als Realisierung von Als-ob-Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 12.2.2 Spiel als Handlungssystem mit adaptivem Potenzial . . . . . . . . . . . . . . 359 12.2.3 Spiel verändert die Emotionalstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 12.2.4 Spiel erzeugt Funktionslust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 12.2.5 Spiel als Form der Voraussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 12.2.6 Regelhaftigkeit des Spiels und Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 12.2.7 Spiel sorgt für Akzeptanz Möglicher Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 12.3 Funktionszusammenhänge im menschlichen Spielverhalten anhand einer Szene aus DOWN BY LAW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 12.4 Beobachtungen zum imaginativen Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 12.5 Exkurs über unterschiedliche Spielmotive des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 IX X Inhalt 13 Zur Spezifik des Mediums: Der Doppelcharakter des Films als Faktendokument und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 13.1 Die Bestimmung der Medienspezifik – Notwendigkeit und Problem . . . . . . 373 13.2 Das Filmmedium als Resultat einer Mensch-Maschine-Symbiose . . . . . . . . 376 13.3 Zur Anwendung der Komplementaritäts-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 13.4 Film als Faktendokument aus psychologischer Perspektive: Lebensweltliche und filmgenerierte Wahrnehmungsprozesse . . . . . . . . . . . . 382 13.4.1 Film als Repräsentation lebensweltlicher Reizangebote . . . . . . . . . . . . 382 13.4.2 Wahrnehmung und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 13.4.3 Geschehenswahrnehmung (nach Johansson) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 13.4.4 Die Entdeckungstheorie von Invarianz (nach Gibson) . . . . . . . . . . . . 389 13.4.5 Vom Apperzeptionsbegriff Wundts zum Konzept Verhaltensgeleiteter Erkenntnis (nach Prinz und Hoffmann) . . . . . . . 391 13.4.6 Zum Embodiment der filmischen Geschehenswahrnehmung . . . . . . 393 13.4.7 Die Perzeptionstriade als Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 13.5 Film als Fiktion: Spielbedingte Alternativen-Generierung . . . . . . . . . . . . . . . 396 13.6 Arbeitshypothesen zum Spielcharakter der filmischen Fiktion . . . . . . . . . . . 399 13.6.1 Zur Oszillation von Bedeutungen aus Realität und Vorstellungswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 13.6.2 Die filmische Fiktion als Ausgangspunkt für unbewusste Lernprozesse, Probehandeln und körperliches Involvement . . . . . . . 401 13.6.3 Steuerung der Zuschaueremotionen durch Fiktionen . . . . . . . . . . . . . 403 13.6.4 Funktionslust im Aktivierungszirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 13.6.5 Gewinn neuer Vorstellungen durch Fiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 13.6.6 Konsequenzen der filmischen Fiktion für das Realitätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 13.6.7 Zum Umgang des Mediums mit Bedeutungsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . 408 13.7 Provisorisches Resümee zu den psychologischen Besonderheiten des Kunstmediums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 14 Zum Realitätseffekt des Spielfilms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 14.1 Faszination flüchtiger Reizmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 14.2 Das frühe Dokumentarismus-Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 14.3 Zur psychologischen Charakterisierung des Realitätseffekts . . . . . . . . . . . . . 420 14.4 Realitätseffekte bei Dogma 95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 14.5 Differenzqualitäten dynamischer Bildgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 14.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Inhalt XI 15 Gestaltungsmittel Bild, Ton und Montage unter dem Rezeptionsaspekt der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 15.1 Zur Wirkungsanalyse technikbasierter Gestaltungsweisen des Films . . . . . 433 15.2 Unterwegs zu Aufmerksamkeitsuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 15.3 Exkurs: Über Aufmerksamkeitskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 15.4 Heuristiken zur Klärung von Bild-, Ton- und Montagewirkungen (nach Gibsons ökologischer Wahrnehmungstheorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 15.5 Sakkaden-Untersuchung filmbezogener Aufmerksamkeitsprozesse . . . . . . . 448 15.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 16 Bild: Kamerablick und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 16.1 Kadrierung und Bildfeld: Taxonomie im Anschluss an Deleuze . . . . . . . . . . 451 16.2 Kadrierung als Option für Aufmerksamkeitsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 16.3 Zum kognitiven Status der Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 16.3.1 Ausdrucksbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 16.3.2 Tatsachenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 16.3.3 Symbolbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 16.4 Differenzqualitäten des Filmbildes, affektive Erregung, Intensivierung von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 16.4.1 Konflikte im Bildausschnitt als Diskrepanzen im Erleben . . . . . . . . . 467 16.4.2 Visuelle Diskrepanzen und affektives Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 16.5 Zur Taxonomie des Filmbildes im Kontext der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . 473 16.5.1 Kadrierung und Handlungsraum: Tiefeninszenierung, Kamerabewegung, Szenenaufgliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 16.5.2 Optische Organisation des Bildfeldes: Datenmengen, informationelle Zugänglichkeit optischer Reizangebote, Onscreen vs. Offscreen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 16.6 Mögliche Untersuchungsansätze für die Analyse von Bildwirkungen . . . . . 496 17 Montage und Aufmerksamkeitssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 17.1 Filmmontage als mentale Überbrückung zwischen den Einstellungen . . . . . 499 17.2 Erschwernisse für die Montage-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 17.3 Frühe Beobachtungen zu Montage-Wirkungen und Aufmerksamkeit . . . . . 504 17.4 Zwei unterschiedliche Bindungskräfte an der Schnittstelle: Narrationsbezogene und veranschaulichende Montageverfahren . . . . . . . . . 510 17.4.1 Narrationsbezogene Bindungen der Klassischen Montage . . . . . . . . . . 511 17.4.2 Bindungskräfte der veranschaulichenden Montage . . . . . . . . . . . . . . . . 514 17.4.3 Ansätze einer kognitionspsychologischen Interpretation bei Gibson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 XI XII Inhalt 17.5 Kognitionspsychologische Beschreibung der Montage im PKS-Modell . . . . . 517 17.5.1 Stereotypengeleitete Montage-Bindungen: Montage-Figuren . . . . . . . 518 17.5.2 Perzeptionsgeleitete Bindungen im Rahmen einer Distanzmontage der Kontexte (nach Peleschjan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 17.5.3 Notiz zur Anwendung des PKS-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 17.6 Montageprinzipien des Continuity Cinema Hollywoods . . . . . . . . . . . . . . . . 525 17.7 Exkurs: Ansätze empirischer psychologischer Untersuchungen zur Montage im Continuity Cinema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 17.8 Zur Erweiterung der empirischen Montage-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 17.9 Indizien für Aufmerksamkeitssteuerung durch Montage . . . . . . . . . . . . . . . . 538 17.10 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 18 Über Wirkungsbesonderheiten der Plansequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 18.1 Schneiden verboten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 18.2 Die Bazin-Thesen zur Schärfentiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 18.3 Allgemeine Aspekte der Aufmerksamkeit und die Plansequenz . . . . . . . . . . 553 18.4 Plansequenzen bei Angelopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 18.5 Notiz zu möglichen Forschungswegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 18.6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 19 Stil als Priming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 19.1 Zum Stilverständnis in den Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 19.2 Stil als System mit funktionaler Dominante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 19.3 Stil-Erleben als Priming-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 19.4 Zur Annäherung an konkrete stilistische Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 19.5 Komplexität von Stilmerkmalen (an CITIZEN KANE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 19.6 Stil-Systeme im soziokulturellen Raum und in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 19.7 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 20 Zusammenfassung: Bewährte Hypothesen und neue Annahmen . . . . . . . . . . . 595 20.1 Zum Arbeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 20.2 Modellansätze zu Aspekten der Dramaturgie: Filmische Makrostrukturen in psychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 20.3 Annahmen zur Medienspezifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 20.4 Vorarbeiten für eine psychologische Interpretation von Wirkungen der filmischen Mikrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 20.5 Notizen zum Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Quellennachweise der Motti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst 1 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst „Wir brauchen das Kino, um eine totale Kunst zu schaffen, zu der alle Künste schon immer gestrebt haben. […] Heute schließt sich die ›Kreisbewegung‹ der Ästhetik endlich siegreich in jener totalen Fusion der Künste, die sich ›Kinematographie‹ nennt. […] Unsere Zeit hat mit göttlichem Elan aus den vielfältigen Erfahrungen des Menschen eine Synthese hergestellt, und wir haben alle Summen des praktischen und geistigen Lebens zusammengezogen. Wir haben die Wissenschaft mit der Kunst verbunden, will sagen, die Entdeckungen und die Unbekannten der Wissenschaft mit dem Ideal der Kunst, indem wir die eine auf die andere anwenden, um die Rhythmen des Lichtes aufzufangen und festzuhalten. Das ist das Kino. Die Siebente Kunst vereint so alle anderen.“ Ricciotto Canudo, Publizist, 1911* „Es ist die einzige visuelle Kunst, in der der gesamte Reichtum unseres inneren Lebens, unsere Wahrnehmungen, unser Gedächtnis und unsere Phantasie, unsere Erwartung und unsere Aufmerksamkeit, in den äußeren Eindrücken selbst lebendig gemacht werden kann. […] Aber selbst Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Phantasie sagen uns noch nicht alles über unsere innere Welt. Das Innerste des Menschen liegt in seinen Gefühlen und Emotionen. […] Die innere Psyche, die die Kamera ausstellt, muss in solchen Aktionen der Kamera selbst liegen, durch die Raum und Zeit überwunden und Aufmerksamkeit, Gedächtnis sowie Emotion der körperlichen Welt eingeschrieben werden.“ Hugo Münsterberg, Psychologe, 1915** „Seltsame Natürlichkeit des Alltäglichen. Sie ist das erste Mysterium des Lichtspiels. Erstaunlich ist, dass wir nicht darüber staunen. Diese Selbstverständlichkeit ›blendet‹ uns im buchstäblichen Sinne des Wortes: sie macht uns blind. […] Die Kunst des Lichtspiels und die Filmindustrie sind nur die über den Bewusstseinsspiegel emportauchenden Teile eines Phänomens, das wir in seiner Ganzheit erfassen müssten. Aber der untergetauchte Teil, diese dunkle Selbstverständlichkeit, vermischt sich mit unserer eigenen menschlichen Substanz – die ebenso selbstverständlich und dunkel ist wie das Schlagen unseres Herzens, die Leidenschaften unserer Seele. Das ist der Grund, wie Jean Epstein sagt: weshalb ›wir gar nicht wissen, was wir alles vom Kino nicht wissen‹. Fügen wir die Folgerung hinzu: wir wissen nicht einmal, was wir davon wissen. Eine Membran scheidet den Homo kinematographicus vom Homo sapiens. Sie scheidet unser Leben von unserem Erkennen.“ Edgar Morin, Anthropologe, Filmemacher und -theoretiker, 1956*** © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 1 P. Wuss, Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht, Film, Fernsehen, Medienkultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32052-2_1 2 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst 1.1 Ein neues Medium, eine Siebente Kunst, unerforschte Wirkungen 1.1 Ein neues Medium, eine Siebente Kunst, unerforschte Wirkungen Das Erlebnisangebot, das der Film für die Menschen schafft, schließt außer dem sichtbaren Laufbild auf der Leinwand auch dessen Wirkungsdimension ein, die auf mehr oder weniger unsichtbare Weise in sein psychisches Leben eingreift. Wer über den Film nachdenkt, sei es als Künstler, Zuschauer, Kritiker oder Medienwissenschaftler, meint ja dabei im Grunde immer beides, bzw. hat, um in seinem Urteil nicht fehlzugehen, eigentlich immer beides im Auge zu behalten: die zur Schau gestellte bewegte Bilderwelt mit ihren ästhetischen Attraktionen sowie das, was dieses Reiz- und Kommunikationsangebot im Bewusstsein des Zuschauers ausrichtet, doch keineswegs so offen auf der Hand liegt. Dieses Buch will helfen, den oft sehr verdeckten Zusammenhängen von Gestaltung und Wirkung analytisch besser gerecht zu werden. Ausgehend von der genauen Betrachtung der filmischen Form und ihrer Sinnvermittlung, skizziert es Wege zu einer empirischen psychologischen Erforschung wichtiger Wirkungskomponenten des künstlerischen Spielfilms. Ästhetische Erfahrungen und Detailkenntnisse der Filmwissenschaft nutzend, befragt es künstlerische Erzähl- und Gestaltungsweisen des Mediums danach, welche Funktion ihnen im Erlebensprozess des Zuschauers zukommen mag und wie man diese aus dem Sichtwinkel der Psychologie objektivierbar macht, um sie künftig gemeinsam mit dieser Nachbarwissenschaft erforschen zu können. Dies in der Hoffnung, eine Reihe von Problemen besser in den Griff zu bekommen, mit denen sich Praxis und Theorie der audiovisuellen Medien (AV-Medien) konfrontiert sehen. Beim Film handelt es sich ja um ein kulturelles Phänomen, das gegenüber den früher entstandenen Kommunikationsformen und Künsten unterschiedliche Eigenschaften besitzt. So haben die künstlichen Welten des Films, die dem Einzelnen und der Gesellschaft auf der Leinwand erscheinen, die augenfällige Besonderheit, dass sie mit ihren Repräsentationen der Welt in Bild und Ton einerseits der vertrauten Realität ungeheuer nahe zu kommen vermögen, wie sie sich andererseits von den Erscheinungen der uns bekannten wirklichen Welt auch extrem weit entfernen können. Und mitunter geschieht beides zugleich, sozusagen in Tateinheit, so dass Dinge und Vorgänge gezeigt werden können, die erstaunlich lebensähnlich sind, obwohl es sie in der Wirklichkeit nicht gibt oder so nicht geben kann. Diese artifiziellen Welten werden nicht nur schlechthin sinnlich erfahrbar, sondern in ihren oft natürlich anmutenden zeitlichen Veränderungen auch sukzessiv erlebbar, und zwar für ein breites Publikum. Während seiner mehr als hundertjährigen Geschichte hat der Film auf diese Weise ein Erlebnispotenzial von großer thematischer Spannweite und immenser Formenvielfalt geschaffen, und er tut dies, längst zu einem umfänglichen System audiovisueller Medien mutiert, unablässig weiter. Dabei greift er in die Erkenntnisprozesse der Zuschauer ein, erzeugt Emotionen und bereichert das menschliche Vorstellungsbild von der Realität um nie gesehene imaginäre Erscheinungen. All dies geschieht nicht allein innerhalb marginaler Einzelaktionen. Aus den bescheidenen Jahrmarkts- und Varieté-Vorstellungen des Kinematographen am Ende des 19. Jahrhunderts ging vielmehr nach kaum zwei Jahrzehnten eine visuelle Kinokultur 1.1 Ein neues Medium, eine Siebente Kunst, unerforschte Wirkungen 3 mit künstlerischen Ambitionen hervor, welche sich bald auch des Tons bemächtigte und inzwischen zur weit verzweigten kulturellen Institution der audiovisuellen Medien gediehen ist. Deren kommunikativer Gebrauch aber wird weltweit von vielen Menschen als echtes Bedürfnis empfunden, nimmt im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft ein wachsendes Zeitbudget in Anspruch und hat zu Produktions- und Organisationsformen geführt, deren Umsätze mit denen so mächtiger Industrien wie der Autoherstellung oder der Erdölverarbeitung verglichen werden. Mit der Erfindung des Kinematographen hat sich eine neue mediale Massenkultur herausgebildet, in deren Rahmen sowohl eine eigenständige Populärkultur entstand, deren Kriterien sich vielfach an denen der Volkskunst orientierten, jedoch auch ein Korpus von Arbeiten, welche zu Recht den Vergleich mit den Werken der autonomen Kunst suchten. In jedem Falle zeigte sich der Film gegenüber den bereits entwickelten Kunstarten bzw. deren Gestaltungsverfahren als ausgesprochen integrativ und synkretistisch. In einem frühen Manifest des italienischen Essayisten und Romanciers Ricciotto Canudo ([1911] 1969) wurde er darum als Ziel bisheriger künstlerischer Bestrebungen gefeiert, als eine Synthese dessen, was Schopenhauer als „Kunst des Raumes“ und „Kunst der Zeit“ bezeichnet hatte. Gegenüber den sechs etablierten Künsten gipfele er zu einer totalen Siebenten Kunst auf. Die ästhetischen Wirkungen der tradierten Kunstformen haben von den einschlägigen Kunstwissenschaften eine Analyse erfahren, die durchweg der hermeneutischen Methode folgte, also eine Kunst der Auslegung bemühte. Manche Zusammenhänge von Gestaltung und Wirkung erfuhren dabei eine Erhellung, andere blieben im Dunkel. Letzteres hatte durchaus seinen Charme, auch seine moralische Berechtigung, schien es doch wenig opportun, unverwechselbaren Werken der Kunst ihr Geheimnis nehmen zu wollen – außerdem war dies praktisch schwer zu machen. Die Kontinuität der kulturellen Entwicklung betonend, schrieben die Interpreten der Siebenten Kunst solche Geisteshaltungen in der Regel fort, obwohl in Gestalt des Films ein Kommunikationsmedium mit völlig neuen Eigenschaften und weitaus größerer sozialer Wirkungsmächtigkeit auf den Plan getreten war, als sie den Künsten bis dahin je zur Verfügung gestanden hatte. Der Synthesecharakter der Siebenten Kunst, der die Kunstmittel der Vergangenheit zusammenführte und damit auch für die Analyse schwerer durchschaubar werden ließ, mag dazu beigetragen haben, dass eine weitere Ursache für den erschwerten Einblick in die neuartigen Funktionsweisen des Mediums nahezu verdeckt blieb: Der besondere Abbildcharakter des bewegten Filmbildes, der sich als Folge einer technifizierten Herstellungsweise einstellte und auf einer Symbiose von Mensch und Maschine beruhte, welche es zuvor nicht gab. Offenbar ist es vor allem dieser Symbiose geschuldet, dass durch die besondere Apparatenutzung bei der kinematographischen Aufzeichnung wie deren Rezeption im Erlebensprozess des Zuschauers authentische Realitätsbilder und Fiktionen unterschiedlichsten Grades untrennbar miteinander verschmelzen. Der analytische Zugang zu den inneren Funktionsweisen der medialen Kommunikate wird hier gleichsam noch durch eine zusätzliche Verschlüsselung erschwert. Zuverlässige Aussagen zu filmischen Wirkungen erleichterte dies kaum. 3 4 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst Anders als in den Künsten seit jeher üblich, werden technische Verfahren im Film nicht allein dafür genutzt, die tradierten Ausdrucksverfahren zu ergänzen und zu optimieren, vielmehr greift die Apparatenutzung auf fundamentale Weise in die gesamte Informationsverarbeitung des Menschen ein und verändert diese essenziell. Dies allerdings, ohne ihm dabei Einblick in jene wichtigen Verschiebungen innerhalb der psychischen Prozesse zu gewähren, die sich beim Zuschauer etwa aus der medialen Neuorganisation bestimmter Wahrnehmungsprozesse unterhalb der Bewusstheitsgrenze, aus der Herbeiführung von unbewussten affektiven Erregungen oder der stillschweigenden Umwertung seiner Vorstellungen zu realen Lebensvorgängen ergeben. Wenn an dieser Stelle gerade jene Erlebnisgehalte des Films hervorgehoben werden, die dem Zuschauer in der Regel unbewusst bleiben und selbst im kreativen Prozess der Filmemacher von diesen eher intuitiv erfasst werden, dann deshalb, weil sie zwar oft die spezifischen Sinnbildungsprozesse der filmischen Kommunikation stark beeinflussen, sich aber nichtsdestoweniger der Analyse, namentlich einer zuverlässigen Beschreibung und Bewertung entziehen. Im Alltag schlägt dieses Unvermögen häufig in eine Geisteshaltung um, die die Erkenntnis-Schwierigkeiten verdrängt und dem Kino, wie der Anthropologe und Filmemacher Edgar Morin es nannte, den Anschein einer Selbstverständlichkeit gibt. Freilich einer Selbstverständlichkeit, die uns „blende“, d. h. gegenüber seinen staunenswerten Eigenheiten blind mache (vgl. Motti Kap. 1). Bereits die analytischen Probleme, die sich aus der Komplexität des Films und der Vielzahl seiner Wirkungskomponenten ergeben, machen begreiflich, warum ihre Klärung für die Filmwissenschaft eine große Herausforderung bedeutet. Ein anderes nicht minder kompliziertes Problemfeld ergibt sich aus der hohen Entwicklungsdynamik des gesamten Objektbereichs der AV-Medien, die sich in einer zügigen Diversifizierung und immensen Ausweitung desselben äußert. Der künstlerische Spielfilm für das Kino, dem bisher das Hauptinteresse der Filmwissenschaft galt, bildet innerhalb des riesigen Materialkorpus der audiovisuellen Medienprodukte ja nur einen verschwindend geringen Anteil. Die mediale Massenkultur des Kinos und des Fernsehens mit ihren Derivaten für das Internet bzw. das PC-Spiel teilt hinsichtlich Struktur und Funktion zwar manche Eigenheiten mit dem künstlerischen Kinofilm. Sie folgt jedoch durchaus eigenen Entwicklungsgesetzen und orientiert sich bekanntlich auch an anderen Gestaltungs- und Wirkungskriterien, indem sie etwa auf die Selbstdisziplin einer ästhetischen Sinnvermittlung zugunsten einer Unterhaltungsfunktion verzichtet, die eher auf elementare, kurzzeitige psychische Regulation baut (vgl. Wuss 1993a, 401ff.) und ihre Attraktionen oft unmittelbar an das biologische System adressiert. Auch wenn der genannte Bereich der Kultur in diesem Buch kein Gegenstand der Betrachtung ist, scheint doch der Hinweis am Platze, dass hierfür gesicherte Erkenntnisse zur Wirkungsdimension ebenfalls fehlen. Was der inzwischen globalisierte Kommunikationsapparat der audiovisuellen Medien dank der Intensität seiner Einwirkung und seiner zunehmenden Nutzungsdauer als Ganzes wie in seinen singulären Angeboten im Bewusstsein der Menschen ausrichtet, ist insgesamt und in seinen Teilen immer noch erstaunlich wenig erforscht. Auf eigentümliche Weise entzieht sich nicht nur der einzelne Vorgang des ästhetischen Film-Erlebens einer 1.2 Zum Kategorien-System einer produktionsnahen Erfahrungswissenschaft 5 rationalen Kontrolle, namentlich wenn es um seine essenzielle sinnstiftende Funktion innerhalb der menschlichen Bewusstseinsprozesse geht, sondern mit ihm das gigantische und hoch differenzierte Wirkungspotenzial der audiovisuellen Medien insgesamt. In Anbetracht dessen, dass der einzelne Mensch und die Gesellschaft diesen oft unterhalb der Bewusstheitsschwelle aufgenommenen Erlebnisgehalten, die auch nach der Rezeption keinen Einblick in ihre Wirkungsweisen gestatten, immer stärker ausgesetzt sind, hat dies etwas Erschreckendes an sich, zumal die Wissenschaft hierbei offenbar die Praxis in entscheidenden Fragen allein lässt. 1.2 Zum Kategorien-System einer produktionsnahen Erfahrungswissenschaft 1.2 Zum Kategorien-System einer produktionsnahen Erfahrungswissenschaft Die junge Filmwissenschaft hat sich durchaus bemüht, die Zusammenhänge zwischen Gestaltung und Wirkung einzelner künstlerischer Werke und ganzer Gruppen von Arbeiten, die etwa dem gleichen Genre oder einer verwandten Stilrichtung angehören, zu analysieren, und sie hat sich auch mit den medienspezifischen Strukturen und Funktionsweisen des Films und seiner Derivate auseinandergesetzt. Schon aufgrund ihrer enormen Komplexität, ihrer zügigen historischen Veränderung und permanenten Diversifizierung haben diese Phänomene indes dafür gesorgt, dass zentrale Fragen bis heute kaum Klärung gefunden haben. Durch das Interesse der Medienpraxis hat die Wissenschaft vom Film dabei kaum eine Stimulation erfahren. Sieht man von einigen wenigen Künstler-Persönlichkeiten ab, die sich dafür einsetzten, dass diese oder jene Seite ihres Metiers eine geistige Durchdringung erfährt, lebt die Kinobranche im Grunde bis heute in dem Selbstverständnis, dass sie bei der Herstellung ihrer Produkte ohne jede Wissenschaft auskommen könne und sogar müsse. In der Tat werden ja unentwegt Filmgeschichten erfunden, gedreht und montiert, und all dies ohne wissenschaftliche Theorie. Trotz halbindustrieller Fertigung und steigender Tendenz zur Serialität der Produkte gelangen diese als Unikate zur Ausführung, was die Produktion in die schmeichelhafte Nähe zur Kunstausübung rückt, die ja vorgeblich über autonome Maßstäbe verfügt. Allerdings sucht sich die Medienproduktion schon aufgrund ökonomischer oder poli- tischer Zwänge durchaus rational zu verhalten, und professionelle Erfahrungen werden von ihr grundsätzlich auch nicht abgewiesen. Sollten sie sich während der Arbeitsprozesse herausstellen, werden sie in den Studios meist auf ähnliche Weise weitergegeben wie die Kunstgriffe in Handwerksstätten. Dies führte zur Herausbildung von allgemeinen Ge- staltungsstrategien, in denen Faustregeln und Produktionsnormen einen wichtigen Platz gewannen und sich sogar international ausbreiten konnten. Vor diesem Hintergrund hat sich die Filmwissenschaft als produktionsnahe Erfahrungswissenschaft etabliert. Bei der Formierung von Kriterien für Gestaltung und Wirkung der medialen Kommunikate orientierte sie sich zudem früh an Maßstäben, die aus der auto- 5 6 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst nomen Kunst stammten. Hierzulande wurden besonders Anleihen bei der Dramaturgie des Theaters vorgenommen, darunter bei zentralen Ideenkomplexen, die bereits um 335 v. Chr. in der „Poetik“ des Aristoteles (1982) eine Rolle spielten. Die Umsetzung analoger Erfahrungsmomente aus den bildenden Künsten, wie sie im Rahmen einer technisch orientierten Gestaltungslehre des Films unternommen wurde, fiel daneben fragmentarischer aus. Sie trug indes dazu bei, dass ein relativ zwanglos organisiertes Netz kategorialer Begriffe entstand, das Grundvorstellungen aus Dramaturgie und Gestaltungslehre zu einem Kategorien-System zusammenführte. Die angloamerikanische Kultur hat verwandte Teilsysteme hervorgebracht und mit den Etiketten „Narration“ und „Style“ versehen. Im deutschen Sprachraum umfasst das Kategorien-System Begriffe wie „Erzählung“, „Konflikt“, „Figur“, „Bild“, „Ton“, „Montage“. Mitunter wird es um Oberbegriffe wie „Komposition“ oder „Mise en scène“ ergänzt, die sich auf Relationen stützen, die sowohl im Bereich der Dramaturgie als auch der Gestaltungslehre liegen. Die Mixtur aus uralten Erfahrungswerten der Kunstproduktion mit den neu gewonnenen Faustregeln und Produktionsnormen der Filmstudios ließ diese theoretischen Vorgaben ein gutes halbes Jahrhundert auch als praktikabel und hinreichend effektiv erscheinen. Sie sorgte dafür, dass sich bestimmte Grundmuster der Beschreibung und Bewertung von Bauformen des filmischen Erzählens, von Konflikt- und Figurenprofilen, Kameraführung, Tongestaltung und Montageweisen, wie sie sich beispielsweise im stabilsten Gruppenstil der Filmgeschichte, dem Classical Hollywood Style, herausgebildet hatten, im Verbund durchzusetzen vermochten, und dies international. Die dort gewonnenen Regelwerke und Normvorgaben gelten ja bis heute für das Mainstream-Kino sowie die meisten fiktionalen Fernsehproduktionen. Manche ihrer leicht vermittelbaren Grundideen dienten als zuverlässige Ankerpunkte für die Befestigung einer disziplinär abgegrenzten, hermeneutisch vorgehenden und heute oft als klassisch empfundenen Filmtheorie, für die es bis zum Ende der 1950er Jahre keine erkennbare Alternative gab. Im Rahmen dieses Theorieansatzes bezogen sich die Aussagen über Filmwirkungen durchweg auf solche Erlebnisgehalte, die der Zuschauer bewusst zu rezipieren vermochte. Um sie zu objektivieren, wurde innerhalb der künstlerischen Ausdrucksformen – etwa bei der Herausbildung des Erzählzusammenhangs, der Motivation der Figuren zu bestimmten Aktionen oder der Verknüpfung einzelner Kameraeinstellungen zu einer Montagefolge – jeweils nach Kausalbeziehungen gesucht, die halbwegs definierbar schienen und für ein rational erfassbares Wirken von Kräften standen, welche in einem ausdeterminierten geschlossenen System außerhalb des Betrachters agierte und einer Maschine ähnelte. Der pragmatische Umgang der Filmbranche mit ihren Produktionserfahrungen förderte die Etablierung solcher Beziehungen, die aber zweifellos einem mechanistischen Denkmuster entsprachen. Die hemdsärmelige Geisteshaltung der Studios, ergänzt um die naiv-hermeneutischen Verfahren der tradierten Kunstanalysen, tat freilich meist das Ihre, die mechanistischen Prinzipien durch Laxheit zu korrigieren, was dazu führte, dass auch ein Spielraum für die Belange der Kunst blieb. Trotz mancher Vorzüge, die sich bei seiner Handhabung im Diskurs der Praxis ergaben, zeigte dieses Verfahren jedoch seine Grenzen. 1.3 Anomalien der Gestaltung als Herausforderung für die Filmanalyse 7 1.3 Anomalien der Gestaltung als Herausforderung für die Filmanalyse 1.3 Anomalien der Gestaltung als Herausforderung für die Filmanalyse Grenzen in Form unlösbarer Bewertungs-Probleme stellten sich etwa besonders dann ein, wenn Filme zu gestalterischen Lösungen fanden, die den Normen des Mainstream-Kinos nicht entsprachen, sondern im Gegensatz zu gängigen Kriterien standen. Im Verlauf der filmgeschichtlichen Entwicklung kam es immer wieder zu sporadischen Abweichungen solcher Art. Die Anomalien häuften sich aber in bestimmten historischen Phasen – wie beim Eintritt in die Kino-Moderne an der Schwelle der 1960er Jahre oder beim Anbruch der Postmoderne im Bereich der AV-Medien ein Vierteljahrhundert darauf. So zeigte sich etwa mit Beginn der Kino-Moderne, dass die bis dahin allgemein angestrebte klassische Erzählform von Filmgeschichten, die sich an einer dramatisch aufgebauten geschlossenen Kette von Ereignissen orientierten, deren kausalen Zusammenhang der Zuschauer bewusst miterleben konnte, für viele bedeutende Autoren und Regisseure des internationalen Kinos überhaupt nicht mehr von Interesse schien. Stattdessen tauchten auf der Leinwand immer häufiger Arbeiten auf, die von einem Zerfall der klassischen Fabel zeugten und Erzählweisen anboten, die eher als locker, episodisch, sujetlos oder offen zu bezeichnen waren. Die Filmwahrnehmung setzte dort offenbar auf Erlebnisgehalte, die unterhalb der Bewusstheitsschwelle verblieben und beim Publikum eher vorbewusst wirksam wurden. Kaum zwei Jahrzehnte später bildete sich dann übrigens eine eher gegenläufige Tendenz heraus, die man auch als Vorboten der Postmoderne verstehen kann: Altbekannte Erzählmuster, vornehmlich solche aus dem Bereich der populären Genres, kamen plötzlich wieder stark zur Geltung. Sie gaben den Kino-Geschichten härtere Konturen zurück, ohne dabei freilich die einstigen klassischen Formen zu erreichen oder überhaupt anzustreben. So verloren beispielsweise die zu Beginn der Moderne gemiedenen und nun wieder genutzten Genreformen meist ihre frühere Überschaubarkeit und klare Wirkungstendenz. Ihre Strukturangebote vermischten sich vielmehr zu komplexen Hybridgenres und führten im Zuge der Postmoderne zunehmend zu Formkonglomeraten, die der Zuschauer kaum mehr bewusst zu erfassen vermochte. Analoge Veränderungen stellten sich im Konfliktaufbau der filmischen Kompositionen ein: Mit dem Eintritt in die Moderne verloren die Handlungen der Filme häufig den zentralen dramatischen Konflikt, der bis dahin als wichtiges künstlerisches Kriterium gegolten hatte. Anstelle eines einzigen dominanten Gegensatzpaares innerhalb der Figureninteressen, dessen Entwicklung das Geschehen dynamisierte, bildeten sich umfangreiche Konfliktfelder heraus, die der Zuschauer oft mühevoll innerhalb von Klein- und Kleinsthandlungen auffinden musste. Die abnehmende Signifikanz der Konfliktmomente erschwerte oft nicht nur deren bewusste Rezeption und emotionale Aneignung durch den Zuschauer, sondern auch dessen Projektion von Handlungszielen der Protagonisten, damit die Voraussagbarkeit möglicher Geschehensverläufe sowie das bewusste Erleben von Konfliktentscheidungen. Viele Filme fanden daher gar nicht zu Schlüssen, die auf deutlichen Entscheidungen basierten, was 7 8 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst dann Konsequenzen für die Bestimmung der Sinntendenz des jeweiligen Werkes mit sich brachte. Häufig fühlte sich der Zuschauer sogar dazu angehalten, auf eine Klärung der künstlerischen Botschaft zu verzichten, war er doch aufgefordert, die im Werk absichtsvoll angelegte Ambiguität als stilistisches Merkmal eines „offenen Kunstwerks“ zu akzeptieren (vgl. Eco 1977, 202). Parallel zu den Veränderungen der Erzählweisen bzw. in Wechselwirkung mit ihnen kam es zu einem Wandel in der Auffassung des Filmbildes, des Kamerablicks auf den dargebotenen vorfilmischen Lebensausschnitt. Ähnlich, wie das klassische Schema der kausalen Ereignisverkettungen bei der Konstruktion der Filmgeschichten in den Hintergrund trat, geriet auch manches in die Peripherie der Aufmerksamkeit, was vorher bei der Bildgestaltung oder Organisation der Kamerahandlung für selbstverständlich oder unabdingbar gehalten worden war. Statt die Aktionen der Protagonisten mit der Kamera zu verfolgen und für den Zuschauer so ins Bild zu setzen, dass sie mit der Erreichung der aufgenommenen Handlungsziele oder Konfliktentscheidungen für diesen möglichst zuverlässig beurteilbar waren, entschlossen sich Regisseure wie Antonioni, die Figuren auch jenseits dieser Drehpunkte weiter zu beobachten. Anderen Filmemachern schien es sinnvoll, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Vorgänge zu lenken, die über die Grenzen des Bildrahmens hinausgingen, so dass die unmittelbare Onscreen-Wahrnehmung des Zuschauers durch dessen Vorstellungen darüber, was im Offscreen-Bereich vonstattenging, ergänzt oder gar ersetzt wurde. Die bisher geltende Norm, die Handlung ins Bildzentrum zu setzen, war damit außer Kraft gesetzt, wie sie auf andere Art dadurch eine Brechung erfuhr, dass die Leinwand gelegentlich menschenleere Schauplätze zeigte, auf denen sich die Protagonisten erst nach einer gewissen Zeit einfanden. Auch die bestehenden Montage-Konventionen erfuhren manche Verschiebung. Statt der gängigen Aufgliederung einer Szene in einzelne Kamera-Einstellungen, die dann in einer Montagefolge zusammengefasst wurden, kamen etwa lange Plansequenzen zur Anwendung, welche auf Schnitte verzichteten, dafür aber widersprüchliche Lebenserscheinungen in unmittelbaren raumzeitlichen Zusammenhang zu bringen vermochten. Auffälliger für das große Publikum als diese Veränderungen innerhalb der Kamera-Einstellungen waren die offensichtlichen Verletzungen bestehender Montageregeln wie des so genannten Achsen-Sprung-Verbots und ähnlicher Schnittkonventionen, Brüche, die man etwa an Filmen Godards beobachten konnte und von vielen Zuschauern als schockierend empfunden wurden. Und nicht nur von diesen. Die Filmbranche selbst war oft tief verunsichert. Einige dieser Form-Veränderungen der Kino-Moderne, die inzwischen umfassend historiographisch erfasst worden sind (vgl. Kovács 2007), traten als singuläre Erscheinung auf, andere massiert und in engem gemeinschaftlichem Verbund. Da sie die gängigen Gestaltungsnormen absichtsvoll brachen, war ihr künstlerischer Wert schwer beurteilbar, denn mit den Normen gerieten auch die Bewertungskriterien aus der Sicht. Aus der Beschreibung der originellen Formstruktur allein ließ sich nicht ohne Weiteres ableiten, welche ästhetische oder psychologische Funktion sich aus ihr ergeben dürfte. Um diese Funktionen aber genauer zu bestimmen, schien es nötig, mit dem Formangebot auch systematisch dessen 1.4 Zur Schlüsselrolle der Psychologie in zukünftigen Analyseprozessen 9 Wirkungspotenzial zu untersuchen, was übrigens nicht minder für die Gestaltungsweisen des Mainstream-Kinos galt, deren Wirkmomente ebenfalls eine solche Analyse brauchten. Für die Filmtheorie bedeutete das eine enorme Herausforderung, musste dafür doch ein unbekanntes Problemfeld beschritten werden, das in Bereiche jenseits der eigenen Disziplin führte, etwa in die Psychologie, Kulturanthropologie, Soziologie. Manche nationalen Kulturen empfanden dies als Stimulus, und die jeweiligen „Neuen Wellen“, über die sich die Kino-Moderne realisierte, haben dann dazu beigetragen, dass die Cinéasten durch die Anomalien veranlasst wurden, ihr Metier zu überdenken. Der Zwang der Praxis, der Wirkungsdimension des Films analytisch gerecht zu werden, ist nicht geringer geworden. Der allgemeinen Forderung, die Werke der Filmkunst in ihren Differenzierungen präzise zu beschreiben, in ihren ästhetischen Funktionsweisen plausibel zu interpretieren und einschließlich ihres psychologischen Wirkungspotenzials angemessen zu bewerten, kann bis heute nur bedingt entsprochen werden. 1.4 Zur Schlüsselrolle der Psychologie in zukünftigen Analyseprozessen 1.4 Zur Schlüsselrolle der Psychologie in zukünftigen Analyseprozessen Auf die Frage, welche Wege einzuschlagen wären, um aus dieser unbefriedigenden Situation herauszukommen, kann man verschiedene Antworten finden. Wie immer sich die Wissenschaft vom Film und den anderen audiovisuellen Medien aber zukünftig entwickeln mag, sie wird nicht umhin kommen, sich zielstrebiger und tiefgründiger mit den Zusam- menhängen von Struktur und Funktion der Kommunikate, von künstlerischer Gestaltung und ästhetischer Wirkung zu befassen, auch mit deren psychischen Konsequenzen. Und sie wird dies in Kooperation mit Nachbardisziplinen wie Kunst- und Literaturwissenschaft, Ästhetik, Kulturwissenschaft, Anthropologie, Soziologie und Psychologie tun müssen. Unter all diesen Disziplinen aber kommt der Psychologie eine Schlüsselrolle zu, weil sich die entscheidenden Funktionszusammenhänge bei der Kreation und Rezeption von Film vornehmlich im Rahmen psychischer Prozesse realisieren. Zudem besteht die begründete Hoffnung, unter Nutzung der weitaus verlässlicheren Forschungsmethoden dieser Nachbardisziplin generell zu valideren Aussagen bei den eigenen filmbezogenen Untersuchungen zu kommen. Der Wunsch, Zusammenhänge zwischen filmischen Formangeboten und jenen psychischen Reaktionen herstellen zu können, die sie im Bewusstsein des Zuschauers herbeifüh- ren, hat die Cinéasten seit langem dazu bewegt, bei ihren Reflexionen über einzelne Filme und umfangreiche Prozesse der medialen Kommunikation Vermutungen psychologischer Art zu äußern oder einschlägige Anmutungen zu notieren. Einfach deshalb, weil man mit Gestaltungsproblemen konfrontiert war, die essenziell mit Wirkungskonsequenzen für die Psyche des Publikums zusammenhingen und ohne ein Nachdenken über diese kaum verhandelt werden konnten. Für die im Feuilletonbereich der Zeitungen beheimateten Kritiker erschien es darum ganz natürlich, am Rande einer Filmbesprechung, die sich zu 9 10 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst einem Urteil über Inhalt und Form eines neuen Kinostücks verpflichtet sah, noch eine Kür mit psychologischen Argumenten unterzubringen. Die junge Filmwissenschaft hat diese Praktiken bereitwillig übernommen. Sie hat sich ihrerseits psychologischer Argumente bedient, meist jedoch intuitiv und sporadisch. Psychologische Untersuchungen zum Film hat es früh gegeben. Bereits während des Ersten Weltkriegs kam das filmpsychologische Buch des Deutsch-Amerikaners Hugo Münsterberg unter dem Titel „The Photoplay. A Psychological Study“ ([1916] 1996) heraus, ein Werk von erstaunlichem Weitblick, das aber seinerzeit wegen öffentlicher Anfeindungen des prominenten Wissenschaftlers, der sich gegen den Eintritt der USA in den Krieg gegen Deutschland eingesetzt hatte, kaum Verbreitung fand und dann über Jahrzehnte in Vergessenheit geriet. Seit Beginn der 1920er Jahre legte der russische Regisseur Sergei M. Eisenstein nachhaltiges Interesse für die psychologischen Aspekte seines Metiers an den Tag, die auch seine Kunstkonzepte prägten. Er stand in Arbeitskontakten mit bedeutenden Psychologen seiner Zeit und plante in den 1930er Jahren mit seinem Landsmann Lew S. Wygotski ein gemeinsames Forschungsprojekt, dessen Zustandekommen jedoch durch den frühen Tod des Psychologen verhindert wurde. Rudolf Arnheim, der bei den Gestaltpsychologen Max Wertheimer und Wolfgang Köhler promoviert hatte, veröffentlichte 1932 ein filmtheoretisches Buch unter dem Titel „Film als Kunst“ (1974), das die künstlerischen Ausdrucksmittel des Mediums unter gestaltpsychologischen Gesichtspunkten darstellte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich im frankophonen Bereich die psychologisch ausgerichtete Gruppe der „Filmologie“ mit einer eigenen Zeitschrift (vgl. Wallon 1947; Lowry 1985; Hedinger 2003). Und während der 1960er Jahre erschien das umfassende zweibändige Werk „Esthétique et psychologie du cinéma“ (1963; 1965) von Jean Mitry, das zentrale ästhetische Gesichtspunkte des Films in einen breiten philosophischen und kulturellen Kontext stellte und dabei auf zahlreiche psychologische Fragen einging. Gleichwohl stellte die Anbahnung eines zielgerichteten gemeinsamen Erkenntnisgewinns sowohl Filmwissenschaft wie Psychologie vor Schwierigkeiten gravierender Art, und trotz kühner und ergiebiger Erkundungen Einzelner steckt eine systematische empirische psychologische Erforschung ästhetischer Filmwirkungen durch beide Disziplinen erst in ihren Anfängen. Daran hat auch die Herausbildung einer eigenständigen Medienpsychologie wenig geändert, weil diese sich bislang vornehmlich mit der Nutzung der audiovisuellen Medien und kaum mit deren spezifischen Kunstwirkungen befasste. Die Ursachen für die vorhandenen Entwicklungsprobleme sind vielfältig. Bis in die 1960er Jahre fehlte es nicht nur der Filmwissenschaft an einem konsistenten Theorieansatz, der einen Erkenntnistransfer mit dem anderen Bereich erlaubt hätte. Vielmehr war auch der Wissensbestand der Psychologie uneinheitlich und zerfiel in unterschiedliche Strömungen und Schulen mit oft konträrer Ausrichtung. Die Filmwissenschaft konnte deren Arbeitsresultate zwar aufgreifen, von sich aus jedoch kaum so zusammenführen, dass dies zu einer neuen Qualität bei der Bewertung von Filmwirkungen geführt hätte. Fundamentale Erschwernisse für eine interdisziplinäre Kooperation ergaben sich nicht zuletzt dadurch, dass Filmwissenschaft und Psychologie hinsichtlich ihrer Beschreibungs- 1.4 Zur Schlüsselrolle der Psychologie in zukünftigen Analyseprozessen 11 weisen, Wahrheitskriterien und methodischen Zugänge über sehr unterschiedliche Voraussetzungen verfügen. Einer Unterscheidung der Wissenschaftstheorie (vgl. Walach 2013, 355) folgend, lässt sich annehmen, dass die Filmwissenschaft ihren Gegenstand eher im Sinne der Geisteswissenschaften auffasst und durch verstehende Methoden, Hermeneutik oder alltagspsychologische Zugänge zu erschließen sucht, während die Psychologie dahin tendiert, diesen als ein materielles System zu behandeln, welches man vermittels Beobachtung, Messung und anderer objektivierender Verfahren dokumentieren kann. In der Tat hat die psychologische Forschung schon seit langem die experimentelle Methode zu ihrem Königsweg erklärt (vgl. Parducci / Sarris 1986), versprach sie sich davon doch eine vergleichbare Verlässlichkeit und Beständigkeit im Fortschreiten des Erkenntnisgewinns, wie sie von den Naturwissenschaften erreicht worden war. Die Beibehaltung und systematische Erweiterung des Paradigmas psychologischen Experimentierens hat offensichtlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Disziplin auch allgemeine Akzeptanz im Verband der exakten Wissenschaften erwerben konnte.1 Im Zuge ihres cognitive turns in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist es der Psychologie zudem gelungen, dank einer Generalisierung des Informationsmodells neue Standards für die Vereinheitlichung und Zusammenführung der Erkenntnisse aus vielen ihrer Teilbereiche zu gewinnen und dergestalt die Disziplin als Ganzes zu einem lernenden System zu machen. Die Filmwissenschaft hat Veränderungen in eine ähnliche Richtung bisher indes nur angedacht. Um zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zu gelangen, müssen die beiden verschieden strukturierten und ungleich entwickelten Partnerdisziplinen zu kompatiblen Forschungsansätzen finden, die zu gemeinsamen Modellen und Hypothesen führen. Der erwünschte Brückenschlag ist also mit beträchtlichem Aufwand in verschiedenen Bereichen verbunden, besonders bei der Theorieentwicklung und der Wissenschaftsorganisation beider Disziplinen sowie einer praktischen Institutionalisierung der Forschung. Hatte die Filmwissenschaft bisher mehr oder weniger die Verfahrensweisen der Kritiker-Innung übernehmen können, deren Vertreter nach der Kinovorstellung ihre individuellen Eindrücke auf den Papierservietten des Caféhauses notierten, so trägt sie nun gleichsam die Mitverantwortung für die Planung umfangreicher und zeitaufwendiger Projekte der Psychologie, die wiederum als Hintergrund ein massives wissenschaftliches Establishment benötigen. Sicher braucht es für die wissenschaftliche Auseinandersetzung auch in Zukunft den subjektiv geprägten sinnlichen Kontakt mit dem künstlerischen Material. Die Auskunft über die eigene psychische Reaktion auf das ästhetische Angebot des Films dürfte also nach wie vor ihre Existenzberechtigung behalten. Und vielfach ist selbst im Fachdiskurs eine anschauliche Argumentation am Platz, die weder jeden Eindruck semantisiert haben möchte noch auf persönliche Anmutungen zu Erlebnisqualitäten zu verzichten gedenkt. 1 Für diese Anerkennung spricht etwa, dass die Internationale Union für Psychologische Wissenschaft 1982 vom International Council of Scientific Unions (ICSU) als 19. Vollmitglied aufgenommen wurde, nachdem sie bis dahin im UNESCO-Kreise nur unter den Sozialwissenschaften figurierte (vgl. Klix 1986, 10). 11 12 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst Der natürliche Hang des Filminterpreten, seine hermeneutischen Auskünfte zu Kunstwirkungen im Gedankengut der Psychologie zu spiegeln, erweist sich aber zunehmend auch als Falle, weil die beiläufigen schillernden Formulierungen im fremden Fachvokabular die notorische Unschärfe ästhetischer Urteile oft nur vergrößern. Wenn die Wissenschaft vom Film bzw. der audiovisuellen Medien daher jetzt nicht nach Wegen sucht, ihre semi-psychologischen Aussagen zur Wirkungsproblematik auch einer Prüfung durch empirische Studien der Nachbardisziplin zu unterwerfen, was entsprechende eigene Vorleistungen nötig macht, wird sie sich und ihrer Sache zweifellos schaden. Denn zum einen hätte der Verzicht auf die anstehende professionelle Zusammenarbeit mit der Psychologie den eigenen Kompetenzverlust bei der Beurteilung des Kunstmediums Film zur Folge, das nicht mehr ohne seine Wirkungsdimension gesehen werden darf. Zum anderen hätte diese Unterlassung wohl zur Konsequenz, dass die Medienpsychologie weiterhin wenig aussagefähig zur inhaltlichen Seite der audiovisuellen Medienkommunikation bleiben dürfte, was im Hinblick auf deren zunehmende soziale Bedeutung verhängnisvoll wäre. Das Buch möchte diesen Gefahren begegnen, indem seine Darstellung, die Erkenntnisse zu unterschiedlichen Kino-Phänomenen und deren Rezeption bündelt, explizit Kurs auf die empirische Überprüfbarkeit zentraler Aussagen zu Filmwirkungen nimmt und sich zielgerichtet um die Auffindung praktikabler Anschlusspunkte für eine Kooperation mit der Psychologie bemüht. Ohne die seit jeher geübten, von subjektiven Vorlieben geleiteten Versuche einer psychologischen Interpretation filmkünstlerischer Ausdrucksweisen aufzugeben, will es Vorschläge dazu machen, wo eine gemeinsame Forschung mit der Psychologie ansetzen könnte. Denn es ist ja nötig, im filmkünstlerischen Material relevante Wirkmomente aufzufinden, die für empirische Studien als psychologische Beobachtungsgrößen und Variablen dienen können. 1.5 Die Auffindung psychologischer Wirkmomente des Films 1.5 Die Auffindung psychologischer Wirkmomente des Films Auf den ersten Blick lassen sich die im Rahmen der hier vertretenen rezeptionsästhetisch orientierten Auffassung, die die hermeneutische Dialektik von Inhalt und Form in eine funktionale Strukturanalyse zu überführen sucht und die künstlerischen Form- bzw. kompositorischen Strukturbeziehungen zunächst generell als Reizangebote betrachtet, wohl nahezu alle erkennbaren Reizkonfigurationen des Films als potenzielle ästhetische und damit zugleich auch als psychologisch relevante Wirkmomente ansehen. Eine effizi- ente transdisziplinäre Forschung kann es sich indes nicht leisten, an beliebiger Stelle zu beginnen und Zuschauerreaktionen irgendwelcher Art zu ermitteln, sondern sie muss bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials von vorneherein Prioritäten setzen, die zu relevanten Aussagen führen, welche den Erkenntnisgewinn voranbringen. In ihrem Bemühen, im Strukturangebot filmischer Werke solche Wirkmomente aufzufinden und Relevanzkriterien für sie zu bestimmen, steht die Wissenschaft jedoch noch am Anfang. 1.5 Die Auffindung psychologischer Wirkmomente des Films 13 Auch wenn die Chancen für die Schaffung einer „Grand Theory“ des Films wechselvoll sind (vgl. Bordwell 1996), ist es für die Suchprozesse von heute sicher sinnvoll, als Fernziel eine integrative Theorie des Films oder der AV-Medien anzuvisieren, die eine komplexe interdisziplinäre Untersuchung ihres Gegenstandes in Aussicht stellt und empirische Methoden nutzt, welche auf verlässlichere Aussagen über Gestaltung und Wirkung der Medienprodukte hoffen lassen. Nicht minder wichtig dürfte die Fokussierung auf Sinnproduktion und -vermittlung im ästhetischen Geschehen sein, erscheint doch die Bedeutungsbildung für den Kunstprozess als unverzichtbar, ihre Berücksichtigung bei der Analyse daher als obligat. Diese Sinnfunktion ist freilich von besonderer Art, abhängig von allgemeinen ästhetischen Kriterien und den spezifischen künstlerischen Möglichkeiten des Mediums. Die Filmwissenschaft von heute bietet zahlreiche – wenngleich implizite – Hinweise, die für eine Herausarbeitung ästhetischer Wirkungen förderlich sein dürften. Diese finden sich meist dort, wo sich die ästhetische Urteilsbildung mit spürbaren Eindrücken konfrontiert sieht, die sich offenbar aufgrund künstlerischer Formgebung beim Zuschauer einstellen und von diesem selbst als individuell erlebte psychische Reaktionen wahrgenommen werden, als signifikante Effekte. Gemeint sind damit nicht nur offenkundige Effekte wie die laut vernehmbare Lachsalve im Kinosaal angesichts einer komischen Szene, sondern auch derart unspektakuläre Reaktionen wie der massenhaft vorkommende Kontinuitätseindruck der Zuschauer, der sich beim Erleben von Montagesequenzen einstellt, welche mit Selbstverständlichkeit räumliche und zeitliche Sprünge im Handlungsgeschehen überbrücken. Für die aktuelle Forschungssituation ist von Belang, dass sich hinter manchen dieser potenziellen Wirkmomente im filmischen Werk künstlerische Verfahren zeigen, die strukturell beschreibbar sind, so dass man Annahmen über ihre psychologisch relevante Funktion formulieren kann. Strukturelle Veränderungen der filmischen Form- oder Reizangebote lassen ja auch Veränderungen der Funktionsweisen erwarten, die sich in abgewandelten psychischen Reaktionen äußern. Unterschiedliche Verfahren des Erzählens, die etwa über verschiedenartige kognitive Prozesse beschrieben werden können, deuten beispielsweise auf verschiedene Wege hin, aus den einzelnen Ereignissen jeweils ein kohärentes Geschehen entstehen zu lassen. Ähnlich steht es um Methoden filmischer Spannung, komischer Verfremdung oder Montageweisen. Im Rahmen einer empirischen psychologischen Untersuchung können die partiellen Strukturbeschreibungen des filmischen Werkes dann jeweils in unabhängige psychologische Variablen überführt werden. Letztere bilden die Voraussetzung dafür, dass den konkreten Reizangeboten der Komposition bestimmte Reaktionen zugeordnet werden können, welche geeignet sind, die Unterschiedlichkeit der Wirkungsweisen mithilfe verlässlicher Daten zu bestimmen. Im Analyseprozess treten diese Reaktionen dann als abhängige Variablen in Erscheinung. Generell sind empirische Aussagen über psychologische Wirkungen des Films durch Prüfung von Hypothesen zu den erwarteten Zuschauerreaktionen zu gewinnen. Wenn man etwa zu Hypothesen, d. h. zu vorläufigen, vermuteten Antworten auf Fragen von der Art kommen will, welche funktionalen Zusammenhänge zwischen einem konkreten künstlerischen Formangebot und bestimmten Wirkungen im Erlebensprozess des Zu- 13 14 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst schauers bestehen mögen, ist es erforderlich, im Erlebensprozess des Zuschauers nach geeigneten psychologischen Beobachtungsgrößen zu suchen, die darüber Auskunft geben können. Gemeint sind damit eben jene psychophysiologischen Reaktionen des Zuschauers, die unterschiedliche Ausprägungsgrade annehmen können. Denn zur Überprüfung der Hypothesen müssen diese Variablen operationalisierbar sein, d. h. man muss ihnen klare empirische Sachverhalte zuordnen können, z. B. in Gestalt messbarer Größen (vgl. Hussy / Schreier / Echterhoff 2010, 38). Als aussagefähig über Filmerleben gelten gegenwärtig beispielsweise variable Größen wie die unterschiedliche Herzfrequenz, die wechselnde Stärke der elektrodermalen Reaktion oder Veränderungen im Bereich der Augenbewegung, ebenso von solchen der Mimik oder der Motorik. Eine gemeinschaftliche Forschung von Filmwissenschaft und Psychologie muss einerseits dafür sorgen, dass die Erkenntnisse der Filmexperten ausgeschöpft werden, um die partiellen Strukturbeschreibungen des künstlerischen Werks im Einzelnen zu präzisieren und im Hinblick auf ihre Komposition bestimmten Relevanzkriterien zu unterwerfen, damit optimale unabhängige Variablen verfügbar werden, wie sie andererseits die Möglichkeiten der psychologischen und soziologischen Untersuchung ausschreiten sollte, um jene Beobachtungsgrößen zu qualifizieren, die die abhängigen Variablen bestimmen. Die Auffindung bzw. Konstruktion der unabhängigen Variablen dürfte vor allem Sache der Filmwissenschaft sein, und das Buch befasst sich daher fast ausschließlich mit den entsprechenden Problemen, während die Ausarbeitung und Auswertung der Reaktionen, d. h. der abhängigen Variablen, in den Händen einer Film- oder Medienpsychologie liegen sollte. Der wohl dringlichste Arbeitsschritt für ein solches Gemeinschaftsprojekt dürfte darin bestehen, überhaupt mit empirischen psychologischen Studien zu ästhetischen Wirkungen des Films zu beginnen, und zwar auf eine Weise, dass die transdisziplinäre Forschung möglichst die Entwicklung beider Disziplinen voranbringt und nicht nur einer dient. Unter anderem setzt dies voraus, einen Hypothesen-Verbund auf zwei Ebenen der Untersuchung zu projektieren. Eingangs geht es um die Klärung der Frage, ob sich bei der Verwendung bestimmter filmischer Gestaltungsverfahren deutliche Reaktionen nachweisen lassen oder nicht. Denn ohne einen solchen Nachweis, der gleichsam unter Nutzung von Annahmen geschieht, die hier als „Hypothesen der ersten Generation“ bezeichnet werden sollen, kommt eine empirische Wirkungsforschung generell nicht aus. Für die Filmwissenschaft hat dergleichen indessen erst dann wirklichen Wert, wenn dabei Erkenntnisse zur Klärung künstlerischer Fragen eingebracht werden, die sich ohne tieferes Wissen um psychologische Wirkmomente nicht beantworten lassen: Warum etwa in manchen Erzählungen mit offener Form eine Kohärenz der Filmgeschichte gewahrt bleibt, obschon dies gegen die Normen des Mainstream ist. Oder, warum es für die Wirkung bestimmter Handlungen der Figuren sinnvoll sein kann, wenn die Kamera die Personen nach dem erreichten Handlungsziel am Ende der Szene noch weiter aufnimmt. Oder aber, warum bei der Darstellung bestimmter Vorgänge die aufwendigere Plansequenz der gängigen analytischen Montage vorzuziehen ist. Für die Klärung solcher Fragestellungen braucht es einen anderen Typ von Annahmen, die hier als „Hypothesen der zweiten Generation“ bezeichnet werden. Auch wenn diese Publikation nicht zu solchen Hypothesen 1.5 Die Auffindung psychologischer Wirkmomente des Films 15 und ihrer empirischen Prüfung vordringt, sollen die darin skizzierten Modellansätze dazu beitragen, dass eine weiterführende Untersuchung nicht beim Nachweis von irgendwelchen psychophysiologischen Zuschauerreaktionen stehen bleiben muss, die für die Aufklärung filmrelevanter Fragestellungen bedeutungslos sind. Neben einem umständlichen, nicht eben kunstfreundlich anmutenden Konstruktionsakt erfordert die transdisziplinäre Kooperation die Bereitschaft zu einem abenteuerlichen Unterfangen, bei dem die Wissenschaft vom Film genötigt ist, ihre eigenen Fragestellungen auf dem bislang nicht sondierten Terrain der Nachbarwissenschaft zu platzieren – wie weiland James Bond, wenn er Wurfanker mit dünnen Stahlseilen daran über einen Abgrund schleuderte, um auf die unbekannte andere Seite zu gelangen. Überhaupt erweist sich der geplante Brückenschlag zwischen den beiden Wissenschaften kaum als Errichtung einer massiven Konstruktion, über die man sich bequem in beiden Richtungen bewegen kann, sondern eher als Befestigung einer Schar äußerst dünner provisorischer Verbindungen, über die man balancieren muss wie ein Seiltänzer. Bereits die hier aufgezählten Voraussetzungen und Bedingungen für eine transdisziplinäre Forschung bringen zahlreiche Arbeitsprobleme mit sich, für die es keine approbierten Lösungen gibt. Nicht zuletzt wegen dieser Erschwernisse ist die benannte Herangehensweise unüblich und findet bisher kaum statt. Entscheidet man sich dafür, kommt der Filmwissenschaft innerhalb des arbeitsteiligen Prozesses die Aufgabe zu, Vorschläge zu machen, wo und wie mit einer Analyse konkreter Filmwerke bzw. deren Wirkungen begonnen werden sollte, die den Interessen beider Disziplinen entgegenkommt. Angeknüpft werden kann dabei an Erfahrungen, die sich in den letzten drei Jahrzehnten besonders unter Etiketten wie „Kognitive Filmtheorie“ und „Kognitive Filmpsychologie“ herausgebildet haben. Erkenntnisse zu psychischen Basisfunktionen des Menschen wurden dort dafür genutzt, zunächst die kognitive und später die emotive Wirkungsdimension des Films zu erhellen. Inzwischen gibt es Überlegungen, sich auch der imaginativen Funktion des Filmerlebens zu nähern. Dabei scheint es sinnvoll, von vorneherein einen holistischen Ansatz der psychologischen Beschreibung zu verfolgen und das Gesamtfeld psychologisch relevanter Wirkmomente auf möglichst umfassende Weise ins Auge zu fassen, auch wenn dies einstweilen nur über eine lose Abfolge separater Deskriptionsmodelle geschehen kann, die sich jeweils auf eng gefasste Teilbereiche der Disziplin beziehen. Anvisiert wird die Schaffung eines psychologischen Kernmodells für das ästhetische Erleben, das sich zumindest auf die psychischen Basisfunktionen von Kognition, Emotion und Imagination bezieht und zudem komplexere psychische Aktivitäten wie imaginatives Spiel, Traum, Intentionalität, Aufmerksamkeit oder Priming zu berücksichtigen sucht. 15 16 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst 1.6 Werkmodelle zur psychologischen Deskription filmischer Strukturen 1.6 Werkmodelle zur psychologischen Deskription filmischer Strukturen Die Untersuchung geht dabei unmittelbar von der Betrachtung des filmischen Materials aus, indem sie mit einer funktionalen Strukturbeschreibung konkreter Filmwerke beginnt. Künstlerische Gestaltungsweisen mit ihren spezifischen Reizkonfigurationen werden in Werkmodellen abgebildet, die dann die Voraussetzung für alle weiteren Arbeitsschritte bilden, welche die Funktionsweisen der Komposition mit ihren psychologisch relevanten Wirkungen betreffen. Am Anfang steht die sinnlich-konkrete Bestandsaufnahme künstlerisch organisierten Reizmaterials, beispielsweise in Gestalt bestimmter Erzählweisen, Konfliktsituationen, Kamerahandlungen oder Montageformen. Für eine Aufgliederung der unterschiedlichen filmischen Strukturen hat sich das Kategorien-System der klassischen Filmtheorie mit den ihm zugeordneten Wissensbeständen zu erkennbaren Regelhaftigkeiten empfohlen, werden doch dort Erfahrungen zu zentralen Aspekten von Gestaltung und Wirkung des Spielfilms zusammengefasst. Da sich für Dramaturgie und mediale Gestaltungstechniken jeweils grundverschiedene Möglichkeiten ergeben, den Bedeutungsbildungsprozess des Filmganzen sowie dessen partielle Wirkmomente zu beeinflussen, wird im künstlerischen Formenangebot zwischen (dramaturgisch determinierten) filmischen Makrostrukturen und (durch die technischen Gestaltungsmittel bestimmten) filmischen Mikrostrukturen differenziert. Für die Gesamtdarstellung des Buches hat dies eine entsprechende Zweiteilung zur Folge, deren Zäsur zwischen dem 12. und 13. Kapitel liegt. Bei den Deskriptionsverfahren geht es im Prinzip darum, die filmischen Darstellungen von fiktiven, doch mehr oder weniger realitätsnahen Vorgängen im Rahmen jenes Erlebensprozesses zu sehen, den sie dem Zuschauer vorgeben. Bilder und ganze Ereignisse des Films erscheinen dabei als Reizangebote innerhalb eines Rezeptionsvorganges, der mit einem Informationsverarbeitungsprozess des Zuschauers verbunden ist. Die auf der Leinwand dargebotene Lebenswelt wird dort jeweils in ihrer Gebundenheit an die mentale Verarbeitung des Umweltgeschehens durch den Zuschauer betrachtet. Und insofern in dessen Bewusstsein ein internes Modell der Außenwelt entwickelt wird, das Analogiebeziehungen zu einzelnen lebensweltlichen Strukturen und deren Verknüpfungen zeigt, lassen sich die filmischen Reizangebote, oder zumindest einige wichtige davon, diesem Gedächtnisbesitz zuordnen. Der Analyse erlaubt dies, zusätzliche Differenzierungen für die Reizkonfigurationen vorzunehmen. Denn entsprechend der menschlichen Informationsverarbeitung weisen konkrete internalisierte Strukturen einen unterschiedlichen Aneignungsgrad auf, der dafür sorgt, dass die vom Film angebotenen Strukturbeziehungen im Bewusstsein des Zuschauers einen variablen mentalen Status gewinnen, und zwar im Hinblick auf die unterschiedlichen psychischen Funktionen einen solchen kognitiver, emotiver oder imaginativer Art. Im Dramaturgie-Teil des Buches werden zu diesen psychischen Funktionen separate Beschreibungsansätze entwickelt, die dann bei der Interpretation filmischer Phänomene zur Anwendung kommen: So die kognitive Beschreibung zunächst an Phänomenen der 1.6 Werkmodelle zur psychologischen Deskription filmischer Strukturen 17 Narration, die emotionsbezogene an denen des filmischen Konflikts, die auf Vorstellung bezogene im Hinblick auf die Intentionen der Figuren sowie die damit verbundene Intentionalität von Filmschlüssen. Über die differenzierte Beschreibung der psychischen Funktion erschließen sich auf diese Weise Feinheiten der jeweiligen Werkstruktur und deren Wirkung. Am Anfang der Überlegungen steht (im 3. Kapitel) die Ausarbeitung eines elementaren Beschreibungsmodells für die kognitiven Prozesse innerhalb der Filmrezeption. Dieses geht von der Annahme aus, dass im sinnlichen Aneignungsprozess des Films auf manchen Ebenen der künstlerischen Darstellung Strukturbeziehungen zu beobachten sind, die einer jeweils unterschiedlichen Phase von Informationsverarbeitung bzw. kognitiver Schemabildung zugeordnet werden können. Drei Phasen kognitiver Schemabildung lassen sich genauer bestimmen und über definierte Merkmale empirisch am Werk nachweisen. Sie führen dort zur Herausbildung von (1) perzeptionsgeleiteten, (2) konzeptgeleiteten und (3) stereotypengeleiteten filmischen Strukturen. (Aus den Initialen der drei Strukturtypen leitet sich die Bezeichnung des vorgeschlagenen PKS-Modells ab, das den kognitiven Status filmischer Reizangebote genauer bestimmbar macht). An konkreten Filmpassagen wird anschaulich gemacht, wie unauffällige invariante Reizmuster, die während der Perzeptionsphase eher vorbewusst aufgenommen werden, dank ihrer mehrfachen Wiederholung im gleichen Film allmählich die Bewusstheitsschwelle des Zuschauers erreichen. In der anschließenden Phase der Konzeptualisierung lassen bestimmte Reizangebote hingegen einen hohen Grad von Auffälligkeit erkennen, so dass sie dem Rezipienten bei einmaligem Sehen ohne jegliche Wiederholung sogleich hinreichend bewusst werden. Wenn sich invariante Reizkonfigurationen in vielen Werken des nämlichen kulturellen Repertoires anfinden, etwa im Rahmen von Arbeiten des gleichen Genres, so führt dies beim Zuschauer zu einem Stereotypisierungsprozess. In dieser späten Aneignungsphase, in der die Reizmomente Zeichencharakter gewonnen haben, erfasst der Zuschauer meist ihre Bedeutung sogleich. Bei allzu häufiger intertextueller Wiederholung ähnlicher Formangebote werden diese indes aufgrund von Habituation oft wieder unauffällig für ihn und dann eher unbewusst rezipiert. Manche der erwähnten gestalterischen Merkmale (wie unterschiedlicher Auffälligkeits- und Bewusstheitsgrad bzw. abweichender Wiederholungsmodus) spielen für die kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Erzählstrukturen eine Rolle, was (im 4. und 5. Kapitel) umfassend zur Sprache kommt. So erweist sich etwa, dass die allgemein favorisierte geschlossene filmische Erzählung auf der auffälligen und bewusst nachvollziehbaren Kausalkette der Ereignisse beruht, welche den konzeptgeleiteten Strukturen zuzuordnen ist. Lockere, episodische Ereignisfolgen mancher Arthouse-Produktionen basieren hingegen auf der häufigen Wiederkehr ähnlicher Ereignisstrukturen im gleichen Film, die zu so genannten Topik-Reihen formiert sind. Eine Besonderheit der Topik-Reihen liegt darin, dass sie offene Erzählungen hervorbringen, deren Sinnzusammenhang sich der Zuschauer über längere Wahrnehmungsprozesse unterhalb der Bewusstseinsschwelle erschließen muss. Im Unterschied dazu stützen sich Erzählstereotype, wie sie etwa in Genrefilmen vorkommen, auf Ereignisse, deren Ablaufschemata dem Zuschauer bereits 17 18 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst aufgrund früherer kultureller Lernprozesse geläufig sind, so dass er sie aufgrund von Gewöhnung mitunter wieder unbewusst und beiläufig aufnimmt. Die benannten drei Strukturtypen der Narration finden sich in unterschiedlichstem Umfang und verschiedenster Konstellation in jedem Filmwerk, und dessen jeweilige Erzählweise lässt sich mit ihrer Hilfe beschreiben, was die Konstruktion variabler Werkmodelle zur Narration ermöglicht. Für die Medienpraxis sind solche Modell-Annahmen, die sich zudem empirisch überprüfen lassen, u. a. deshalb von Interesse, weil sie erkennbar machen, dass im filmischen Erzählvorgang nicht nur auffällige und bewusst erlebte Kausalketten von Ereignissen wirksam werden können, sondern ebenfalls Vorgänge, die auf vorbewusste oder unbewusste Erlebnisgehalte zurückgehen. Auch sie haben offenbar ihren Anteil daran, dass sich im Erlebensprozess des Zuschauers ein „roter Faden“ herausbilden kann, der auf ganz unterschiedliche Weise für die Kohärenz der Filmgeschichten sorgt. Aus dem Wirken der unbewusst rezipierten Erzählkomponenten lässt sich eine Erklärung dafür gewinnen, warum auch solche Filmwerke, die auf die klassische Kausalkette verzichten, also gemeinhin für einen „Zerfall der Fabel“ stehen, unter bestimmten Bedingungen sehr wohl zu kohärenten Geschichten finden können und keinesfalls mit Sinnverlust verbunden sein müssen. Für die Film- und Fernsehproduktion ergeben sich daraus stichhaltige Argumente, die für eine stärkere Akzeptanz offener Erzählformen sprechen. Das bereits früher entwickelte PKS-Modell (vgl. Wuss 1993a; 2009a) hat sich übrigens längst bei empirischen psychologischen Filmstudien bewährt (vgl. Suckfüll 1997). Im Buch kommt es auch für die Beschreibung von Bild- und Montagewirkungen zur Anwendung. Überlegungen des (im 6. und 7. Kapitel) vorgestellten Konflikt-Diskrepanz-Modells der Kino-Emotionen gelten den Zusammenhängen zwischen Konfliktmomenten auf der Leinwand und Problemlösungsprozessen des Zuschauers, vor allem aber dessen emotiven Reaktionen. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass affektive Erregungen beim Zuschauer dann eintreten, wenn es zu deutlichen Diskrepanzen zwischen seinen Erwartungen und den eintreffenden Ereignissen kommt, und zwar besonders im Hinblick auf die subjektive Beherrschbarkeit der dargestellten Situationen. Diese Diskrepanzen stellen sich nicht zufällig ein, sondern werden in der Regel durch die repräsentierten Widersprüche der Realität und die Konfliktsituationen der Figuren vorbereitet, mitunter aber bereits durch spürbare Differenzqualitäten im Formenangebot. Im gesamten Konfliktfeld des filmischen Geschehens finden sich damit Indizien für das Zustandekommen von medial erzeugten Affekten, was die Chance eröffnet, sich den so wesentlichen emotionalen Wirkungen eines Films von empirisch bestimmbaren Reizangeboten aus zu nähern. Wie das 8. Kapitel zeigt, lassen sich auch mögliche analytische Zugänge erkennen, die zur Klärung einiger filmgenerierter Vorstellungen führen. So scheint es sinnvoll, die Schlüsse vieler Filme systematisch daraufhin zu befragen, wie sie die zentralen Figurenintentionen, die die Handlung der Geschichte bestimmen, hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit und Zukunftsfähigkeit bewerten. Denn davon hängt in hohem Maße ab, mit welchen Vorstellungen, die seine Sicht auf die reale Lebenswelt betreffen und die Impulse für sein eigenes Handeln bestimmen, der Zuschauer aus dem Kino entlassen wird. Filmschlüsse können etwa so gestaltet sein, dass ihre Vorgänge entweder als Manifestation realer Lebensverhältnisse 1.6 Werkmodelle zur psychologischen Deskription filmischer Strukturen 19 zu nehmen sind, eher nur als möglich betrachtet werden können, oder aber lediglich als Wunschvorstellung der Autoren. Sie zeigen damit eine variable finale Intentionalität, was dabei helfen kann, die pragmatischen Impulse von Filmschlüssen empirisch-psychologisch zu bestimmen. Die Kino-Moderne hat sich oft bravourös der Intentionalitätsnuancen als Kunstmittel bedient, doch bis heute werden die damit verbundenen relativierten Schlusslösungen nicht als wichtiger Kunstgriff verstanden, zielführend die Vorstellungswelt des Zuschauers zu beeinflussen. Der zweite Teil des Buches gilt der Untersuchung medienspezifischer Gestaltungsverfahren, die das Kategorien-System der klassischen Filmtheorie durch Begriffe wie Bild, Ton und Montage zu erfassen sucht, wobei die Darstellung sich auf die visuell wirksamen Gestaltungsmomente beschränken muss. Die empirischen psychologischen Untersuchungen dazu stecken noch in ihren Anfängen, und auch das Buch macht noch keine Vorschläge für elaborierte Modelle. Wohl aber werden dort Anstrengungen unternommen, Erkenntnisse und Methoden der Aufmerksamkeitspsychologie für die Klärung filmischer Wirkungen zu nutzen. So werden Phänomene der Bildgestaltung und Montage daraufhin befragt, wie ihre Reizangebote die Aufmerksamkeitsprozesse des Zuschauers organisieren. Eingeleitet werden diese Überlegungen durch ein Kapitel, das der Bestimmung der Medienspezifik mit ihren divergenten Wirkungsfaktoren gilt, welche im Erlebensprozess des Zuschauers unauflöslich miteinander verschmelzen. Für den Doppelcharakter der Filmrezeption – der sich darin äußert, dass der Zuschauer die Darstellungen zugleich als Faktendokument und als Fiktion erlebt, als Repräsentation realer Lebenswelt und als künstlerisches Phantasieprodukt – wird eine komplementäre Beschreibung vorgeschlagen. Die beiden Funktionsweisen des Filmmediums lassen sich vermutlich auch psychologisch genauer bestimmen, nämlich im Hinblick darauf, ob darin jeweils Regelhaftigkeiten der Geschehenswahrnehmung dominieren, oder aber des imaginativen Spiels, das die Fähigkeit des Menschen zur Alternativen-Generierung entwickeln hilft. Eingegangen wird ferner auf die Analyse von Genres und Stilen. So werden allgemeine psychologische Voraussetzungen für die Etablierung von Genres und Stilen aus Prozessen von kultureller Stereotypenbildung abgeleitet, die sich auf der kognitiven Ebene empirisch bestimmen lassen. Genres lassen sich beispielsweise über invariante werkübergreifende Strukturbeziehungen auf kognitiver, emotiver und vermutlich auch imaginativer Ebene beschreiben, die sich der Zuschauer bereits in einem längeren kulturellen Lernprozess angeeignet hat, bevor er in einem aktuellen Filmerlebnis erneut mit ihnen konfrontiert wird und entsprechend ähnlich auf sie reagiert. Am Ende der Abhandlung findet sich ein Versuch, zuvor entwickelte Teilaussagen zur Struktur und Funktion filmischer Phänomene für eine formalisierte Stilbeschreibung zusammenzuführen. Der Begriff des Filmstils bezieht sich auf relativ stabile Formsysteme, die jeweils für einen übergreifenden Effekt expressiver Prägnanz sorgen, welcher ein gesamtes Werk oder eine ganze Gruppe von Werken prägt und auch beim Zuschauer bestimmte ästhetische Erwartungen aufbaut. Letzteres lässt sich psychologisch über das Wirken von Priming erklären, das auf der Bahnung der Informationsaufnahme in den nachfolgenden Phasen der Rezeption aufgrund von Voraktivierung durch die jeweils stilprägenden Reiz- 19 20 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst muster beruht. Filmstile lassen sich so anhand ihres Priming-Musters studieren, das eine Schlüsselfunktion für den gesamten Erlebensprozess ausübt. Entwickelt wird also eine ganze Reihe von Annahmen, die auf unterschiedliche Weise die empirische psychologische Untersuchung des Films erleichtern können. Durchweg handelt es sich dabei um solche, die auch für die Klärung praxisnaher künstlerischer Fragestellungen von Wert sein dürften. Neben Vermutungen, die zu ausgearbeiteten Modellvorstellungen und Hypothesen der ersten Generation führten, welche bereits einer empirischen Prüfung unterzogen wurden, finden sich andere, für die eine solche noch ansteht. Außerdem werden Vorschläge gemacht, die weitere künstlerische Phänomene des Films betreffen, jedoch noch nicht zu praktikablen Modellen ausgereift sind, sondern dafür nur Anregungen geben können. Einigen psychischen Phänomenen wie Spiel, Traum, Intentionalität, Priming, doch auch eng filmbezogenen wie Spannung, Realitätseffekt oder Plansequenz werden ganze Kapitel oder umfangreiche Passagen gewidmet. 1.7 Kontinuität und Umbrüche im Lern- und Forschungsprozess 1.7 Kontinuität und Umbrüche im Lern- und Forschungsprozess Wenn hier vor allem die Rede von psychologischen Annahmen und Modellvorstellungen war, dann deshalb, um die Interessenten aus der Medienpraxis auf die angesagte unübliche Betrachtung des Films einzustimmen und sie mit dem neuartigen Projekt der transdiszi- plinären Filmuntersuchung etwas vertrauter zu machen. Bei der Auseinandersetzung mit den künstlerischen Phänomenen ist aber weiterhin Kontinuität der intuitiven Aneignung gefragt, und zwar außer im sinnlichen Erleben des filmischen Reizmaterials auch bei der wissenschaftlichen Interpretation der jeweiligen Teilerkenntnisse. Das Vorgehen des Autors, vor den Augen der Leser zunächst Phänomene der Filmkultur auszubreiten, um sie jeweils einer psychologischen Deutung mit Blick auf Variablen-Bildung zu unterziehen, unterscheidet sich dabei zunächst kaum von der gängigen Praxis, bei der Diskussion von Gestaltungsweisen des Films Erkenntnisse einer Alltagspsychologie ins Spiel zu bringen. Ein solches Bedürfnis stellt sich ja oft selbst bei jenen ein, die überhaupt nichts mit empirischen psychologischen Forschungen im Sinn haben und dergleichen sogar als überflüssig oder gar als kunstfeindlich ablehnen. Für diese Lesergruppe dürfte die Akzentuierung mancher Wirkmomente von Wert sein, da die alltagspsychologischen Aussagen durch sie an Genauigkeit und Tiefe gewinnen. Dass das Buch aufgrund seiner interdisziplinären Vermittlerrolle vor der Aufgabe steht, unter der Hand eine Einführung in zwei Wissensgebiete zu geben, bedeutet in didaktischer Hinsicht natürlich eine enorme Herausforderung. Um den Einstieg der Interessenten aus Nachbardisziplinen wie Psychologie, Kulturanthropologie oder -soziologie in die Filmprobleme zu erleichtern, hat der Autor sich daher bemüht, zentrale Aussagen möglichst anschaulich und anhand ausführlicher Beschreibungen einzelner Szenen zu entwickeln, meist an einem Beispielmaterial, das zum Kanon des Medienunterrichts vieler Universi- 1.7 Kontinuität und Umbrüche im Lern- und Forschungsprozess 21 täten und zum Repertoire der Arthouse-Kinos gehört. Die Abfolge der Kapitel ist zudem so gestaltet, dass beiläufig eine Westentaschen-Ästhetik des modernen Spielfilms entsteht. Auch bei der Einführung in wichtige Gedankengänge der Psychologie für filminteressierte Leser ohne entsprechende Fachkenntnisse wurde versucht, eine Kontinuität von sinnlicher Anschauung des filmischen Materials und seiner psychologischen Interpretation herzustellen. Begriffsdefinitionen und Übersichten wurden jeweils dort gegeben, wo dies für das Verständnis der konkreten Filmprobleme unmittelbar nützlich schien und die angesprochenen psychologischen Wirkungen zudem dominierten bzw. gut erkennbar waren. Wesentliche Inspiration erfuhr das hier vorgeschlagene Projekt einer ästhetisch engagierten Filmpsychologie durch die ganzheitlich ausgerichteten kunstpsychologischen Ansätze von Wygotski und Eisenstein, die sich beide um die Herausarbeitung von Wirkungseffekten der Kunst bemühten. Ihre in vieler Hinsicht ähnlichen Konzepte, die einer Tätigkeitspsychologie nahestanden, welche gleichermaßen biologische, individuelle und soziale Aspekte der menschlichen Existenz berücksichtigte, bezogen sich stets auf das Gesamtfeld psychischer Funktionen und beschrieben die Prozesse ästhetischer Reizverarbeitung über die Interaktionen bewusster und unbewusster Erlebnisgehalte, deren Zusammenspiel Eisenstein (2002, 45) unter dem deutschsprachigen Terminus „Grundproblem“ zusammenfasste. Ähnlichen Prinzipien folgt die hier skizzierte Konstruktion von Werkmodellen des Films. Konkrete filmische Phänomene werden dabei über ihren Rezeptionseffekt beschrieben, d. h. im Rahmen psychologischer Prozesse, was die Modellansätze gleichermaßen für Filmtheorie wie Psychologie kompatibel macht. In der Regel ist die psychologische Interpretation filmwissenschaftlicher Sachverhalte mit einer Anpassung der Terminologien verbunden. Um beispielsweise den signifikanten Veränderungen der Formgestalt eindeutig Regelhaftigkeiten psychologischer Prozesse zuordnen zu können, müssen diese Verschiebungen im filmischen Material aufgefunden und benannt werden, was eine differenzierte Begrifflichkeit voraussetzt. Nicht immer war eine solche dort bereits vorhanden, so dass mitunter eine Klärung oder behutsame Revision der gängigen filmwissenschaftlichen Taxonomie geboten schien. Die Werkmodelle gestatten dann jeweils die idealtypische Deskription für eine ganz bestimmte Kategorie von Wirkmomenten in Gestalt von Form- oder Reizangeboten, denen spezifische psychische Effekte, etwa solche kognitiver oder emotiver Art, zugeordnet werden können, deren zeitliches Eintreffen sich aufgrund der kompositorischen Struktur hypothetisch bestimmen lässt. Die Bildung von Idealtypen dient hierbei nicht der Bildung oder Befestigung künstlerischer Normen, sondern lediglich als Ausgangspunkt für genauere Hypothesenbildung im nachfolgenden Analyseprozess. Wie gesagt, liegt die Erarbeitung der Werkmodelle nach Ansicht des Autors weitgehend in der Verantwortung der Filmwissenschaft. Die nächsten Etappen des arbeitsteiligen Prozesses bestehen dann darin, adäquate Prozessmodelle des Filmerlebens und der dabei realiter erzeugten psychologischen Wirkungseffekte zu gewinnen. Diese Arbeitsphasen liegen eher in den Händen einer Angewandten Psychologie, hier wahlweise auch als Psychologie des Films oder der AV-Medien annonciert. 21 22 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst Das Buch kann auf die zahllosen damit verbundenen Probleme nicht eingehen. So ist es im Zuge sich anschließender Bemühungen u. a. nötig, differenzierte Rezipientenmodelle zu konstruieren, die von der Verschiedenartigkeit der einzelnen Zuschauer bzw. ganzer Rezipientengruppen ausgehen, welche sich etwa in deren variablen Rezeptionsmodalitäten äußert, die ebenfalls eine genauere Bestimmung nötig machen (vgl. Suckfüll 2004; 2008b). Erst nach der Bewältigung eines umfangreichen Programms von Arbeitsschritten, bei dem beide Disziplinen ihren Part abzuleisten haben, lassen sich brauchbare Resultate einer transdisziplinären Wirkungsanalyse erwarten. Hier seien diese Problemkreise darum erwähnt, weil man sich bei der Lektüre dieses Buches nicht der Illusion hingeben darf, man habe mit der Konstruktion der Werkmodelle schon den entscheidenden praktischen Schritt zur transdisziplinären Untersuchung vollzogen und brauche nur noch die konkreten Experimente abzuwarten, um exakte Auskünfte über Filmwirkungen in den Händen zu halten. Damit die Filmwissenschaft der Zukunft die Mängel der heutigen Erfahrungswissenschaft hinter sich lassen kann, muss sie, wie gesagt, Möglichkeiten gewinnen, verlässlichere Aussagen über Zusammenhänge von künstlerischer Gestaltung und psychologischer Wirkung zu machen. Aus der Akzeptanz eines solchen Fernziels erklären sich nicht zuletzt zentrale Kriterien für die Anbindung der Studie an vorhandene psychologische Theorien. Psychologische Konzepte, die keine erkennbare Chance auf eine empirische Untersuchung zeigten, mochten zwar manche geistige Anregung bieten, mussten aber am Ende außerhalb der Betrachtung bleiben, weil sie das hier skizzierte Projekt nicht unmittelbar voranzubringen versprachen. So finden etwa Arbeitsresultate der psychoanalytischen Strömungen im Buch kaum eine Erwähnung. Ähnliche Zurückhaltung schien gegenüber Theorieansätzen zum Film geboten, die aufgrund ihrer epistemischen Anlage die Konstruktion psychologischer Hypothesen erschwerten – wie z. B. die elaborierte Taxonomie zum Kino, die Gilles Deleuze ([1983] 1997) auf der Basis lebensphilosophischer Ideen vorschlug. Ansonsten verhält sich der vorgeschlagene Ansatz bewusst integrativ. Neben bisherigen Erkenntnissen der Filmwissenschaft, die mit Dankbarkeit aufgenommen werden, sucht er neben den massiven Aufschlüssen psychologischer Art auch Grundvorstellungen und Modelle aus der Kybernetik und Semiotik zu nutzen, um die filmischen Darstellungen, Kommunikations- und Verarbeitungsweisen in ihren dynamischen Wechselbeziehungen differenzierter zu erfassen. Die Einbeziehung all dieser oft branchenfremd anmutenden Erkenntnisse und wissenschaftlicher Instrumentarien darf nicht als Routinevorgang verstanden werden, der sich völlig reibungslos in die Analyseprozesse eingliedern lässt und auf nämliche Weise abzuwickeln geht wie man dies seit jeher aus den Kunstbereichen kennt. Vielmehr ist ein wissenschaftliches Umdenken fundamentaler Art gefordert, verbunden mit ungewohnten subjektiven Anstrengungen der beteiligten Individuen. Schon der pure Umgang mit Hilfsmitteln der Informationsgewinnung wie wissenschaftlichen Modellen und Arbeitshypothesen verlangt ja dem Einzelnen eine beträchtliche geistige Umstellung ab. Statt sich wie bisher um eine sensible Erfassung feinster gestalterischer Nuancen zu bemühen und diese einfühlsam zu interpretieren, ist der Analytiker auf einmal gezwungen, mit Sturheit ein ödes Raster über die künstlerischen Erscheinungen zu legen, um verlässliche Daten über elementare Wirkmomente zu gewinnen. Vom Kino-Flaneur 1.7 Kontinuität und Umbrüche im Lern- und Forschungsprozess 23 in Goldgräberstimmung muss er zum interdisziplinären Bürokraten mutieren, und dies mit schmerzlichen Konsequenzen für die sprachliche Darstellungsform. Im Grunde ist die Umstellung in Denkweise und Sprache sogar noch vertrackter. Denn für die modellgestützte Analyse ästhetischer Sachverhalte wird nicht allein die Nutzung von diversen Hilfskonstruktionen verlangt, sondern paradoxerweise auch die Beibehaltung der traditionellen Methoden, müssen die erbrachten Daten doch am Ende wieder dem Interpretationssystem der Ästhetik unterworfen werden, das nach wie vor den Prinzipien einer historisierenden Hermeneutik folgt. Die Modelle ersetzen also die Hermeneutik nicht, sondern sie erlauben der Analyse lediglich, die intuitiv gewonnenen Aussagen durch grobe und weitmaschige, dafür jedoch überprüfbare Beschreibungen bestimmter Wirkmomente eines Filmwerks zu approximieren, d. h. infrage zu stellen oder gegebenenfalls zu untersetzen. Ein Kenner der Materie hat die Hermeneutik einmal mit einem weit aufgespannten Baldachin verglichen (vgl. Hitzler 2015, 19). Dank ihrer verlässlicheren Datenproduktion dürften die anvisierten psychologischen Untersuchungen geeignet sein, den Baldachin der klassischen Filmästhetik gelegentlich mit festen Stützen zu versehen, vergleichbar den Masten eines Zirkuszelts, die, wenngleich nur punktuell eingesetzt, das weite Dach doch auf der richtigen Höhe halten können. In diesem Sinne sind jedenfalls die Bemühungen des Autors zu verstehen, nach Ansätzen für psychologische Beobachtungsgrößen und elementare, dafür aber verifizierbare Hypothesen zu suchen, die es erlauben, jenseits der Flut vager oder unüberprüfbarer Urteile über Filmwirkungen zu validen Aussagen zu kommen. Der Neurowissenschaftler James M. Bower (zit. in Crick 1997, 220) hat die Kriterien der Forschung in seinem Bereich auf die einleuchtende Formel gebracht: „Ich halte es für die beste Kontrolle eines Modells, wie gut man damit die Frage beantworten kann: ›Was weißt du jetzt, was du vorher nicht wusstest?‹ und ›Wie kann man feststellen, ob es wahr ist?‹.“ Die Beantwortung der ersten Frage steht sicher jedem Erkenntnisakt an. Für die Kunstwissenschaften stellt das Nachdenken über die zweite Frage, welche die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen betrifft, jedoch eher ein Novum dar. Der Wissenschaft vom Film wird nahegelegt, nicht nur gelegentlich Bezug auf verstreute Erkenntnisse der Psychologie zu nehmen, sondern dies zielführend zu tun, um gemeinsam mit dieser Nachbardisziplin eine systematische Erforschung der ästhetischen Wirkungen des Films und der anderen audiovisuellen Medien einzuleiten.2 Das Buch möchte dafür Vorschläge machen und Anregungen geben. Noch eine Empfehlung zu seiner Lektüre: Entstanden nach langjähriger Lehrtätigkeit zum Film und in Kooperation mit Vertretern der Psychologie, ist es an Leserinnen und Leser gerichtet, die ungeachtet ihres Interesses an transdisziplinären Untersuchungen über einen 2 In diesem Zusammenhang wird hier vielfach der „Filmemacher“, „Zuschauer“ oder „Rezipient“ erwähnt, wobei aus Gründen sprachlicher Einfachheit meist nur die Funktionsbezeichnung in ihrer männlichen Version zum Ausdruck kommt. Selbstredend ist hierbei immer auch die weibliche Form gemeint. 23 24 1 Einführung in eine unübliche Betrachtung der Siebenten Kunst unterschiedlichen fachlichen Bildungshintergrund verfügen, so dass es geboten schien, sich stets um Einführungen in die wechselnden Problemkreise und die dabei tangierten Fachbegriffe zu bemühen. Wesentliche Anstrengungen des Autors galten der didaktisch sinnvollen Reihenfolge dieser Einstiege. Ratsam ist darum eine Lektüre des Ganzen in der vorgeschlagenen Kapitelfolge. Ebenfalls dringend empfohlen wird eine begleitende Sichtung der im Buch beschriebenen Beispielsequenzen aus bestimmten Filmwerken, weil es ohne eigene Anschauung schwer möglich ist, die getroffenen Aussagen zu Nuancen von Gestaltung und Wirkung hinreichend nachzuvollziehen. In der Regel entstammen diese Passagen Arbeiten, die als Klassiker der Filmgeschichte gelten bzw. Preise auf internationalen Festivals erhielten und meist leicht beschaffbar sind, oft im Internet. Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften 2 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften „Eine Anfangsperiode der allgemeinen Reflexion über den Film ist […] zu Ende gegangen, und jede Untersuchung über den Film muss ihr Relevanzprinzip deutlich wählen. In jener ersten Phase bestand das, was man Filmtheorie (oder Theorie des cinéma, ohne Unterschied) genannt hat, gegebenenfalls in einer kontinuierlichen und genauen globalen Perspektive, die das fait filmiqe oder das fait cinématographique erfaßte; es waren eklektische und synkretische Untersuchungen, die in einigen Fällen sehr erhellend waren und sich auf mehrere Methoden beriefen, ohne eine einzige, gelegentlich ohne es selbst zu wissen, durchgehend zu verwenden. In einer dritten Phase, die man eines Tages erwarten kann, müssen diese verschiedenen Methoden wirklich miteinander verknüpft werden (was bedeuten kann, dass sie in ihren heutigen Formen verschwinden) […]. Zur Zeit scheinen wir uns am Anfang der zweiten Phase zu befinden, die einen provisorischen, aber notwendigen Methodenpluralismus, eine unvermeidliche Aufteilungskur, zu definieren vermag. Die Filmpsychologie, die Filmsemiologie usw. hat es gestern nicht gegeben und wird es morgen vielleicht nicht mehr geben, aber heute muss man sie leben lassen, denn die echten Zusammenfassungen werden niemals durch Diktat, sondern am Ende von zahlreichen Forschungen verwirklicht.“ Christian Metz, Filmwissenschaftler, 1971* „Wir haben von unseren Vorfahren das heftige Streben nach einem ganzheitlichen, alles umfassenden Wissen geerbt. […] Aber das Wachstum in die Weite und Tiefe, das die mannigfaltigen Wissenszweige seit etwa einem Jahrhundert zeigen, stellt uns vor ein seltsames Dilemma. Es wird uns klar, dass wir erst jetzt beginnen, verlässliches Material zu sammeln, um unser gesamtes Wissensgut zu einer Ganzheit zu verbinden. Andererseits aber ist es einem einzelnen Verstande beinahe unmöglich geworden, mehr als nur einen kleinen spezialisierten Teil zu beherrschen. Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg aus dem Dilemma geben, dass einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen.“ Erwin Schrödinger, Physiker, 1944, im Vorwort zu: „Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet.“** © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 25 P. Wuss, Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht, Film, Fernsehen, Medienkultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32052-2_2 26 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften 2.1 2.1 2.1.1 Von der intuitiv vorgehenden Hermeneutik zur Modellkombination Von der intuitiv vorgehenden Hermeneutik zur Modellkombination Zur Rolle der Hermeneutik bei der Filmanalyse In einer Bemerkung über das Schöne weist Goethe auf die merkwürdigen Korrespondenzen hin, die sich zwischen Objekt und Subjekt der ästhetischen Betrachtung auftun: „Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten Gesetzlichen im Subjekt entspricht“ ([1789] 1953, 182). Benannt wird zugleich die Schwierigkeit, vor die man gestellt ist, wenn man sich diesen regelhaften Beziehungen, die man mit Recht im Kunstwerk und im Bewusstsein des Zuschauers vermuten darf, analytisch zu nähern sucht: dass der Blick auf ihre tiefen Zusammenhänge von beiden Seiten her durch massive Unbekannte verstellt wird. Hier wie dort liegen die Gesetzmäßigkeiten mehr oder weniger im Dunkeln, und das gilt nicht minder für die Rezeption des Films. Seit der Antike haben Ästhetik und Kunstwissenschaften nach geeigneten Verfahren gesucht, diese Situation zu bewältigen. Und sowohl bei der Analyse einzelner künstlerischer Werke aus unterschiedlichsten Gattungen als auch bei einer Erforschung übergreifender Gesetzmäßigkeiten der Kunstprozesse hat sich daher seit Langem ein Herangehen bewährt, das sich methodisch an der Hermeneutik orientiert, die hier in erster Annäherung als Kunst der Auslegung und Erklärung verstanden wird. Die Hermeneutik ist bis heute eine Domäne der Geisteswissenschaften, und nach Sandkühler gilt dies gleichermaßen „für die Hermeneutik als Verfahren der verstehenden Reinterpretation von Dokumenten des Bewusstseins wie auch für die Hermeneutik als philosophische Theorie des Sinnverstehens“ (1988, 422; Hervorh. i. O.). Auch das Strukturangebot eines künstlerischen Werkes muss bei seiner Analyse einer verstehenden ReInterpretation unterworfen werden; stets ist seine subjektive Aneignung mit Prozessen des Sinnverstehens verbunden und hat sich dabei an die Vielfalt von Wechselbeziehungen anzupassen, in die das Werk gestellt ist, auch an die Dynamik, die sich aus dem permanenten historischen Wandel von Texten und Kontexten ergibt. Im ästhetischen Erleben wird indes ein Konsens im Unausgesprochenen – auch im Unaussprechlichen – des Kunstprozesses gesucht und hergestellt. Diese Herangehensweise, die ihre äußeren Vorzüge und ihre individuelle Anziehungskraft hat, prägt zugleich die Analysetätigkeit für diese Bereiche mit, indem sie den damit Betrauten eine naive und subjektbetonte Grundhaltung gegenüber den ästhetischen Objekten nahelegt oder sogar abverlangt. Sie schenkt den Analytikern damit enorme individuelle Freiheit und legitimiert ihre Deutungshoheit, denn am Ende ist es die Intuition des Subjekts, die über die Exegese entscheidet. Oder nur anscheinend, denn im Grunde sind äußere Kräfte wie materielle Interessen, Ideologien und die fixen Ideen des Zeitgeists, die diese Intuition maßgeblich beeinflussen, ebenfalls mit im Spiel. Im Film- und Medienbereich werden Kräfte dieser Art bekanntlich nicht erst wirksam, wenn ein Kommunikat fertig gestellt ist, sondern bereits innerhalb eines langen, in sich gegliederten Produktions- und 2.1 Von der intuitiv vorgehenden Hermeneutik zur Modellkombination 27 Distributionsprozesses, der für den Werdegang eines einzelnen Projekts oft weitreichende Konsequenzen hat, nicht zuletzt wegen der subjektiven Freiheit und Deutungshoheit von Individuen und Institutionen, die über diese Prozesse Verfügungsgewalt haben. Die großzügig anmutende Analysemethode zeigt hier ihre Kehrseite. „Das Wort ›Hermeneutik‹ leitet sich vom Namen des Götterboten Hermes her, dem in der griechischen Mythologie die Aufgabe übertragen war, den Irdischen die Botschaft der Götter zu übermitteln. Aber Hermes hat Theorie und Methodik der Interpretation göttlicher Ratschlüsse für sich behalten, weshalb häufig sterbliche Deuter himmlischer Zeichen zu Rate gezogen wurden. Die Gabe der Weissagung wurde im Altertum allseits verehrt. Die ›Deutung‹ war zum Teil noch identisch mit ›Andeutung‹. Das Orakel von Delphi gab weder konkrete Anweisungen noch verbarg es den Sinn seiner Antworten völlig, es deutete an“ (Schreiter 1988, 32). Hier sei diese Charakteristik angeführt, weil viele Praktiken der gegenwärtigen kunstwissenschaftlichen Untersuchung stark an die naiven Herangehensweisen in jenem Frühstadium der Auslegungskunst erinnern. Auch im Rahmen der Filmanalyse werden immer wieder diverse Ausdeutungen vorgenommen, und die komplizierten Zusammenhänge innerhalb des Kunstprozesses erreichen den Interessenten häufig nur in Form von Andeutungen, die vieles offen lassen, auch inhaltlich zurückgenommen werden können. Die Unzuverlässigkeit des Urteils liegt hier sozusagen in der Natur der Sache. Sie wird dort zu einem Problem, wo sie sich mit zielgerichteter Willkür verbündet, die in der Praxis der Medienproduktion durchaus vorkommen kann, und zwar in unterschiedlichster Couleur. Der Götterbote Hermes, dem die Hermeneutik ihren Namen verdankt, galt schließlich auch als Schutzgott der Gaukler und Taschendiebe. Ein generelles methodisches Problem der Filmanalyse liegt darin, dass die unterschiedlichen Operationen wie Beschreibung, Interpretation und Bewertung der Reizangebote, die sie umfasst, sich unter dem Schutzschild der Hermeneutik leicht miteinander verquicken. Insofern das Subjekt des Analytikers über die Auswahl struktureller Zusammenhänge im Objekt intuitiv entscheiden kann und muss, ebenso auch über deren Interpretation und Bewertung, verwischen sich die Grenzen zwischen den an sich verschiedenartigen Operationen. Letztere werden absichtsvoll miteinander verbunden, sukzessive aus einander entwickelt und durch die Kreisprozesse des „hermeneutischen Zirkels“ permanent aufeinander zurückgeführt. Dies mit der Folge, dass sich im Prozess der Analyse nichts mehr so recht objektivieren lässt. Wertung wirkt dabei oft dergestalt auf die Interpretation und Beschreibung zurück, dass man gelegentlich glaubt, bei der Analyse im Film Dinge zu erkennen oder als bedeutsam herausstellen zu dürfen, die tatsächlich nur andeutungsweise oder auch gar nicht in dieser Form vorgekommen sind. Anhand von Beschreibungen der gleichen Filmpassage, die von unterschiedlichen Kritikern vorgenommen wurden, lässt sich beispielsweise belegen, wie verschiedenartig diese Sequenzen jeweils zur Darstellung kommen (vgl. Bordwell 1989a, 224ff., zu Hitchcocks PSYCHO (1960); Wuss 1993a, 27, zu Tarkowskis IWANOWO DETSTWO (IWANS KINDHEIT, 1962)). In den meisten Fällen kommen die Abweichungen innerhalb der Szenenbeschreibungen keineswegs aufgrund von Nachlässigkeit der Autoren zustande, sondern den Geschehnissen 27 28 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften oder Gestaltungsnuancen wird eine jeweils spezifische Funktion zugesprochen, weil das Werk als Ganzes oder Teil dort im Rahmen verschiedener Interpretationszusammenhänge unterschiedlich dargestellt, mit abweichendem Sinn versehen und bewertet wird. Auf den ersten Blick scheint es so, als könnten neue modellgestützte Verfahren und eine Kooperation mit der Psychologie, die sich empirischer Studien mit verlässlichen Aussagen bedient, umgehend für eine grundsätzliche Veränderung der Situation sorgen, so dass man die benannten Analyse-Probleme bald als obsolet betrachten und der Periode eines überholten „feuilletonistischen Zeitalters“ zuordnen könne. Jedenfalls kommt einem dieser Ausdruck, den eine Roman-Figur aus Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“ (1961, 18) erfand, um jene vergangene Phase zu benennen, in der das Geistesleben noch nicht durch die Fortschritte des Glasperlenspiels geprägt worden sei, ganz zutreffend vor, um die Tradition hermeneutischer Kunstbetrachtung unter den Rahmenbedingungen vorkybernetischen Denkens zu charakterisieren. Die Vermutung über den nahen Abschied der Kunstwissenschaften von der Hermeneutik trügt jedoch. Denn trotz ihrer offenkundigen Probleme ist für sie ein Bruch mit dem „feuilletonistischen Zeitalter“ nicht in Sichtweite. Das gilt auch für die Filmwissenschaft. Jedenfalls scheint dergleichen aktuell weder theoretisch sinnvoll noch praktisch durchsetzbar, weil es gegenüber den hermeneutischen Grundverfahren keine alternative Lösung gibt, die der Komplexität und Dynamik der Kunstprozesse besser gerecht werden dürfte. Allerdings muss sich die naive Hermeneutik dort – wie in anderen Wissenschaftsbereichen auch – in eine wissenschaftliche Hermeneutik verwandeln, die in die Analyse systematisch neue Qualitäten einbringt, welche etwa einer subjektiven Willkür bei der Beschreibung der medialen Prozesse und Produkte entgegenwirken. 2.1.2 Systemforschung und wissenschaftliche Modellierung Eine fruchtbare Tendenz in Richtung einer solchen wissenschaftlichen Hermeneutik kann man in der Systemforschung sehen – auch „Systemdenken“ oder „Systemanalyse“ genannt – die der Biologe Ludwig von Bertalanffy, einer ihrer Begründer, als „Wandel der Grundkategorien unseres Denkens“ (1968, 5) charakterisierte. Die Untersuchungsobjekte werden dabei nicht vornehmlich als Individualgegenstände, sondern als Ganzheiten oder Systeme betrachtet, über deren Funktionsweisen Rückschlüsse hinsichtlich ihres strukturellen Aufbaus gezogen werden. Indem man aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Verhaltensweisen der Systeme beobachtet und beschreibt, lassen sich Modelle von deren Funktion und Struktur gewinnen, die die tatsächlichen Funktionen und Strukturen, die oft sehr kompliziert bzw. einer Beobachtung schwer zugänglich sind, über Approximationen der Erkenntnis zugänglich machen. Auch ästhetische Phänomene sind als Ganzheiten respektive Systeme zu erforschen, indem man sie jeweils im Sinne der kybernetischen Systemtheorie als Realsystem betrachtet, d. h. als „ein konkreter Ausschnitt aus der physischen Realität, in dem Interaktion stattfindet, also Prozesse ablaufen“, wie der Psychologe Norbert Bischof (1998, 13) definiert. 2.1 Von der intuitiv vorgehenden Hermeneutik zur Modellkombination 29 Es scheint produktiv, über die schrittweise Erfassung von Strukturen und Funktionen das ihnen innewohnende Wirkungsgefüge zu ermitteln, worin nach Bischof (92) eine elementare Aufgabe der Systemanalyse liege. Die hochkomplizierten und komplexen Wirkungsgefüge in den Bereichen der Kunst sind analytisch oft besser aufzuschließen, wenn sie in wichtigen Phasen der Untersuchung zeitweilig durch wissenschaftliche Modelle ersetzt werden. Diese erlauben zwar immer nur eine mehr oder weniger genaue Annäherung an die wirklichen Funktionen und Strukturen, sind jedoch in ihrer Konstruktion einsichtig und entlasten zugleich den Erkenntnisprozess, indem sie von der Betrachtung vieler Beziehungen konsequent absehen. Ohne hier eine Bestimmung dessen geben zu wollen, was das Wesen der Systemforschung in den Kunstwissenschaften ausmacht, lässt sich also zumindest postulieren, dass die Erkenntnis dort modellgestützt verläuft, also einen grundsätzlich anderen Modus hat, als in der traditionellen hermeneutischen Kunstuntersuchung, die den sukzessiven und in sich homogenen Erkenntnis- und Interpretationsakt anstrebt. Zur Problematik der Modellbildung existiert eine breite Forschungsliteratur (vgl. Bernzen 1990, 431f.). In unserem Zusammenhang ist dabei von Belang, dass zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis, dem so genannten Original, jeweils ein zusätzliches drittes System eingeschaltet wird, eben ein wissenschaftliches Modell, das als Hilfsquelle der Informationsgewinnung dient (vgl. Wüstneck 1966, 1457). Es schafft ein Abbild des Erkenntnisobjektes, das bestimmte analoge Beziehungen hervorhebt und fixiert, dafür jedoch von der Betrachtung anderer absieht. Letzteres ist ein wichtiger Grund dafür, warum Modelle niemals als identisch mit den Individualgegenständen zu betrachten sind. Im Zuge einer ästhetischen Analyse etwa werden sie nicht unter der Zwecksetzung hergestellt, ein Kunstwerk sogleich möglichst vollständig in seinem Wesen zu erfassen, wohl aber bestimmte seiner Wirkmomente möglichst zuverlässig zu objektivieren und damit partiell und schrittweise Einblick in seine Struktur zu gewinnen. Unter den Rahmenbedingungen des Systemdenkens verändert sich damit der gesamte Gestus der Kunstbetrachtung und -analyse. Man nähert sich dem Werk, indem man es zunächst als Blackbox betrachtet, unter der Anwendung von Deskriptionsmodellen über eine progressive Differenzierung. Dies ist eine Vorgehensweise, die sich gegenläufig zu einer assoziierenden Prozedur verhält, bei der es darum geht, eine Struktur aus vorgefertigten Elementen zusammenzusetzen. „Kybernetisches Denken besteht eben nicht darin, Strukturen aus vorgegebenen Elementen zu synthetisieren, sondern umgekehrt, in einem vorgegebenen Ganzen allmählich die Struktur und zum Schluss deren Elemente transparent werden zu lassen“ (Bischof, 1998, 93f.; Hervorh. i. O.). Eine solche Verfahrensweise hat nicht nur für die Psychologie jene Veränderung zur Folge gehabt, für die Schlagworte wie cognitive turn oder cognitive revolution geprägt wurden, sie bedeutet für Ästhetik und Filmwissenschaft erst recht ein fundamentales Umdenken. Während das ästhetisch-kunstwissenschaftliche Denken der Tradition darauf ausgerichtet war, sich ganzheitlich, möglichst direkt und unverzüglich wertend der Essenz des künstlerischen Phänomens zu nähern, rückte die Systemforschung davon ab und bekannte sich zu umständlichen Teilaktionen der progressiven Differenzierung, die 29 30 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften das Ziel haben, vorsichtige Beschreibungen herzustellen und Interpretationen partieller Beziehungen zu arrangieren. Anstelle des Transzendierens im Rahmen geistiger Kategorien trat das Bekenntnis zum objektivierbaren Verhaltensaspekt. Die Geschichte von Ästhetik und Kunstwissenschaften zeigt, dass verschiedene Möglichkeiten für solche Beschreibungsverfahren erwogen und auch erprobt wurden, darunter solche, an die die Filmwissenschaft unmittelbar anknüpfen kann. Gemeint sind strukturale, semiologische, kybernetische, namentlich aus der Informations- und Regelungstheorie, doch auch solche aus Kulturtheorie bzw. -anthropologie, Psychologie und Soziologie. Beim Experimentieren mit diesen Modellvorstellungen haben sich unterschiedliche Erfahrungen ergeben. Manche Transformation tradierter Vorstellungen in ein Modell endete in einer nutzlosen Maskerade, manche – wie die Anwendung sprachsemiotischer Termini auf den Film – führten zeitweilig zu Missverständnissen und Irritationen, aufgrund derer später sogar die gesamte Denkrichtung in Misskredit geriet. Es zeigte sich dabei aber auch, dass die unterschiedlichen Hilfsmittel der Informationsgewinnung sich zum einen dort als wertvoll erwiesen, wo es darum ging, bislang nicht oder schwer zugängliche Beziehungen im Original über Beschreibungen zu objektivieren. Zum anderen erwiesen sich manche Modelltypen als geeignet, zwischen verschiedenartigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und disparaten Disziplinen zu vermitteln, sie kompatibel zu machen und auf diese Weise der Herausbildung von konsistenten Theorien zu dienen. Am deutlichsten wird dies wohl an der Kybernetik erkennbar, die von ihren ersten Entwicklungsschritten an in diesem Sinne als Integrationswissenschaft fungierte. Im Hinblick auf die Entwicklung der Psychologie hat Dietrich Dörner (1977, 255) wichtige Vorzüge dieser Disziplin benannt: „Die Kybernetik verbindet die methodischen Charakteristika der atomistischen Richtungen, nämlich die Forderung nach Präzision und exakten, möglichst mathematisch formulierten Theorien, mit der Betonung der Ganzheitlichkeit psychischen Geschehens. Sie vermeidet die Zersplitterung in Einzelaspekte, die die atomistische Richtung kennzeichnet, wie andererseits auch die Unschärfe und Verschwommenheit ganzheitlicher Theorien. Eine kybernetische Psychologie ist einerseits naturwissenschaftlich-kausal, andererseits aber antimechanistisch, wenn man unter einem Mechanismus ein Gebilde versteht, welches – bewusstlos und automatenhaft – ein Spielball der jeweiligen Umwelt ist. Die Kybernetik betont Aspekte der Selbststeuerung und der relativen Autonomie von Systemen, und sie betont Aspekte der Veränderbarkeit“. Die benannten Vorzüge zahlen sich auch bei Modellierungsversuchen im Rahmen von Ästhetik und Kunstwissenschaften aus. In Ermanglung einer Grand Theory des Films oder der audiovisuellen Medien, die befähigt wäre, einen systematischen Zusammenhang mit anderen Wissensgebieten herzustellen, wird gegenwärtig eine Tendenz erkennbar, Modelle aus mehreren Wissenschaftsbereichen parallel zu verwenden und miteinander zu kombinieren, so dass sich ein gewisser ModellPluralismus einstellt. Der Umgang mit diesen Modellkombinationen ist aber noch wenig erprobt und bringt eine Reihe von Nachteilen mit sich, etwa, dass die gleichzeitige Zulassung einer Vielfalt von Aspekten eine Uneinheitlichkeit des Sichtwinkels befördert, welche permanent die Gefahr von Inkonsistenz des Theorieansatzes heraufbeschwört. Vielleicht 2.2 Ein Wirkungsgefüge elementarer ästhetischer Funktionen des Films 31 haben wir es hier nur mit einem unvermeidlichen Durchgangsstadium der Theoriebildung zu tun, vielleicht jedoch mit einem generellen und schwer lösbaren Arbeitsproblem, das auch für andere Versuche einer interdisziplinären Forschung zutrifft. Die eingangs zitierte Aussage des „Vaters der Wellenmechanik“ und Nobelpreisträgers für Physik Erwin Schrödinger, der sich zeitweilig Grundproblemen der Biologie zugewandt hatte und die Risiken ansprach, sich bei dem Versuch einer größeren Zusammenschau von Tatsachen und Theorien lächerlich zu machen, gilt gewiss bereits für weit bescheidenere Projekte. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es im Zuge der weit gefächerten Modellexperimente nicht zur Auflösung wichtiger Erkenntniszusammenhänge kommt, dürfte darin liegen, dass bei der Beschreibung von Struktur-Funktions-Zusammenhängen unterschiedlichster Art nicht auf ein Interpretationssystem verzichtet wird, das für eine angemessene Einbeziehung der begrenzten Deskriptionsdaten in einen umfassenderen Gesamtzusammenhang sorgt. In der Kunstanalyse bietet die historisch-hermeneutisch orientierte Allgemeine Ästhetik ein solches übergreifendes Interpretationssystem für die eng gefassten und auf nur wenige funktionelle und strukturelle Beziehungen reduzierten Modellansätze an und sorgt damit zugleich dafür, dass eine Bindung an die geistige Tradition aufrechterhalten wird. Den Arbeitsresultaten der modellgestützten Erkenntnis kommt die Aufgabe zu, die Auslegungen der tradierten Hermeneutik zu überprüfen, d. h. entweder zu bestätigen und damit wissenschaftlich aufzuwerten, oder aber infrage zu stellen und Korrekturen einzufordern. Der Unterschied zur intuitiv vorgehenden hermeneutischen Kunstbetrachtung liegt also u. a. darin, dass die modellgestützten Aussagen eine Verifizierung ermöglichen, im besten Falle eine empirische Untersuchung auf experimenteller Basis. Wie Kunstprozesse funktionieren und durch die Werkstruktur vorprogrammiert sind, darüber entscheiden dann nicht allein jene Aussagen, die auf subjektiven Eindrücken eines sensiblen und sensitiven Individuums, des Rezipienten, beruhen, sondern zugleich Daten, die zur Objektivierung derselben beitragen. 2.2 Ein Wirkungsgefüge elementarer ästhetischer Funktionen des Films 2.2 Ein Wirkungsgefüge elementarer ästhetischer Funktionen des Films In Ästhetik und Kunstwissenschaften hat sich der Übergang zur Systemforschung kaum über einen so evidenten qualitativen Sprung im wissenschaftlichen Denken zu erkennen gegeben wie bei der Kognitiven Revolution in der Psychologie, sondern er ist eher schrittweise über eine Reihe kleinerer Verschiebungen in unterschiedlichen Bereichen der Ideenentwicklung erfolgt. Gemeint sind etwa die Veränderungen, die durch Konzepte des Russischen Formalismus, der Informationsästhetik, Rezeptionstheorie, Kultursemiotik sowie der Theorie Möglicher Welten eingebracht wurden. Manche Konvergenzen zwischen diesen Ideen sind bereits benannt worden (vgl. Ivanov 1976, Doležel 1999). Zur Schaffung einer konsistenten Theorie, die die neuen Einfälle zu 31 32 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften integrieren vermag, ist es jedoch bisher nicht gekommen. Wohl aber haben sich im breiten Feld der ästhetischen Beziehungen einige funktionale Zusammenhänge elementarer Art abgezeichnet, die eine formalisierte Darstellung begünstigen. Damit schaffen sie für die anstehenden transdisziplinären Modellvorstellungen eine notwendige Voraussetzung. Ohne diese Konzepte gäbe es wenig Aussichten auf eine Vermittlung zwischen der hermeneutischen Sicht auf den Film und dem psychologischen Experiment. Eine solche ist aber für die Untersuchung schon aus ganz pragmatischen Gründen nötig. Um den mehrschichtigen Erkundungsprozess methodisch abzusichern, braucht es ein Referenzsystem, das einerseits Relevanzkriterien dafür schafft, wonach bei einer Datenerhebung vor allem gesucht werden soll, und das andererseits bei der Auswertung der gewonnenen Daten für deren angemessene Interpretation sorgt. Zwischen der Form einer filmischen Erzählung oder Montage und bestimmten psychophysiologischen Reaktionen im Rahmen von elektrodermalen Reaktionen, Herzfrequenzveränderung oder Augenbewegungen stellt sich ja per se kein Hinweis auf einen funktionalen Zusammenhang her. Und es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass man sich mit einer Handvoll von Zufallskriterien, die einem das Alltagsverständnis von ästhetisch relevanten Filmwirkungen eingibt, den Regelhaftigkeiten solcher funktionaler Zusammenhänge effizient nähern könnte. Vermutlich ist die Ausarbeitung eines ästhetisch-psychologischen Referenz-Systems eine Aufgabe der nächsten Zeit, die nicht minder wichtig und schwierig ist als die Auffindung von psychologischen Variablen des Films. In Vorbereitung einer solchen Arbeit wurden hier deshalb einige Teilaspekte ausgewählt, die jeweils elementare Funktionsweisen von Kunst bezeichnen und im Verbund ein Wirkungsgefüge relevanter ästhetischer Beziehungen formieren, das die Gesamtfunktion eines Werks modellhaft zu repräsentieren vermag. Aus der Abfolge der hier entwickelten Annahmen ergeben sich zumindest erste Hinweise auf funktionale Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ebenen ästhetischen Verhaltens. Dieses Beziehungsgeflecht heftet sich sowohl an Schlüsselbegriffe der traditionellen Ästhetik als auch an neuere Konzepte, was einen Anschluss an Überlegungen der Vergangenheit gestattet. (1) Als Ansatzpunkt für eine Analyse ästhetischer Funktionsweisen des Films kann eine formalisierte Beschreibung der künstlerischen Originalität dienen, die sich an informationstheoretischen Modellvorstellungen orientiert. Angenommen wird, dass sich entscheidende Wirkmomente eines Filmwerks aus der künstlerischen Originalität desselben ergeben, aus einer ästhetischen Innovation, die wiederum von der Menge von Information abhängt, welche das Reizangebot des Films für den Zuschauer bereithält. Um den potenziellen Informationsbeitrag eines Werks empirisch bestimmen bzw. abschätzen zu können, bieten sich Aussagen zu Differenzqualitäten der künstlerischen Form im Rahmen der Werkstruktur an, die zu Differenzempfindungen bzw. signifikanten psychischen Reaktionen beim Rezipienten führen. (2) Im Hinblick auf den Erlebensprozess des künstlerischen Films wird die Annahme vertreten, dass das Werk aufgrund seiner – nicht zuletzt zeitlich organisierten – Struktur innerhalb des medialen Kommunikationsvorgangs für eine Rezeptionsvorgabe sorgt, die den Informationsfluss vorprogrammiert. 2.2 Ein Wirkungsgefüge elementarer ästhetischer Funktionen des Films 33 (3) Angenommen wird zudem, dass Kunsterleben stets mit einer optimierten Informationsverarbeitung verbunden ist. Kognitive Prozesse, die durch das künstlerisch organisierte Reizangebot des Films gesteuert werden, sorgen dafür, dass sich die ästhetische Innovation bei der Rezeption an einen Modalwert hält, damit die mittlere menschliche Verarbeitungskapazität weder zu sehr über- noch unterschritten wird. (4) Kunstprozesse können auch als Regelungsvorgänge betrachtet werden, was den Übergang zu einer semiotischen Beschreibung erleichtert, die Zeichenprozesse als Mittel der Verhaltensregulation betrachtet. Filmwirkungen unterschiedlichster Art lassen sich mithin als Formen menschlicher Verhaltensregulation studieren, die sich an Zeichenprozesse mit ihren je spezifischen Systemen und Codes binden. (5) Filmerleben lässt sich zudem als Regulation psychischen Verhaltens beim Rezipienten studieren. Diese kann im Hinblick auf ihren Modus variieren, der sich in einem Spielraum zwischen der Psychohygiene des Unterhaltungskinos und komplizierten Formen von Selbstregulation bei Werken des künstlerischen Films bewegt. Eine andere Art von Differenzierung, die freilich erst nach Einbeziehung entsprechender Erkenntnisse der Psychologie diskutiert werden kann, welche noch entwickelt werden müssen, ergibt sich aus den Wechselwirkungen und Dominanzverhältnissen der einbezogenen psychischen Funktionen wie Kognition, Emotion und Vorstellung. (6) Die durch Film bewirkten differenzierten psychischen Regulierungsprozesse sollten nicht als isolierte und autarke Mechanismen, sondern in ihrer funktionalen Einbindung in die realen Auseinandersetzungen des tätigen Menschen mit seiner Umwelt begriffen werden: Spannungen und Konflikte der widerspruchsvollen Lebenswelt, mit denen der Zuschauer auch jenseits des Filmerlebnisses konfrontiert wird, motivieren einerseits die filmkünstlerische Auseinandersetzung mit diesen Momenten der Realität, wie das Filmwerk andererseits selbst dazu beitragen kann, die lebensweltlichen Konflikte für den Zuschauer in psychischer Hinsicht besser beherrschbar zu machen. Als autopoietisches System im spannungsvollen soziokulturellen Raum kann Film sich mittelbar bei der Bewältigung der realen Widersprüche engagieren, also eine definierbare soziale Funktion wahrnehmen. (7) Die Metapher von den „Möglichen Welten des Films“ mag dazu dienen, die zuvor benannten elementaren ästhetischen Funktionen jeweils als zusammenhängendes Wirkungsgefüge zu betrachten, sie also zu integrieren. Für die so definierten artifiziellen kleinen Welten gilt folglich, dass sie Regulierungsfunktionen gegenüber dem Verhalten des Zuschauers wahrnehmen, die auch hinsichtlich der angesprochen psychischen Teilfunktionen differenziert sind, also bei diesem kognitive, emotive und imaginative Aktivitäten bewirken. Neben dem Wirklichkeitssinn des Zuschauers, den sie durch darstellerischen Rekurs auf die reale Lebenswelt entwickeln, fördern sie auch dessen Möglichkeitssinn, indem sie über variable Vorstellungsbilder, imaginatives Spiel bzw. die Ausbildung von kontrafaktischen Fiktionen alternative Lebensentwürfe unterschiedlichster Art schaffen und anschaulich vermitteln. Damit gewinnen sie eine besondere imaginative Funktion, die tief in die Zukunft der Gesellschaft hineinzuwirken vermag. Diese provisorischen Aussagen lassen sich zu Arbeitshypothesen zusammenfassen, denen zufolge die Werke der Filmkunst als Zeichenkomplexe in Gestalt spannungsvoller Möglicher 33 34 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Welten gesehen werden können, deren Rezeption gleichermaßen zur Informations- und Sinnvermittlung wie zur Regulierung des psychischen Verhaltens beiträgt, wobei sich das ästhetische Spannungspotenzial von den lebensweltlichen Widersprüchen und Konflikten herleiten lässt, um deren Beherrschung sich Autoren und Rezipienten jeweils bemühen. In diesem Sinne wirkt Film dann über die Verhaltensregulation der Rezipienten mittelbar auf die Realität der menschlichen Verhältnisse zurück und ermöglicht ein Engagement der Filmemacher bei deren Veränderung. Selbstredend reichen solche Auskünfte nicht aus, gültige Antworten auf die Frage zu finden, worin die Funktion von Kunst besteht, ebenso wenig wie sie als Nukleus einer eklektizistischen ästhetischen oder filmpsychologischen Theorie betrachtet werden dürfen, die einer pankybernetischen Illusion huldigt. Gleichwohl handelt es sich bei den fragmentarischen Einblicken um Aspekte, die aus dem stillschweigenden Wissen der Ästhetik herausgehoben wurden, damit präzisierbar bzw. korrigierbar sind, und nun im Analyseprozess gezielte Anfragen ermöglichen, ob bzw. in welchem Maße ein Werk jenen punktuellen Kriterien entspricht. Dergleichen ist wichtig, um zu verhindern, dass die psychologischen Funktionsweisen des Kinos der Beliebigkeit anheimgestellt werden. Zudem sorgen die Thesen dafür, dass derart fundamentale Faktoren wie die Originalität künstlerischen Ausdrucks oder die Rückkopplungsmechanismen zwischen Werk und Zuschauer im Rahmen der psychologischen Untersuchung einen festen Platz erhalten. Die stark verknappten Aussagen zu elementaren Kunstfunktionen gehen auf Teilstudien zurück, deren Resultate im nachfolgenden Exkurs jeweils noch ausführlicher zur Darstellung kommen. Eingegangen wird dort auf Erkenntnisse aus verschiedenen Zeiten und Wissensgebieten, deren Erläuterung zwar ziemlich weit von der angekündigten psychologischen Filmuntersuchung wegführt, für ein tieferes Verständnis der angesprochenen Probleme aber dennoch von Nutzen sein dürfte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Darlegung mancher in Vergessenheit geratener Ideen mit einer begriffsgeschichtlichen Klärung von Fachtermini verbunden ist, die man für die Forschungen der Gegenwart ebenfalls wieder benötigt. Um einen unübersichtlichen Apparat aus Anmerkungen zu vermeiden, wurden die Erläuterungen der Teilaspekte in einem Exkurs zusammengefasst, den der Leser nach Belieben nutzen, aber auch übergehen kann. 2.3 2.3 2.3.1 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen durch Ästhetik und Kunstwissenschaften Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … Künstlerische Originalität als Differenzqualität von Reizangeboten Um die hochkomplexen Strukturen künstlerischer Werke über wissenschaftliche Modelle schrittweise approximieren zu können, erweisen sich methodologische Überlegungen als hilfreich, die der russische Psychologe Lew S. Wygotski 1925 in seiner „Psychologie der 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 35 Kunst“ (1976) entwickelte. Er schrieb, dass die Psychologie Kunstwerke als „System(e) von Reizerregern“ betrachten könne, „die bewusst und vorsätzlich so organisiert sind, dass sie eine ästhetische Reaktion hervorrufen. Dabei, bei der Analyse der Struktur der Reizerreger, vergegenwärtigen wir uns die Struktur der Reaktion“ (1976, 28). Die Grundrichtung dieser Methode brachte er auf die Kurzformel: „[…] von der Form des Kunstwerkes über die Funktionsanalyse ihrer Elemente und ihrer Struktur zur Vergegenwärtigung der ästhetischen Reaktion und zur Feststellung ihrer allgemeinen Gesetze“ (1976, 28). Bei einer derartigen Betrachtung, die Interpreten Wygotskis wie Senderowitsch (1976, 344) treffend als Analyse der „funktionale(n) Struktur der Kunst“ bezeichneten, wird das künstlerische Werk nicht „an sich“, sondern stets im engsten Zusammenhang mit seinem Verhalten im Erlebensprozess, seinem Wirkungspotenzial gegenüber dem Rezipienten gesehen. In seiner konkreten Ausprägung kann dieses höchst unterschiedlich sein, doch ist seine besondere Funktionsweise von den Kunstwissenschaften seit Langem bemerkt und auch benannt worden. Seit der Ablösung der Nachahmungs- durch eine Genieästhetik im mittleren Europa des 17./18. Jahrhunderts banden sich die Kriterien für Kunstbewertung besonders an den Begriff der Originalität. (vgl. Häseler 2002, 643). In der Romantik erfuhr dieser Begriff noch eine weitere Aufwertung, und auch bei der Beurteilung einer Avantgardekunst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, mit der sich die Vertreter der Formalen Schule der russischen Literaturwissenschaft auseinanderzusetzen hatten, verlor er nicht an Relevanz. Vielmehr verwandelte er sich in ein funktionstüchtiges Instrument empirischer Untersuchung. Denn mit dem Verständnis von Originalität aus der seinerzeit in Russland sehr einflussreichen „Philosophie der Kunst“ (1909, russ. 1911) von Broder Christiansen übernahm die Formale Schule auch das daran geknüpfte anschauliche Begriffspaar von „Differenzqualität“ der künstlerischen Form, die zur „Differenzempfindung“ im ästhetischen Erleben führt. Christiansen (1909, 119ff.) hatte damit beispielsweise operiert, um die Originalität literarischer Ausdrucksweisen bei Rilke zu charakterisieren. Im Verständnis der Originalität leitete dies nicht nur einen Wandel vom klassifikatorischen zum komparativen Begriff ein, sondern indem der Vergleich von Formstrukturen jeweils auf Konsequenzen hinsichtlich ästhetischer Reaktionen bezogen werden konnte, ergab sich ein Weg zur empirischen funktionalen Beschreibung von künstlerischer Form und ihren Wirkungen. In den gegenwärtigen Diskursen ist dieser frühe methodische Einfall in seiner funktionalen Anschaulichkeit meist hinter abstrakteren systemtheoretischen Vorstellungen wie „Differenz“ (vgl. Luhmann 1995) verborgen, was auch seine sinnliche Fassbarkeit aufhob, so dass er weitgehend in Vergessenheit geriet. Seinerzeit wurde er indes mit Dankbarkeit aufgegriffen und weiterentwickelt. Besonders Viktor Schklowski ([1916] 1988, 51) bezog sich darauf, als er seine Theorie der ostranenie entwickelte. Der Terminus, der als Verfahren der „Verseltsamung“ oder „Verfremdung“ übersetzt werden kann, war geeignet, jene Überlegungen, die sich in der europäischen Ästhetik im Zusammenhang mit dem Originalitätsverständnis herausgebildet hatten, aufzunehmen und zu einem neuen Forschungsansatz auszubauen. In seinem Aufsatz „Kunst als Verfahren“, welcher die wichtigste Funktion der Kunst von einer Art 35 36 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Verfremdungsleistung herleitet, die dabei hilft, die Wahrnehmungsautomatismen des Alltags zu zerstören, schrieb Schklowski: „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form […]“ (Schklowski in Striedter 1988, 15). Favorisiert wurde hier ein deutlich spürbarer Fall, ein evokativer Typ von Originalität im künstlerischen Ausdruck, verwandt, doch nicht identisch mit dem Verfremdungseffekt Brechts. In ihren Analysen hielten sich die Vertreter der Formalen Schule generell an künstlerische Erscheinungen mit erkennbarem Innovationswert. Die Originalität gleichsam zum Axiom erhebend, befragten sie die künstlerischen Strukturangebote stets danach, inwiefern sie dem Innovationsprinzip dienten. Indem sie über das Konzept der ostranenie zwischen formaler Differenzqualität und ästhetischer Differenzempfindung einen obligaten funktionalen Zusammenhang herstellten, brachten sie das dahinterstehende Prinzip von Originalität oder Innovation radikal auf allen Ebenen der Kunstuntersuchung in Anwendung und werteten es damit zum Kern eines Paradigmas auf (vgl. Wuss 1998a). So hielt Schklowski sich zunächst vornehmlich an Differenzqualitäten und -empfindungen, die sich an singulären Werkstrukturen zeigten, am schillernden bzw. provokativen Einzelfall. Tynjanov (1988, 441f.), der sich für die Ablösung von Genres im Rahmen einer literarischen Evolution interessierte, richtete sein Augenmerk auf Differenzqualitäten zwischen ganzen Formsystemen, Reihen genannt, und nahm damit die Dynamik historischer Veränderungen ins Visier, die im Rahmen künstlerischer Gruppenphänomene auftraten. Ejchenbaum (2005, 24ff.) schließlich zeigte an gattungsspezifischen Synkretisierungstendenzen des Films, wie sich Differenzqualitäten innerhalb des großräumigen Geschehens eines ganzen kulturellen Kosmos herausbildeten. Für eine empirische Untersuchung von Kunst erweist sich der Ostranenie-Ansatz darum als praktikabel und flexibel zugleich. Dass die drei genannten Literaturwissenschaftler ihr Modell auch erfolgreich auf den Film zur Anwendung brachten, lässt viele ihrer Überlegungen, die damals in dem Sammelband „Poetika Kino“ ([1927] dt. Beilenhoff 1974; 2005) publiziert wurden, hier in mehrfacher Hinsicht als produktiv erscheinen. 2.3.2 Das Kunstwerk als Rezeptionsvorgabe im Kommunikationsprozess Bei der Verarbeitung signifikanter Differenzempfindungen setzt auch eine Reihe von Forschungsaktivitäten an, deren Darstellung des Kunsterlebnisses sich an ein allgemeines Kommunikationsmodell hielt. Sie umfasst Konzepte wie das der Informationsästhetik (Max Bense, 1954–1960; Abraham Moles, 1958; Helmar Frank, 1959, 1964, 1965), der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik (Wolfgang Iser, 1972; Robert Jauss, 1970) sowie ihrer Opponenten und Kritiker von der Akademie der Wissenschaften Ost-Berlins (Manfred 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 37 Naumann et al., 1976), ferner der Leningrader Schule für komplexe Erforschung von Kunst und Literatur (Boris Mejlach 1977). In Terry Eagletons (1983) Übersicht über einige wichtige Positionen dieser internationalen Strömung finden sich auch die Namen von Roland Barthes und Stanley Fish, und man kann diese Namensliste sicher noch um Jurij M. Lotman und Umberto Eco erweitern, deren Beitrag der Entwicklung einer Kultur-Semiotik galt. Obwohl die Anstrengungen der Autoren auf die unterschiedlichen Ziele ihrer jeweiligen Fachdisziplin gerichtet waren, ging es doch den meisten dieser Richtungen im Prinzip darum, den Vorgang des Kunsterlebens auf ein Schema zu bringen, das die Relation von Sender, Botschaft und Empfänger umfasst und dabei Erkenntnisse sehr verschiedener Art integrierbar und aufeinander beziehbar macht. Das Moment von Originalität oder Innovation, wie die Vertreter der Informationsästhetik es meist nannten, diente dabei für den Analyseprozess als Orientierung. Bereits im elementaren Kommunikationsschema, wie es Claude E. Shannon (1949) sowie Shannon und Weaver ([1949] 1976) für ihr formales Informationsmodell vorschlugen, finden sich klare Hinweise darauf, dass Kommunikation ja stets voraussetzt, dass zwischen Sender und Empfänger bestimmte Differenzen wirksam werden. Das Senden einer Nachricht macht überhaupt erst dann Sinn, wenn diese das Resultat einer Selektion aus einer Menge von Möglichkeiten bildet und beim Empfänger zugleich auf eine entsprechende Informationssenke stößt, die durch sie dann eliminiert wird (vgl. Shannon 1949, 10; Kittler 1993, 171). Aus der Perspektive der Systemtheorie notierte Niklas Luhmann, Kommunikation finde ihren Anlass „typisch im Nichtwissen. Man muss einschätzen können, welche Mitteilungen für andere Information bedeuten, also etwas, was sie nicht oder nicht sicher wissen, ergänzen“, denn die Kommunikation lebe sozusagen von ungleich verteiltem Wissen/ Nichtwissen (Luhmann 1997, 39f). Um von der Informationssenke beim Rezipienten zur Originalität des künstlerischen Form- und Sinnangebots zu gelangen, scheinen zwar recht umfangreiche Abstraktionsleistungen nötig, doch gibt das genannte Schema die Instanzen einer Heuristik für die Kunstanalyse vor, mit deren Hilfe sich bestimmte Zusammenhänge zwischen Werkstrukturen und deren Funktionen systematischer und differenzierter beschreiben lassen. So entwickelte Jurij Lotman ([1970] 1972) in Tartu ein Konzept zur Analyse literarischer Texte, das unter Nutzung des Kommunikationsschemas den Zusammenhang zwischen Originalität der künstlerischen Botschaft und Rezeptionserwartung aus kultursemiotischer Perspektive darstellt. In einer semiotischen Skizze zur Filmtheorie verallgemeinerte Lotman diese Erkenntnisse, indem er postulierte, dass bei der künstlerischen Kommunikation das „Moment des Überraschenden“ bewahrt bleiben müsse (1977, 75). Erläuternd heißt es: „Also schafft die künstlerische Kommunikation unter diesen Voraussetzungen eine widersprüchliche Situation. Der Text soll gesetzmäßig sein und nicht gesetzmäßig, voraussagbar und nicht voraussagbar“ (1977, 76). Hingewiesen wird damit auf die Formierung divergenter Erwartungen beim Adressaten. Der eher an der Phänomenologie oder Hermeneutik orientierten Literaturwissenschaft, die ab Ende der 1960er Jahre im deutsch- und englischsprachigen Raum zu einer reception 37 38 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften theory bzw. einem reader-response criticism fand (vgl Freund, 1987), erschienen die traditionellen Formen einer Produktions- und Darstellungsästhetik, die den Rezeptionsvorgang außen vor ließ, leichter überwindbar, indem sie den literarischen Text als Netzwerk von an den Rezipienten gerichtete Appellstrukturen auffasste. Die innovativen Momente der ästhetischen Botschaft mussten dabei auf die Erwartungshaltungen des Lesers bezogen werden. Hans Robert Jauß (1970) spricht etwa vom historisch-ästhetischen „Erwartungshorizont“ des Lesers, der durch die künstlerische Botschaft des Werks verletzt werde. Die so erzeugte „ästhetische Distanz“ ergebe sich dabei aus der Wechselwirkung von zwei Erwartungshaltungen beim Leser, nämlich vom Erwartungshorizont des impliziten Lesers, der das Werk selbst codiert und von diesem fixiert werde, und dem des konkreten Lesers, der durch historisch und individuell bedingte lebensweltliche Erfahrung geprägt und damit variabel sei. Wolfgang Iser, ein anderer prominenter Vertreter der Konstanzer Schule, stellte den Lesevorgang als einen aktiven konfliktgeladenen Prozess dar, in dem die kommunikative Unbestimmtheit des ästhetischen Textes wirksam wird, und er favorisierte dabei den Begriff der „Leerstelle“, die er als das „wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser“ interpretiert, worin der Letztere Autorenerfahrung und Selbsterfahrung miteinander abgleichen könne (Iser 1972, 248). Die Bedingungen für die Existenz der verschiedensten Varianten von Leerstellen werden dabei über unerwartete Angebote der Form definiert, nicht unähnlich jenen, die im Konzept der Formalen Schule das Potenzial der ostranenie bildeten. Im Osten Deutschlands kam es etwa gleichzeitig zu verwandten rezeptionsästhetischen Aktivitäten. Beiträge von Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt und anderen Literaturwissenschaftlern der Akademie der Wissenschaften der DDR plädierten dafür, die Kommunikation stärker mit Prozessen der Widerspiegelung zu verbinden und sie auch fester in sozialen Beziehungen zu verankern. Die „Eigenschaft des Werkes, die Rezeption zu steuern“, wurde dabei auf die Formel der „Rezeptionsvorgabe“ (Naumann 1976, 35) gebracht, die den Erlebensprozess im Leser gleichsam vorprogrammiert. Selbstredend wurde eine solche Vorgabe nicht als starres Programm gesehen, sondern probabilistisch interpretiert. 2.3.3 Kunsterleben als optimierte Informationsverarbeitung Wie schon am Kommunikationsmodell erkennbar wurde, macht dessen Anwendung erst Sinn, wenn es um die Darstellung von Differenzen informationeller Art aufgrund vorhandener Informationssenken geht, die durch Kommunikationsprozesse überwunden werden. Die Einsicht in dieses Verhältnis hat dazu geführt, kybernetische Modelle der Übertragung von Information auf die Kunstrezeption anzuwenden. Erste Versuche von Max Bense, Helmar Frank, André Moles und anderen, eine entsprechende „Informationsästhetik“ aufzubauen, gingen sogar von der Vorstellung aus, dass der Begriff der Information als „Idee einer möglichen Maßbestimmung für Originalität“ (Bense 1960, IV, 15) interpretierbar sei. Diese Formulierung nahm gleichsam die Forderung des Zeitgeistes im westlichen Europa an der Schwelle der 1960er Jahre auf, wonach moderne Kunstwerke über ihre 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 39 Botschaften den Rezipienten Innovation vermitteln sollten, und zwar vornehmlich über neuartige Formangebote. Eine neue Sicht auf die Realität und Intentionen, die zu neuen Weltmodellen führten, schloss dies nicht aus. Mit Hilfe der vorhandenen mathematischen Ansätze, etwa den auf statistischen Eigenschaften einer Nachricht basierenden Methoden von Shannon und Weaver oder Norbert Wiener, waren die komplizierten Kunstprozesse indes kaum beschreibbar. Andere nicht-statistische Verfahren wie Andrej N. Kolmogorovs (1965) algorithmische Methode, welche die Informationsmenge von der Länge des Programms eines Umformungsprozesses ableiteten, erforderten noch eine weitere Ausarbeitung (vgl. Ursul 1970, 33). Um die Kunstprozesse zu erfassen, wurde generell eher ein semantisch orientierter Informationsbegriff benötigt, welcher die zwischen zwei Systemen wirklich übertragene Informationsmenge erfassbar machen könnte. Ein solcher steht nicht zur Verfügung. Wie auch der systemtheoretische Entwurf von Norbert Bischoff (1998) zeigt, erweist sich die Erreichung dieses Ziels zwar als außerordentlich schwierig, nichtsdestotrotz wird daran erfolgreich gearbeitet, sodass es durchaus produktiv und sinnvoll scheint, den Begriff nicht fallen zu lassen, sondern ihn einstweilen wenngleich nicht als quantitative Bestimmung, so doch als metaphorisches Konstrukt für die Kunstanalyse zu nutzen. Dies im Konsens mit der ISO-Norm 2382 (ISO/ IEC, 1983, zit. in: Glaser 2009, 741), die Information als „Bedeutung einer Nachricht für den Empfänger“ definiert. Gelegentlich einer Darstellung zur Physiologie hat Anochin (1963, 50) einmal anschaulich formuliert, Information stehe für die Bedeutung der Eingangssignale für den Empfänger, und zwar im Hinblick auf die Veränderung, die sie dort bewirke. Im Zusammenhang mit Kunstrezeption würde ein Konzept von Information, das diese als input-abhängiges Veränderungspotenzial für das System auffasst, bedeuten: Je größer die Veränderung, die durch ein Werk im Bewusstsein des Rezipienten eingeleitet wird, desto umfangreicher ist der Informationsgewinn aufgrund ästhetischer Originalität, eine Annahme, die wichtige Implikationen für das Erleben eines Kunstwerks in seiner Gesamtheit enthält, insofern es dabei stets um die Vermittlung von neuartiger, origineller Erfahrung geht. Der Ansatz gibt jedoch auch Raum für ein gegenläufiges Prinzip. Schon bei den ersten Überlegungen der Informationsästhetik wurde das Konzept der ästhetischen Information durch einen komplementären Begriff der „ästhetischen Redundanz“ ergänzt, der den Redundanzbegriff der Nachrichtentechnik modifizierte.3 3 Der Begriff der Redundanz dient in der Nachrichtentechnik der Charakterisierung einer Information und wird im „Wörterbuch der Kybernetik“ von G. Klaus (1967, 515) definiert: „Wenn durch Verwendung eines geeigneten Codes eine Kürzung der Information (z. B. einer Zeichenfolge) möglich ist, ohne dass Informationsverlust eintritt, liegt Redundanz vor. Man unterscheidet zwischen fördernder Redundanz und leerer Redundanz.“ N. Bischof schreibt in einer neueren Publikation über die Redundanz einer Informationsquelle: „Redundanz liegt stets vor, wenn die Quelle in ihrem Verhalten nicht völlig unspezifiziert, sondern nur unterspezifiziert ist, d. h. wenn sie sich bei der Auswahl der Werte nicht vom reinen Zufall leiten lässt, sondern irgendeine (dem Systembetrachter bekannte) Regelmäßigkeit einhält“ (Bischof 1998, 64; Hervorh. i. O.). 39 40 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Der Kopf der Stuttgarter Schule der Informationsästhetik Max Bense (1960, IV, 34) erläuterte seine Auffassung von „ästhetischer Redundanz“ mit den Worten: „Es ist jener Betrag, um den die maximale Information kleiner werden muss, damit sie apperzipierbar bleibt; es ist eine Ballastfunktion, die zur Zeichenfunktion hinzu kommt, damit Wahrnehmbarkeit, kurz Realisation entsteht, damit der Informationsbetrag, der gestellt wird, tatsächlich ein Informationsbetrag ist. Alles, was Reglement ist im ästhetischen Prozess, gehört zur Ballastfunktion, zur Redundanz und stellt die Wahrnehmbarkeit von Kunst sicher.“ In der Tat benötigt jede künstlerische Komposition bestimmte Regelhaftigkeiten der Form, die im Sinne von fördernder Redundanz das Werk apperzipierbar machen und sein Verständnis durch den Rezipienten sichern. Neben einer hermeneutischen Analyse, die, dem Begriffspaar Information und Redundanz folgend, systematisch das Spannungsverhältnis akzentuierte, welches sich aus dem Interagieren von Unerwartetem und Erwartetem, von Unbekanntem und Bekanntem in der Rezeptionsvorgabe des Werks ergab, sorgte das Konzept der Informationsästhetik indes vor allem dafür, dass über das Paradigma der Informationsverarbeitung der geistige Brückenschlag zur Psychologie möglich wurde, und damit eine konkrete Chance für einen Austausch von Erkenntnissen und eine interdisziplinäre Forschung entstand. Dazu trugen nicht zuletzt Überlegungen bei, die sich an die Interpretation des so genannten Kanals banden, lässt sich doch die Redundanz einer Nachricht auch auf dessen Kapazität beziehen. In einer neueren Definition heißt es etwa: „Die Differenz zwischen maximaler und tatsächlich genutzter Kanalkapazität wird Redundanz genannt“ (Glaser, 2009, 744, Hervorh. i. O.). Wenn die Vertreter der Informationsästhetik seinerzeit die Funktion des Kanals in Augenschein nahmen, über den die ästhetische Information das Bewusstsein des Rezipienten erreicht, suchten sie sich dem Spannungsverhältnis, das sich zwischen Ermöglichung und Limitierung des Informationsflusses bei der Kunstrezeption auftut, durch eine komparative Betrachtung erzeugter Redundanzen zu nähern. Psychophysiologisch ließ sich die Modellposition des Kanals im Rahmen der Gedächtnistheorie verorten und geht bereits auf G. T. Fechner zurück. In den 1960er Jahren und noch lange danach wurde die Informationsverarbeitung des Menschen anhand der Wechselbeziehung zwischen zwei Gedächtnistypen mit jeweils unterschiedlicher Speicher- und Verarbeitungskapazität erklärt, die als Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis bezeichnet wurden. Der Kurzspeicher entsprach dabei der Position des Kanals. Als Durchgangskanal für die eintreffenden Informationen bezeichnete das Kurzzeitgedächtnis in seiner begrenzten und verhältnismäßig geringen Aufnahme- und Speicherkapazität gleichsam die „Enge des Eingangs zum Bewusstsein“ und die „Enge des Inhalts des Bewusstseins“ (Frank 1965, 357), und für beide Funktionen wurden quantitative Angaben gemacht (vgl. Frank 1959, 50f.).4 4 Helmar Frank (ibid.) formulierte seinerzeit: „Dem Bewusstsein sind zu jedem Zeitpunkt höchstens 160 Bits subjektiver Information gegenwärtig, gleichgültig, ob es sich um sensorische, reflektorische oder motorische Bewusstseinsprozesse handelt; neue Information kann höchstens mit einer Rate von einem Bit pro Zeitquant aufgenommen oder abgegeben werden“. Bei der Beurteilung 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 41 Inzwischen wurden zahlreiche Gedächtnismodelle entwickelt, die die Informationsverarbeitung anderen bzw. anders benannten Instanzen zuordnen und voneinander abweichende Angaben zu deren Speicherkapazitäten machen.5 Ungeachtet dieser schwankenden Werte hat sich jedoch bis heute die Hypothese als produktiv erwiesen, für Prozesse der Kommunikation und Kunstrezeption eine begrenzte und in ihrem Umfang absehbare Informationsverarbeitungskapazität des Menschen zu veranschlagen, die zudem nahezu konstant ist und sich auch von Individuum zu Individuum nicht sonderlich unterscheidet (vgl. Dempster 1981, 87). Aus dieser Annahme leitete die Informationsästhetik die Vorstellung ab, wonach Kunstprozesse eine Art günstiger informationeller Bilanz anstreben, die mit der Anpassung des Kommunikats an die Kapazitäten des Kanals und einer entsprechenden Optimierung des Informationsflusses bei der Rezeption zusammenhängt. Diese Annahme hatte den Vorzug, dass die Dialektik von ästhetischer Information und Redundanz einerseits auf die Aufnahmekapazität des Menschen als objektive Größe bezogen werden konnte, andererseits die vielfach gemachte Erfahrung bestätigte, dass ein künstlerisches Werk die Rezipienten hinsichtlich seiner Innovationsmomente weder über- noch unterfordern dürfe. Dabei ist die deklarierte Optimierung der Informationsmenge kaum als strikte Einhaltung einer konstanten Größe oder asymptotischen Annäherung an eine solche vorstellbar, sondern eher als beständiges Schwanken um einen Modalwert. Diese Schwankungen lassen sich auch als permanente Veränderung von Spannungs- und Erregungszuständen interpretieren, wie sie von Wygotski (1976), Berlyne (1960; 1967), Kreitler & Kreitler (1980) u. a. als essenziell für jegliches Kunsterleben betrachtet wurde. Innerhalb der Versuche, menschliche Bewusstseinsprozesse über informationstheoretische Modelle darzustellen, hat es unterschiedliche Etappen und Trends gegeben, in denen bestimmte Leitgedanken und Begriffe Karriere machten, darunter der des „Lernens“, der Bildung von „Chunks“ und „kognitiven Schemata“. Für die Modellierung von Kunstprozessen konnten daraus Anregungen bezogen werden. So gewann in den 1960er Jahren ein allgemeiner Begriff von Lernen an Bedeutung, der von Klix (1971, 348) als „Ausbildung oder Korrektur von individuellem Gedächtnisbesitz“ interpretiert wurde. Dieser Gedächtnisbesitz, der auch als internes Modell der Außenwelt zu verstehen war, organisiert sich gleichsam als Erwartungsmuster, das der Mensch an die Realität heranträgt, und zwar sowohl an die materielle Lebenswelt wie an die Werke der Kunst. des (nicht konstanten) subjektiven Zeitquants wurde dabei von einer Größe ausgegangen, die etwa 1/16 sec. entsprach. 5 Statt des Kurzzeitgedächtnisses wurde etwa eine zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis eingeschaltete Zwischeninstanz in Gestalt eines „Arbeitsgedächtnisses“ (Kintsch 1974) oder „Intermediär-Zeitgedächtnisses“ (Popper / Eccles 1982) veranschlagt bzw. ein „operatives Kompartement“, in dem „das Zusammentreffen zwischen Umwelt- und Gedächtnisinformation stattfindet“ (Klix 1990, 173). Hinsichtlich der quantitativen Bestimmung der durch den Zuflusskanal limitierten Informationsmenge, wurde bereits 1967 durch Itelson (1967, 374) eine Übersicht gegeben, wonach aktuelle Untersuchungen verschiedener Autoren auf Werte kommen, die zwischen 5 bit/s und 70 bit/s divergieren. 41 42 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Dieter Langer (1962, 14) beschreibt dies mit den Worten: „Im Hinblick auf die Gesamtheit der Ereignisse in der Umwelt können wir unser Wissen ›Was womit zusammenhängt‹ und ›Was worauf folgt‹ als Ausdruck eines Erwartungsmusters auffassen, das sozusagen statistischer Art ist.“ Es war naheliegend, bei der Kunstanalyse nach Entsprechungen und Differenzen zwischen den Strukturangeboten der künstlerischen Werke und den Erwartungsmustern des Zuschauers zu suchen, dies in Weiterführung der alten Idee von Originalität. Da es zeitgleich auch zu einem Boom der allgemeinen Zeichentheorie kam, entstanden Konstrukte, die aus der Wechselwirkung von Lerntheorie und Semiotik hervorgingen. So interpretierte das so genannte „Redundanzmodell des Lernens“, das auch in der Pädagogik zur Anwendung gelangte, die in Lernprozessen praktizierte Integration von externen Strukturen in umfassendere Gesamtstrukturen als Ordnungs- oder Redundanzgewinn für den Lernenden. Nach Cube (1965, 158) kombiniert der Letztere Elemente des Zeichenrepertoires einer Nachricht, sodass daraus neue Informationseinheiten entstehen, so genannte „Superzeichen“. Auch in der Informationsästhetik spielte der Begriff der Superzeichenbildung oder Superierung für die Beschreibung künstlerischer Formgestalt eine wichtige Rolle. Formzusammenhänge herzustellen, bedeutete ja im Prinzip immer, diskrete zeichenhafte Elemente zu einem umfassenderen Zeichengebilde zusammenzufassen, was in der Regel dazu führte, dass der Informationsbetrag des Werkganzen dank der Voraussehbarkeit der formierten Strukturen abgesenkt wurde. Für das Verständnis der künstlerischen Komposition und Narration war diese Auffassung sehr hilfreich. Jeder Akt von Strukturierung ließ sich als Absenkung oder jedenfalls Regulierung des Informationsbetrages für den Rezipienten verstehen. Bestimmte Ablaufschemata innerhalb der Narration erschienen etwa als redundanzerzeugende Superzeichen. Neben dem lernpsychologischen Modell für Redundanzbildung haben sich verwandte Vorstellungen, die die mentale Aneignung externer Strukturen betrafen, herausgebildet und zu Begrifflichkeiten wie „Bildung von ›Chunks‹“ und „kognitiven Schemata“ geführt, die bereits in der Frühphase einer kognitions-psychologischen Erforschung des Films eine wichtige Rolle spielten und darum noch (in 2.4.1) genauer erklärt werden sollen. Obgleich die erwähnten psychologischen Konzepte in mancher Hinsicht stark voneinander abwichen und einander im Diskurs zu verdrängen trachteten, blieben einige zentrale Tendenzen und Prinzipien, die auch für die Modellierung von Kunstprozessen bedeutsam waren, erhalten und schälten sich sogar nach und nach mit immer größerer Deutlichkeit heraus. Dazu gehört vor allem ein Komplex aus den folgenden Annahmen, (1) dass singuläre externe Reize im Informationsverarbeitungsprozess zu größeren Informationseinheiten zusammengefasst werden, was bei einer späteren Aneignung ähnlicher Angebote die Informationsaufnahme erleichtert, also zu Veränderungen der Adaptionsleistung führt; (2) dass die dabei vonstattengehenden kognitiven Prozesse sich ihrerseits qualitativ verändern und damit phasischen Charakter gewinnen, und (3) dass wegen einer begrenzten Kanalkapazität bei der Aufnahme neuer Information für deren Zugang ein absehbarer Modalwert anzustreben ist, was zu Empfehlungen 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 43 für die Begrenzung und damit Optimierung des Strukturangebots von künstlerischen Kommunikaten führt. Diese Modellvorstellungen fixieren eine Erfahrung des individuellen Kunsterlebens, die im Grunde als trivial empfunden wird: Dass künstlerische Formbestrebungen, die meist mit Veränderungen im Ordnungs- oder Abstraktionsgrad der dargestellten lebensweltlichen Erscheinungen verbunden sind, dabei helfen, das Werkganze mit seinen Abbildungen der Realität für den Zuschauer besser wahrnehmbar und damit optimal erlebbar zu machen. Ähnliche Ideen finden sich daher auch in den meisten ästhetischen Konzepten wieder, wenngleich vielfach eher als implizites Wissen. Die Formulierung hypothetischer Annahmen zu einer optimalen Informationsverarbeitung des Kunsterlebnisses, die sich an einer quantitativ oder zumindest komparativ beschreibbaren informationellen Bilanz der Reizaufnahme des Werkes orientiert, scheint für sich genommen ungeheuer mechanistisch, macht aber viele Beobachtungen zur künstlerischen Werkstruktur im Rahmen eines umfassenderen ästhetischen Interpretationssystems besser bewertbar. Erkennbare Regelhaftigkeiten innerhalb der Gestaltung lassen sich zielstrebig der Redundanzgewinnung, Superzeichenbildung usw. zuordnen, also Tendenzen, die den Zufluss neuer Information senken, die Innovation des Werks in Grenzen halten und seine Aufnahme durch den Zuschauer erleichtern. Neben den hier erwähnten Modellansätzen zur ästhetischen Rezeption sind indes noch andere entwickelt worden, die man ebenso hinzuziehen kann, um den Modellkomplex zu erweitern und die beabsichtigte funktionale Strukturanalyse des Films voranzutreiben. 2.3.4 Kunstprozesse als Zeichenprozesse mit Regelfunktion Aus kybernetischer Perspektive können Kunstprozesse – darunter auch die Rezeption von Film – nicht nur unter dem Informationsaspekt gesehen werden, sondern ebenso unter dem der Regelung.6 Generell finden auf verschiedenen Ebenen der ästhetischen Funktionsweisen Wechselwirkungen zwischen den Phänomenen statt, die sich als Regelungsvorgänge unterschiedlichster Art beschreiben lassen. Die Psychologie hat sich deshalb seit längerem bemüht, Prozesse der Informationsverarbeitung des Menschen im engsten Zusammenhang mit dessen Verhaltensregulierung zu sehen, und dies auf vielen Ebenen. Eine fundamentale Arbeit von Friedhart Klix (1971) zeigt dies bereits im Titel an: „Information und Verhalten“. Für eine Analyse von ästhetischen Wirkungen erweist sich dergleichen etwa dort als nützlich, wo man die ästhetische Kommunikation als Zeichenprozess studiert, der beim Zuschauer etwas bewirkt, was man in weitestem Sinne als Verhaltensregulation verstehen kann und zudem im Spezialfall eines Kunsterlebnisses bei diesem eine Regulierung des 6 „Aufgabe des Reglers ist es hierbei, eine bestimmte veränderliche Größe, die Regelgröße, entgegen störenden Einwirkungen gemäß einer vorgegebenen Funktion, der Führungsgröße, zu variieren“ (G. Klaus 1967, 521f.; Hervorh. i. O.). 43 44 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften psychischen Verhaltens zur Folge hat. Das künstlerische Werk, der Zeichenprozess und die psychische Reaktion, also Phänomene, die sonst jeweils als Objekte der Kunstwissenschaft, der Semiotik oder Psychologie gelten, können damit unter dem gleichen Funktionsaspekt der kybernetischen Regelung gesehen werden; für eine Vereinheitlichung der Untersuchung ist dies natürlich förderlich. Die Wissenschaftsgeschichte bietet eine Reihe von Versuchen an, die benannten Zusammenhänge herauszuarbeiten. Schon in der „Psychologie der Kunst“ von Lew Wygotski ([1925] 1965) findet sich eine Arbeitshypothese, die in der russischen Ausgabe (352f.) von dem Linguisten und Semiotiker Vjačeslav V. Ivanov (1965a) kommentiert und später weiterentwickelt wurde: Zeichen müssten „als Mittel der Regulierung menschlichen Verhaltens angesehen werden“. Dort, wo der Mensch sein individuelles und gesellschaftliches Verhalten nicht unmittelbar beherrsche, schaffe er Zeichen zum Zwecke einer mittelbaren Regulierung des Verhaltens (Ivanov 1965b, 78f.). In engem Bezug auf Kunstprozesse wird hier der fundamentale Zusammenhang zwischen kybernetischen, semiologischen und psychologischen Funktionsmechanismen formuliert. Ähnliche Überlegungen zur mittelbaren Regulierung des Verhaltens über Zeichen waren übrigens schon von Charles S. Peirce, einem der Begründer der Semiotik, unternommen worden, um die triadische Zeichenrelation der Semiose zu fundieren.7 In dem wegweisenden Aufsatz von Charles W. Morris „Ästhetik und Zeichentheorie“ ([1939] 1992), der den Vorschlag unterbreitet, von der Semiotik her einen Zugang zur Ästhetik zu gewinnen, wird die von Peirce entwickelte Unterscheidung der Zeichenfunktionen in eine semantische, pragmatische und syntaktische Dimension auf eine Weise übernommen, dass sie auch auf jene Relationen angewandt werden kann, in die ein Kunstwerk einbezogen ist.8 Kunstwerke gehören nach Morris zu den ästhetischen Zeichen, für deren Analyse zudem Gesichtspunkte einer von Dewey und Mead entwickelten Werttheorie geltend gemacht werden. Unter diesen Aspekten lassen sich ästhetische Zeichen als „interessebezogen“, d. h. im engen Zusammenhang mit „interessebedingten Handlungen“ (Morris 1992, 360) betrachten. Besonders augenfällig wird dies im Bereich der ästhetischen Pragmatik, in den nach Morris jene Probleme fallen, „die mit dem Verhältnis der ästhetischen Zeichen zu 7 „Es ist wichtig zu verstehen, was ich mit Semiose meine. Alle dynamische Aktion oder Aktion roher Gewalt, physikalisch oder psychisch, findet entweder zwischen zwei Objekten statt (sei es, dass sie in gleicher Weise aufeinander einwirken oder dass das eine handelnd und das andere leidend ist, vollständig oder teilweise) oder ist jedenfalls ein Ergebnis solcher Aktionen zwischen zwei Objekten. Mit Semiose meine ich im Gegensatz dazu eine Aktion oder einen Einfluss, der aus der Kooperation dreier Objekte besteht oder diese einschließt, wie z. B. ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpretant, wobei dieser trirelative Einfluss auf keinerlei Weise in Aktionen zwischen je zwei Objekten aufgelöst werden kann“ (Peirce: Schriften, 1970, II, 482; Hervorh. i. O.). 8 „Die Beziehung der Zeichenträger zu dem, was designiert oder denotiert wird, soll semantische Dimension der Semiose heißen […]; die Beziehungen der Zeichenträger zu den Interpreten wollen wir pragmatische Dimension der Semiose […] nennen; die semiotisch relevanten Beziehungen der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern bezeichnen wir als syntaktische Dimension der Semiose […]. Als allgemeine Wissenschaft von den Zeichen enthält die Semiotik also die Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik“ (Morris 1992, 358). 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 45 ihren Schöpfern und Interpreten zusammenhängen, d. h. alle biologischen, psychologischen und soziologischen Faktoren, die an dem ästhetischen Zeichenprozess beteiligt sind“ (372). Berührt werden dabei vor allem Fragen, welche sich auf die Funktion beziehen, die Kunst für Individuum und Gesellschaft hat. „Das ästhetische Zeichen hat im Allgemeinen die wichtige Funktion, die Werte, die dem Handlungsergebnis entsprechen, für die Steuerung des Handlungsablaufs verfügbar zu machen, und jeder einzelne ästhetische Zeichenträger vergegenwärtigt in objektiver Form die Lösung eines Wertkonflikts“ (373). Diese Aussage gerät in unmittelbare Nähe dessen, was im heutigen Sprachgebrauch Regulierung menschlichen Verhaltens heißt. Kunstwerke werden gleichsam als spezifisches Mittel zur Verhaltensregulierung gesehen. In der Psychologie hat sich die Annahme der Verhaltensregulierung durch Zeichen inzwischen als unverzichtbar für viele Forschungen erwiesen – auch wenn sie manchmal in den Hintergrund gerät.9 Seit den 1960er Jahren wurde die Idee der Verhaltensregulation mittels ästhetischer Zeichen durch die kultursemiotischen Konzepte von Jurij M. Lotman und Umberto Eco weiterentwickelt. Hier sei zunächst nur an ein Thesenpapier Lotmans unter dem Titel „Die Kunst als modellbildendes System“ ([1967] 1981) erinnert, das wichtige Aspekte einer solchen Verhaltensregulation herausarbeitet, indem es den besonderen Zeichencharakter der Kunstwerke, die in ihrem Aufbau dem Prinzip der ikonischen Zeichen folgen, als den eines „Zeichenmodells (znak-model)“ definiert, d. h. als Gebilde, das gleichermaßen zeichenhaftes Modell wie modellhaftes Zeichen ist (Lotman 1981, 69).10 Aus dieser Perspektive lässt sich die zeichenhafte Funktion eines Kunstwerks als die einer Entität, eines ganzheitlichen komplexen Gebildes studieren, was zu Aussagen über zentrale Aspekte von Verhaltensregulation führt wie: „Künstlerische Modelle stellen eine einzigartige Verbindung von wissenschaftlichem Modell und Spielmodell dar, weil sie gleichzeitig den Intellekt und das Verhalten organisieren“ (88; Hervorh. i. O.). Ohne direkt auf die psychologischen Prozesse einzugehen, werden auf diese Weise doch fundamentale Bereiche psychischer Tätigkeit wie Kognition und Spiel erfasst. Andere Konzepte suchen die Hypothese von der Verhaltensregulation durch Kunst dezidiert auf differenziertere psychische Prozesse anzuwenden. 9 Theo Herrmann (2003) hat angemahnt, dass eine Untersuchung dieser Funktion auch beim Studium der Planung und Regulierung von Sprachproduktion eine angemessene Rolle spielen sollte und dafür überzeugende Argumente angeführt. 10 „Ein modellbildendes System ist eine durch eine Menge von Elementen und deren Verknüpfungsregeln determinierte Struktur, die sich in einem Zustand festgelegter Analogie zum Gesamtbereich des jeweiligen Objekts befindet, das erkannt, begriffen und eingeordnet werden soll. Man kann deshalb ein modellbildendes System als Sprache betrachten“ (Lotman 1981, 67f.). 45 46 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften 2.3.5 Filmerleben als Regulation psychischen Verhaltens Im Folgenden soll die Beschreibung elementarer Kunstfunktionen eine gewisse Verengung erfahren, die eine Fokussierung auf den Film erleichtert. Dass man auch den Film als Zeichen betrachten könne, obwohl man dabei immer wieder der Irritation ausgesetzt ist, es mit der Existenz bzw. Abbildung realer oder fiktiver Dinge zu tun zu haben, was eigentlich dem Zeichencharakter widerspricht, wurde schon in den 1930er Jahren von Roman Jakobson plausibel erläutert. Jakobson ([1933] 1968, 185f.) berief sich dabei auf den heiligen Augustinus: „Dieser geniale Denker des 5. Jahrhunderts, der fein unterschied zwischen dem Ding (res) und dem Zeichen (signum), lehrt, dass neben den Zeichen, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, etwas zu bedeuten, Dinge existieren, die man in der Rolle von Zeichen verwenden kann. Eben ein solches Ding (optisch und akustisch), in ein Zeichen verwandelt, ist das spezifische Filmkunstmaterial.“ Jakobson insistiert darauf, „dass sich jede Erscheinung der Außenwelt auf der Leinwand in ein Zeichen verwandelt“ (186; Hervorh. i. O.). Indem der Film sich einerseits an die Reizmuster realer Dinge hält, andererseits aber diese Muster im Kommunikationsprozess für die Zeichenproduktion verwendet, kann er bestimmte Funktionsweisen der Zeichensysteme nutzen und tut dies auch. Er wird damit zu einem Mittel der Verhaltensregulation. Diese Verhaltensregulation darf nicht als Geschehen innerhalb eines einzigen simplen Regelkreises verstanden werden. Zutreffender scheint eher das in den 1960er Jahren genutzte Bild vom Bündel miteinander vermaschter Regelkreise. Denn auch die Zeichenprozesse sind ja vielgestaltig. Schon bei Morris (1992, 356) ist zu lesen, dass das Kunstwerk als ein Zeichen zu betrachten sei, „das, von dem einfachsten Grenzfall abgesehen, seinerseits aus Zeichen zusammengesetzt ist.“ Kunstwerke, auch die des Films, bilden jeweils Entitäten, die nicht nur eine Vielzahl von Zeichen umfassen können, sondern auch solche unterschiedlichen Typs, die verschiedenen Codes folgen, welche wiederum über variable Stärken verfügen u. a. M. Man denke an solche Differenzierungen, die bereits in den Alltagsdiskurs der Medienkultur Eingang gefunden haben wie ikonische und nichtikonische Zeichen, visuelle und auditive, filmische und kinematographische, starke und schwache Codes u. a. M. Eine allgemeine Semiotik hat differenzierte Einführungen in diese Probleme und Begrifflichkeiten gegeben (vgl. Eco 1972b), und über die spezifischen Vorstellungen, die besonders in den 1960er und 1970er Jahren von einer eigenständigen Filmsemiotik entwickelt wurden, existieren ausführliche Übersichten (Möller-Nass 1986; Wuss 1990a; Kloepfer 2003). Im Hinblick auf die potenzielle Verhaltensregulation im Rahmen filmischer Zeichenprozesse scheinen heute besonders jene Aussagen der Filmsemiotik relevant, die auf die Notwendigkeit verweisen, bei der Analyse das differenzierte Feld von Zeichen und Codes in seinem funktionalen Zusammenhang zu studieren, es gleichsam als „Ort einer Strukturierungsarbeit“ (Metz 1973, 262) zu betrachten. So sei es sinnvoll, nicht nur einen einzigen Code zu suchen, etwa „den Code des cinéma“, sondern „eine Kombination von mehreren Codes“ (Metz 1973, 260). Dies schließe die Akzeptanz einer „Verschiebung (déplacement)“ (110; Hervorh. i. O.) ein. „Das, was das System eines Films im eigentlichen 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 47 Sinne ›macht‹, ist der Übergang von einem Code zum anderen; jeder Film wird mit verschiedenen Codes konstruiert, und eben durch dieses ›mit‹ wird das Wichtige ausgedrückt“ (110, Hervorh. i. O.) Der Ort relevanter Strukturierungsarbeit verlagert sich damit aber von der Semiose und ihren Zuordnungsregeln auf das Gebiet der psychischen Prozesse, die über eine ganz eigenständige Dynamik verfügen. Ein möglicher Weg, diese Dynamik zu beschreiben, beruht in der Auffindung von Regelungsvorgängen. Im Hinblick auf die Erlebensprozesse von Film lässt sich etwa von der Arbeitshypothese ausgehen, dass die Zeichenprozesse der ästhetischen Kommunikation nicht mit einer Verhaltensregulation der Rezipienten schlechthin verbunden sind, sondern für eine innere, psychische Regulation des Zuschauers sorgen, die diesem etwa dabei hilft, mit den Widersprüchen und Konflikten der Realität umzugehen. Diese psychische Regulation läuft generell auf eine Stabilisierung seines psychischen Gleichgewichts hinaus, kann aber sehr unterschiedlichen Charakter annehmen, was sich auch in der Struktur der medialen Kommunikate äußert. So bemühen sich z. B. unterhaltungsorientierte Filme der Populärkultur um eine elementare und temporäre psychische Regulation, sodass ihre Rezeption auch einem Akt von Psychohygiene nahekommt.11 Im Zusammenhang mit dem populären Film ist es daher sinnvoll, ein Spektrum von ästhetischen Reaktionen in Betracht zu ziehen, das auch sehr einfachen psychischen Regulationsvorgängen Raum gibt. Das psychische Gleichgewicht wird dabei auf möglichst direktem Wege hergestellt, indem man beispielsweise der Psyche des Rezipienten etwas zuführt, das zumindest kurzzeitig einen Ausgleich gegenüber dem schafft, was er in seinem Alltag vorfindet, aber nicht bereit ist, als Optimum anzuerkennen. Diese Funktion des Kinos, eine Kompensation von Erlebnisdefiziten zu bewirken, wurde früh erkannt. Schon 1913 hat Kurt Pinthus ([1913] 1983, 21) solche Defizite benannt und die oft banalen Verfahren des Films beschrieben, sie auszugleichen. „Im Kino treibt den Menschen die Gier, den Kreis seines Wissens auf einfachste und schnellste Weise zu erweitern. Der Schüler will die Prärien seiner Indianerbücher, seltsame Menschen bei seltsamen Verrichtungen, die üppigen, menschenfremden Ufer asiatischer Flüsse sehen. Der bescheidene Bureaubeamte, die im Haushalt eingespannte Frau sehnen sich nach schimmernden Festen der eleganten Gesellschaft, nach fernen, leuchtenden Küsten und Gebirgen, zu denen sie niemals reisen werden. Und die Wissenden oder Reichen freuen sich, die Entwicklung der Seidenraupe kennenzulernen oder einer wirklichen Schlacht beizuwohnen.“ Untersuchungen der Populärkultur von John Fiske aus den 1980er und 1990er Jahren sehen in dieser einen speziellen Fall von Produktion und Zirkulation von Bedeutung, die soziale Erfahrungen aufnimmt und weitergibt, und dies mit dem Ziel der praktischen Be- 11 Mit Clauß (1976, 413) wird hier „Psychohygiene“ verstanden als „Gesamtheit der Verhaltensweisen und Verhaltensregelungen, die der psychischen und damit auch der psychosomatischen Gesunderhaltung dienen, z. B., indem sie Konflikte und Überbelastungen unwahrscheinlich macht.“ 47 48 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften herrschung von Lebensumständen. Hinter dem menschlichen „Streben nach Kontrolle“, dem „Verlangen, die physische Umwelt zu beherrschen“, lasse sich gleichsam eine „anthropologische Konstante“ ausmachen (Fiske 1993a, 17). Insgesamt habe die Populärkultur den Hang, diesen Prozess, der zum Gewinn von Kontrollkompetenz führt, zu stimulieren, indem sie das dort erzeugte Selbstgefühl von Handlungsmächtigkeit mit „pleasure“, Vergnügen, einer körperlichen Lust verbindet (10). Kunstpsychologische Konzepte von Lew Wygotski ([1925] 1976), Daniel Berlyne (1960; 1967) oder Hans und Shulamith Kreitler (1980), die ihre Analyseobjekte hingegen aus dem Repertoire der autonomen Kunst wählten, zeigten sich zwar ihrerseits dem Regelungsprinzip verbunden, interpretierten indes die angestrebte psychische Verhaltensregulation als Prozess, der weitaus komplizierter in seinem Funktionsmuster und auch längerfristiger in seiner Wirkungskonsequenz angelegt ist als jener der Populärkultur. Als zentrales Moment des psychischen Geschehens wurde jeweils ein spezifischer Vorgang von Selbstregulation gesehen. Im Erlebensprozess sollte ein Ausgleich von Spannungen erfolgen, ein Zustand von innerem Gleichgewicht hergestellt werden, der sich mit jenem Eindruck von Harmonie verband, der in den früheren ästhetischen Konzepten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die Äquilibration mit Harmonie-Effekt avancierte damit gleichsam zur Führungsgröße der psychischen Verhaltensregulierung. Abgesehen von diesem Analogiemoment unterscheiden sich die drei erwähnten Konzepte, die aus verschiedenen historischen Epochen und sozialen Umfeldern stammen, natürlich beträchtlich. Wygotski, der in den 1920er Jahren die führenden kunstpsychologischen Ansätze auswertete, definierte, dass „ein jedes Kunstwerk – die Fabel, die Novelle und die Tragödie – unbedingt einen affektiven Widerspruch in sich birgt, wechselseitig entgegengesetzte Gefühlsreihen auslöst und ihren Kurzschluss und ihre Vernichtung herbeiführt. Dies kann man als den wahren Effekt des Kunstwerks bezeichnen“ ([1925] 1976, 248). Dieser „wahre Effekt“, vom Autor auch als „ästhetische Reaktion“ bezeichnet und mit dem Begriff der Katharsis belegt, bezieht sich auf eine „komplizierte Gefühlsumwandlung“ (249), also maßgeblich auf die emotionale Seite des Erlebens. Berlyne (1960; 1967) ging bei seinen Forschungen von der Beobachtung aus, dass es für das Kunstwerk charakteristisch sei, einen Anstieg an Erregung und eine nachfolgende Entspannung herbeizuführen.12 12 Das Anwachsen der Erregung erklärte er damit, dass ein Kunstwerk „kollative Reizvariablen“ enthalte, worunter er Eigenschaften verstand wie die der Neuartigkeit, Komplexität, Vielgestaltigkeit oder Überraschung, welche im Bewusstsein des Rezipienten einen Konflikt zwischen möglichen Aufmerksamkeitsreaktionen, Alternativassoziationen und Interpretationsvarianten erzeugen. Der Konflikt löse sich mit der Verringerung der jeweiligen Ungewissheit, was stets einen Erregungsabfall mit sich bringe. Kunsterleben sah Berlyne in engem Zusammenhang mit einem sanften Erregungsanstieg, der als lustvoll empfunden werde. In früheren Darstellungen (vgl. Berlyne 1960) erklärte er das Lustempfinden aus dem Wechsel von Erregungsanstieg und Erregungsabfall („arousal jag“). Später (vgl. Berlyne 1967) verband sich für ihn das Lustempfinden mit der Existenz eines „Belohnungssystems“, das durch die Erregungsanstiege jeweils eine Aktivierung erfahre. 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 49 Hans und Shulamith Kreitler suchten in ihrer „Psychologie der Kunst“ (1980) das Kunsterleben auf der Basis informationstheoretischer Erkenntnisse zu erklären, verankerten die Kunstprozesse dabei aber auch in der Alltagspraxis psychischer Tätigkeit, die von Spannungen unterschiedlichster Art beherrscht wird. Diese werden in einem homöostatischen Motivationsmodell abgebildet.13 Sowohl für die Rezeption von Arbeiten der Populärkultur als auch der autonomen Kunst gilt daher, dass sie durch psychische Regulierungsprozesse unterschiedlicher Art bestimmt wird, deren Wirkungsspektrum von elementaren, kurzzeitigen Akten einer Art Psychohygiene bis hin zu komplizierten, nachhaltigen Vorgängen ästhetischer Selbstregulation reicht. In jedem Falle insistieren die Modellvorstellungen auf einer fundamentalen Dynamik des Geschehens. Letztere folgt eigenen Gesetzen, die für eine relative Autonomie der ästhetischen Prozesse sprechen. 2.3.6 Film als autopoietisches System im soziokulturellen Raum Die beobachtbare Autonomie der ästhetischen Funktion darf freilich nicht als eine solche begriffen werden, die auf einer Isolation des Kunstwerks vom gesellschaftlichen Realgeschehen und dem historisch gewachsenen soziokulturellen Raum beruht, in dem es wirksam wird. Die ästhetische Analyse der Kunstprozesse muss vielmehr den unterschiedlichen Interaktionen mit dem gesellschaftlichen Umfeld Rechnung tragen und sich möglichst sogar gegenüber einseitigen Interpretationen dieser Wechselbeziehungen absichern. Beides dürfte in gewissem Grade auch für Beschreibungsmodelle gelten. Dies hat zu Versuchen geführt, das komplizierte Verhältnis von Autonomie und funktionaler Einbindung von Kunst in umfassendere gesellschaftliche Systeme auch dort zu berücksichtigen, etwa im Rahmen einer psychologischen oder systemologischen Darstellung. So bringt die erwähnte „Psychologie der Kunst“ von Kreitler & Kreitler die Funktionsweise der Kunst auf die anschauliche Formel, „dass eine der Hauptmotivationen der Kunst Spannungen sind, die in dem Betrachter bereits vor seiner Beschäftigung mit dem Kunstwerk bestehen. Das Kunstwerk vermittelt die Erleichterung und Entspannung dieser bereits existierenden Spannungen durch die Schaffung neuer spezifischer Spannungen“ (Kreitler / Kreitler 1980, 33; Hervorh. i. O.). 13 Das Modell geht davon aus, dass es für die Existenz und das Überleben des Organismus stets optimale Bedingungen gibt, die durch ein gewisses Gleichgewicht zwischen inneren und äußeren Prozessen sowie zwischen den verschiedenen inneren Abläufen definiert sind. Der Organismus strebt danach, dieses Gleichgewicht herzustellen und zu erhalten. Da jeder Reiz das Verhältnis verschieben kann, leiten sich daraus Erregungszustände und Spannungen ab, die einer Regulierung unterworfen werden müssen. Kunst bezieht sich auf die bestehenden Spannungen, sucht ihnen zu begegnen. Spannung und Entspannung werden demnach als integrale Bestandteile des Kunsterlebnisses betrachtet. Die Autoren haben eine Reihe notwendiger Bedingungen formuliert, unter denen ein statisches und/oder dynamisches Reizmuster Kunstcharakter zu gewinnen vermag (vgl. Kreitler / Kreitler 1980, 27). 49 50 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Diese Auffassung von Kunstprozessen legt einerseits nahe, die ästhetische Verhaltensregulation auf die Erreichung eines spezifischen, dynamischen Gleichgewichts- oder Harmoniezustandes im Bewusstsein des Zuschauers zu beziehen, erlaubt aber andererseits, diese Äquilibrationsprozesse im psychischen Bereich in einem engen funktionalen Zusammenhang mit den Spannungen, Widersprüchen und Konflikten der realen Lebenswelt zu sehen, in welche Autoren und Publikum gestellt sind. Der Informationsgewinn, der durch das Kunstwerk vermittelt wird, erscheint von vorneherein nicht als Selbstzweck, sondern als Antwort auf reale lebensweltliche Spannungen und Konfliktmomente. Eine solche Darstellung verknüpft damit zentrale Dynamiken der Kunstprozesse mit solchen des sozialen Lebens, lenkt also die Aufmerksamkeit auf spannungsreiche kunstexterne Beziehungen, die von Individuum wie Gesellschaft bewältigt werden müssen. Die Regulierung von Spannungen erscheint hierbei als wichtige Komponente der sozialen Funktion von Kunst. Gleichzeitig öffnet sich das Blickfeld jedoch auch gegenüber Veränderungen und neuen Spannungsverhältnissen spezifischer Art, die mit den Differenzqualitäten des künstlerischen Ausdrucks ins Spiel kommen. Obwohl diese kunstpsychologischen Aussagen noch zu metaphorisch sind, um zu einer empirischen Untersuchung von Spannungsverhältnissen innerhalb konkreter Kunstprozesse vorzudringen, stellen sie sich doch verbreiteten Missverständnissen oder Fehlinterpretationen der Relation zwischen Kunst und Gesellschaft entgegen. Um die Beziehungen zwischen Filmwerk und seinem spannungsvollen soziokulturellen Raum genauer studieren zu können, braucht es tiefere Erkenntnisse dieses Raumes, zumindest tragfähige AnfangsHypothesen über zentrale Zusammenhänge aus der Perspektive von Soziologie und Gesellschaftstheorie. Im Alltagsdiskurs über diesen Problemkreis dominieren gegenwärtig meist die kurzschlüssigen Argumente der Ideologen und Pragmatiker des Marktes, die die funktionale Einbindung des Films in die Belange der Gesellschaft auf dessen Verwertung für politische Propagandazwecke oder eine einträgliche Stimmungsmache reduzieren. An einen theoretisch anspruchsvollen Versuch, auf der abstrakten Ebene einer Systemtheorie der Gesellschaft wichtige Relationen zwischen Kunst und ihrem sozialen Umfeld darzustellen, sei hier aber zumindest erinnert. In einem Aufsatz des Soziologen Niklas Luhmann unter dem Titel „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“ (1986) werden Modellvorstellungen, die Humberto Maturana (1982) für die Beschreibung biologischer Prozesse entwickelte und als „autopoietische Systeme“ bezeichnete, dazu benutzt, wichtige Funktionsweisen künstlerischer Stile zu erhellen, und dies durchaus in einem funktionalen Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesellschaft.14 14 Bei den autopoietischen Systemen handelt es sich um „selbstreferenziell-geschlossene Systeme, oder genauer, um Systeme, die ihr Umweltverhältnis auf zirkulär-geschlossene Operationsverknüpfungen stützen“ (Luhmann 1986, 620). Nach Luhmann lasse sich auch das Gesellschaftssystem als ein autopoietisches System betrachten, das funktionsbezogene autopoietische Teilsysteme umfassen könne. Unter diesen Voraussetzungen werde Kunst „zu einem sich selbst bestimmenden, sich selbst produzierenden, sich an inneren Kohärenzen und Widersprüchen orientierenden System“ (621). Der Soziologe, der die essenzielle Bedeutung der Selbstreferenzialität für die Kunstprozesse herausarbeitet und sie durch brillante Formulierungen stützt wie „Form 2.3 Exkurs: Über Anfänge modellhafter Beschreibung von Kunstfunktionen … 51 Zu den wichtigen Erscheinungsweisen von Kunst, nicht zuletzt denen des Films, gehören mithin jene, die das Werk mit der gesellschaftlichen Situation, in der es entsteht und wirken soll, funktional verbindet – auch wenn die vorhandenen Erkenntnisse darüber gegenwärtig nur bruchstückhaft sind. Hierzu wird die Annahme vertreten, dass Phänomene des künstlerischen Films, etwa einzelne Werke oder ganze Stil-Gruppen, als autopoietische Systeme gesehen werden können, deren Produktion einerseits durch die Spannungen eines konkreten soziokulturellen Raums motiviert ist, wie sie andererseits im Zuge der Rezeption infolge ihrer Regulierungsaktivitäten auf diesen zurückwirken. Da dieses umfassende Gesamtgeschehen komplexer Regulierungsprozesse mit den vorhandenen Mitteln schwer beschrieben bzw. objektiviert werden kann, die Analyse des ästhetischen Prozesses aber darauf angewiesen ist, Erkenntnisse zu dessen Teilmomenten aufeinander zu beziehen, erweist es sich als produktiv, nach einer Metapher zu greifen, die eine Zusammenschau der Teilerkenntnisse gestattet, ohne dabei bereits den Anspruch auf ein verifizierbares Funktionsmodell zu erheben. Eine solche bietet sich mit der Vorstellung von den Möglichen Welten der Kunst bzw. des Films an. Zu ihren Vorzügen gehört unter anderem, dass sie das Funktionsspektrum ästhetischer Phänomene in eine Richtung erweitert, die bislang kaum gestreift wurde, nämlich der durch Film affizierten Vorstellungen. 2.3.7 Die Möglichen Welten des Films und ihre imaginative Funktion Mit dem Begriff der „Möglichen Welten“ wird seit den 1990er Jahren in der Filmwissenschaft experimentiert (vgl. Colin 1992; Wuss 1993a; Tröhler 2002; Kaczmarek 2007; Spiegel 2007). Er hat eine eigene, nicht unkomplizierte Geschichte, die tief in andere Wissenschaftsgebiete reicht, und er wirkt in zahlreiche Problemfelder hinein, die hier gar nicht zur Sprache kommen können.15 ist unausgesprochene Selbstreferenz“ (629), insistiert nichtsdestoweniger darauf, dass sowohl die interne (ästhetische) als auch die externe (soziologische) Beschreibung der Kunst eine Theorie erfordere, „die erfassen kann, dass und wie die Kunst sich unter gesellschaftlichen Bedingungen (also keineswegs ›frei schwebend‹!) als ein geschlossenes System der Selbstproduktion halten und entfalten kann“ (621; Hervorh. i. O.). 15 Der sprachliche Ausdruck „Mögliche Welt“ wurde von Leibniz (1996, II) geprägt, der in seiner „Theodizee“ von 1710 (1996, II, §§ 413–417) ein Universum von möglichen Welten beschreibt, die jeweils nach Existenz streben (Leibniz 1965, 176), wobei Gott dann die beste davon für eine aktuelle Realisierung auswählt (vgl. Kaczmarek 2007, 131f.). Im Anschluss an Leibniz bildete sich die Auffassung von der Wirklichkeit als modalem System heraus, das aus einer Vielzahl von Welten besteht, nämlich neben einer tatsächlichen Welt (actual world) aus zahlreichen alternativen möglichen Welten (possible worlds). So schlug der Sprachphilosoph Saul A. Kripke 1963 ein Modell möglicher Welten zur Untersuchung der Beziehung zwischen Sprache und Welt im Rahmen der modalen Logik vor. Es dient vornehmlich der Klärung von Fragen des Sinn- und Wahrheitsgehaltes von Aussagen. In den 1970er Jahren erwies der Begriff sich als nützlich, um zentrale Vorstellungen der Logik zu diskutieren und ganze possible worlds semantics aufzubauen, 51 52 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften In den 1980er Jahren avancierte das Konzept der possible worlds zu einem „interdisziplinären Paradigma“ (Doležel 1998, 14) das den Natur-, Sozial- und Humanwissenschaften neue theoretische Einblicke gestattete. So erwies es sich im Bereich der Literaturwissenschaft als nützlich, um die Analyse von fiktionalen Texten voranzubringen. Letztere ließen sich als Ausdruck alternativer Welten der Kunst ansehen, welche sich zwar auf die tatsächliche Welt beziehen, diese aber keineswegs zu kopieren trachten, sondern eigene Ziele verfolgen. Hiermit war auch ein Anschluss an ästhetische Grundüberlegungen geschaffen, die seit Aristoteles eine Rolle spielen. In dessen „Poetik“ heißt es ja, „dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (Aristoteles 1982, 29). Insofern die fiktionalen Werke der Kunst Artefakte bilden, die im Rahmen ästhetischer Aktivitäten unter Nutzung von Zeichensystemen konstruiert wurden, ist man berechtigt, sie als semiotische Objekte zu studieren (vgl. Doležel 1998, 16). Sie lassen sich aus dieser Perspektive als fiktionale Universen, als ausgestattete kleine Welten von begrenztem Umfang verstehen. Doležel (1998, 20) spricht von „small possible world[s] shaped by specific global constraints and containing a finite number of individuals who are comprehensible.“ Der Grad ihrer Verstehbarkeit bzw. informationellen Zugänglichkeit stellt für die Möglichen Welten der Kunst übrigens ein besonderes Problem dar, das später noch kurz zur Sprache kommen soll. Solche Annahmen, die für die Werke der Literatur diskutiert wurden und zu disziplinären Ansätzen einer Theorie der Fiktion führten, welche auch als strittig gelten, dürften noch zwingender für die komplexen Reizangebote des Films gelten. Letztere folgen maßgeblich dem Prinzip der ikonischen Zeichen und bilden als Zeichenensembles jeweils eine Entität, die für den Bereich des Spielfilms noch durch narrative Fiktionen überformt wird. Es scheint darum für die Filmwissenschaft weiterhin sinnvoll, mit dem Konstrukt der Möglichen Welten zu experimentieren, und sei es als Metapher, die sich schon dank ihrer sinnlichen Anschaulichkeit für die Alltagsdiskurse der Medienpraxis eignet. In diesem Sinne wird vorgeschlagen, die Metapher von den Möglichen Welten des Films durch die erwähnten sechs Annahmen zu elementaren ästhetischen Funktionen zu konkretisieren, sie also mit genauer bestimmten Eigenschaften zu verknüpfen. Die Funktion der Möglichen Kino-Welten erscheint damit als eng verbunden mit Differenzqualitäten des künstlerischen Ausdrucks, mit optimaler Informationsvermittlung, mit den dadurch bewirkten psychischen Regulierungsprozessen usw. Sie wird generell als integrativ betrachtet. Ohnehin werden den Möglichen Welten der Kunst zumindest implizit Eigenschaften zugesprochen, die sie als übergreifende Systeme, Superzeichen, komplexe Gebilde o. ä. charakterisieren. Unter diesen Bedingungen erweisen sich die Möglichen Welten des Films dann auch nicht nur als begrenzte kleine Welten an sich, die ein fiktives, mehr oder weniger lebens- die eine Hilfe bei der Interpretation von kontrafaktischem Denken in Philosophie, Geschichte u. a. bot. 2.4 Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films 53 ähnliches Geschehen abbilden und damit lediglich eine andere Version von Leben zeigen als jene, die der Zuschauer schon kennt. Vielmehr regulieren sie über ihre spezifischen Reizangebote die Spannungsverhältnisse zwischen Zuschauer und dessen oft sehr konfliktreichen und in sich widersprüchlichen Lebenswelt (vgl. Kreitler / Kreitler 1980). Sie wirken also mittelbar auf die realen Verhältnisse ein, indem sie den Zuschauer mit Kognitionen, Emotionen und nicht zuletzt Vorstellungen ausstatten, die sein Verhalten innerhalb der aktuellen Wirklichkeit optimieren helfen und sie im besten Falle für die kommenden Verhältnisse zukunftsfähiger machen. Von Niklas Luhmann (1986, 644) stammt eine verwandte Beobachtung, der zufolge die Kunst in der gesellschaftlichen Evolution „nicht selten Voraussignale [setzt], die rückblickend wie Prognosen gelesen werden können.“ Unter solchen Voraussetzungen können die Möglichen Welten des Films eine spezifische imaginative Funktion gewinnen, die in die Zukunft der Gesellschaft hineinwirkt. 2.4 2.4 2.4.1 Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films Bewusstheit von Strukturen als Voraussetzung ihrer Beschreibung Obwohl mit der Etablierung des Informationsverarbeitungsansatzes in Ästhetik und Kunstwissenschaften theoretisch die Vorbedingung dafür gegeben war, dass sich zwischen der Psychologie, die sich dieses Modells schon länger bediente, und der Filmwissenschaft jene Brücke bauen ließe, die die erhoffte Zusammenführung der wissenschaftlichen Anstrengungen beider Disziplinen ermöglichen dürfte, erwies sich dieses Projekt als keineswegs so leicht realisierbar. Auf einen Schlag waren die Erkenntnisse beider Disziplinen nicht zusammenzuführen. Vielmehr schien es nötig, jeweils von beiden Seiten her vorsichtig Möglichkeiten zu eruieren, wo sich überhaupt erste konkrete Anknüpfungspunkte für eine interdisziplinäre Untersuchung ergeben könnten. Dabei ging es vor allem um die pragmatische Fragestellung, wo und wie sich Aussagen der Filmtheorie über Zusammenhänge von Gestaltung und Wirkung in psychologische Variablen verwandeln ließen. Mögliche Anknüpfungspunkte waren zwar auszumachen, tauchten aber eher sporadisch und weit verstreut voneinander auf. Hier ist kein Platz, um über die Vielfalt entsprechender Aktivitäten Auskunft zu geben, zumal wichtige Ergebnisse einzelner Teiluntersuchungen später in einen eigenen Entwurf integriert werden. Stattdessen soll hier an zwei Konzepte erinnert werden, die hierzulande den Weg für eine transdisziplinäre Forschung in diesen Bereichen bereitet haben: die Kognitive Filmtheorie David Bordwells (1985; 1989) sowie die Kognitive Filmpsychologie von Peter Ohler ([1991] 1994). Zuvor jedoch einige Überlegungen allgemeinerer Art, die neben dem epistemologischen auch dem historischen Verständnis dieser Arbeiten dienen mögen. Die Entwicklung beider Ansätze war ja eng verbunden mit einer bestimmten Ent- 53 54 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften wicklungsetappe der Psychologie, in der die Untersuchung kognitiver Prozesse dominierte und sich Konzepte zur Chunk- bzw. kognitiven Schema-Bildung durchsetzten. Die Annahme von „Chunks“ wurde von George Miller (1956) in die Gedächtnispsychologie eingeführt. Chunks sind „Wissenseinheiten […], die sich vermutlich als Folge vielfältiger Erfahrungen mit einem Sachverhalt ausbilden. Man kann sich darunter ›Verdichtungen‹ von vorher separaten Wissenselementen vorstellen, die zu einem komplexen Element, einer als Chunk bezeichneten Einheit zusammengefasst werden“, schreibt Kluwe (1988, 380; Hervorh. i. O.). George Mandler (1986, 122) sagt über Wissens-Chunks, dass sie „als einzelne Einheiten fungieren, als Einheiten gespeichert und abgerufen werden, und viele von ihnen können selbst Element oder Merkmal einer größeren kognitiven Struktur werden.“ Die Informationsaufnahme wird dabei als Vorgang gesehen, der einen gewissen Ordnungsgewinn anstrebt, welcher wiederum die Voraussetzung für die nächste Etappe von Informationsaufnahme bildet. Sind separate Items „einmal in Chunks zusammengeführt, die wenig Bewusstseinskapazität erfordern, können neue Erkenntnisstrukturen erworben werden“ (G. Mandler 1986, 128). In Anbetracht einer limitierten Kanalkapazität des Rezipienten schafft die Komprimierung von Reizmaterial gleichsam unerwartete Freiräume für den Zufluss neuer Informationen, ein Vorgang, der für ästhetische Kommunikations- bzw. Erzählprozesse offenbar eine wichtige Rolle spielt. Der Schema-Begriff geht auf Überlegungen von Bartlett ([1932] 1961) zurück, der im Rahmen seiner Gedächtnistheorie definierte: „Unter ›Schema‹ verstehen wir eine aktive Organisation von vergangenen Reaktionen oder vergangenen Erfahrungen, von welcher wir annehmen, dass sie in jedem gut angepassten Organismus wirksam ist. Schon bei der kleinsten Ordnung oder Regelmäßigkeit des Verhaltens ist eine bestimmte Reaktion nur möglich, weil sie zu anderen ähnlichen in Beziehung steht. Die Reaktionen sind seriell organisiert, wirken jedoch nicht einfach als individuelle Glieder, eines nach dem andern, sondern als eine einheitliche Masse. Dieses Bestimmtwerden durch Schemata stellt die grundlegende Weise dar, in der wir durch zurückliegende Reaktionen und Erfahrungen beeinflusst werden“ (1961, 201). Seit den 1970er Jahren hat das Schema-Konstrukt stark an Bedeutung gewonnen und eine ganze Gruppe von Theorieansätzen hervorgebracht. So definiert David Rumelhart: „According to schema theories, all knowledge is packaged into units. These units are the schemata. Embedded in these packets of knowledge is, in addition to the knowledge itself, information about how this knowledge is to be used. A schema, then, is a data structure for representing the generic concepts stored in memory. There are schemata representing our knowledge about all concepts: those underlying objects, situations, events, sequences of events, actions and sequences of actions“ (1980, 34). Für die psychologische Interpretation filmischer Rezeptionsvorgänge erwiesen sich sowohl das Konzept von Chunking als auch das von Schema-Bildung als sehr geeignet. Denn bei der Suche nach konkreten Ansatzpunkten einer interdisziplinären Untersuchung ging es nicht um die Auffindung von psychologischen Variablen schlechthin, sondern um die Bestimmung solcher, die sich anhand des filmischen Materials auch leicht und zuverlässig 2.4 Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films 55 beschreiben ließen. In diesem Zusammenhang war wichtig, ob bzw. in welchem Grade die erfassten Reizangebote zu bewusster Erfahrung führen. George Mandler (1986, 118) hat im Rahmen seiner kognitiven Schematheorie nicht von ungefähr das Konzept von A. Marcel (1983) diskutiert, der das Problem der Bewusstheit für den allgemeinen Wahrnehmungsprozess aufwarf und die Auffassung vertrat, dass externe Strukturen dabei nicht einfach direkt bewusst werden können, sondern dass in der Bewusstheit ein konstruktiver Prozess gesehen werden müsse, bei dem die phänomenale Erfahrung eine neue Konstruktion ist, zu der zwei oder mehr aktivierte Schemata beigetragen hätten. Mandler (1986, 119) stimmt Marcel (1983b) darin zu, dass „das, was uns bewusst ist, strukturelle Beschreibungen sind“. Das heißt, wir könnten uns nur Erfahrungen bewusst machen, die aus aktivierten Schemata konstruiert werden und dadurch fixierbar und phänomenal unmittelbar zugänglich werden, ohne dass man sich dabei den Prozess der Aktivierung oder die Konstituenten der Schemata bewusst machen müsse. Die Initiierung einer transdisziplinären Forschung von Filmwissenschaft und Psychologie ist mithin darauf angewiesen, dass strukturelle Beschreibungen von Wirkmomenten ästhetischer Prozesse gegeben werden können, die dafür allerdings einen entsprechenden Bewusstheitsgrad erreicht haben müssten. 2.4.2 David Bordwells Cognitive Film Theory Im Bereich der Filmwissenschaft boten sich dafür am ehesten solche Phänomene an, die durch bisherige Forschungen bereits als Strukturbeziehungen markiert worden waren. Im Falle der Cognitive Film Theory David Bordwells handelte es sich dabei vornehmlich um bestimmte narrative Strukturen relativ stabiler Art, die schon durch die Formale Schule der russischen Literaturwissenschaft eine typologische Darstellung erfahren hatten und sowohl im literarischen Werk wie dem Film nachweisbar waren. Nicht ohne Grund bekennen sich Bordwell und seine Mitstreiterin Kristin Thompson zu einer entsprechenden Traditionslinie, die sie als „Neoformalismus“ bezeichnen. Thompson (1988, 29) schreibt: „Neoformalism posits that viewers are active – that they perform operations. Contrary to psychoanalytic criticism, I assume that filmviewing is composed mostly of nonconscious, preconscious, and conscious activities. Indeed, we may define the viewer as a hypothetical entity who respondes actively to cues within the film on the basis of automatical perceptual processes and on the basis of experience. Since historical contexts make the protocols of these responses inter-subjective, we may analyze films without resorting to subjectivity. David Bordwell has argued that recent Constructivist theories of psychological activity offer the most viable model of spectatorship for an approach derived from Russian Formalism. (Constructivist theories have been the dominant view in cognitive and perceptual psychology since the 1960s.) In such a theory, perceiving and thinking are active, goal-oriented processes. According to Bordwell, ›The organism constructs a perceptual judgement on the basis of nonconscious inferences‹“ (1985, 31). 55 56 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften In seinem wegweisenden Buch „Narration in the Fiction Film“ (1985) analysierte Bordwell Wahrnehmungs- und Kognitionsaspekte der Filmrezeption unter der Prämisse, dass der zentrale Prozess, der die Verstehensleistungen des Zuschauers von Spielfilmen bestimmt, durch die Narration gegeben ist. Er definiert: „In the fiction film, narration is the process whereby the film’s syuzhet and style interact in the course of cueing and channelling the spectator’s constructions of the fabula“ (1985, 53; Hervorh. i. O.). Der Terminus „syuzhet“, der vom Russischen Formalismus übernommen wurde und von Bordwell mit „plot“ übersetzt wird, steht für die dramaturgischen Prozesse des Films. „Style“ bezeichnet den systematischen Gebrauch, den der Film von den kinematographischen Gestaltungsmitteln (devices) macht (50). Erst die dynamische Wechselbeziehung zwischen zwei Systemen, dem „syuzhet“ und „style“ führe zur Konstruktion der „fabula“ als dem Resultat eines mentalen Prozesses. Bordwell erklärt, dass es falsch wäre, die fabula bzw. story als ein vorfilmisches Ereignis anzusehen. Nach Tynianov könne die fabula nur erraten, nicht aber als Gegebenheit betrachtet werden (49f.). Bordwell nennt die fabula „a pattern which perceivers of narratives create through assumptions and inferences“ (49). Das Konzept Bordwells bringt eine Reihe wichtiger rezeptionsästhetischer Erkenntnisse zum Ausdruck, von denen hier nur drei hervorgehoben werden können, die bereits in der Definition aufscheinen: (1) Dass entscheidende Momente der filmischen Erzählung nicht als Gegebenheiten anzusehen sind, sondern sich erst über einen aktiven mentalen Konstruktionsprozess beim Rezipienten formieren. (2) Dass die dramaturgisch definierte Struktur des Sujets damit nicht allein für die Erzählung verantwortlich ist, sondern erst in Wechselwirkung mit anderen Momenten filmischer Reizangebote aus dem System des style, die ebenfalls wahrgenommen werden, wenngleich jedoch eher als cues d. h. im Rahmen einer sekundären Hinweis- oder Ergänzungsfunktion. (3) Dass die mentalen Aktivitäten des Zuschauers als kognitive Prozesse interpretiert werden können, indem sie zur Bildung von Hypothesen und Schlussfolgerungen führen, die die Erzählung realisieren helfen. Die Vorzüge dieses Modellansatzes sind unumstritten. Nirgendwo hat es vorher eine wissenschaftliche Darstellung zum filmischen Erzählen gegeben, die so stark auf aktive mentale Prozesse rekurrierte, dabei über die Einbeziehung des style Zugang zu den mimetischen Ausdrucksformen des Mediums suchte und schließlich über den Rekurs auf die Kognition dafür sorgte, dass sich filmwissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse enger zusammenrücken ließen, um einer interdisziplinären Forschung den Weg zu bereiten. Bordwells theoretische Überlegungen standen seinerzeit im Einklang mit den Grundpositionen einer konstruktivistischen Theorie psychologischer Aktivitäten, die die kognitiven Prozesse vor allem als solche oberhalb der Bewusstheitsschwelle deutete, wie der wissenschaftliche Diskurs generell durch die Tendenz bestimmt war, Kognition an die Eigenschaft der Bewusstheit zu binden. Bevorzugt wurden Untersuchungsobjekte, die der Bewusstheitspflicht genügten. Die signifikante Kausalkette von Ereignissen, die die Konstruktion des „syuzhets“ oder „plots“ bestimmte, gehörte damit zu jenem von der Psychologie 2.4 Wegbereiter einer kognitiven Erforschung des Films 57 favorisierten Material, das nach Mandler (1986, 119) „phänomenal unmittelbar zugänglich ist und das keines Erinnerns bedarf.“ Dies erlaubte dem Autor zudem, mit dem Format der canonical story ein charakteristisches Gestaltungsverfahren der nationalen Filmproduktion der USA beschreibbar und erklärbar zu machen, das auf Verstehensprozesse des Zuschauers ausgerichtet war (vgl. Buckland 2002, 170). Inzwischen gestattet es der Materialstand der Forschung, innerhalb der kognitiven Film-Beschreibung stärker zu differenzieren und damit auch Erlebnisgehalte unterhalb der Bewusstheitsschwelle zu erfassen, und dies mit Konsequenzen für die Objektivierung von Erzählstrukturen. 2.4.3 Peter Ohlers Kognitive Filmpsychologie Peter Ohler suchte das erweiterte Narrationskonzept Bordwells, das von diesem bereits 1989 explizit auf Grundgedanken der Kognitiven Psychologie bezogen worden war, in einen umfassenderen medienpsychologischen Rahmen zu stellen, indem er ein kognitives Prozessmodell der Filmverarbeitung durch den Zuschauer entwarf. In einem ersten Arbeitsschritt führte er Schemata als Strukturen ein, um diese dann in einem zweiten Schritt in ihrer Funktion in der Informationsverarbeitung zu charakterisieren. Rumelhart folgend notiert er: „Schemata ganz allgemein bestehen aus (generischen) Datenstrukturen, die vielschichtige Objekte, Situationen und Ereignisse als abstrakte Informationen in einheitlicher Form repräsentieren. […] Schemata bringen ›Wissensatome‹ in einen kohärenten Zusammenhang und repräsentieren sie in einem einheitlichen Informationsformat“ (1994, 142; auch 1990a, 100). Um die Vorgänge des Filmerlebens zu klären, nahm Ohler Überlegungen zur Konstruktion von Prozessmodellen der Informationsverarbeitung auf, die bei der Untersuchung von Satz- und Textverstehen sprachlicher Kommunikation von van Dijk & Kintsch (1983) entwickelt worden waren. Den Begriff des Situationsmodells für die Filmpsychologie modifizierend, skizzierte er den Verarbeitungsprozess mit den Worten: „Filmische Information gelangt zunächst in konzeptuell unverarbeiteter sensorischer Form bei der Enkodierung in modalspezifische sensorische Kurzspeicher und wird dort repräsentiert. Die Information kann dann in einer zentralen Verarbeitungsinstanz (dem zentralen Prozessor) aufgenommen werden […]. Dieser zentrale Prozessor hat eine begrenzte Verarbeitungskapazität, es kann also immer nur eine begrenzte Informationsmenge zu einem gegebenen Zeitpunkt bzw. in einem bestimmten Zeitraum verarbeitet werden. Die folgende Stufe in der Informationsverarbeitung ist die kognitive Instanz, in der die aktuale mentale Repräsentation der filmischen Information geleistet wird. Diese hat in meinem Ansatz den Namen Situationsmodell (vgl. van Dijk / Kintsch, 1983). Wird als Stimulusinformation ein konventioneller narrativer Film dargeboten, so kann man davon ausgehen, dass der momentane Zustand der filmisch präsentierten Geschichte und ihre Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt, zumindest in ihren handlungstragenden Zügen, mental als Situationsmodell repräsentiert ist“ (Ohler 1994, 32ff.; Hervorh. i. O.; auch 1990a, 80f.). 57 58 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Im Rahmen des Datenabgleichs würden im Bewusstsein des Zuschauers unterschiedliche Wissensbestände wirksam gemacht, die der Autor als „generelles Weltwissen“, „narratives Wissen“ und „Wissen um filmische Darbietungsformen“ kategorisiert (33f.). Michael Waldmanns (1988) Ansatz einer „multiplen Schematheorie“ folgend, könne man etwa von einer „prozeduralen Vernetzheit von narrativem Wissen und Weltwissen im Prozess der Informationsverarbeitung von Filmen ausgehen“ (145; Hervorh. i. O.). Die Vorgänge von Schemabildung und -nutzung innerhalb der menschlichen Informationsverarbeitung sind nicht als deterministische Prozesse mechanischer Art, sondern als Wahrscheinlichkeitsprozesse zu interpretieren, die im Zusammenhang mit Erwartungshaltungen und Antizipationen entstehen und funktionieren. Das Wissen des Menschen um externe Zusammenhänge setzt sich dabei zunächst in eine innere Tätigkeit um, welche zu einem Erwartungsmuster statistischer Art führt, das stets in gewisser Weise flexibel und generisch ist, insofern es sich auf variable Wahrscheinlichkeitswerte im Rahmen eines Feldes von Möglichkeiten bezieht. Dies macht das kognitive Schema tauglich für eine Anpassung des Menschen an eine künftige Welt, die anders als die bisher erlebte ist. Ohler charakterisiert die Aktivierung der Schemata im Verarbeitungsprozess als einen automatischen Prozess unter den Bedingungen eines solchen Wahrscheinlichkeitsfeldes.16 Sein allgemeines Prozessmodell der Filmverarbeitung hat Ohler noch spezifiziert, indem er sich an die psychologische Bedeutungstheorie von George Lakoff (1987) und Mark Johnson (1987) hielt, die einem Konzept von Erfahrungsrealismus folgen. Nach dem Verständnis dieser Denkrichtung kommt Bedeutung nicht qua Referenz zu einer objektiven Welt zustande, sondern aufgrund der Natur und körperlichen Erfahrung von menschlichen Subjekten, die in einer objektiven Welt leben und die Prozesse von Bedeutungsbildung permanent mediatisieren. Die Theorie der metaphorischen Projektion und Extension, die den Kern des Ansatzes von Lakoff und Johnson ausmacht, besagt, dass so genannte kinästhetische Image-Schemata, die die Erfahrung präkonzeptuell organisieren, auch die konzeptuellen Prozesse und Strukturen bestimmen. Für die Untersuchung von Film, der mit dem Zuschauer über Zeige- und Wahrnehmungsprozesse kommuniziert, hat eine fundamentale Bezugnahme auf die präkonzeptuelle Organisation von Erfahrung etwas Einladendes und Zukunftsträchtiges. Es gehört zu den Verdiensten von Ohlers Arbeit, 16 „Schemata werden im Verarbeitungsprozess (in unmetaphorischer Redeweise) automatisch aktiviert und organisieren die aufgenommene Information. Die Instantiierung des Schemas, d. h. die sukzessive Belegung der Variablenstellen im Schema mit konstanten Werten nach Maßgabe der enkodierten Information, ist im Schemaansatz die Grundlage dieses Organisationsprozesses. Rumelhart und Ortony (1977) haben zur Modellierung dieser sukzessiven Belegungsoperation den Begriff des Variablenconstraints eingeführt. Die Variablenstellen eines Schemas („Slots“ im Sinne von Minsky, 1985) lassen sich als eine statistische Verteilung möglicher Werte beschreiben. Encodierte Informationen passen umso besser in die Variablenstelle des Schemas, je geringer ihr Abstand vom Modalwert der statistischen Verteilung ist. Wird keine Information über die Variablenstelle geliefert, so wird das Schema an dieser Stelle mit dem Modalwert („Default value“ bzw. Voreinstellungswert im Sinne von Minsky, 1985) instantiiert“ (Ohler 1994, 143; Hervorh. i. O.). 2.5 Wege zur Differenzierung und Erweiterung des kognitiven Modells 59 die kinästhetischen Image-Schemata nach Johnson und Lakoff für künftige Forschungen sorgsam aufbereitet zu haben. Seitens der Filmtheorie liegen allerdings bisher keine Formalisierungsversuche für Regularitäten aus Dramaturgie und Gestaltungslehre vor, um an die Liste solcher Ausarbeitungen (vgl. Ohler 1994, 114) einen direkten Anschluss herzustellen, der zu empirischen Untersuchung führen könnte. Eine Erschwernis für die Herstellung derart kompatibler Modellansätze aus der Filmwissenschaft dürfte nicht zuletzt darin liegen, dass auch die kinästhetischen Image-Schemata eine Konzeptualisierung verlangen, die sie bewusstheitspflichtig werden lässt. 2.5 Wege zur Differenzierung und Erweiterung des kognitiven Modells 2.5 Wege zur Differenzierung und Erweiterung des kognitiven Modells Wie Erfahrungen bei der Analyse künstlerischer Strukturen und ästhetischer Funktionen von Filmen zeigen, kommen dabei keineswegs nur bewusst rezipierte Reizangebote zum Tragen, sondern auch solche, die der Zuschauer eher vorbewusst oder unbewusst auf- nimmt. Diese Strukturen und Prozesse werden von Bordwell und Ohler zwar benannt und hermeneutisch interpretiert, um sie auch empirisch fassbar zu machen, bedarf es weiterer Ausarbeitungen. Meine nachfolgenden Überlegungen setzen hier ein. Sie knüpfen an die beiden Modellansätze an, suchen sie aber zu differenzieren und weiterzuentwickeln, um bei der kognitiven Analyse des Films Erlebnisgehalte stärker berücksichtigen zu können, die unterhalb (oder weit oberhalb) der Bewusstheitsschwelle liegen. Vereinfacht gesagt geht es dabei zunächst darum, das generelle Verständnis für kognitive Schema-Bildung zwar beizubehalten, dem Schema-Begriff aber seinen monolithischen Charakter zu nehmen, d. h., die Funktionsweisen kognitiver Schemata nicht als solche einheitlicher Art aufzufassen. Hans und Shulamith Kreitler haben in ihrer „Psychologie der Kunst“ die These formuliert: „Der Vorteil der Informationstheorie besteht in der von ihr gebotenen Möglichkeit, ästhetische Reaktionen nicht nur mit gewissen Reizen des Kunstwerks – was auch ohne diese Theorie möglich wäre –, sondern auch mit den Abläufen und den dynamischen Entwicklungen im Kunstwerk zu korrelieren“ (Kreitler / Kreitler 1980, 26; Hervorh. i. O.). In meinem Ansatz geht es ganz in diesem Sinne darum, wichtige Abläufe und dynamische Entwicklungen innerhalb der Filmrezeption über Ab- folgen unterschiedlicher Phasen kognitiver Prozesse genauer zu beschreiben und so an eine empirische psychologische Untersuchung heranzuführen. Dies indem innerhalb der kognitiven Invariantenbildung bzw. Schemabildung eine elementare Differenzierung vorgenommen wird, die zu einem dreistufigen Deskriptionsansatz führt, welcher dann auch für Erzählstrukturen genutzt werden kann. Dergleichen geschieht freilich im Kontext eines weitaus breiter angelegten Arbeitsfeldes. Denn in den letzten drei Jahrzehnten hat sich der Zugriff der Psychologie auf psychische Funktionen jenseits der Kognition stark ausgeweitet, und die Filmwissenschaft ist ihr gelegentlich dabei gefolgt. Sie hat den kognitiven Ansatz gleichsam als Trojanisches 59 60 2 Umdenken in Ästhetik und Kunstwissenschaften Pferd genutzt, um in die Erlebensprozesse der Zuschauer einzudringen. Ähnlich wie die Leute des Odysseus aus der Sage haben ihre Vertreter den Rumpf des Pferdes verlassen, wenngleich in der friedlichen Absicht, sich in den psychischen Bereichen von Emotionen und Vorstellungen umzusehen. Solche Expeditionen sind sicher bereits interessant und aufschlussreich, wenn sie intuitiv und ohne die Intention erfolgen, den Königsweg der experimentellen Forschung zu beschreiten. Nichtsdestoweniger scheint es geraten, die filmischen Wirkmomente auch im Hinblick auf affizierte Emotionen und Vorstellungen möglichst zuverlässig zu bestimmen und dabei nach Beschreibungen und Modellen zu suchen, die miteinander kompatibel sind, sodass sie einer holistischen Darstellung der Filmwirkungen entgegenkommen. Im Buch wird dergleichen angestrebt. Ausgangspunkt für eine Untersuchung, die mit der Konstruktion von Werkmodellen zur Kognition einsetzt, ist dabei stets das komplexe und differenzierte Reizangebot des konkreten Films in seinem Rezeptionsprozess, wenn man so will, die mentale Aneignung einer artifiziellen Möglichen Welt in ihrer Gesamtheit. Aufgrund von Beobachtungen des filmischen Geschehens, das den Zuschauer von der Leinwand aus erreicht, werden von ihm Annahmen über strukturierte Reizkonfigurationen getroffen, denen sich jeweils Wirkungsweisen im Bereich der unterschiedlichen psychischen Funktionen zuordnen lassen. Die Reihenfolge bei der Darstellung der Teilaspekte ist an das Kategorien-System der Filmwissenschaft angepasst, erlaubt doch dessen Ausrichtung der Werkanalyse, zielstrebig den zentralen Prozessen von Bedeutungsbildung und Sinnvermittlung des Films nachzugehen. Die Untersuchung hält sich dabei zunächst an die dramaturgischen Kategorien, um hernach zu jenen der medientechnischen Gestaltungsverfahren überzugehen. Es geht im Folgenden darum, im Rahmen von Teilstudien zu einzelnen filmkünstlerischen Aspekten Formphänomene aufzufinden, die als Wirkmomente im Sinne von „psychologischen Variablen“ angesehen werden können, also als veränderliche Beobachtungsgrößen aus dem Bereich des menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns. Jede Variable hat mindestens zwei, in der Regel aber viele Ausprägungen (vgl. Hussy et al. 2010, 37). Um Hypothesen – in unserem Falle zu Filmwirkungen – prüfen zu können, „müssen diese Variablen der Beobachtung und Erfassung zugänglich gemacht werden, d. h., sie müssen operationalisiert werden. Dies geschieht dadurch, dass ihnen auf der Basis des vorliegenden Hintergrundwissens empirische Sachverhalte (d. h. konkret mess- bzw. beobachtbare Größen) zugeordnet werden“ (38). In den Kapiteln dieses Buches wird im Grunde unentwegt nach filmischen Strukturangeboten auf verschiedensten Gestaltungsebenen gefahndet, die zu veränderlichen Beobachtungsgrößen im Zuschauererleben führen können, z. B. aufgrund unterschiedlicher Erzählweisen, Konfliktangebote, Filmschlüsse, Kamerahandlungen, Montageformen oder Stilmerkmale eines Werks. Diese empirischen Sachverhalte kommen jeweils in separaten Teiluntersuchungen zur Darstellung, wobei zunächst versucht wird, möglichst einfache und direkt beobachtbare konkrete Variablen zu fokussieren. Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen: Das PKS-Modell 3 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen „Die Wirkung eines Kunstwerkes beruht darauf, dass in ihm gleichzeitig ein zwiespältiger Prozess abläuft: das ungestüme progressive Emporstreben auf höhere Stufen des Bewusstseins und zugleich das Eindringen (über die formale Struktur) in allertiefste Schichten sinnlichen Denkens. Das polarisierende Aufspalten dieser beiden Linien schafft jene wunderbare Spannung in der Einheit von Form und Inhalt, durch die sich echte Kunstwerke auszeichnen.“ Sergej M. Eisenstein, Filmregisseur, 1935* 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell Eine bekannte Filmsequenz aus Michelangelo Antonionis BLOW UP (1966) zeigt einen jungen Photographen, der während seiner Aufnahmen in einem Park zufällig Schnappschüsse von einem Paar mittleren Alters macht. Nachdem er den Film zu Hause entwickelt hat, wird er gewahr, dass die Frau auf einigen der Fotos ihren Blick in auffälliger Weise auf einen Ort außerhalb des Bildes lenkt, und er beginnt sich dafür zu interessieren, warum sie dies tut, hatte sie sich doch nach dem Shooting bei ihm um die Herausgabe des belichteten Films bemüht. Er rekonstruiert zunächst anhand der Fotos den Ausgangspunkt und die Richtung ihrer Blicke, wobei seine Aufmerksamkeit auf ein Gebüsch gelenkt wird. Die Nachforschung macht längere Bemühungen nötig, die eine mehrfache Selektion und Vergrößerung von zunächst nicht besonders aussagekräftigen Aufnahmen einschließen. Der junge Mann heftet die Fotos in seinem Studio nebeneinander an die Wand, um die Bilderreihe nach sachdienlichen Hinweisen abzusuchen. Im Geäst des Buschwerks entdeckt er schließlich eine dunkle Stelle, die wie ein Fremdkörper anmutet. Sein wachsendes Interesse führt ihn abermals in die Dunkelkammer zurück, und dank einer weiteren Vergrößerung zeichnen sich hinter dem Laub die Umrisse eines Gegenstandes ab, der an einen Revolver erinnert. Obwohl dessen Konturen auf den körnigen Fotos unscharf erscheinen, tritt doch die unverwechselbare Form der Schusswaffe hervor. Der Lauf des Revolvers war offenbar auf den Partner der Frau gerichtet, was die Vermutung zulässt, dass vor der Kamera des arglosen Photographen ein geheimer Akt von Bedrohung stattgefunden hatte. Weitere © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 61 P. Wuss, Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht, Film, Fernsehen, Medienkultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32052-2_3 62 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Nachforschungen im Bildmaterial fördern zutage, dass vom Objektiv ein unweit des Gebüschs auf dem Rasen liegender länglicher Gegenstand erfasst wurde, der wie der Körper des in einen grauen Anzug gekleideten Begleiters der Frau aussieht. Der Photograph hält es nun für wahrscheinlich, dass er unwissentlich Zeuge einer Mordtat wurde, und er teilt dies am Telefon einem Vertrauten aufgeregt mit. Antonioni stellt hier den zielgerichteten Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess des Filmhelden auf eine Weise dar, dass der Zuschauer ihn nicht nur inhaltlich mitvollziehen kann, sondern zugleich Einblick in dessen wechselnde Phasen gewinnt, die einem je unterschiedlichen Verlaufsschema folgen. Besonders ausgiebig wird jene frühe Phase gezeigt, in welcher der Held intuitiv die vergrößerten Aufnahmen an die Wand pinnt und immer wieder aufmerksam durchmustert. Was er bei der Durchsicht der Fotos erkundet, erreicht auch die Wahrnehmung des Zuschauers, und zwar in einer Abfolge begrenzter Bild-Eindrücke, die sich wenig unterscheiden. Für eine psychologische Beschreibung des Filmerlebens ist dies von Interesse. Denn noch bevor es eine eigenständige Psychologie gab, hat die Wissenschaft Beobachtungen notiert, die die Sammlung von Eindrücken und das Zustandekommen von Wahrnehmungen generell an eine solche Verlaufsstruktur band. G. W. Leibniz etwa hat in seinen „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ ([1765] 1926) von den „kleinen Perzeptionen“ (10) gesprochen, jenen „unmerklichen Perzeptionen“ (13), die in größeren Mengen vorkämen und „nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet“ seien, jedoch „von größerer Wirksamkeit, als man denken mag“. Aus ihnen, „welche zu schwach sind, um bemerkt zu werden“, entstünden dann stufenweise die „merklichen Perzeptionen“ (14). Einen derartigen gestuften Übergang zwischen der Wiederholung und Häufung unmerklicher, kleiner Reizangebote zu einer Reizkonfiguration, die sogleich vom Beschauer erfasst werden kann und dann sogar einen ganzen Komplex von Überlegungen zur Folge hat, bildet die Filmsequenz ab. Sie zelebriert damit einen Prozess, den die neuere Psychologie der Kognition zurechnet, und sie macht diesen in seinem prozeduralen Aufbau studierbar. Wenn im Folgenden Überlegungen entwickelt werden, wie sich Werkmodelle zur Beschreibung psychologischer Wirkmomente des Films konstruieren lassen, so kann man sich daran leicht den wechselnden Charakter kognitiver Wirkungsweisen veranschaulichen. Der Begriff „Kognition“, der sich vom Lateinischen cognoscere bzw. Griechischen gignoskein (zu wissen oder wahrzunehmen) ableitet, wird in der Psychologie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Bezeichnung der Basiselemente des Bewusstseins und ihrer Kombinationen verwendet. In den 1980er Jahren definierten Mandl und Huber (1983b, 3f.): „Die Bedeutung des Wortes ›Kognition‹ umfasst Phänomene der Informationsverarbeitung wie Prozesse des Aufmerkens, des Lernens, des Speicherns, des Erinnerns, des Abstrahierens und des Problemlösens. Mit ›Kognition‹ wird also weit mehr begrifflich erfasst als Wissen. Kognitive Prozesse sind in unterschiedlichem Ausmaß an allen psychischen Aktivitäten beteiligt. In Modellen der menschlichen Informationsverarbeitung werden verschiedene kognitive Teilprozesse postuliert, wobei Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung, Denken und Sprechen im Kontext des Handelns zentrale Komponenten sind.“ 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell 63 Seinerzeit schien es darum naheliegend, innerhalb der Filmrezeption ebenfalls kognitive Prozesse aufzuspüren und diese über Modelle zu beschreiben, um den analytisch schwer zugänglichen Erlebnisvorgang näherungsweise zu erfassen. In einem Einführungsbuch von John R. Anderson stand zu lesen: „In der Kognitiven Psychologie herrscht bis heute der Informationsverarbeitungsansatz vor, mit dem kognitive Prozesse in eine Abfolge geordneter Phasen zerlegt werden. Jede Phase spiegelt einen wichtigen Schritt in der Verarbeitung kognitiver Informationen wider“ (1988, 15). Dass die Kognitionspsychologie den phasischen Charakter der kognitiven Prozesse betont, schien einen günstigen Ansatzpunkt für eine differenzierte Darstellung filmischen Reizmaterials zu bieten, waren doch an den Phasenübergängen jeweils signifikante qualitative Veränderungen innerhalb der Erlebensprozesse zu vermuten, die empirisch untersucht werden konnten. Diese stellten in Aussicht, konkrete Reizkonfigurationen respektive Strukturzusammenhänge des Films in ihrem jeweils unterschiedlichen Verarbeitungsgrad durch das menschliche Bewusstsein erfassbar zu machen und ihnen einen variablen kognitiven Status zuzuweisen, der dann wiederum Rückschlüsse auf spezifische Funktionsweisen, d. h. ästhetische Wirkmomente innerhalb der Rezeption zuließ. Die Kognitive Psychologie hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Reihe unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte betont, und dabei eine eigene Lernpsychologie, Wissenspsychologie u. a. hervorgebracht. Doch obwohl sich Hinweise dafür ergaben, dass es produktiv wäre, im Rezeptionsprozess des Films nach ähnlichen Phasenunterschieden zu suchen, wie sie dort markiert waren, ist bisher kein einheitliches psychologisches Konzept entstanden, das unmittelbar für die Filmuntersuchung übernehmbar wäre. An entscheidenden Punkten tun sich vielmehr Lücken auf. Dass die Handhabung des Kognitionsmodells sich als problematischer erwies als zunächst veranschlagt, wird schon daraus ersichtlich, dass Inhalt und Umfang des Kognitionsbegriffs inzwischen eine beträchtliche Erweiterung erfahren haben. Hier soll der Begriff „kognitiv“ vor allem in zwei Bedeutungen zur Verwendung kommen. Die phänomendeskriptive Variante „benennt als kognitiv die subjektive, erlebnismäßige Seite mentalen Geschehens. […] Die zweite Bedeutung ist funktionell und bezeichnet als kognitiv solche Prozesse, die es mit der Aufnahme, der Verarbeitung, der Speicherung und der Verwertung von Information zu tun haben“ (Neumann / Prinz 1987, 195). Neuerdings sind noch andere – mitunter stark voneinander abweichende – Bedeutungsvarianten in Gebrauch.17 17 „In der heutigen Zeit hat das Wort ›Kognition‹ wenigstens drei verschiedene, mit der älteren Bedeutung kaum mehr verwandte, Konnotationen. Erstens bezieht sich ›Kognition‹ auf eine ›spezifische Sammlung von Themenbereichen‹, das heißt, auf beobachtbare oder theoretisch angenommene Phänomene, die in einem bestimmten Bereich der Psychologie (der Kognitionspsychologie) erforscht und diskutiert werden. Zweitens bezieht sich das Wort auf den Versuch, intelligentes menschliches Verhalten mithilfe eines kognitiven Systems, das zwischen Umweltinput und Verhalten vermittelt, zu erklären und zu verstehen. Diese zweite Bedeutung von ›Kognition‹ verweist auf einen Satz theoretischer Annahmen, der die Vorgänge innerhalb des kognitiven Systems abbildet. Drittens versteht man unter ›Kognition‹ einen bestimmten methodischen Ansatz zur Erforschung menschlichen Verhaltens“ (Frensch 2006, 19). 63 64 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Von besonderer Bedeutung für die Forschungen zum Film ist die Entscheidung, wie weit das Verständnis von Kognition zu fassen sei. Ein Kognitionsverständnis, das einen sehr umfassenden Zugriff auf diverse mentale Prozesse, darunter solche der Wahrnehmung unterhalb der Bewusstheitsschwelle zulässt, macht es meist schwierig, manche Wirkmomente zu objektivieren. Erfahrungsgemäß erweisen sich für eine Beschreibung vor allem die Resultate bewusster Herstellung neuer Zusammenhänge im Sinne von gewonnener Einsicht als geeignet, kaum jedoch unbewusst erlebte. Dies leitet zu der Frage hin, ob Kognition nicht überhaupt an die Bedingung von Bewusstheit zu binden sei, eine Problematik, die von prominenten Psychologen kontrovers diskutiert wurde. Es liegt nicht in der Kompetenz der Filmwissenschaft zu beurteilen, welche Sichtweise für die Entwicklung der Psychologie die zutreffendste bzw. produktivste ist. Geteilt werden kann aber die Ansicht von Norbert Bischof (1989, 195), der unter dem Begriff der Kognition jeden Prozess subsumiert, „der potenziell ›wahre‹ Abbildungen von Umweltmerkmalen liefert.“ Für die Analyse der Filmrezeption ist die Antwort auf die Frage, ob Kognition an eine „Bewusstheitspflicht“ gebunden werden muss, oder aber Prozesse unterhalb der Bewusstheitsschwelle ebenfalls einschließt, insofern von höchst praktischer Bedeutung, als es dringend notwendig scheint, neben bewussten auch vorbewusste und unbewusste Erlebnisgehalte, die durch das filmische Reizangebot vermittelt werden, als ebenbürtige Wirkungsfaktoren zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wäre es durchaus produktiv, die unterschiedlichen Erlebnisgehalte im Rahmen des gleichen Modells darzustellen; der Wert einer kognitiven Modellierung schien ja gerade darin zu liegen, dass sie – rein theoretisch – dergleichen möglich macht. Angesichts dessen, dass es der gegenwärtige Stand der Forschung nicht gestattet, wichtige filmwissenschaftliche Beobachtungen zu potenziellen phasischen Veränderungen bei der Informationsverarbeitung im Rezeptionsprozess durch empirische Untersuchungen abzusichern und selbst zentrale Definitionsprobleme wie das eben benannte noch ungeklärt sind, scheint es geraten, sich bei der Approximation der Erkenntnisprozesse einstweilen an abstrakteren Vorstellungen zu orientieren, wie sie seitens der Epistemologie zur Darstellungen differenzierter Erkenntnisprozesse entwickelt wurden und zum Konzept kognitiver Invariantenbildung führten.18 Der Philosoph Georg Klaus bezieht den Begriff der Invariante auf den Erkenntnisprozess selbst, wenn er hierzu schreibt: „Die unmittelbare Aufgabe unseres Erkenntnisapparates besteht in der Bildung von Invarianten, und zwar von Invarianten der Wahrnehmung, des Denkens und der Motive. Es gibt also auf jeder unserer Ebenen, in die wir den Erkenntnisvorgang unterteilt haben, spezifische Invarianten. Die Invarianten des Denkens beispielsweise nennen wir Begriffe […]“ (1966, 65; Hervorh. P. W.). Diese Typologie kognitiver Invarianten folgt einem elementaren Evolutionsschema, das mindestens drei konsekutive 18 „Unter einer Invariante wird jede Funktion, Zahl oder Eigenschaft verstanden, die bei gewissen Transformationen oder allgemeiner bei Abbildungen unverändert, d. h. invariant bleibt“, heißt es im „Lexikon der Mathematik“ von Gellert / Kästner / Neuber (1977, 261). 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell 65 Entwicklungsstufen umfasst. Diese zeigen sich auch im Rezeptionsprozess des Films und lassen sich an den Reizkonfigurationen der Komposition konkret nachweisen. Denn Filmkompositionen repräsentieren nicht nur bestimmte strukturelle Beziehungen der Realität im Bereich des Visuellen und Auditiven, sie werden vielmehr auch innerhalb kognitiver Prozesse wirksam, indem sie diese Strukturen auf unterschiedliche Ebenen der Invariantenbildung transponieren und deren Reizmaterial damit einen spezifischen kognitiven Status verleihen. Der Rekurs auf epistemologische Konzepte darf dabei nicht als Rückfall in eine naive Hermeneutik gedeutet werden, sondern er dient als Vorstufe für eine spätere kognitionspsychologische Modellbildung. Das Schema kognitiver Invarianz legitimiert sich dabei durch seinen praktischen Nutzen bei der Beschreibung des filmischen Materials. Was unter dem wechselnden „kognitiven Status“ zu verstehen ist, lässt sich etwa am Schluss des Angelopoulos-Films TOPIO STIN OMICHLI (LANDSCHAFT IM NEBEL, 1988) veranschaulichen: Der Film handelt von zwei griechischen Kindern, die aufgebrochen sind, ihren Vater zu suchen, der angeblich in Deutschland arbeitet. Nach einer Odyssee gelangen sie an die Landesgrenze und warten bis zum Morgengrauen auf einen geeigneten Moment, um diese zu überschreiten. Als sie früh über die Grenze blicken, schält sich vor ihren Augen aus dem Nebel ein graues Gebilde heraus, das sich nach und nach als Umriss eines Baumes erweist. Sie gehen dann zielstrebig auf den Baum jenseits der Grenze zu. Als sie endlich dort sind, umarmen sie seinen Stamm. Der Baum hat in dieser Sequenz seinen kognitiven Status verändert. In der ersten Phase, als sich aus dem Nebel seine Umrisse herausheben, ist er für die Kinder und die Zuschauer ein Produkt diffuser Empfindung und Wahrnehmung, dann klärt sich, – in der zweiten Phase – dass es sich um einen Baum handelt, man kann das Gebilde auf einen Begriff bringen, es konzeptualisieren und damit dem Denken überantworten. Wenn die Kinder dann in der dritten Phase den Baum umarmen, hat er für sie (und den Zuschauer) eine tiefere Bedeutung gewonnen, er ist zu einer Art Symbol für ein komplexeres Motiv geworden, das sich mit einem wohlbekannten kulturellen Zeichen verbindet, einem Stereotyp. Es ist, als ob die Kinder – wie erhofft – den Vater umarmten, dem sie sich auf dieser Seite der Grenze schon näher fühlen können. Die Veränderung des kognitiven Status, die das Reizmuster Baum erfährt, entspricht dem o. g. dreistufigen Schema: (1) Auf einer frühen Stufe der sinnlichen Aneignung des externen Reizmaterials haben wir es mit Invariantenbildung der Wahrnehmung zu tun, bei der in einem vorbewussten Prozess semantisch instabile Perzepte entstehen. Diese sind die Voraussetzung für (2) eine Phase von Konzeptualisierung oder Invariantenbildung des Denkens, das auf stabilere Reizmuster zurückzugreifen vermag, deren Merkmale bewusst aufgenommen werden, so dass bestimmte Objekte erkannt und auf den Begriff gebracht werden können. (3) In der nachfolgenden – eher postadaptiven – Phase können die eingespeicherten konzeptualisierten Strukturen als invariante komplexe Motive, die durch vielfachen kommunikativen Gebrauch semantisch stabil geworden sind, den Charakter kultureller Stereotype gewinnen, die vielfach unbewusst zur Rezeption gelangen. 65 66 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Ein Prozess, in welchem sich das menschliche Individuum in seiner Auseinandersetzung mit der Außenwelt diese informationell aneignet und dabei zu kognitiven Invarianten auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen des Reizmaterials gelangt, ist im Leben nichts Außergewöhnliches, sondern ein massenhafter Vorgang, wenngleich dieser sich vielleicht selten so zügig und zielgerichtet vollzieht wie in der dargestellten Szene. Hinter der erwähnten Sequenz aus BLOW UP zeichnet sich übrigens ebenfalls ein Vorgang von kognitiver Invarianten-Konstruktion ab, der mit den „kleinen Perzeptionen“ der Fotobetrachtung des Helden einsetzt und bis zur Entdeckung des Revolvers führt, somit das Geschehen auf einen Begriff bringen lässt, und sogar auf ein kulturelles Stereotyp, das ein komplexes Bedrohungsmotiv bezeichnet. Mehr noch als der lakonische Schluss von LANDSCHAFT IM NEBEL dürfte die lange Sequenz aus BLOW UP geeignet sein, die darin dargestellten Wahrnehmungs- und Denkprozesse auch als Phasen eines Lernprozesses zu begreifen, wobei Lernen hier im allgemeinsten Sinne als „Ausbildung und Korrektur von individuellem Gedächtnisbesitz“ (Klix 1971, 348) zu verstehen ist. In einem permanenten Lernprozess sorgt der Mensch ja generell dafür, dass sich in seinem Bewusstsein ein internes Modell der Außenwelt bildet, das diese Umgebung möglichst adäquat repräsentiert. Normalerweise geschieht dies im Rahmen des praktischen Handelns, das permanent eine Konfrontation mit der Realität schafft, bei der sich das interne Modell als realitätstauglich bewähren muss. Letzteres kann jedoch offenbar eine Optimierung auch über eine modifizierte Praxis erfahren, in einer abgewandelten Form, wie sie sich etwa beim Ansehen von Filmen ergibt, zumal dessen Darstellungen partiell sogar Strukturangebote aus der Realität übernehmen. Die vom Film repräsentierten Erscheinungen, die als Laufbilder von Objekten oder Ereignissen auf die Leinwand kommen, sind indes kein unbearbeitetes Stück Lebenswelt, sondern bereits im Bewusstsein des Filmemachers durch einen Prozess von Informationsverarbeitung gegangen, und die damit verbundenen Veränderungen kommen dann bei der Kommunikation mit dem Zuschauer als spezifische Wirkungsfaktoren zum Tragen. Nämlich über die Ausformung bestimmter filmischer Strukturangebote, welche die kognitiven Prozesse des Zuschauers auf je verschiedenen Ebenen der Invariantenbildung oder Schemabildung aktivieren. Diese Ebenen heben sich mehr oder weniger deutlich voneinander ab und verändern dabei ihre Funktion. Je nachdem, ob eine filmische Struktur im Zuge perzeptiver Invariantenbildung vom Zuschauer gerade erst angeeignet werden soll, ob sie schon so weit integriert ist, dass sie sich bereits der Invariantenbildung des Denkens stellt, oder ob sie längst eingespeichert wurde und als komplexes Motiv durch vielfachen kommunikativen Gebrauch zu einem Stereotyp geworden ist, verläuft der kognitive Prozess, der mit der Aneignung verbunden ist, unterschiedlich. Der durch die Bewusstseinsprozesse der Autoren bereits gewonnene Verarbeitungs- oder Abstraktionsgrad einer Lebenserscheinung teilt sich dem Publikum mit, weil der Film ihn fixiert. Film versiegelt also nicht nur die Zeit, wie der russische Regisseur Tarkowski (1989) schreibt. Vielmehr verfügt er aufgrund seines technischen Abbildungsverfahrens über die unvergleichliche Eigenschaft, auch Erkenntnis- und Lernvorgänge des Menschen, die normalerweise in dessen Kopf stattfinden, in ihre Phasen markierbar und in ihrer Unter- 3.1 Die kognitiven Wirkmomente des Films im PKS-Modell 67 schiedlichkeit objektivierbar zu machen, weil sich in der Organisation seiner Strukturen bestimmte Eigenheiten wiederfinden, an die man sich dabei halten kann. Jedenfalls soll hier von einer solchen zentralen Annahme ausgegangen werden, weil diese sich durch vielfache Beobachtung herausgebildet und bestätigt hat. In den Arbeiten von Peter Ohler zur Kognitiven Filmpsychologie wurde ein umfänglicher Versuch unternommen, zentrale Vorgänge der Filmrezeption aus psychologischer Perspektive im Rahmen der kognitiven Schematheorie fassbar zu machen. Das von mir angestrebte gestufte Modell kann insofern kontinuierlich an diese Überlegungen anknüpfen, als dass das dort praktizierte Schemaverständnis grundsätzlich eine Differenzierung in unterschiedliche Formen von Schemabildung zulässt, wie sie bei der Aufspaltung in drei Stufen kognitiver Invariantenbildung eine Rolle spielt. David Rumelhart, an dessen Konzept sich Ohler maßgeblich orientiert, schreibt: „According to schema theories, all knowledge is packed into units. These units are schemata. Embedded in these packets of knowledge is, in addition to the knowledge itself, information about how this knowledge is to be used. A schema, then, is a data structure for representing the generic concepts stored in memory. There are schemata representing our knowledge about all concepts: those underlying objects, situations, events, sequences of events, actions and sequences of actions“ (1980, 34). An anderer Stelle unterstreicht der Autor: „Schemata represent knowledge at all levels of abstraction“ (Rumelhart / Ortony 1977, 40). Entsprechend dieser Auffassung sind kognitive Schemata also nicht als Entitäten in Form monolithischer Blöcke aufzufassen, die stets auf dem gleichen Abstraktionsniveau angesiedelt sind. George Mandler ([1984] 1985, 117] hat diesen Gedanken weiter ausgeführt: „Das Schema, das als Resultat früherer Erfahrung mit einem bestimmten Ereignis entsteht, ist keine Durchschlagkopie dieses Ereignisses; Schemata sind abstrakte Repräsentationen von Regularitäten der Umgebung (Franks / Bransford 1971). Schemata können von ganz konkret bis ganz abstrakt variieren; sie sind sowohl für Wahrnehmungselemente eines Ereignisses als auch für die abstrakte Repräsentation seiner ›Bedeutung‹ oder seines Wesens möglich. Wir verstehen Ereignisse durch Schemata, die sie aktivieren, wobei man von ganz verschiedenen Arten von Verstehen sprechen kann. Wahrnehmen ist ›das Verstehen eines sensorischen Inputs‹ (Rumelhart / Ortony 1977), eine Auffassung von Verstehen schließt das Erfassen semantischer Beziehungen ein, und einige Werturteile basieren auf dem Erfassen struktureller Relationen. Schließlich soll noch erwähnt werden, dass Gattungsschemata modale (oder sogar kanonische) Variablenwerte haben. Diese Eigenschaft steht mit der Darstellung von schematischen Prototypen (Rosch 1978, Rosch / Mervis 1975) in Zusammenhang, die die entsprechende Kongruenz von spezifischen Beispielobjekten und Ereignissen anspricht.“ Gerade diese Variationsbreite im Schemaverständnis ist für die Konstruktion von Werkmodellen zum Film von größter Bedeutung, weil sie zwischen unterschiedlichen Phasen oder Stufen der Informationsverarbeitung, die in der Werkkomposition zum Ausdruck kommen, eine klare Differenzierung ermöglicht. Letztere bildet den Ausgangspunkt für mein Verfahren, filmische Strukturen zu beschreiben und in ihrem kognitiven Status hypothetisch festzulegen, darunter auch übergreifende Erzählstrukturen. Ich gehe näm- 67 68 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen lich davon aus, dass sich am konkreten filmischen Material eine Zuordnung desselben zu unterschiedlichen Phasen der Kognition oder kognitiver Schemabildung vornehmen lässt, die dadurch jeweils aktiviert wird. Drei Typen von Strukturen lassen sich deutlich voneinander unterscheiden: (1) perzeptionsgeleitete, (2) konzeptgeleitete und (3) stereotypengeleitete filmische Strukturen. Sie bilden das PKS-Modell schemageleiteter Informationsverarbeitung bei der Filmrezeption, dessen Benennung sich von den Initialen der Strukturtypen ableitet. Die unterschiedlichen Ebenen dieses Modells machen bestimmte Eigenheiten filmischer Strukturen genauer beschreibbar und empirisch fassbar. Grundsätzlich lässt sich dieser Ansatz zur Deskription aller filmischer Strukturangebote verwenden, d. h. sowohl zur Charakterisierung von elementaren optischen und akustischen Gestaltungsmitteln als auch jenen oft umfangreichen und zusammengesetzten, die der Dramaturgie unterstehen und Erzählweisen, Konflikte und Figuren betreffen. Da diese umfangreichen Reizangebote stets mit Geschehenswahrnehmung verbunden und – besonders im fiktionalen Kino – eindeutig handlungsorientiert sind, lassen sich die drei Strukturtypen oft mühelos an handlungsbezogenen Ereignisverläufen ausmachen. Und zwar sowohl im Hinblick auf die Makrostruktur der filmischen Erzählung, die sich üblicherweise in deren Fabelaufriss oder verbalen Synopsis wiederfindet, als auch deren Mikrostrukturen, die Klein- und Kleinsthandlungen betreffen und einzelnen Sequenzen, Szenen oder Bildeinstellungen ihr Gepräge geben. Dies ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass das Modell eine günstige Basis für Überlegungen zur filmischen Narration schafft. Im Folgenden soll das PKS-Modell aber zunächst an einigen kürzeren Handlungseinheiten in Gestalt unterschiedlicher Filmsequenzen zur Anwendung gebracht werden, wobei ich partiell auf Beispielmaterial aus früheren Untersuchungen (vgl. Wuss 1993a; 2009a) zurückgreife. 3.2 3.2 3.2.1 Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells ARIEL Anhand der Anfangssequenz von Aki Kaurismäkis ARIEL (ARIEL – ABGEBRANNT IN HELSINKI, 1988) soll zunächst demonstriert werden, wie sich ein Strukturtyp jeweils konkret äußert, bevor dann seine theoretische Explikation versucht wird. Eine Reihe perzeptionsgeleiteter Strukturen organisiert sich dort bereits, während noch die Vorspanntitel zu lesen sind. Dargestellt wird ein elementarer Vorgang, die Schließung eines Bergwerks in der finnischen Provinz. Eine Folge von Beobachtungen dazu zeigt 3.2 Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells 69 Geschehnisse, die alle etwas gemeinsam haben: Sie bezeichnen das Ende einer Sache, markieren deren „endgültiges Aus“. – Bergleute, die aus dem Schacht kommen, schalten dort das Licht ab. – Sie betätigen den Hauptschalter. – Sie zünden die Sprengladung, die die Grube stilllegt. – Dann verlässt das Personal samt beweglicher Technik die Halle über dem Schacht. – Im leeren Umkleideraum wirft der Bergmann Taisto Werkzeuggürtel und Schutzhelm in den Abfalleimer. – Lastwagen mit aufsitzenden Arbeitern verlassen das umzäunte Zechengelände. – Darauf schließt jemand das Tor. – Wenig später wird Taisto den Koffer mit seinen Habseligkeiten zuklappen. – Er wird sein Konto bei der Bank auflösen. – Danach wird er mit einem alten amerikanischen Straßenkreuzer die Gegend für immer verlassen. Hinter allen Ereignissen, die zum Ende hin lückenhaft skizziert sind, lässt sich eine ähnliche Handlungsstruktur auffinden, eine invariante Reizkonfiguration, die mehrfach wiederkehrt und dafür sorgt, dass der Zuschauer sie immer deutlicher wahrnimmt, ohne sie sich dabei jedoch voll bewusst machen zu können. Dank dieser homologen Reihe formiert sich, wie Mukařovský (1974a, 49) es genannt haben dürfte, eine „semantische Geste“, nämlich eine solche, die das unwiderrufliche Ende des jeweiligen Vorgangs über eine perzeptiv geleitete Struktur signalisiert. Dies lässt sich auf eine Arbeitsdefinition bringen, die sich auf eine Reihe von hypothetischen Annahmen stützt: Perzeptionsgeleitete filmische Strukturen sind Reizmuster von geringer Auffälligkeit, die vom Rezipienten eher vorbewusst aufgenommen werden. Eine Präinformation über die dargestellte Erscheinung liegt bei diesem kaum vor, so dass er sie im Zuge kognitiver Invariantenbildung der Wahrnehmung anhand von Ähnlichkeiten im Reizangebot erst auffinden muss. Dies geschieht über Autokorrelationsprozesse / Wahrscheinlichkeitslernen, was eine mehrfache intratextuelle Wiederholung analoger Reizmuster voraussetzt. Noch kaum zeichenhaft in ihrem Charakter und semantisch instabil, werden diese Strukturen lediglich im Arbeitsgedächtnis des Zuschauers gespeichert und sind dessen Erinnerung nur während oder unmittelbar nach der Vorführung gegeben. Konzeptualisierte filmische Strukturen bauen in der gleichen Sequenz eine Kette evidenter Vorgänge auf. Diese auffälligen Erscheinungen setzen mit der Schließung der Zeche ein und gipfeln in der Reaktion eines der betroffenen Bergleute. Der nun arbeitslose Steiger begeht Selbstmord. Kurz vorher vermacht er Taisto sein Auto, mit dem der Beschenkte dann nach Helsinki fährt, wo er sogleich nach seiner Ankunft niedergeschlagen und ausgeraubt wird. All diese Vorgänge basieren durchweg auf zielgerichteten physischen Handlungen, die in einem Kausalverhältnis zueinander stehen und vom Zuschauer bewusst erlebt werden. Was dieser an den konturierten Ereignissen wahrnimmt, kann er auf den Begriff bringen und klar benennen, auch gut im Gedächtnis behalten. Es formiert eine konzeptgeleitete filmische Struktur. 69 70 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Konzeptgeleitete filmische Strukturen sind als Reizangebote für den Rezipienten auffällig genug, um sie bewusst aufnehmen zu können und sie dank hinreichender Präinformation über die dargestellte Erscheinung sogleich wiederzuerkennen und als Resultate von Invariantenbildung des Denkens in höhere Intelligenzprozesse einzubeziehen. Ihre Aneignung geschieht über Lernen durch freie Kombination oder Reflexion der Invarianten. Dafür reicht bereits Singularität, also das einmalige Auftreten einer Struktur innerhalb des Erlebensvorgangs aus. Die Reizkonfiguration, die dabei Zeichencharakter angenommen hat, verfügt über hohe semantische Stabilität. Sie wird im Langzeitgedächtnis gespeichert, und der Zuschauer kann sich über längere Zeit nach dem Filmerlebnis noch an sie erinnern. ARIEL nutzt in der Exposition auch filmische Stereotype, worunter mit Jörg Schweinitz Gestaltphänomene verstanden werden sollen, die „in einer größeren Gruppe von Filmen wesentlich invariant bleiben“ (1987, 121). Es erscheinen dort in der Tat Formen, die der Zuschauer schon aus anderen Filmen kennt, so dass er sie als zusammenhängende Informationseinheiten aufnimmt. Der Steiger, der in der schäbigen Kantine Taisto seine Autoschlüssel übergibt und ihm rät, diese Gegend, in der man zwangsläufig vor die Hunde gehen müsse, schleunigst zu verlassen, entsichert danach seinen Revolver und geht in die Toilette, von woher gleich darauf ein Schuss zu hören ist. Sein Selbstmord ist aufgrund der gezeigten Routinehandlung mit der Waffe und des hörbaren Geräusches für den Zuschauer dann so einsichtig und in Ablauf und Resultat verfolgbar, dass die Regie sogar darauf verzichten kann, den Toten in der Folgeeinstellung zu zeigen. Die semantische Geste der kleinen Handlungen zuvor, die stets ein „endgültiges Aus“ bezeichnete, wird in diesem Vorgang ebenfalls variiert, aber auf einer anderen Abstraktionsstufe, weil hier kein Zweifel darüber besteht, dass „ein Schlusspunkt gesetzt“ wird, diesmal für ein Menschenleben. Ein anderes jähes Ende wird eher vergnüglich dargeboten. Just in dem Moment, als Taisto den geschenkten Wagen aus dem Autoschuppen chauffiert hat, bricht die Garage völlig in sich zusammen, was an das Genre der Groteske erinnert, deren Stereotype der Film später gelegentlich aufnehmen wird. Wie es im Anschluss auch Passagen gibt, die an Handlungs- und Gestaltungsklischees des amerikanischen Roadmovies erinnern, nämlich wenn der arbeitslose Bergmann in dem heruntergekommenen Straßenkreuzer unter musikalischer Begleitung des Autoradios seine Reise antritt. Übrigens ist auch der Schlagertext durch eine stereotype Vorstellung geprägt, den optimistischen Gemeinplatz, dass man am Ende im Dunkeln nicht allein bleibt, weil einem das Licht der Liebe erscheint. Das allbekannte Strukturangebot sorgt hier jeweils dafür, dass das Geschehen vom Zuschauer informationell leichter zu bewältigen ist und zugleich bestimmte Register gezogen werden, die emotionale Reaktionen betreffen. Stereotypengeleitete filmische Strukturen sind Reizmuster, die bei der Rezeption einen sehr unterschiedlichen Grad von Auffälligkeit und einen ähnlich variablen Grad von Bewusstheit erreichen können, der oft wieder bis zur unbewussten Aufnahme des Reizangebotes reicht. Zum Zeitpunkt des Filmerlebens verfügt der Zuschauer hinsichtlich der dargestellten Erscheinungen über eine hohe Präinformation, so dass er die Reizkonfiguration aufgrund einer Invariantenbildung kognitiver und kommunikativer Art, die zu komplexen Motiven führt, sogleich zu erfassen vermag – oft automatisch und ohne sie bewusst als solche zu erkennen. 3.2 Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells 71 Voraussetzung für die Ausbildung dieses filmischen Strukturtyps, dessen Formgestalt durch vielfachen kommunikativen Gebrauch Zeichencharakter und semantische Stabilität gewonnen hat, ist ein längerer kultureller Lernprozess. Intertextuelle Wiederholung einer invarianten Reizkonfiguration innerhalb der kulturellen Vorgeschichte bzw. des aktuellen kulturellen Umfeldes eines Filmwerkes gilt daher als zuverlässiger Hinweis für die Existenz stereotypengeleiteter Strukturen. Für manche Rezipientengruppen aktiviert das Erscheinen bestimmter Stereotype normierte Unterprogramme komplexen psychischen Verhaltens, wozu neben kognitiven Mustern auch Emotionen, Vorstellungen und Wertungen gehören. Im Dauergedächtnis gespeichert, können diese Strukturen kaum vergessen werden. Infolge von Habituation aufgrund häufigen kommunikativen Gebrauchs werden sie aber vielfach wieder unauffällig, und ihre Rezeption erfolgt dann eher beiläufig und unbewusst. 3.2.2 ASCHE UND DIAMANT Die Anfangsszene von Wajdas Film POPIÓŁ I DIAMENT (ASCHE UND DIAMANT, 1958) lässt die drei Strukturtypen jeweils deutlich hervortreten. Der Film erzählt die Geschichte des jungen Polen Maciek, der auf Befehl der aus London dirigierten nationalpolnischen Heimatarmee, in der er während des Krieges gegen die Hitlerwehrmacht kämpfte, am ersten Tag des Friedens weiter den Gesetzen des Krieges folgt und, obschon innerlich verunsichert, auf Befehl der Armija Krajowa tötet, bis er selbst umkommt. In dieser dramatischen Geschichte dominiert eine einsichtige konzeptualisierte Handlung. Entsprechend sinnvoll ist es, bei der Beschreibung der Exposition auch mit konzeptuell geleiteten Strukturen zu beginnen, zumal sich der Erlebensprozess des Zuschauers generell daran orientiert. Wie das große Geschehen binden sich auch die Ereignisse der Anfangssequenz an einen zentrierten dramatischen Vorgang: Angehörige der Heimatarmee in Zivil lauern einem Fahrzeug auf, dessen Insassen sie töten wollen, vermuten sie doch unter ihnen den Bezirkssekretär der Arbeiterpartei. Man sieht anfangs die Männer auf einer Wiese in der Frühlingssonne warten, erfährt von ihrem Plan, erlebt den Überfall auf das nahende Fahrzeug in seinen einzelnen Phasen, und wird auch Zeuge, wie sie die Mordstätte wieder verlassen. Eine zielgerichtete kausale Handlung findet hier statt, gebunden an eine auffällige physische Aktion, deren Etappen gleichsam mit dem Blut der Getöteten markiert sind. Sie kann in ihren einzelnen Phasen vom Zuschauer bewusst erfasst werden. Die Bedeutung des gesamten Vorganges ist für ihn klar erkennbar, und das Geschehnis prägt sich fest in sein Gedächtnis ein. Relativ unauffällig und nahezu unbewusst dürften dem Zuschauer hingegen jene Vorgänge bleiben, die ich als perzeptionsgeleitete Strukturen bezeichne. In dieser Filmsequenz liegen sie auf der Ebene der Kleinsthandlungen. Nahezu alle Teilaktionen der Szene haben eine Besonderheit: Zielgerichtete Handlungen werden gestört. Sie kommen nicht zustande, ändern ihren Verlauf, werden zu einer paradoxen Wendung geführt: 71 72 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen – Während die Männer sich auf den Überfall vorbereiten, kommt ein kleines Mädchen herbei, das sich von ihnen Hilfe erwartet. – Als einer der Männer das Kind zunächst hochhebt, damit es sein Blumensträußchen an der Kapelle ablegen kann, hält er dabei inne, weil das erwartete Auto naht, und aus gutem Grund schickt man die Kleine weg. – Wenn der Held dann seine Maschinenpistole aus dem Gras aufnehmen möchte, muss er erst die Ameisen davon abschütteln. – Beim Angriff auf das Fahrzeug wird der Held mitten im Lauf stoppen, um das Magazin auszuwechseln, das vor dem Überfall fast leer gewesen sein muss. – Die Papiere, die das erste tote Opfer identifizieren sollen, sind nicht zu finden. – Und wenn Maciek einen fliehenden Wageninsassen vor der Kapellentür erschießt, so wird er dies auf eine so hemmungslose Weise tun, dass sein Kumpan ihm die Waffe hochreißen muss, damit er endlich das Feuer beendet. – Es ist auch nicht von ungefähr, dass beim Verlassen des Tatorts einer der Männer den Hut verliert wie in einer Slapstick-Komödie, denn nichts geschieht in dieser Szene ohne Störung oder Unterbrechung. Man kann etwa ein Dutzend solcher „Störungen“ herausarbeiten, während diese dreieinhalbminütige Szene abläuft. Obwohl sie dem Zuschauer kaum auffallen, schaffen diese Kleinsthandlungen mit ähnlicher Struktur (nämlich der gestörten oder verhinderten Aktion) eine Regelhaftigkeit im Reizangebot; sie bilden so eine Folge invarianter Strukturbeziehungen im Bereich der Wahrnehmung, die an den Zuschauer wiederholt herangetragen werden. Unterhalb der Bewusstheitsschwelle rezipiert, prägen sie sich ihm über vielfache Wiederholung im gleichen Werk ein, ohne dass er sich später überhaupt an sie erinnern kann. Für den Erlebnisprozess bleiben sie aber keineswegs wirkungslos. Sie schaffen nämlich nicht nur schlechthin ein Klima der Unruhe, wie es für die Zeitenwende nach Kriegsschluss charakteristisch ist, sondern sie bestimmen auch maßgeblich den Gestus der späteren Handlung, worin es niemandem aus der Personage gelingt, die eigenen Lebenspläne zu realisieren. Schon die nächste Szene zeigt, dass bereits der Plan der Attentäter nicht aufging, denn der Parteifunktionär saß überhaupt nicht in dem Auto, sondern zufällig vorbeifahrende Arbeiter aus einer nahen Fabrik, und die Filmgeschichte erzählt dann, wie Maciek trotz aller Zweifel den ursprünglichen Befehl doch noch zur Ausführung bringt. Stereotypengeleitete Strukturen gibt es auch, allerdings mehr in Gestalt symbolträchtiger Bilder. So am Filmbeginn, wo eine Idylle zu sehen ist: Eine Kapelle in der Frühlingssonne, begleitet von Lerchengesang und Okarina-Tönen. Nicht zu vergessen das kleine Mädchen mit Blumenstrauß. Und die Sequenz endet mit einer Einstellung, worin ein pflügender Bauer über die Felder geht. Das Geschehen wird also gerahmt durch allgemein bekannte, zeichenhaft gewordene Reizkonfigurationen, die ein Bild des Friedens heraufbeschwören. Dabei werden Gedächtnisinhalte beim Zuschauer angesprochen, die er schon vor dem Sehen dieses Films in einem kulturellen Lernprozess erworben hatte, etwa dadurch, dass ähnliche Formen bereits in früheren Darstellungen verwandt wurden, also eine intertex- 3.2 Zur Beschreibung von Filmsequenzen im Rahmen des PKS-Modells 73 tuelle Wiederholung erfuhren. In der Nachkriegszeit des mittleren Europa war etwa der pflügende Bauer massenhaft in Wochenschauen, auf Briefmarken, Plakaten u. ä. zu sehen. Die Szene bringt übrigens zum positiven Stereotyp des großen Friedens ein negatives in Opposition: Als auf den Flüchtigen geschossen wird, öffnet sich die Tür der Kapelle unter den Feuerstößen, so dass hinter dem Getöteten die Bildnisse der Mutter Gottes und des Gekreuzigten sichtbar werden. Durch diesen Kontrast der Stereotype wird nicht nur die Störung des Friedens akzentuiert, sondern die Mordaktion erscheint zugleich als Sakrileg. Die Bildstereotype, die der Zuschauer eher beiläufig rezipiert, sorgen so a priori für eine Bewertung des Geschehens. Gelangt eine stereotype Formgestalt nämlich zur Anwendung, so wird zusammen mit der bekannten Struktur auch ein damit verbundenes Wirkmoment in Gang gesetzt. Man spricht von normierten Unterprogrammen psychischen Verhaltens, die für eine bestimmte Rezipientengruppe zum Tragen kommen: Bestimmte Wahrnehmungsmuster, Denkweisen, Emotionen, Vorstellungen, Wertungen setzen ein. Beim Einsatz der bekannten Formen werden gleichsam bestimmte Register gezogen. Dabei ist interessant, dass diese stereotypen Strukturen aufgrund zu großer Häufung ihr Auffälligkeitsmaximum oft längst überschritten haben und infolge von Habituation, d. h. Gewöhnung, eher beiläufig und wieder unbewusst wahrgenommen werden. Man sieht sie und blickt durch sie gewissermaßen hindurch, weil sie einem selbstverständlich erscheinen. Während in der genannten Filmsequenz alle drei Strukturtypen eine jeweils deutliche Ausprägung erfahren und auch in einem Verhältnis zueinander stehen, das ihnen eine gleichmäßige Verteilung innerhalb der Komposition und damit eine ausgewogene Wirkungskraft verschafft, ergeben sich für vergleichbare Passagen anderer Arbeiten Dominanzverhältnisse der Strukturtypen, die stark davon abweichen. 3.2.3 BERUF: REPORTER Die Anfangssequenz von Michelangelo Antonionis PROFESSIONE: REPORTER / THE PASSENGER (BERUF: REPORTER, 1974) setzt sich aus einer Reihe kurzer Episoden zusammen, die einer ähnlichen „semantischen Geste“ (Mukařovský 1974a, 49) folgen und meist den perzeptionsgeleiteten Strukturen zugerechnet werden können, welche dort dominant wirksam sind: – Der Film beginnt damit, dass die Hauptfigur, ein englischer Journalist, mit dem Jeep in einer afrikanischen Ortschaft eintrifft. – Er betritt eine Werkstatt, in der sich mehrere einheimische Männer aufhalten, die jedoch einer nach dem anderen den Raum verlassen, weil sie offenbar einem Gespräch mit dem Fremden aus dem Wege gehen möchten. – Einer der Afrikaner, der doch sitzen bleibt, bittet mit einer Geste um eine Zigarette und erhält sie, verlässt dann aber ebenfalls den Raum. – Als der Ankömmling sich draußen einem Kaffee trinkenden Mann nähert, schnorrt dieser zwar gleichfalls etwas zu rauchen, ist darüber hinaus jedoch zu keinem Dialog bereit. 73 74 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen – Einen Jungen, der im Jeep Platz genommen hat, spricht der Europäer auf Englisch und Französisch an. Vage Handzeichen, mit denen seine Fragen nach der einzuschlagenden Richtung beantwortet werden, bringen den Fremden aber nur dahin, das Auto in die Einöde zu lenken, wo der Junge ihn dann verlässt. – Während der Journalist allein in der Wüste wartet, kommt auf einem Kamel ein Beduine vorbei, den er grüßt. Der Reiter tut indes, als nehme er den Fremden überhaupt nicht wahr und zieht wortlos vorbei. – Schließlich tritt aus einer höhlenartigen Behausung in der Nähe doch ein Mann, der den Wartenden in die Berge führt. Die Fragen des Europäers gelten dem Zielort, über den er freilich nur erfährt, dass es sich um eine Art Militärlager handele. Zu weiteren Auskünften ist der Wüstenbewohner nicht bereit. – Als die beiden ein Felsmassiv erklommen haben, sehen sie unten im Tal eine Karawane, was den Führer zum kommentarlosen Rückzug veranlasst. – Der Protagonist bleibt dann mit seinem Wagen im Wüstensand stecken, und er schreit seinen Zorn heraus, aber niemand kann ihn hier hören. – Nachdem er zu Fuß sein schäbiges Hotel erreicht hat, erwidert der Pförtner auf seine Anfrage, dass es Seife zum Duschen hier nicht gäbe. – Und als er bei seinem Zimmernachbarn anklopft, vernimmt er keine Reaktion, stellt aber beim Betreten des Raumes fest, dass der andere regungslos auf dem Bett liegt. – Er wälzt ihn herum und blickt ihm ins Gesicht, als wolle er mit ihm reden. Zu einem Gespräch kommt es aber nicht, denn der Zimmernachbar ist tot. Die Filmgeschichte erzählt dann, wie der Reporter sich den Pass des anderen, eines Waffenhändlers, welcher die Untergrundbewegung beliefert hat, aneignet und fälscht, um dessen Identität anzunehmen. Bereits in den allerersten Einstellungen verfolgt der Protagonist offenbar den Plan, sich der Untergrundbewegung des Landes zu nähern. Doch der Zuschauer wird über diese Absicht lange im Unklaren gelassen; erst als der Reporter in den Bergen seinen Führer nach dem Ziel des Marsches ausfragen will, beginnt sich das Handlungsziel des Helden für den Rezipienten umrisshaft herauszustellen, und das Geschehen gewinnt eine konzeptualisierbare Tendenz. In den einzelnen Episoden wird indes unablässig ein und dasselbe Grundmuster menschlichen Handelns variiert: Die nicht zustande kommende oder sogleich wieder versiegende Kommunikation. Kein einziger Handlungsabschnitt zeigt etwas anderes. Dass es der Regie darum geht, vor allem dies zum Ausdruck zu bringen, stellt sich freilich erst schrittweise heraus, und der Zuschauer muss es unter Anstrengung aller Wahrnehmungskraft aus den Abläufen herausfiltern. Mit wenigen Ausnahmen: Wenn der Kamelreiter den Europäer behandelt, als sei er Luft, verdichtet sich der Gestus der Kommunikationsverweigerung zu einem unübersehbaren Zeichen auf der Ebene von Konzeptualisierung oder Stereotypenbildung. Und am Ende der Exposition gerinnt das Unvermögen zur Kommunikation, das die Beziehungen der Figuren beherrscht, zu einem symbolischen Vorgang, der eine makabre Steigerung erfahren hat: Als sich der mögliche Gesprächspartner nämlich als tot erweist. 3.3 Beschreibungsaspekte und hypothetische Annahmen 75 3.3 Beschreibungsaspekte und hypothetische Annahmen 3.3 Beschreibungsaspekte und hypothetische Annahmen Im Erlebensprozess des Films wirken die Strukturangebote auf allen drei Ebenen zusammen. Sie bilden gleichsam ein Netz, das sich hinter den Vorgängen wie ein Röntgenbild abzeichnet und insgesamt die Verstehensprozesse und die Sinnproduktion des Ganzen bestimmt. Jede Ebene tut dies indes auf andere Art, denn mit dem mentalen Status ändern sich auch die Wirkungsweisen. Die Beschreibungen der Filmsequenzen zeigen, dass das dreistufige Modell kognitiver Invariantenbildung eine formalisierte Beschreibung filmischer Strukturen ermöglicht und zugleich den Zugang zu einer kognitionspsychologischen Darstellung öffnet, indem es sich im Rahmen der Psychologie interpretieren lässt und dabei differenzierte Erfahrungswerte zu bestimmten Wirkungsweisen fixierbar macht. Die drei Strukturtypen des PKS-Modells legen ja im Rezeptionsprozess variable Eigenschaften an den Tag, die potenziell empirisch erfassbar sind. So zeigen sie variable Eigenschaften im Hinblick auf: (1) Auffälligkeit, (2) Bewusstheitsgrad, (3) semantische Stabilität, (4) Erinnerungsfähigkeit / Gedächtnistyp, (5) Präinformation, (6) Lernverhalten und (7) Auftrittshäufigkeit / Wiederholung. Bei der Bestimmung der Merkmale kann man bisher nur auf grobe Erfahrungswerte zurückgreifen, allerdings auf solche, die einer empirischen Untersuchung entgegenkommen dürften. Hier seien die wichtigsten dieser Rezeptionsmerkmale im Einzelnen genauer erläutert, wobei die ihnen zugrunde liegenden psychologischen Bestimmungen jeweils in Form von Anmerkungen erscheinen müssen, damit ihre Darstellung, die meist auf heterogenen Wissensbeständen aufbaut, nicht den Fluss der Überlegungen aufhält: (1) Auffälligkeit Die filmischen Strukturtypen legen unterschiedliche Auffälligkeit an den Tag – perzeptionsgeleitete Strukturen meist die geringste, die konzeptgeleiteten in der Regel die stärkste, stereotypengeleitete eine variable, häufig jedoch verringerte Auffälligkeit.19 (2) Bewusstheitsgrad Die filmischen Strukturtypen erreichen einen verschieden hohen Bewusstheitsgrad. Oft sind nur die konzeptgeleiteten Strukturen bewusst, die perzeptionsgeleiteten bleiben vorbewusst, viele Stereotypen unbewusst. Um die Bewusstheitsgrade der Strukturen des PKS-Modells zu unterscheiden, sei hier zugleich auf drei analoge Bezeichnungen hingewiesen, die die anglo-amerikanische Fach- 19 Aus psychologischer Perspektive kann die Auffälligkeit im engen Zusammenhang mit dem mathematisch darstellbaren „Überraschungswert“ bzw. „Überraschungsbeitrag“ eines Reizangebotes gesehen werden (Frank 1965, 352–353). Es gibt entsprechende Experimente mit einfachem Stimulus-Material, bei denen sich zeigte, dass mit der quantitativen Zunahme des Reizmaterials zunächst eine Steigerung der Auffälligkeit eintritt, bis dieses ein Auffälligkeitsmaximum erreicht hat, von dem an jede weitere Zunahme für den Rezipienten wieder zu einer Verringerung der Auffälligkeit führt. 75 76 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen literatur dominieren: „preconscious“, „conscious“, „nonconscious“, etwa in Arbeitsdefinitionen von Farthing (2000, 268–270). Sie wurden bereits inhaltlich mit meinem Konzept abgeglichen, auch im Hinblick auf die Terminologie Freuds und deren Irritationen (vgl. Wuss 2009a, 41–42). (3) Semantische Stabilität Bei der Sinnvermittlung zeigen die filmischen Strukturtypen eine variable semantische Stabilität, die konzeptgeleiteten Strukturen die stärkste, die perzeptionsgeleiteten meist die schwächste. (4) Erinnerungsfähigkeit / Speicherung / Gedächtnistyp Die filmischen Strukturen erweisen sich hinsichtlich ihrer Erinnerungsfähigkeit als unterschiedlich, was zu der Annahme führt, dass sie auf variable Weise im Gedächtnis gespeichert sind und dabei verschiedene Gedächtnistypen in Anspruch nehmen: Die perzeptionsgeleiteten Strukturen sind offenbar nur dem Arbeitsgedächtnis gegeben, die konzeptualisierten werden hingegen im Langzeitgedächtnis gespeichert, die Stereotype im Tertiärgedächtnis, was dann eben jeweils Konsequenzen für die Zeitspanne ihrer Erinnerung hat.20 (5) Präinformation Die drei Strukturtypen setzen beim Rezipienten eine unterschiedliche Präinformation über das jeweilige Reizmuster voraus, perzeptionsgeleitete Strukturen die geringste, Stereotypen die höchste. 20 In verkürzter und schematisierter Form entspricht dies einer Charakterisierung in ein Primär-, Sekundär- und Tertiärgedächtnis, wie sie in manchen Darstellungen der Psychologie und Neurophysiologie der 1960er Jahre vorkam. Anhand von Analysen elementarer Reizangebote und deren Speicherung wurde das verwandte Paradigma eines Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnisses ausgearbeitet (vgl. Klaus 1967, 224). Inzwischen hat sich das Verständnis des menschlichen Gedächtnisses insofern stark verändert, als der Begriff des Kurzzeitgedächtnisses durch den eines Arbeitsgedächtnisses abgelöst wurde, das der Verarbeitung komplexerer Reizangebote über ein Mehrkomponentenmodell gerecht zu werden sucht. Das Working Memory gilt als vermittelnde Instanz mit begrenzter Speicherkapazität zwischen der Informationsaufnahme und dem Langzeitgedächtnis (Hagendorf 2006). Es wirkt bei der Informationsverarbeitung offenbar als „System von kontrollierter Aufmerksamkeit“ (Engle 2002). So dient es der „Selektion von Informationen“ unterschiedlicher Herkunft – d. h. aus Wahrnehmung, Langzeitgedächtnis oder Arbeitsprozess – mit dem Ziel einer effizienten Aufgabenbearbeitung (Cowan 1995) und erscheint damit immer mehr als emergente Eigenschaft unseres Bewusstseins (Postle 2006). Die neueren Gedächtnistheorien haben zwar keine greifbaren Argumente dafür geliefert, wie die Speicherung der unterschiedlichen filmischen Strukturen jeweils vonstattengeht, so dass man entsprechende Differenzierungen vornehmen könnte; sie widersprechen aber auch nicht der Beobachtung, dass man als Zuschauer die drei Strukturtypen verschieden lange in Erinnerung behält. 3.3 Beschreibungsaspekte und hypothetische Annahmen 77 (6) Lernverhalten Die mit den Strukturtypen verbundenen Phasen kognitiver Invariantenbildung folgen Regelhaftigkeiten, die Ähnlichkeiten mit unterschiedlichen Formen von Lernverhalten zeigen: Perzeptionsgeleitete filmische Strukturen weisen bei der Rezeption ein Verhalten auf, dessen prozedurale Schemata Analogien zu jenen frühen Adaptionsvorgängen erkennen lassen, welche als Autokorrelation, Wahrscheinlichkeitslernen, Wahrnehmungslernen oder inzidentale Lernprozesse beschrieben wurden und sich auf die intratextuelle Wiederholung invarianter / ähnlicher Reizkonfigurationen stützen, die periodisch im gleichen Werk erfolgt. Konzeptgeleitete filmische Strukturen zeigen bei der Rezeption ein Verhalten, das Analogien zu fortgeschrittenen Lernprozessen im Rahmen von freier Kombination oder Reflexion erkennen lässt, also Denkprozessen unterstellt ist, welche Abläufe umfassen, die mit der Wiedererkennung zeichenhafter Reizkonfigurationen einsetzen, welche sich bereits im Zuge der Konzeptualisierung von lebensweltlichem Reizmaterial formiert haben, um (nach der Identifizierung und Bedeutungsbelegung der Form) über Datenabgleich die Informationsverarbeitung gegenüber jenen medienspezifischen Veränderungen am Reizangebot fortzuführen, die die Möglichen Welten des Kinos bewirkt haben. Stereotypengeleitete filmische Strukturen nutzen bei der Rezeption sowohl Regelhaftigkeiten von Wahrscheinlichkeitslernen wie solche der freien Kombination. Sie greifen dabei auf weit gefächerte kulturelle Lernprozesse zurück, die prozedurale Schemata dieser beiden Lernformen einüben und damit zugleich eine Konventionalisierung bestimmter Reizkonfigurationen vorantreiben. Im Zusammenspiel von kognitiver und kommunikativer Invariantenbildung bilden sich dabei komplexe Zeichengebilde und Codes in einem Prozess heraus, der dem Ablaufschema der intertextuellen Wiederholung folgt, was bedeutet, dass er sowohl genealogisch auf ähnliche Formangebote zurückgeht, wie er im Weiteren deren Herausbildung fördert. Die sich dabei formierenden Gestaltphänomene mit invariantem Kern reproduzieren sich zum einen im Rahmen historischer Traditionslinien, zum anderen auch über Selbstähnlichkeit bei zeitnahen Reizangeboten im aktuellen kulturellen Repertoire, und sie können dort jeweils als transtextuelles Phänomen nachgewiesen werden. Zu diesem und dem folgenden Aspekt folgen aber noch ausführliche Erläuterungen. (7) Auftrittshäufigkeit / Nutzung des Wiederholungsprinzips Um wirksam werden zu können, sind die drei Strukturtypen auf eine jeweils unterschiedliche Häufigkeit ihres Auftretens angewiesen und nutzen daher auf verschiedene Weise das Wiederholungsprinzip, woraus sich auch ein erstes Signalement für die Zuordnung von Reizmustern ergibt: Perzeptionsgeleitete Strukturen etwa benötigen intratextuelle Wiederholung, also Pluralität im gleichen Werk, um erfasst werden zu können, denn sonst käme es einfach nicht zur perzeptiven Invariantenbildung. Konzeptgeleitete Strukturen kommen ohne Wiederholung aus; Singularität reicht aus, damit der Zuschauer sie bewusst aufzunehmen vermag. Stereotypen wiederum benötigen Pluralität innerhalb eines kulturellen Repertoires; sie stellen sich erst über intertextuelle Wiederholung her, und wenn man sie auffinden will, muss man auch das kulturelle Umfeld eines Werkes in Betracht ziehen. 77 78 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Eine früher publizierte tabellarische Darstellung der erwähnten Merkmale (vgl. Wuss 1993a) macht auf einige Veränderungen aufmerksam, die auch in interessanten KovarianzBeziehungen stehen: Nach einem vorsichtigem Anstieg während der perzeptionsgeleiteten Phase, welcher durch ihre Wiederholung befördert wird, erreichen die Reizangebote innerhalb der Konzeptualisierungsphase ihre Höchstwerte an Auffälligkeit, Bewusstheit und semantischer Stabilität, um dann im Stereotypenstadium diese Qualitäten wieder zu verlieren, nicht zuletzt aufgrund ihres zu häufigen Auftretens. Die aufscheinenden Regelhaftigkeiten bestätigen damit Beobachtungen der Praktiker, denen zufolge die Wiederholung einer bestimmten Formgestalt sowohl für eine größere Wirksamkeit im Erlebensprozess des Zuschauers sorgen kann, als auch zu einer Übersättigung und Ermüdung gegenüber dem Reizmaterial zu führen vermag. Auffällige und bewusst erlebte singuläre Formangebote mit klaren Bedeutungskonturen erscheinen hingegen per se als besonders wirkungsmächtig. Dabei stützen die erwähnten Regelhaftigkeiten eine psychologische Annahme, die sich an einem allgemeinen Lernbegriff orientiert. Diese Annahme ermöglicht es, die unterschiedlichen Lernphasen an ein signifikantes Merkmal zu binden, das sich vom Wiederholungsprinzip ableitet. Wenn sich im filmischen Material ohne Umschweife ermitteln lässt, ob eine Struktur dort intratextuelle Wiederholung, Singularität oder intertextuelle Wiederholung erfährt, so ergibt sich aus dieser Aussage eine immense Erleichterung für eine empirische Untersuchung. Dass die Veränderungen im kognitiven Status der filmischen Formangebote einem elementaren Evolutionsschema folgen, mag als weiteres Argument dafür dienen, dass hier auf Überlegungen aus der Frühzeit der Kognitiven Psychologie zurückgegriffen wird, die heute vielen als obsolet erscheinen mögen. Wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil Lernprozesse allgemeiner Art seit Langem nicht mehr als Forschungsschwerpunkt gelten. Als das PKS-Modell vor drei Jahrzehnten entworfen wurde, waren entsprechende Überlegungen noch im Umlauf, und im Rahmen der aktuellen Schema-Theorie ließen sie sich sogar aufwerten. Inzwischen hat sich in der Psychologie nach der Experteneinschätzung von Engelkamp und Zimmer (2006, 2ff.) aber die Tendenz herausgebildet, die Informationsverarbeitung des Menschen einseitig, nämlich vor allem im Dienste der Erkenntnisprozesse zu studieren. Dass diese Prozesse im Grunde verhaltensgeleitet und in einem komplexen Funktionszusammenhang mit der gesamten menschlichen Tätigkeit vonstattengehen, geriet dabei in den Hintergrund. Bei der Analyse von ästhetischen Prozessen muss dergleichen in die Sackgasse führen, und die Rückbesinnung auf einen allgemeinen Lernbegriff mag hilfreich dabei sein, wieder Anschluss an verhaltensorientierte Forschungen zu finden. Die Verknüpfung des schematisierten Lernprozesses mit dem epistemologischen Konzept der kognitiven Invariantenbildung scheint legitim. Der Begriff der Invarianz ermöglicht eine Darstellung der relevanten Beziehungen auf einer hohen Abstraktionsstufe, und in Anwendungsbereichen wie Mathematik und Physik hat er seine Nützlichkeit längst bewiesen. Ihn aus epistemologischer Perspektive zur Deskription und Markierung unterschiedlicher Phasen bei der Informationsverarbeitung des filmischen Reizmaterials zu verwenden, erlaubt es, zu ersten Hypothesen über ganz elementare Veränderungen zwischen den Aneignungsphasen vorzudringen, die die psychologischen Theorien einem versagen. Zugleich mag die hohe Abstraktionsstufe des Begriffs dabei behilflich sein, die 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 79 benannten Aspekte möglicher Filmwirkung wie Auffälligkeit, Bewusstheitsgrad, semantische Stabilität usw., die bislang von recht unterschiedlichen psychologischen Konzepten erschlossen wurden, unter dem Dach der Philosophie aufeinander zu beziehen und damit auch die Gefahr des Eklektizismus etwas zurückzudrängen. Übrigens hat sich der Invarianzbegriff auch als Ausgangspunkt für eine semiotische Modellierung des Films empfohlen. Alfred Toth (2010) unternahm den Versuch, das PKSModell in seiner narrationsbezogenen Variante zur Basis einer Semiotischen Filmtheorie zu erklären, weil sich in dessen triadischem Schema elementare semiotische Beziehungen entdecken lassen, die dem Invarianzprinzip folgen, was schon von Bense (1975; 1976) beschrieben wurde. Im Zusammenhang mit der Analyse des Films kann man daher notieren: Die Funktionsweisen der filmischen Strukturen auf den drei Ebenen von kognitiver Invariantenbildung, die genealogisch einander bedingen und damit eine präfigurierte Abfolge innerhalb eines Evolutionsschemas bilden, lassen sich hypothetisch drei unterschiedlichen Formen von Lernen zuordnen und über entsprechende Regelhaftigkeiten von Lernprozessen beschreiben. Dabei erweist sich besonders ein Signalement als nützlich, das sich aus der unterschiedlichen Inanspruchnahme des Wiederholungsprinzips ergibt, welches bei der Beschreibung der drei filmischen Strukturtypen jeweils zum Tragen kommt, hat man es doch hierbei mit ersten quantitativen Bestimmungen zu tun. Diese unterschiedlichen Lernprozesse sollen noch etwas genauer erläutert werden. 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 3.4.1 Perzeptionsgeleitete Strukturen Was die Funktionsweisen der perzeptionsgeleiteten Strukturen der Rezeption betrifft, so war ihnen mit dem Instrumentarium der klassischen Filmtheorie kaum beizukommen. Als sich die junge Kognitive Psychologie am Ende der 1960er Jahre den Prozessen des Lernens zuwandte, entdeckte man aber, dass auch die Kunstrezeption als Informationsverarbeitung beschrieben werden kann. Die intuitiv erfassten Unterschiede im Erleben lassen sich als Grundformen des Lernens interpretieren, wie sie seinerzeit über die so genannte Redundanztheorie des Lernens als Ausbildung unterschiedlicher Superzeichen beschrieben wurden und zu Schlagworten wie Autokorrelation, Wahrscheinlichkeitslernen, Wahrnehmungslernen, Implizites Lernen führten. Felix von Cube (1965, 158) notierte: „Vom theoretischen Standpunkt aus sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Superzeichenbildung denkbar: irreversible Superzeichenbildung aufgrund autokorrelativer Prozesse und reversible (oder reflexive) Superzeichenbildung aufgrund freier Kombinationen.“ Er erklärt die Differenz zwischen beiden: „Autokorrelationsprozesse beruhen auf der Wahrnehmung oder dem Erlernen der Wahrscheinlichkeiten und bedingten Wahrscheinlichkeiten eines Senders (der relativen und bedingten Häufig- 79 80 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen keiten eines Textes). […] Die Elemente werden entsprechend ihren auftretenden relativen und bedingten Häufigkeiten zu einem neuen Zeichen zusammengesetzt. Wir nennen eine solche durch Autokorrelation erzeugte Superzeichenbildung (in Anlehnung an Piaget, 1948) eine irreversible Superzeichenbildung, da sich die Autokorrelation ›zwangsläufig‹ nach dem Gesetz der gegebenen Wahrscheinlichkeiten oder Häufigkeiten vollzieht. Realisationen der irreversiblen Superzeichenbildung finden wir hauptsächlich im Bereich der Wahrnehmung. So ist z. B. die ›Gestalt‹ der Wahrnehmung nichts anderes als ein (durch Autokorrelation erzeugtes) irreversibles Superzeichen. Aber auch bei Lernprozessen, insbesondere bei inzidentalen Lernprozessen, spielt die irreversible Superzeichenbildung eine Rolle. Gerade das, was wir unbewusst lernen, wird vom ›Gesetz der Häufigkeit‹ bestimmt. Erst der Prozess des bewussten Denkens, der Prozess der Reflexion, befreit uns von der Zwangsläufigkeit der Autokorrelation“ (vgl. Cube 1965, 159f.; Hervorh. P. W.). Nach diesem Konzept werden invariante Reizkonfigurationen bei der irreversiblen Superzeichenbildung in zyklischen Folgen wirksam gemacht; sie erzeugen Superzeichen, die zwar als Gestalt wahrgenommen werden können und eine semantische Stabilisierung erfahren, ohne jedoch damit schon den Denkprozessen gegeben zu sein. Ähnlich wird der Begriff des Wahrscheinlichkeitslernens interpretiert, einer „Lernart, bei der die objektive Wahrscheinlichkeit von Ereignissen in stochastischen Folgen subjektiv abgeschätzt wird“ (Clauß 1976, 576). Im Verlauf des Lernprozesses, für den zyklische Wiederholungen eine wichtige Rolle spielen, würden sich konstante Prädikationswahrscheinlichkeiten einstellen, die sich den objektiven Auftrittswahrscheinlichkeiten annähern (577). Auch wenn diese Lernmodelle inzwischen als wissenschaftlich veraltet gelten, erweisen sich besonders die Analogien zwischen dem Rezeptionsprozess von perzeptionsgeleiteten filmischen Strukturen und Lernen über Autokorrelation bzw. Wahrscheinlichkeitslernen bis heute als sehr zwingend, nicht zuletzt, weil es in beiden Fällen explizit um die Wiederholung ähnlicher Reizangebote geht. Ähnliches gilt für das später hier noch genauer dargelegte Konzept von Gibson (1973, 330) zum „Wahrnehmungslernen“, eines Prozesses, welcher nach Gibson „fast immer […] auf Entdeckung von Invarianzen bei wechselnden Reizeingängen“ hinausläuft. Wenn Gibson Wahrnehmungslernen als fortlaufende Übung interpretiert, die Aufmerksamkeit gezielt auf jene Information zu richten, die im Reizangebot enthalten sei (1973, 329), dann rekurriert er zugleich auf einen Vorgang, in dem perzeptive Invarianten dank ihrer mehrfachen Wiederkehr aus dem Reizangebot extrahiert werden und dabei immer auffälliger und bewusster erscheinen. Ein neueres Konzept von Walter Perrig (1996) bemüht sich um eine Fundierung „impliziten Lernens“. Implizites Lernen liege vor, „wenn eine Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial eines Menschen hinsichtlich einer Situation feststellbar ist, die auf einmalige oder wiederholte Erfahrung dieser oder ähnlicher Situationen zurückgeht, ohne dass eine Einsicht, berichtbare Erkenntnis oder berichtbares Wissen des betreffenden Menschen die Begründung für die Verhaltensänderung liefern kann“ (Perrig 1996, 213). Auch gebe es „experimentelle Hinweise für die Annahme, dass wiederholte Reizverarbeitung beschleunigt, erleichtert oder verbessert wird“ (vgl. Perrig / Wippich / Perrig-Chiello 1993, 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 81 41). Da die Aneignung perzeptionsgeleiteter Filmstrukturen sich ebenfalls zunächst auf eine Weise vollzieht, dass sich beim Zuschauer noch kein berichtbares Wissen ausbildet, spricht auch dieses Konzept für deren Darstellung über iterative Strukturen. Allerdings impliziert seine Übernahme für Filmuntersuchungen auch psychophysiologische Annahmen wie die der Existenz eines „perzeptuellen Gedächtnisses“ (41), was sie dem Zugriff des Bewusstseins entrückt und eine Einarbeitung in den Modellansatz erschweren dürfte. Besonders deutlich wird das Wiederholungsprinzip im Konzept Ulric Neissers ([1976] 1979). Neisser hat in seinem frühen kognitiven Ansatz das Modell des Wahrnehmungszyklus entwickelt, welches die perzeptive Erkundung der Realität damit erklärt, dass sich erste ähnlich geartete Erfahrungen mit der Realität zu invarianten kognitiven Schemata formieren. Diese werden dann im weiteren Erkundungsprozess als antizipierende Schemata benutzt und dienen dabei als Wahrnehmungshypothesen, welche in der folgenden Wahrnehmungssituation daraufhin überprüft werden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad sie zutreffen, was dann bedeutet, dass sie entweder eine Bestätigung erfahren oder einer Korrektur bedürfen. Eine solche Überprüfung erfolgt immer wieder, eben zyklisch, und sie kann dahin führen, dass sich im Bewusstsein des Menschen jeweils eine bestimmte perzeptive Invariante immer mehr zu stabilisieren vermag, bis wichtige Merkmale einer Erscheinung dem Wahrnehmenden so bewusst werden, dass die Phase ihrer Konzeptualisierung einsetzt, in der sich die Bedeutung des Reizangebotes klärt. Neisser hat darauf hingewiesen, dass Schemata sich durch einen Prozess von Wahrnehmungslernen qualifizieren: „Informationsaufnahme ist zu Beginn grob und wenig erfolgreich, so wie es die Wahrnehmungserkundungen sind, mit denen der Zyklus beginnt. Nur durch Wahrnehmungslernen werden wir fähig, zunehmend feinere Aspekte der Umwelt wahrzunehmen. Die Schemata irgendeines Zeitpunktes sind das Produkt einer bestimmten Geschichte wie auch des ablaufenden Zyklus selbst“ (1979, 55). Der Autor teilt dabei die verbreitete Auffassung, der zufolge Wahrnehmung immer bedeutungsorientiert sei. Er formuliert, dass „in der normalen Umgebung […] die meisten wahrnehmbaren Objekte und Ereignisse bedeutungsvoll“ seien. „Sie […] gehören in einen größeren zusammenhängenden Kontext, haben eine Identität, die ihre einfachen physikalischen Eigenschaften überschreitet. Diese Bedeutungen kann man wahrnehmen und tut das auch“ (1979, 62; Hervorh. i. O.). Das Modell des Wahrnehmungszyklus hilft dabei, nicht nur den Prozesscharakter des Lernvorganges schlechthin als solchen zu erfassen, sondern diesen auch in seiner Strukturiertheit zu beschreiben, zumindest approximativ über die Wiederkehr von strukturellen Invarianten innerhalb der antizipierenden Schemata. Man kann sich der Wahrnehmung deskriptiv nähern, indem man nicht nur von der Beobachtung der jeweils konkreten Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Objekt und Wahrnehmungsresultat ausgeht, die dem Wahrnehmenden ja zunächst noch kaum bewusst ist, sondern von vornherein elementare Regelhaftigkeiten im Prozess aufsucht, nämlich die Wiederkehr ähnlicher Strukturangebote. Eine moderne Version des Wahrnehmungszyklus hat Dietrich Dörner (1999, 144) mit seinem HyPercept skizziert. Das Akronym steht für „hypothesengeleitete 81 82 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Perception“ und beruft sich explizit auf die nämliche „basale Erkennungsprozedur“, die schon Neisser vorschlug. Nach den erwähnten Konzepten formiert sich die perzeptive Invariante gleichsam in einem längeren Suchprozess, an dessen Anfang die antizipierenden Schemata nahezu unbewusst oder besser: vorbewusst aufgenommen werden, um dann über Wiederholung eine Stabilisierung zu erfahren, die sie für die nächste Wahrnehmungssituation konditioniert. Diese Konzepte haben dafür gesorgt, dass sich nach und nach ein Verständnis für Prozesse und Phänomene herausbilden konnte, deren Erlebnisweise durch unbewusste Informationsverarbeitung charakterisiert ist. Ungeachtet diverser Unterschiede zwischen den genannten Ansätzen zeichnet sich hinter den meisten von ihnen eine prozedurale Regelhaftigkeit bzw. ein Ablaufschema ab. Kernstück des Schemas und Erkennungszeichen für diesen Typ von Lernprozessen ist die zeitnah vonstattengehende zyklische Wiederholung ähnlicher Reizkonfigurationen. Das Modell des Wahrnehmungszyklus bzw. des HyPercept beschreibt auf anschauliche Weise die Teilprozesse der Rezeption, die als perzeptionsgeleitete Strukturen bezeichnet wurden, und es erleichtert zugleich eine Erklärung der Dynamik mentaler Aktivitäten innerhalb des Filmerlebens insgesamt, die sich in phasischen Veränderungen der kognitiven Prozesse äußert. 3.4.2 Konzeptgeleitete Strukturen Beobachtungen der filmischen Kommunikation zeigen, dass die konzeptgeleiteten Strukturen dort nicht nur schlechthin vorkommen, sondern eine wesentliche Rolle im Erlebensprozess spielen, vielleicht sogar die wichtigste, insofern sie die kunstsemantischen Prozesse maßgeblich stabilisieren und damit die gesamte Sinnvermittlung dominieren. Dieser Typ von Strukturangeboten, der auffällig ist, vom Zuschauer bewusst rezipiert und bei einmaligem Auftreten sogleich identifiziert werden kann, stellt sich offenbar unmittelbar den Denkprozessen. Er lässt sich unschwer an den verschiedensten Gestalt-Phänomenen nachweisen, die auf der Leinwand erscheinen, etwa an Gegenständen, Personen und Handlungen geringeren und größeren Umfangs. Obschon die Kognitive Psychologie Konzeptualisierungsprozesse generell zu einem Arbeitsschwerpunkt erhoben hat, liegen die genaueren Vorgänge bei der Informationsverarbeitung, welche zur Herausbildung und ästhetischen Rezeption derartiger filmischer Strukturen führen, leider weitgehend im Dunkeln, was sich u. a. daraus erklärt, dass ästhetische Rezeption der audiovisuellen Medien eine stärkere Hinwendung dieser Disziplin zu einer verhaltensorientierten kognitiven Untersuchung verlangt, welche dem ästhetischen Erleben mit seinen unbewussten Komponenten gerecht werden kann und zudem die Verarbeitung von visueller und auditiver Information jenseits der sprachlichen Kommunikation erfasst. Neuere Lehrbücher der Kognitiven Psychologie arbeiten zwar mit differenzierten Annahmen zu Prozessen des Erkennens und Verstehens, leiten diese aber vornehmlich von Analysen sprachlicher Äußerungen her, so dass sie gegenüber dem 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 83 Filmerleben nicht greifen. Vor diesem Hintergrund erscheint es daher sinnvoll, bei der Filmuntersuchung neben zentralen Konstrukten aus der neueren Kognitiven Psychologie auch manche älteren Vorstellungen heuristisch zu nutzen. Einige Aussagen zur Wirkung von Filmstrukturen ließen sich bereits auf der Basis von Bewusstseins- und Lernmodellen der 1960er Jahre machen. So spielte in der Redundanztheorie des Lernens dieser Periode der semiotisch intendierte Begriff der Superzeichenbildung oder Superierung eine wichtige Rolle, der auch heute noch im analytischen Umgang mit den konzeptgeleiteten Strukturen hilfreich sein dürfte. Felix von Cube schrieb: „Vom theoretischen Standpunkt aus sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Superzeichenbildung denkbar: irreversible Superzeichenbildung aufgrund autokorrelativer Prozesse und reversible (oder reflexive) Superzeichenbildung aufgrund freier Kombination“ (1965, 158). Ebenso wie die Hinweise zur irreversiblen Superzeichenbildung nützlich sein mögen, die Struktur und Funktion der perzeptionsgeleiteten filmischen Strukturen zu erhellen, dürften dies auch die Annahmen zur reversiblen Superzeichenbildung hinsichtlich der konzeptgeleiten Strukturen tun.21Im Hinblick auf die Informationsverarbeitungsprozesse ermöglichte diese Unterscheidung eine deutliche Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Phasen derselben und machte auch eine Abfolge nach bestimmter Ordnung hin markierbar, nämlich in Richtung zunehmender Stabilität und Reversibilität. Für die Medienwissenschaft erleichtert dies ein Verständnis jener filmischen Reizangebote, die als reversible Superzeichen die Eigenschaft gewonnen haben, innerhalb der mentalen Prozesse gleichsam frei konvertierbar zu sein, geht es doch bei der Ermittlung konzeptgeleiteter Strukturen genau um solche zeichenhaft gewordenen Reizkonfigurationen, die mit stabilisierten Bedeutungen und Sinnkomplexen verbunden sind. So fungieren die benannten konzeptgeleiteten Strukturen im Filmerleben etwa unter allgemeinen psychologischen Bedingungen des Erkennens; auf der Leinwand dargestellte Gegenstände, Personen und Handlungen werden vom Zuschauer als solche erkannt. In einem Lehrbucheintrag neueren Datums steht: „Die Wahrnehmung bedeutungsvoller Reize nennen wir Erkennen. […] Während die Form eines Gegenstands sich im Prinzip aus der Analyse des Reizes ergibt, ist die Bedeutung des Reizes etwas, das mit der Form assoziiert ist. Die Bedeutung selbst kann nicht aus der 21 Der Prozess der reversiblen Superzeichenbildung (der durch Denken erlangten Einsicht) besteht nach von Cube darin, „dass die bestehende Wahrscheinlichkeitsverteilung der Elemente des subjektiven Schemas aufgehoben und eine neue Wahrscheinlichkeitsverteilung gesetzt wird (z. B. bei der Aufstellung von Hypothesen). Die neue Wahrscheinlichkeitsverteilung kann sodann zur Basis weiterer Kombinationen und Superzeichen werden. Da der Akt der Setzung neuer Wahrscheinlichkeiten als ein reflexiver Akt prinzipiell willkürlich ist, erfolgt die Superzeichenbildung nicht zwangsläufig, sondern reversibel“ (1965, 160). Von Cubes Unterscheidung der Superzeichenbildung basiert auf dem Konzept Jean Piagets, in dem die Idee der Reversibilität eine Schlüsselstellung einnimmt. Nach Ansicht seines Interpreten Furth (1973, 368) liegt in der Reversibilität die Möglichkeit, „einen bestimmten inneren Akt auch in umgekehrter Richtung zu vollziehen.“ 83 84 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen Reizanalyse gewonnen werden. Das Erkennen wird deshalb in psychologischen Modellen als zweistufiger Prozess dargestellt. Zuerst wird der Reiz analysiert. Das Ergebnis ist eine Reizbeschreibung. Sie wird mit gespeicherten Formen verglichen. Ist der Vergleich positiv, so wird das Bedeutungswissen, das mit der gespeicherten Form assoziiert ist, aktiviert. […] Dieses Bedeutungswissen zu einer Reizform wird als Konzept bezeichnet“ (Engelkamp / Zimmer 2006, 13; Hervorh. i. O.). Engelkamp und Zimmer formulieren als zentrale psychologische Annahme, dass „Objekterkennen zwei Stufen“ umfasst: „die Identifikation der Form (Bildmarke) und die Aktivation einer zu der betreffenden Form gehörenden Bedeutung (Konzept)“ (2006, 137).22 Die Aktivitäten des Zuschauers auf der Stufe der perzeptionsgeleiteten filmischen Strukturen lassen sich mithin als Prozess interpretieren, in dessen Verlauf sich durch mehrfach wiederholte Invariantenextraktion innerhalb eines gewissen Zeitabschnitts eben jene Bildmarke herausbildet, die bei hinreichendem Stabilisierungsgrad dann eine Bedeutung, ein Konzept affiziert. Für konzeptgeleitete filmische Strukturen geschieht die Objekterkennung hingegen sogleich, weil die Identifikation der Form über die Bildmarke gleichsam automatisch erfolgt. Für sie gilt, was für Konzepte ganz allgemein zutrifft: Ihre Beziehungen untereinander sichern das Verstehen größerer Zusammenhänge. Konzeptgeleitete filmische Strukturen ermöglichen einen freien mentalen Umgang mit dem Bedeutungswissen zu ihrem Formangebot, also geistige Reflexion, Denkprozesse verschiedenster Art, darunter Inferenzen und Problemlösung. Sie benötigen keine Wiederholung, sondern können als singuläre Erscheinungen wirkungsmächtig zum Einsatz gebracht werden. Das Bedeutungswissen des Zuschauers kann dabei unterschiedliche Quellen haben. So kann dieser im Situationsmodell, das ein Filmwerk konstruiert, Gegenstände, Figuren und ganze Vorgänge entdecken, über die er in einer bisherigen Auseinandersetzung mit der realen Lebenswelt hinreichend Präinformation gespeichert hat, um sie wiederzuerkennen und mit bestimmten Bedeutungen zu belegen. Der Rezipient kann die auf der Leinwand dargestellten Phänomene in der Regel bestimmten Objektklassen zuordnen und sie damit hinreichend identifizieren, und dies bei deren einmaligem Auftreten im Prima-vista-Verfahren. Ebenso kann das filmische Situationsmodell aber auch Modifikationen solcher realer Erscheinungen offerieren, die in der Lebensrealität nicht vorkommen, aber von der menschlichen Kultur hervorgebracht wurden, etwa bestimmte Phantasie-Landschaften, Phantasie-Figuren oder -Handlungen. Solche Modifikationen können sehr exotisch sein, 22 „Dabei wird mit Bezug auf die Physiologie des Sehens angenommen, dass zunächst der proximale Reiz (die Vorgänge auf der Netzhaut) analysiert wird. Diese Analyse resultiert in einer Reizbeschreibung, die bestimmte Aspekte der Form des Reizes abbildet. Diese Reizbeschreibung wird mit entsprechenden Formbeschreibungen im Gedächtnis abgeglichen. Wir nennen diese Beschreibung Bildmarke. Ist eine Übereinstimmung gefunden, ist die Form des Reizes identifiziert. Dies ist die erste Stufe. Zugleich bewirkt die Aktivierung der Form im Gedächtnis, dass assoziiertes funktionales Wissen aktiviert wird, das der begrifflichen Bedeutung entspricht. Wir sprechen hier von Konzepten. Dies ist die zweite Stufe. Der Begriff ermöglicht dann den Zugriff auf den Namen des Reizes“ (Engelkamp / Zimmer 2006, 108; Hervorh. i. O.). 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 85 müssen es aber nicht. Im Grunde genommen sind die meisten Filmgenres in der Lage, deutliche Modifikationen realer Lebenserscheinungen hervorzubringen, und bei genauerem Hinsehen sind alle gestalterischen Mittel des Films zu solchen Abwandlungen fähig. Peter Ohler (1994, 33) hat daher von Dekodierungsprozessen des Filmzuschauers in seinem Modell gesprochen, das von unterschiedlichen Wissensbeständen im Zuschauerbewusstsein ausgeht und dabei eine Differenzierung zwischen Welt-Wissen, narrativem Wissen und Wissen um filmische Darbietungsformen vornimmt. Das Ziel der Modellierung konzeptgeleiteter filmischer Strukturen beschränkt sich nicht darauf, bestimmten Reizmustern einen bestimmten kognitiven Status zuzuordnen, sondern die komplizierten Prozesse der Sinnproduktion und -vermittlung analytisch zu erschließen. Es geht also nicht allein darum, Prozesse des Erkennens im Sinne von Wiedererkennen zu erfassen, sondern einen Zugang zu jenen Aktivitäten des Verstehens zu erhalten, die sich durch die Spezifik des Mediums bei der Kommunikation ergeben, ebenso durch die Besonderheit der singulären künstlerischen Darstellung, die sich über die Komposition eines jeden Werkes ergibt. Die Wiedererkennung realer Reizkonfigurationen durch den Filmzuschauer ist zugleich mit einem Datenabgleich verbunden, der auf eine Neubewertung des Reizangebotes unter den Rahmenbedingungen des jeweiligen Situationsmodells hinausläuft, welches ein Werk erzeugt. 3.4.3 Stereotypengeleitete Strukturen Der hier genutzte Terminus der stereotypengeleiteten filmischen Struktur lehnt sich an den medienästhetischen Begriff des filmischen Stereotyps an, den Jörg Schweinitz (1987; 1991; 2002: 2006) entwickelt hat, und er wird wie dieser nicht pejorativ, sondern rein deskriptiv und wertneutral verwendet. Von Schweinitz wird auch die Bestimmung übernommen, der zufolge filmische Stereotype Gestaltphänomene sind, die „in einer größeren Gruppe von Filmen wesentlich invariant bleiben“ (1987, 121). Im Kontext des PKS-Modells bezeichnet der Begriff das Resultat einer fortgeschrittenen Phase von Lernen, Informationsverarbeitung bzw. kognitiver Schemabildung, wie sie im Rahmen der kulturellen Kommunikation erreicht werden kann und zur Herausbildung größerer Informationseinheiten mit entsprechenden Redundanzeffekten führt. Dieser komplexe kulturelle Lernprozess setzt eine Konzeptualisierung von Reizkonfigurationen voraus, die oft deutlich als Formzusammenhänge hervortreten. Er lässt sich auch als Konventionalisierung bestimmter Formangebote auffassen, was den normierten Umgang mit diesen Reizmustern und deren semantischer bzw. kognitiver Funktion einschließt. Wie beim Zustandekommen anderer kultureller Stereotype kreuzen sich bei der Herausbildung der filmischen zwei unterschiedliche Invarianzleistungen – formiert sich doch im Zusammenspiel mit der kognitiven Invariante eine „Invariante der Kommunikation“, um hier einen Terminus zu übernehmen, der im Rahmen der Sprach-Semantik (Lorenz / Wotjak 1977, 15) entwickelt wurde, um die intersubjektive Stabilisierung von Bedeutungen 85 86 3 Kognitionspsychologische Beschreibung filmischer Strukturen zu erfassen. Einerseits steht hinter dem filmischen Stereotyp also eine kognitive Invariante, die das Individuum bei der Konzeptualisierung eines Objekts gewonnen hat, andererseits wird diese Invarianzleistung intersubjektiv wirksam gemacht, und zwar in einem verzweigten und kaum Einsicht gewährenden soziokulturellen Aneignungsprozess, in dem sich gruppenspezifische Ausprägungen dieser kognitiven Invarianten herausbilden. Dabei kommt es zur Generierung von zeichenhaften Gebilden und deren Codes, welche zu einer Verhaltenssteuerung führen, die nicht allein auf der Ebene der kognitiven Funktion erfolgt, sondern auch Unterprogramme normierten psychischen Verhaltens auf den Ebenen von Emotionen, Vorstellungen und Wertungen einschließt. Anhand der filmischen Stereotype wird deutlich erkennbar, was eigentlich ebenfalls für die andern beiden Strukturtypen gilt, dort aber weniger ins Auge fällt und darum bei der Analyse zunächst vernachlässigt werden kann: Dass der anscheinend subjektive Wahrnehmungsprozess des Menschen, der die filmische Kommunikation beherrscht, nicht nur eine individuelle und biologisch determinierte Komponente umfasst, sondern auch eine interpsychische, interpersonale, gesellschaftliche. Diese lässt auf jeder Stufe der Informationsverarbeitung jene spezifischen Wahrnehmungs- und Erkennungscodes wirksam werden, die Eco (1972b, 246) im Zusammenhang mit ikonischen Zeichensystemen erwähnt. Wahrnehmungscodes auf der Stufe der perzeptiven Strukturen dürften sich ebenso wie die Erkennungscodes auf der der Konzeptualisierung erst im Rahmen einer Rückkopplung des Einzelnen zur Kultur einer größeren Gemeinschaft etablieren können. Dies hängt zweifellos mit dem Charakter der menschlichen Tätigkeit zusammen, über die A. N. Leontjev in Anlehnung an Wygotski schreibt: „Die höheren spezifischen menschlichen psychischen Prozesse können nur in der Wechselwirkung von Mensch zu Mensch entstehen, das heißt als interpsychische Prozesse, und erst dann werden sie vom Individuum selbstständig nachvollzogen. Dabei verlieren einige von ihnen im Weiteren ihre anfängliche äußere Form und verwandeln sich in intrapsychische Prozesse“ (1979, 97; Hervorh. i. O.). Es ist also eigene und gemeinschaftliche Erfahrung im Spiel, wenn man eine Erscheinung, die man als Rezipient im Film zu sehen bekommt, zielführend wahrnehmen und erkennen kann. Erst auf dieser Basis kann sich Bedeutung etablieren und Kointention zwischen Autor und Rezipient des Films herstellen. Dieser gesellschaftliche Prozess der Bildung von intersubjektiven Codes ist jedoch für die Wahrnehmungs- und Konzeptualisierungsebene schwer zu objektivieren, weshalb bei der Skizzierung dieser Phasen davon abgesehen wurde, explizit auf die Rückkopplung des Rezipientenverhaltens zum kulturellen Sozialisationsprozess hinzuweisen. Bei der Stereotypenstruktur ist jedoch aufgrund ihres normierten kommunikativen Gebrauchs die Bindung an einen gesellschaftlichen Prozess ganz offensichtlich. Stereotypenbildung ist nicht ohne soziokulturelle Umweltbedingungen denkbar, und sie ist mit diesen in umfassendere historische Entwicklungen einbezogen. Ohne Berücksichtigung ihrer sozial- und kulturgeschichtlichen Kontexte sind filmische Stereotype einfach nicht zuverlässig wissenschaftlich zu beurteilen. 3.4 Hypothesen zu Aneignungsprozessen filmischer Strukturen 87 Diese Aussage hat beträchtliche Konsequenzen für die Bewertung des kognitiven Lernmodells: Letzteres kann die vielschichtigen und verzweigten kulturellen Lernprozesse, die die Herausbildung kommunikativer Invarianten bewirken dürften, schon darum nicht erfassen, weil diese in Bereichen stattfinden, die weit über die Veränderung des individuellen Gedächtnisbesitzes hinausgehen und eher von Anthropologie, Kulturwissenschaft oder Sozialpsychologie untersucht werden. Damit sind sie über ein wissenschaftliches Instrumentarium zugänglich zu machen, das mit dem der Kognitiven Psychologie kaum kompatibel ist. Die praktischen Erfahrungen bei der empirischen Erfassung von filmischen Stereotypen zeigen dennoch, dass zwar die detaillierten Prozesse ihrer Aneignung weiterhin im Dunkeln bleiben müssen, wohl aber deren Resultate deutlich auf der Hand liegen und oft leicht erkannt und beschrieben werden können. Häufig ist ja mühelos auszumachen, dass im Film Figuren auftreten, die man in ähnlicher Weise schon in anderen Filmen gesehen hat, dass diese in Handlungen agieren, die man aus früheren Filmerlebnissen kennt, oft verbunden mit einem materiellen Umfeld, d. h. einer landschaftlichen Umgebung oder bestimmten Gegenständen (wie etwa dem hier schon mehrfach beschriebenen Revolver). Die intertextuelle Wiederkehr von Figuren, Vorgängen, Bildern, Tönen lässt sich meist zweifelsfrei als Resultat filmischer Stereotypenbildung bestimmen. Beobachtung und Vergleich der vorhandenen Formangebote legen dergleichen nahe, ohne dass man die Gründe für das Zustandekommen einer kulturellen Häufung dieser Formen kennen muss. In diese vergleichenden Beobachtungen von ähnlichen Gestaltphänomenen lassen sich durchaus solche sinnvoll einbeziehen, die sich jenseits des Films herausgebildet haben, etwa in der Malerei oder der Theaterbühne. Intertextuelle Wiederholung muss nicht an den Grenzen des Mediums halt machen, sondern kann sich ebenso gut in den kulturellen Nachbarbereichen realisieren. Die Herausbildung von konkreten Stereotypenstrukturen erweist sich nichtsdestoweniger auch als schwer voraussehbar. Betrachtet man den Werdegang bestimmter filmischer Gestaltformen im Hinblick darauf, ob sie von der Stufe der perzeptionsgeleiteten bis zur stereotypengeleiteten Struktur eine zielführende Entwicklung durchmachen, so erweist sich, dass nur ein sehr geringer Anteil der konzeptualisierten Reizangebote zur Weiterverwendung auf der Stereotypenebene gelangt. In der Regel werden die meisten Reizmuster wieder unauffällig, verblassen, lösen sich gleichsam auf. Sie teilen diese Eigenheit mit Gegenständen des Alltagslebens, die bekanntlich aufgrund von Habituation vom Menschen oft nicht mehr wahrgenommen werden. Nur sehr wenige Gestaltbeziehungen der Kunst dürften langzeitig Konzepte im kulturellen Prozess so repräsentieren, dass sich eine Reaktivierung ihres kommunikativen Potenzials ereignet. Letzteres geschieht dann häufig nicht mehr in der gleichen Formgestalt, sondern in reduzierter Weise, nämlich beschränkt auf bestimmte invariante Reizkonfigurationen, die auch im Verbund mit anderen invarianten Mustern erscheinen können. Etwa bei ästhetischen Phänomenen wie Genres oder Gruppenstilen, wo sich bestimmte Kombinationen von Teilstrukturen zu umfangreichen invarianten Clustern formieren, welche sich dann in vielen Werken wiederholen können. 87