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Marcus Stiglegger Hrsg.
Handbuch Filmgenre
Geschichte Ästhetik Theorie
Handbuch Filmgenre
Marcus Stiglegger
Hrsg.
Handbuch Filmgenre
Geschichte Ästhetik Theorie
mit 93 Abbildungen
Hrsg. Marcus Stiglegger Berlin Film Institut DEKRA Hochschule für Medien Berlin, Deutschland
Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Sofia Glasl Dieses Buchprojekt entstand mit freundlicher Unterstützung des Berlin Film Instituts an der DEKRA | Hochschule für Medien Berlin
ISBN 978-3-658-09016-6
ISBN 978-3-658-09017-3 (eBook)
ISBN 978-3-658-09056-2 (print and electronic bundle)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral.
Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Teil I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Genrediskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Marcus Stiglegger Am Anfang war das Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Klaus Kreimeier Teil II Definition & Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Gattungen und Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Florian Mundhenke Formen und Funktionen von Genrebenennungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Katja Hettich Marginale Genres und Grenzphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Nils Bothmann Teil III Film-Genre-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Genredramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Lars R. Krautschick Filmgenres und Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Rainer Winter Genre und Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Martin Urschel Genre- und Autorentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ivo Ritzer Genre und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Irina Gradinari
V
VI
Inhaltsverzeichnis
Filmgenres und Zielgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dirk Blothner
Genres in der postkolonialen Theorie/Postkoloniale Genrekritik . . . . . 215 Peter W. Schulze
Hybride Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Florian Mundhenke
Genre-Spiele zwischen Leinwand und Video Games . . . . . . . . . . . . . . . 249 Andreas Rauscher
Genrespezifika der Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Peter Moormann
Transtextuelle Beziehungen zwischen Genrefilmen . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sofia Glasl
Teil IV Historische & lokale Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Genregeschichte im Hollywoodkino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Anja Peltzer
Genres in Ostasien (Japan, Südkorea, Hongkong/China) . . . . . . . . . . . 321 Stefan Borsos
Genres im indischen Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Ulrike Mothes
Genres in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Peter W. Schulze
Genres in Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Olaf Mürer und Mareike Sera
Genres in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Irina Gradinari
Genres im deutschen Nachkriegskino (19451970) . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Kai Naumann
Teil V Filmgenres in Einzelstudien. Motive, Standardsituationen und Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Der Western . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Thomas Klein
Der Kriminalfilm: Polizei/Detektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Hendrik Buhl
Inhaltsverzeichnis
VII
Der Gangsterfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Boris Klemkow
Thriller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Wieland Schwanebeck
Science-Fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Lars Schmeink und Simon Spiegel
Der Fantasyfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Vera Cuntz-Leng
Der Horrorfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Peter Podrez
Die Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Simon Born
Das Melodram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Hermann Kappelhoff und Jan-Hendrik Bakels
Das Musical . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Cornelia Tröger
Der Musikfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Laura Niebling
Der Abenteuerfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Hans Jürgen Wulff, Lioba Schlösser und Marcus Stiglegger
Der Kriegsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Marcus Stiglegger
Erotischer und Pornographischer Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Marcus S. Kleiner, Sarah Reininghaus und Marcus Stiglegger
Autorenverzeichnis
Jan-Hendrik Bakels Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Dirk Blothner Universität zu Köln, Köln, Deutschland Simon Born Universität Siegen, Mainz, Deutschland Stefan Borsos Institüt für Medienwissenschaft, Ruhr Universität Bochum, Bochum, Deutschland Nils Bothmann Köln, Deutschland Hendrik Buhl Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur, Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Vera Cuntz-Leng Institut für Medienwissenschaft, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Sofia Glasl München, Deutschland Irina Gradinari Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften, Institut für Neuere Deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Katja Hettich Romanisches Seminar, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Hermann Kappelhoff Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Thomas Klein Institut für Medien und Kommunikation, University Hamburg, Berlin, Deutschland Marcus S. Kleiner SRH Hochschule der populären Künste (hdpk), Berlin, Deutschland Boris Klemkow Neunkirchen, Deutschland Lars R. Krautschick Institut für Theaterwissenschaft, LMU München, München, Deutschland Klaus Kreimeier Freier Wissenschaftler, Berlin, Deutschland
IX
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Autorenverzeichnis
Peter Moormann Institut für Musikpädagogik, Universität zu Köln, Köln, Deutschland
Ulrike Mothes Fakultät Gestaltung, Visuelle Kommunikation Bauhaus-Universität Weimar, Weimar, Deutschland
Florian Mundhenke Institut für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
Olaf Mürer Aachen, Deutschland
Kai Naumann Siegen, Deutschland
Laura Niebling Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland
Anja Peltzer Soziologie, Universität Trier, Trier, Deutschland
Peter Podrez Institut für Theater- und Medienwissenschaft, Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland
Andreas Rauscher Medienwissenschaft, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
Sarah Reininghaus Fakultät Kulturwissenschaften, TU Dortmund, Dortmund, Deutschland
Ivo Ritzer Medienwissenschaft, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland
Lioba Schlösser Berlin Film Institut DEKRA | Hochschule für Medien, Berlin, Deutschland
Lars Schmeink Institut für Kultur- und Medienmanagement, Hamburg, Deutschland
Peter W. Schulze Portugiesisch-Brasilianisches Institut/Romanisches Seminar, Universität zu Köln, Köln, Deutschland
Wieland Schwanebeck Institut für Anglistik und Amerikanistik, TU Dresden, Dresden, Deutschland
Mareike Sera Aachen, Deutschland
Simon Spiegel Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Marcus Stiglegger Berlin Film Institut, DEKRA Hochschule für Medien, Berlin, Deutschland
Cornelia Tröger Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Martin Urschel St Johns College, University of Oxford, Oxford, Großbritannien
Rainer Winter Medien- und Kommunikationswissenschaft, Alpen Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich
Hans Jürgen Wulff Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Deutschland
Teil I Einleitung
Genrediskurs
Zur Aktualität des Genrebegriffs in der Filmwissenschaft
Marcus Stiglegger
Stated simply, genre movies are those commercial feature films which, through repetition and variation, tell familiar stories with familiar characters in familiar situations. They also encourage expectations and experiences similar to those of similar films we have already seen. (Barry Keith Grant 2003, S. xv)
Inhalt
1 Was ist ein Genre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 Genresynkretismen und Hybride . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3 Metagenres als Orientierungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4 Genreevolution und -transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 5 Genreforschung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 6 Zum vorliegenden Handbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Zusammenfassung
Im Kontext der gegenwärtigen globalen kinematografischen Entwicklungsströmungen, Transformationen und Hybriditäten muss ein vermeintlich verlässlicher Faktor aus der klassischen Phase der Filmgeschichte (bis 1960), das Genrekino, einer Re-Evaluation unterzogen werden. Sind klare Genredefinitionen noch sinnvoll und haltbar? Ist der Begriff des Genres in diesem Kontext noch produktiv? Die vorliegende Einleitung des Handbuches Filmgenres wird diese Probleme ansprechen, die Geschichte der Genretheorie resümieren sowie eine Einschätzung zur Aktualität des Genrebegriffs geben, der ungeachtet der sehr unterschiedlichen kritischen Perspektiven in diesem Band dennoch im Zentrum stehen wird: vom Ordnungsbegriff zum Diskursmodus.
M. Stiglegger (*) Berlin Film Institut, DEKRA Hochschule für Medien, Berlin, Deutschland E-Mail: Marcus.Stiglegger@t-online.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_37
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M. Stiglegger
Schlüsselwörter Genrediskurs · Filmgeschichte · Filmtheorie · Transformation · Hybridität
1 Was ist ein Genre?
Genre gehört zu jenen Verständigungsbegriffen, deren jeweilige Definition am unmittelbarsten mit der populären Wahrnehmung vom Film verbunden scheint. Doch dieses landläufige Verständnis von einem vermeintlichen Kanon der Filmgenres macht die wissenschaftliche Analyse des Phänomens umso problematischer. Unter einem Filmgenre wird zunächst einmal eine Gruppe von Filmen verstanden, die unter einem spezifischen Aspekt Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Gemeinsamkeiten, Genrekonventionen, können in einer bestimmten Erzählform, einer speziellen Grundstimmung, hinsichtlich des Handlungssujets oder in historischen oder räumlichen Bezügen bestehen (Stiglegger 2017, S. 139146).
Zunächst spielte die Differenzierung von Filmgenres in der Frühphase des Hollywood-Studiosystems eine Rolle: Man drehte Filme nach bestimmten Schemata, mit bestimmten Stars und an den selben Drehorten. Dieses Vorgehen befriedigte die wachsende Nachfrage des Stummfilmpublikums und optimierte die Dreharbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht. So entstanden die frühen Genres teilweise aus logistischer Notwendigkeit, und zwar nicht nur in den USA, sondern weltweit und insbesondere auch im Kino der Weimarer Zeit (Hickethier 2002, S. 63 ff.; Grant 2003, S. XVXVI). Genrefilme seien „Konfektionskino“ (Arnheim 1974, S. 327): Filme, die sich das Publikum wünscht, die es verführen und befriedigen sollen; Filme, die sich bewährter Schemata bedienen und diese mit leichten Variationen reproduzieren. Genrefilme helfen dem Publikum, aus einer tristen Wirklichkeit in die Traumsphäre der Leinwand zu flüchten (Schweinitz 1994).
In den USA, wo sich früh ein konventionalisiertes Studiosystem verankerte, etablierten sich um 1930 und somit die Einführung des Tonfilms einige Primärgenres, die zum einen sozialen Entwicklungen Rechnung trugen (Gangsterfilm), die Schauerfantastik ins Kino holten (Universal-Horrorfilme) sowie den größtmöglichen Nutzen aus der Verwendung synchronen Tons zogen (Musicals, Revuefilme). Auch Western und Komödien waren fest etabliert. In Deutschland drehte man heimatorientierte Bergfilme statt Western und erschuf damit ein eigenständiges Genre, das rückblickend zwischen Abenteuerfilm, Melodram und Heimatfilm anzusiedeln ist. In jenen Jahren um 1930 unternahmen Filmjournalisten wie Siegfried Kracauer oder Rudolf Arnheim bereits erste Versuche, diese konfektionalisierte Filmproduktion zu reflektieren, und letztlich säten sie damit auch einen lange gehegten Vorbehalt gegen das Genrekino: nämlich unoriginell und trivial zu sein. Ebenfalls lässt sich bereits früh feststellen, dass eine deutliche Abgrenzung zwischen filmischen Gattungen und Filmgenres besteht. Gattungen bezeichnen die filmische Form: Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm, Kurzfilm, Kulturfilm, Lehrfilm, Animationsfilm, Propagandafilm und Industriefilm. Diese Gattungen unterscheiden sich bereits grundlegend in der Art des
Genrediskurs
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vorfilmischen Materials (real oder inszeniert), ihrer Intention (Unterhaltung oder Information) und natürlich ihrer Laufzeit und des Formates. Im Unterschied sind die Genredefinitionen erheblich inhaltlicher motiviert. Andere Gruppierungsmerkmale von Filmen wie Stumm- oder Tonfilm, Schwarzweiß- oder Farbfilm, 2D- oder 3D-Film bleiben technische Spezifikationen jenseits von Genre oder Gattung.
Eine kritische und theoretische Reflexion von Filmgenres setzte indes erst spät ein. Erste Versuche unternahmen André Bazin in Frankreich und Robert Warshow in den USA Mitte der 1950er-Jahre, wobei sie sich auf die genuin amerikanischen Genres des Westerns und des Gangsterfilms konzentrierten. In Deutschland sprach Rudolf Arnheim 1932 in Film als Kunst noch abwertend vom „Konfektionskino“ (1974, S. 327). Lange galt der singuläre, genreunabhängige Autorenfilm als Gegenmodell und Königsdiziplin des Filmschaffens. Erst die Autoren der Cahiers du cinéma entdeckten den amerikanischen Genre-auteur und bestätigen die Virtuosität der so genannten Professionals, die im besten Falle zum Maverick Director wurden, der den Genrekontext nutzt, um seine persönliche Handschrift und seine vision du monde umzusetzen (von John Ford über Orson Welles bis Alfred Hitchcock).
Der französische Filmkritiker André Bazin (1968, 1971) sprach bereits in den 1940er- und 1950er-Jahren von einer Genre-Mythologie in Bezug auf das WesternGenre. Er stellte fest, dass der Western sich aus der nordamerikanischen Gründungsmythologie speise und umgekehrt diese ritualisiert zu Ausdruck bringe. Der Western sei der „amerikanische Film par excellence“, speziell durch sein elementares Modell von Gut und Böse. Auch die organische Entwicklung des Genres diskutierte Bazin in seinen Aufsätzen zum Western, er stellte eine zunehmende Professionalisierung fest, die schließlich zu barocken Tendenzen geführt habe, welche mehr über die Entstehungszeit der Filme aussage als über die dargestellte Epoche eine These, die Robert Warshow 1954 aufgriff (Hutchings 1995, S. 63). Warshow allerdings ging es weniger um den existenziellen Dualismus von Gut und Böse, als um die ästhetische Umsetzung ideologischer Konflikte im zeitgenössischen Amerika, woraus er den identitären Westerner und den Gangster als tragischen Helden (1948/1970) erklärte. Warshow betonte auch, dass der Western stets die historische Ära um 1870 beschwöre, ohne eine reales Bild dieser Zeit zu rekonstruieren. Das Westerngenre rekurriere auf das mythische Bild einer Zeit, um einen individualistischen Heros zu ermöglichen, der so im 20. Jahrhundert nicht mehr vorstellbar sei (Warshow 1970b, 141): Während der Gangster seine Waffen verbergen musste, konnte der Westerner die seinen offen tragen und setzte sich so einer moralischen Selbstverantwortung aus er musste sich stets im Dualismus richtig verorten. Die Gewalt wurde dabei zu einer legitimen Existenzform (140), zu einem Selbstausdruck und zur Definition von Männlichkeit, die bereits damals das Verhältnis der Geschlechter im Westerngenre problematisch gestaltete. Frauen wurden in diesem Rahmen zu einem Garant des Zivilisationsprozesses (138). Die Reife des Genres sah Warshow schließlich nicht in seinem zunehmenden Realismus, sondern in seiner Fähigkeit zu metagenerischen Selbstreflexion der Spätwestern wurde zur Mythenreflexion (Stiglegger 2014, S. 4243).
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M. Stiglegger
Erst die 1970er-Jahre brachten eine differenziertere Genretheorie und Genregeschichtsschreibung, zunächst in den USA (siehe Barry Keith Grants Film Genre Reader, 1977), dann auch in Deutschland (Georg Seeßlens Grundlagen des populären Films, 1977), wobei gerade letztere Ansätze oft essenzialistische Ambitionen verfolgen. Die Konventionen und die Ikonografie von Genres wurden verstärkt ins Zentrum gerückt (z. B. Grant 2006, S. 410), sind jedoch ebenso fruchtbar mit Blick auf die kulturelle Prägung und Erwartungshaltung des Publikums in seiner Zeit. In der englischsprachigen Filmwissenschaft begann eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Filmgenres, basierend auf Konzepten von Narratologie, Ideologie, Stilanalyse, Psychoanalyse, Rezeption und Strukturalismus. Grants zu Beginn zitiertes Schema einer Genredefinition fungiert nunmehr als Ausgangspunkt für eine weitergehende Analyse: die Ansätze des kommerziellen Kinos, durch Wiederholung und Variation der selben vertrauten Situationen und Charaktere Aufmerksamkeit zu erzeugen als Garantie für ökonomischen Erfolg (Grant 2003, S. xv), konnten nicht als erschöpfend betrachtet werden, denn das mündete letztlich in einer Kategorisierung ihrer „ideal form“ (Williams 2005, S. 16). Es ging also zunehmend darum, Kontexte zu erforschen und Genrestrukturen nur als Basis dieser Strukturen zu begreifen.
Spätestens mit der Ära des postmodernen Kinos seit den 1980er-Jahren begannen sich die fragilen Grenzen des Genrekinos zusehends aufzulösen. Die Verlässlichkeit der Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi des klassischen Kinos wurde zugunsten einer unberechenbaren Hybridität preisgegeben. Genrekategorien funktionierten noch als Orientierung für das Publikum, von einer analytischen Nutzbarkeit konnte man jedoch kaum noch ausgehen, denn die meisten populären Beispiele hielten jenen klassischen Definitionen nicht mehr stand: der klassische Abenteuerfilm gerierte sich spätestens mit Raiders of the Lost Ark/Jäger des verlorenen Schatzes (1981) von Steven Spielberg eher als Fantasyfilm, während der postapokalyptische Science-Fiction-Film Züge des Indianerwestern aufwies (Mad Max II The Road Warrior/Mad Max 2 Der Vollstrecker, 1982, von George Miller). Videotheken und Fernsehzeitschriften bauten weiterhin auf den Wahrnehmungsmodus Filmgenre, die zeitgenössische Filmtheorie wandte sich jedoch skeptisch ab. Neue Wege mussten entwickelt werden, wollte man den Genrebegriff noch immer fruchtbar nutzen. Verzichten konnte man nicht auf ihn, denn er war weiterhin fest im Diskurs verankert um nicht zu sagen: selbst zum Diskurs geworden.
In der rückblickenden Beschäftigung mit der Genretheorie tauchen unterschiedliche Probleme auf, die im vorliegenden Band auch in Einzelbetrachtungen diskutiert werden. So hat man es mit einer Tradition der Typologie von Filmgenres zu tun, die bereits national sehr unterschiedlich ausfallen und mitunter nur in bestimmten Kontexten überhaupt vorkommen. Gerade angesichts eines gegenwärtig hochgradig globalisierten Kinos kann man von einer westlich basierten Sicht auf Genres nicht mehr ausgehen zu einflussreich haben sich asiatische Martial-ArtsDramen, Bollywood-Formate und andere nationale Spielarten weltweit etabliert. Solchen Phänomenen kommt man angesichts der nachweisbaren und mitunter schwer berechenbaren Ausdehnung nicht durch Normativismus, monolithische Definitionen von Genremodellen und der früher etablierten Idee eines Biologismus
Genrediskurs
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von Genres kaum nah. Zweifellos lassen sich bis heute Konventionen feststellen, die sich in einem Koordinatensystem von Genredefinitionen verorten lassen, doch hinzu kommen zahlreiche damit verknüpfte Phänomene, aus denen sich kein diskretes System ergeben will. Vielmehr muss man von dynamischen und fluiden Transformationsprozessen ausgehen, die an die Stelle der Studiostandards etwa der 1930er-Jahre getreten sind. Die Familienähnlichkeit verschiedener verwandter Filme und die Prototypenhaftigkeit bestimmter erfolgreicher Filme und Franchises sollte nicht dazu verleiten, die Vereinfachungen der klassischen Genretheorie dem gegenwärtigen Genrediskurs überzustülpen.
Noch heute kann man Filmgenres als eine Art stillen Vertrag zwischen Filmproduzenten und Publikum begreifen (siehe hierzu Stokes und Maltby 2001). Die Produktion kann im bewährten Rahmen ihre Effizienz steigern, während die Erwartung des Publikums zumindest teilweise befriedigt werden kann. Kreatives Potenzial entfaltet sich hier wiederum in der Uneindeutigkeit, im Transformativen: dort, wo bewusst Erwartungen gebrochen werden, wo man neue Allianzen sucht (Hybridisierung; siehe hierzu Staiger 2012, S. 203217). Waren Genres einst Modelle einer Systematisierung, kann man sie heute als vagen Bezugsrahmen sehen, an dem sich Produktion und Rezeption orientieren. Wir haben es dabei mit dem latenten Endstadium einer Genreevolution zu tun, die auf den Entwicklungen der klassischen Phase basiert: der erfolgreichen Häufung von Beispielen, der Herausbildung fester Regeln und Strukturen und schließlich der Ausdifferenzierung und Auflösung dieser Strukturen. Was dem biologistischen Einzelgenremodell entspricht, kann hierbei grundsätzlich verstanden werden: als eine grundlegende Tendenz in der Evolution des Genrekinos vom verlässlichen System zum fluiden Diskurs.
Betrachtet man Genretheorie als Diskurs, wie das John G. Cawelti im Grunde bereits 1969 mit Blick auf die generische Formel anregte, gelingt es möglicherweise, die Probleme der konservativen Genretheorie zu überwinden: das Kanondenken, die Suche nach Prototypen, nach essenzialistischen Definitionen, die Benennung von Genrebastarden. Vor allem der konservative Wertungsdiskurs, der u. a. in der deutschsprachigen Genreforschung sehr langlebig erscheint (Koebner 2003 u. a.), erweist sich als hinderlich, will man den Genrediskurs fruchtbar und zeitgemäß halten. Ungeachtet des wirtschaftlichen Nutzens von fixen Genremodellen etwa im Marketing, kann es in einem differenzierten Genrediskurs gerade nicht um Idealtypen und Qualitätsdiskussionen gehen. Die Annahme einer Minderwertigkeit von Genrekino gegenüber dem Autorenkino muss Teil eines überholten bürgerlichen Bildungskanons bleiben. In einer wissenschaftlich-analytischen Betrachtung sollte es vielmehr um Intertextualität, Globalisierung, Ideologisierung, Transformation und Hybridität gehen. Dabei können diese einzelnen Perspektiven auf Genres kaum isoliert stehen, denn sie bedingen sich ihrerseits gegenseitig. Dass in einzelnen genrebezogenen Filmbeispielen auch heute noch kreative Energien erstaunliche Ergebnisse hervorbringen, ist nicht zuletzt ein Ergebnis dieses Geflechts unterschiedlichster Einflüsse. Die Medienkompetenz des Publikums heute, das als impliziter Leser Genrekenntnis mit einbringen kann, kommt dem entgegen. So arbeitet Genrekino heute mit dieser sich ständig wandelnden Kompetenz, schafft Vertrautheit und
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garantiert Überraschungen auf einem wesentlich komplexeren Level, als das im klassischen Hollywood der Studioära möglich gewesen wäre. Allerdings kann man früher wie heute davon ausgehen, dass durch diese verwobenen Modelle weiterhin Ideologeme vermittelt werden, die eine ideologiekritische Analyse von Genrestrukturen möglich und notwenig machen. Die Analyse von Filmgenres ist also potenziell ein Ansatz der Kultur- und Gesellschaftsanalyse, ausgehend von den erfolgreichsten Beispielen der populären (Kino-)Kultur.
2 Genresynkretismen und Hybride
Wie Knut Hickethier in seiner Bestandsaufnahme „Genretheorie und Genreanalyse“ (2002, S. 64) feststellt, hat sich im Laufe der Zeit eine enorme dreistellige Zahl von Genredifferenzierungen ergeben, die vor allem im alltäglichen Gebrauch (z. B. in Fernsehzeitschriften) immer neu konstruiert werden. Dieses Phänomen erklärt sich durch das Bedürfnis, bereits in der Genrebezeichnung eine verbindliche Aussage über Stil und Inhalt eines Films zu treffen. Dabei werden vor allem verschiedene Genres miteinander verschmolzen und ein Genresynkretismus konstatiert. So wird Alien (1979) von Ridley Scott etwa zum „Science-Fiction-Horror“ oder Sam Peckinpahs Convoy (1978) zu einem „Trucker-Western“. Dabei fällt auf, dass diese neu kombinierten Bezeichnungen auf durchaus unterschiedliche Bedeutungskontexte Bezug nehmen:
Science Fiction hat sich etabliert als Bezeichnung für eine spekulative Darstellung zukünftiger Technik („Wissenschafts-Fiktion“), der Film muss also aus Sicht seines Produktionsdatums in der Zukunft spielen (auch wenn diese Handlungszeiträume von der Wirklichkeit bereits eingeholt wurden, spricht man von Science Fiction). Horror dagegen bezeichnet einen angestrebten Affekt: Der Film soll ein Gefühl des Grauens, von Angst und Schrecken im Zuschauer evozieren. Dafür haben sich klassische und moderne Settings etabliert, die wie im Fall von Alien durchaus auch in der Zukunft oder im Weltall verortet sein können. So kann man den besagten Film einerseits als Science-Fiction-Film betrachten (aufgrund des Schauplatzes: Raumschiff, und der Handlungszeit: die Zukunft), wie auch als Horrorfilm (die Protagonisten werden von einem übernatürlichen Monstrum gejagt und dezimiert). Letztlich ist aber beides gleichberechtigt und essenziell im Film angelegt, sodass man hier von einem intendierten Genresynkretismus ausgehen kann.
Im Fall von Convoy, der auf amerikanischen Highways spielt, dessen Protagonisten Menschen der Straße (Trucker, Highway-Polizei) sind und sich ständig in Bewegung befinden, müsste man zunächst von einem Roadmovie sprechen. Diese dritte Kategorie der Genrebezeichnung subsummiert Filme, die einen bestimmten Schauplatz teilen: die Straße. Wichtig ist dabei nur, dass nicht die gezielte Reise von A nach B im Zentrum steht, sondern die Reisebewegung selbst das Ziel ist: eine eher ziellose Suche, wie sie prototypisch in Dennis Hoppers Easy Rider (1969) dargestellt wird. Roadmovies teilen nicht nur ihren Schauplatz, sondern auch ein bestimmtes Gefühl des Unbehausten und der diffusen Suche. So zählt auch Convoy zum
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Roadmovie, denn dessen Protagonisten sind Menschen der Straße, deren Leben durch die ständige Bewegung definiert wird. Zugleich inszenierte Western-Veteran Sam Peckinpah seine Protagonisten jedoch als Westerner, die ihre Pferde gegen Lastwagen getauscht haben. Der neu kreierte Genrebegriff des „Truckerwestern“ geht also über den eher allgemeinen des Roadmovies hinaus, indem hier zugleich die Protagonisten benannt und der Stil des Films vorab interpretiert wird. „TruckerWestern“ lenkt die Erwartung des Zuschauers bereits in die Richtung, hier nur einen modern verkleideten klassischen Western zu sehen.
3 Metagenres als Orientierungsrahmen
In seiner Untersuchung zur fantastischen Literatur wies Tzvetan Todorov bereits 1975, (S. 3 ff.) darauf hin, dass sich die Genre-Termini von Produzenten, Publikum und Theoretikern deutlich unterscheiden können. Die Übereinkunft mit dem Publikum differiert von der theoretischen Aufarbeitung, was zu einem noch heute virulenten Misstrauen von Cinephilen in die Genreforschung geführt hat. Theoretiker wie Neale oder Altman haben sich daraufhin bewusst mit den im Filmgeschäft selbst etablierten Genretermini auseinandergesetzt (Scheinpflug 2014, S. 6). Die von Thomas Koebner initiierte Genrereihe im Reclam-Verlag um 2000 bemüht sich mitunter offensiv, in der Kanonisierung der ausgewählten Beispiele dieser cinephilen Idee vom Idealtypus entgegenzukommen. Eine rein theoretische Aufarbeitung von Genrekonzepten jedoch muss nicht notwendigerweise überhaupt Einzelgenredarstellungen enthalten.
Die filmwissenschaftliche Genregeschichtsschreibung bemüht sich in vielen Fällen zunächst um eine prototypische Darstellung einzelner Meta-Genres bereits im Bewusstsein, dass diese Idealtypen darstellen und selten in dieser Form vorkommen vor allem in der späteren Filmgeschichte (siehe hierzu u. a. Seeßlen 1977, S. ff.; Schatz 1981; Hickethier 2002; Koebner 2007). Die Idee ist, konventionalisierte Formen und Muster zu finden, die selbst in ihrer Neukombination erkennbar bleiben, Traditionslinien kenntlich machen und so einen möglichen Bezugsrahmen zu bieten. Dabei haben sich folgende Metagenres herauskristallisiert, die jedoch im einzelnen äußerst streitbar bleiben:
Western (u. a. Altman 2003, S. 27 ff.; Grob et al. 2003, S. 12 ff.; Brunow in Kuhn et al. 2013, S. 3961): Er spielt im Nordamerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts und thematisiert meist gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Farmern und Indianern bzw. Banditen und Gesetzeshütern. Besondere Spielarten sind der Indianerwestern, der Kavalleriewestern, sowie der Eurowestern, speziell der Italowestern. Als asiatisches Gegenstück kann der kampfsportorientierte Eastern gelten. Die Hochphase des Western war während des klassischen Studiosystems Hollywoods zwischen 1930 und 1960.
Musical (Altman 1981; Feuer 1993): Hier werden elementare Konflikte in Tanz und Gesang ausgespielt und choreografiert. Dabei können andere Genreelemente von Melodram über Western bis hin zum Gangsterfilm oder gar Horrorfilm verarbeitet werden. Die Hochphase des Musicals liegt in der Frühzeit des Tonfilms der 1930er-Jahre.
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Komödie (Heller 2005; Gotto in Kuhn et al. 2013, S. 6785): Komödien verbindet die Intention, den Zuschauer zu belustigen. Dabei können unterschiedlichste Schauplätze und Personenkonstellationen eine Rolle spielen, auch andere bekannte Genremuster verarbeitet werden. Besondere Spielarten sind die frühe Slapstick-Komödie, Parodien, Tragikomödien, Liebeskomödien und TeenieKomödien. Die Komödie erfreut sich von Beginn der Filmgeschichte bis heute äußerster Beliebtheit.
Liebesfilm (u. a. Kappelhoff 2004; Felix und Koebner 2007; Kaufmann 2007; Weber in Kuhn et al. 2013, S. 91113): Der Liebesfilm erzählt von einer großen Liebe zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten, die über Irrwege und gegen Widrigkeiten zustande kommt. Elemente des Liebesfilms kommen auch in anderen Genres vor. Mit positiver Wendung und inszenatorischer Leichtigkeit spricht man von der Romanze, wenn Tragik und Fatalismus dominieren eher vom Melodram (hier beginnen jedoch zahllose weitere Überschneidungen). Da es sich um ein sehr universales Motiv handelt, trifft man auf den Liebesfilm international und in allen Dekaden.
Abenteuerfilm (u. a. Seeßlen 1996a; Traber und Wulff 2004): Vom großen und spektakulären Erleben, von spannender Aktion, aufregenden Reisen und monumentalen Konflikten erzählt der Abenteuerfilm. Zum historischen Abenteuer zählen der Antikfilm, der Mantel und Degen-Film, Piratenfilme, Ritterfilme und prähistorische Erzählungen. Zeitgenössische Varianten sind Schatzsucher, Entdecker- und exotische Actionfilme, aber auch Roadmovies und Fantasyfilme. Während die Hochphase des historischen Abenteuers im Classical Hollywood liegt, tritt der Abenteuerfilm heute meist gekreuzt mit Fantasy-Elementen auf.
Phantastischer Film: Filme mit übernatürlichen und fantastischen Elementen sind vielfältig und lassen sich in Science Fiction, Horror und Fantasy unterteilen. Science Fiction (u. a. Sobchack 1987; Spiegel in Kuhn et al. 2013, S. 245265; Fabris et al. 2016) behandeln positive oder negative Gesellschaftsutopien, technische Zukunftsspekulationen und epische Erzählungen vom intergalaktischen Konflikt. Berührungen zum Abenteuer, Kriegs-, Western- und Horrorfilm sind häufig. Neben der Hochphase in den 1950er-Jahren (Invasionsfilme) ist der ScienceFiction-Film seit dem Erfolg der Star-Wars-Filme (1976 ff.) ungebrochen.
Den Horrorfilm (u. a. Gelder 2000; Stiglegger 2010, S. 5675; Moldenhauer in Kuhn et al. 2013, S. 193208) verbindet die Thematisierung der Urängste des Zuschauers. Die Begegnung mit dem Unheimlichen kann mit Archetypen wie Geistern, Monstern, künstlichen Menschen, Vampiren, Gestaltenwandlern oder lebenden Toten arbeiten, aber auch menschliche Destruktivität beschwören. Überschneidungen zum Science-Fiction-, Psychothriller- und Fantasyfilm sind häufig. Die kulturelle Universalie der Angsterzählung verschafft dem Horrorfilm konstante Popularität in vielen Kulturen und die gesamte Filmgeschichte hindurch. Der klassische Horrorfilm entstand in den 1930er-Jahren, vom modernen spricht man seit 1968.
Der Fantasyfilm (u. a. Friedrich 2003) speist sich aus internationalen Märchen, Legenden und Mythen und behandelt durchaus positiv staunend das Wunderbare. Während Märchenfilme eine konstante Universalie der Filmgeschichte sind, gab es um 1980 einen Boom heroischer Fantasy, der mit dem Erfolg der Lord-of-the-RingsTrilogie jüngst wieder auflebte.
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Kriminalfilm: Abgeleitet von crimen (lat.: Verbrechen) behandeln Kriminalfilme Verbrechen und ihre Aufklärung. Dabei muss zwischen der Perspektive des Ermittlers im Polizeifilm und Detektivfilm und der des Täters im Gangsterfilm (Warshow 1970a; Meteling in Kuhn et al. 2013, S. 119141) und Thriller (Seeßlen 1995) unterschieden werden. Speziell im Psychothriller kann auch der Blick des Verbrechensopfers wichtig werden. Die Kehrseite des Gangsterfilms ist mitunter der Gefängnisfilm. Weitere Spielarten des Thrillers, der seinen Namen vom Mittel der Spannungsdramaturgie erhielt, sind der Politthriller, der Erotikthriller (Seeßlen 1995, S. 226237; Gledhill 2000) und der Paranoiathriller. Da die Kriminalerzählung im weitesten Sinne in allen narrativen Medien eine Universalie ist, kann
man auch hier von einer Konstanten die gesamte Filmgeschichte hindurch ausgehen.
Dazu kommen stilistische Phänomene, die mitunter als eigenes Genres ausgelegt
werden, z. B. der Film Noir (Grob 2008) Kriegsfilm (u. a. Klein et al. 2006; Hißnauer in Kuhn et al. 2013, S. 167188): Als
Kriegsfilm bezeichnet man Filme, die Kriegshandlungen seit dem frühen 20. Jahrhundert dramatisieren. Neben den entsprechenden historischen Kriegen unterscheidet man die ideologische Ausrichtung Antikriegsfilm bzw. Propagandafilm, sowie spezielle Perspektiven wie Söldnerfilm, combat movies, Kriegsabenteuer, Gefangenenlagerfilme und Kasernenhoffilme. Auch der Kriegsfilm taucht konstant in allen Kinematografien auf, denn er hat oft historisch Relevantes zu erzählen.
Erotischer Film (u. a. Seeßlen 1996b): Die Darstellung und Erzeugung sexuellen
Begehrens im Zuschauer ist die Intention des erotischen Films. Dabei kann er
psychologisch komplex vorgehen und sich dem Melodram annähern, oder explizit werden: Während der Sexfilm simulierten Sex zeigt, stellt der Hardcore- oder Pornofilm reale Sexakte filmisch dar. Sexualität ist seit Beginn des Mediums Film mehr oder weniger präsent, war jedoch oft Phasen der Zensur unterworfen. Eine Hochphase des Sexfilms gab es in den 1970er-Jahren, während der pornografische Film den Heimmedienmarkt seit den 1980er-Jahren erobert.
Dazu kommen zahlreiche kleinere Phänomene, die Gruppierungen nach spezifischen einzelnen Merkmalen ermöglichen: Roadmovie, Katastrophenfilm, Biopic (Kuhn in Kuhn et al. 2013, S. 213239), aber auch stilistische Phänomene wie Surrealismus werden mitunter als Genres diskutiert. Des Weiteren finden wir zielgruppenspezifische Phänomene wie Kinder- und Jugendfilme (Schumacher in Kuhn et al. 2013, S. 295313). Bereits in dieser kursorischen Skizze wird die enorme Vielschichtigkeit von Filmgenres deutlich. Andererseits mag dieser Orientierungsrahmen hilfreich sein in einer weitergehenden Einordnung und Reflexion von globalen Genrephänomenen.
4 Genreevolution und -transformation
Der filmische Genrebegriff ging ursprünglich mit den wirtschaftlich etablierten Produktionsformen einher und entsprach so weitgehend den Genres der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts. Analog zum Begriff der Trivialliteratur bezeichnete diese
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Kategoriebildung damit die Muster des trivialen Unterhaltungskinos, die sich nach Rudolf Arnheim das Publikum erzwingt (1974, S. 327). Dabei durchlaufen alle Genres verschiedene Phasen, neue Varianten entstehen, andere vergehen, ständige Transformationen überprüfen die zeitgemäße Qualität der etablierten Strukturen. Dieses Modell muss man als biologistische Perspektive bezeichnen, die von einer Lebenslinie des Genres ausgeht. Um mit Hickethier (2002) zu sprechen: „Entstehung Stabilisierung Erschöpfung Neubildung.“
Entstehung: Ein bestimmter Film bzw. eine Gruppe von Filmen erweist sich beim Publikum als äußerst effektiv und wird im Folgenden immer wieder kopiert, bis eine effektive Mischung von Sujet, Motiven und Archetypen gefunden ist, die sich reproduzieren lässt.
Stabilisierung: Diese erfolgreiche Gruppe von Filmen bringt immer neue Varianten heraus, die jedoch im Kern noch mit dem zugrunde liegenden Schema übereinstimmen. Darunter sind oft Filmreihen, deren serieller Charakter in dem kurzen Serialfolgen der frühen Tonfilmzeit seinen Ursprung nahm und sich bis ins Fernsehprogramm fortsetzte. Speziell in Deutschland findet man so Genremuster vor allem im Fernsehfilm und TV-Serien, weniger jedoch in Spielfilmen.
Erschöpfung: An einem gewissen Punkt hat sich das generische Muster für das Publikum abgenutzt. Produktionsfirmen suchen nach neuen Varianten, bis mangelnder Publikumszuspruch zu einem Versiegen dieser Bemühungen führt. Das Genre ist wirtschaftlich unattraktiv geworden und liegt brach.
Neubildung: Durch einen oder mehrere überraschende Erfolge wird dem versiegten Genre neue Aufmerksamkeit zuteil. Das kann an einer neuen Mischung liegen (Genresynkretismen), an aktualisierten Stilmitteln (etwa eine naturalistischere Inszenierung) oder an einem Retrophänomen im Sinne des Zeitgeistes.
Ein anschauliches Beispiel für dieses Modell liefert der immer wieder neu belebte Western, der im Laufe seiner Neubildungen eine erstaunliche Reife durchmachte. Die Kritik an diesem biologistischen Genremodell entzündet sich an dem Umstand, dass Genres sich meist nicht nur in einem bestimmten kinematografischen Kontext entwickeln, sondern auch länderübergreifend florieren und vergehen und das aus mitunter völlig unterschiedlichen Gründen. So formierte sich der Italowestern erst wenige Jahre nach dem Ende des klassischen Western und belebte seinerseits den US-Western durch seine neuen stilistischen Impulse, wodurch eine Neuformation des Genres im New Hollywood möglich wurde, die jedoch ebenso kurzlebig war wie der Erfolg der europäischen Variante. Im Hollywoodkino ist zu beobachten, wie in regelmäßigen Zyklen klassische Genremuster in aufwändigen Blockbustern recycled werden, um deren Marktgängigkeit immer wieder auszutesten. So kehrte der Western in den 1980er-Jahren (Silverado,1985, R: Lawrence Kasdan; Pale Rider, 1985, R: Clint Eastwood), in den 1990er-Jahren (Dances With Wolves/Der mit dem Wolf tanzt, 1990, R: Kevin Costner; Unforgiven/Erbarmungslos, 1992, R: Clint Eastwood) und nach der Jahrtausendwende (Wyatt Earp/Wyatt Earp Das Leben einer Legende, 1994, R: Lawrence Kasdan) wieder. Nicht alle diese Bemühungen führten zum erhofften Erfolg. Lediglich der klassische Piratenfilm feierte ein erstaunliches Comeback in Gestalt der Pirates-of-the-Caribbean-Reihe, die jedoch streng genommen stargespicktes Fantasykino ist und keinerlei Kenntnis der Genremuster voraussetzt.
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5 Genreforschung heute
Einen groß angelegten Versuch, Filmgenres in Deutschland zu systematisieren, haben Georg Seeßlen und Bernhard Roloff in den 1970er-Jahren begonnen. In einzelnen Themenbänden untersuchten sie die „Geschichte und Mythologie“ der Genres, und in dazugehörigen Enzyklopädien sollten jeweils Ergänzungsbände mit kommentierten Biografien und Stichworten erscheinen. Als die Reihe vom RowohltVerlag als Taschenbücher veröffentlicht wurde, etablierte sie sich schnell als deutschsprachiger Standard. Später wurden die vorliegenden Bände von Seeßlen und Fernand Jung aktualisiert, mitunter massiv erweitert und im Marburger SchürenVerlag erneut herausgegeben. Dabei wuchsen vor allem die fantastischen Genres (Science Fiction und Horror) zu umfangreichen Werken an, die auch kleinste Randphänomene berücksichtigten. Speziell zum fantastischen Film sind zahlreiche Publikationen erschienen, etwa Rolf Giesens launige Bestandsaufnahme des Genres „Der fantastische Film“ (München 1983) oder Ronald M. Hahns und Volker Jansens Horror- und Science-Fiction-Film-Lexika im Heyne-Verlag, doch sind diese Bücher meist von einer Fan-orientierten Pragmatik geprägt, die Theoriebildung weitgehend ausschließt.
In den späten 1990er-Jahren initiierte schließlich Thomas Koebner an der Universität Mainz ein groß angelegtes Genreprojekt für den Reclam-Verlag, das in bislang immerhin 18 Bänden resultierte, wobei streitbare Konzepte wie Film Noir einzeln gewürdigt werden, während die Kriminalfilmgenres Gangsterfilm, Polizeifilm, Detektivfilm und Thriller mitunter in nur einem Band zusammengepfercht werden. Während diese Ansätze vor allem Andrew Tudors These vertreten, Genres seien „sets of cultural conventions“ (1974, S. 139), haben sich in den letzten Jahren weitere Perspektiven herauskristallisiert, von denen die hilfreichsten im Folgenden kurz charakterisiert werden sollen.
In seinem Band „Film Genre. Hollywood and Beyond“ (2005) betont Barry Langford, dass Filmegenres weiterhin als bedeutungsproduzierendes System zu verstehen sind, das für Filmtheorie und -praxis gleichermaßen von Bedeutung sei. Für Filmemacher bieten Genres einen verlässlichen Rahmen, um ein spezifisches Publikum zu erreichen. Für das Publikum sind Genrefilme interessant, weil sie ein Vergnügen versprechen, das sich bereits vorher in der Rezeption bewährt hat. Für die Filmwissenschaft auch das wird der vorliegende Band zeigen bieten Filmgenres eine historisch basierte Methode, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Filmen zu belegen und auf Basis des verdichtenden Verhältnisses zwischen „Medienmythologie“ (Stiglegger 2014) und Popkultur soziale, politische und ökonomische Texte herauszuarbeiten. Dabei wurde das Genrekonzept immer mehr ausdifferenziert, wie Markus Kuhn, Irina Scheidgen und Nicola Vaska Weber in der Einführung ihres Bandes „Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung“ (2013, S. 1721) betonen. Sie nennen als Dimensionen dieses differenzierten analytischen Zugangs: 1. die Mehrdimensionalität von Genreproduktionen (Produktion, Distribution, Rezeption), 2. diskursive, kontextuelle und soziokulturelle Aspekte, 3. intertextuelle und intermediale Dimensionen, 4. das Gegenstandsfeld und seine Prototypen, 5. die interkultuelle und intermediale Übertragbarkeit (etwa die Genrebegrifflichkeiten von Computerspielen,
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u. a. Rauscher 2012; Klein in Kuhn et al. 2013, S. 345360) und 6. die praktische Dimension der Analyse selbst.
Dimitris Eleftheriotis (2001, S. 101ff.) betont zudem, dass die Erkenntnis der Hybridität von Genres nicht schon das Ergebnis der Genreforschung ist, sondern zum Ausgangspunkt neuer Überlegungen werden muss, wie Genres einander international durchdringen und beeinflussen. Er entwickelt das speziell am Beispiel des europäischen Genrefilms: „hybrid forms [. . .] are the product of cultural interaction and exchange“ (101). Ein Ansatz hierzu ist der kosmopolitische Austausch, der durch die Fluktuation von Filmemachern etwa während des Zweiten Weltkrieges stattfand. Zahlreiche Europäer emigierten nach Hollywood und brachten Traditionen des deutschen und französischen Kinos mit, aus denen neue Ansätze und Stilismen entstanden, etwa in Form des Film Noir zwischen 1941 und 1958. Auch die Rezeption bestimmter nationaler Kinematografien in anderen Systemen kann zu Hybridphänomenen führen, etwa die Öffnung des russischen Filmmarktes nach Ende des Kalten Krieges 1989, die zeitweise in eine formale Amerikanisierung des kommerziellen Genrekinos führte. Zudem ist die filmische Tradition, der die jeweiligen Filmemacher entstammen, von Einfluss auf ihren Stil selbst beim Genrewechsel (siehe hierzu z. B. Stiglegger 2013, S. 7280).
Christine Gledhill weist in ihrem Aufsatz „Rethinking Genre“ (2000, S. 221243) darauf hin, dass sich die Evolution von Genres nicht nur aus der historischen Distanz erst beurteilen lässt, sondern dass die veränderte Wahrnehmung derselben Texte in neuen Modi dann erst möglich wird. So erklärt sich möglicherweise die erneute Rezeption bestimmter Jahrzehnte alter Genrefilme als Trash oder camp eine Art aktualisierter Wahrnehmungsmodus eines anders sozialisierten Publikums.
In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die aktuellen Genretheorieansätze sich ausgesprochen anti-essenzialistisch geben. Peter Scheinpflug (2014, S. 1315) fasst einige der Argumente zusammen, indem er daran erinnert: Genres bestehen nicht per se, sie werden aus einem Korpus von Genrefilmen formiert; die Genrekonventionen bleiben dynamisch; Genregrenzen sind fließend; Genregeschichte ist als historischer Prozess zu sehen; das Publikum hat Einfluss auf die Genrewahrnehmung; man kann dieselben Quellen mit unterschiedlichen Genrekonventionen inszenieren. Statt also nach idealtypischen Modellen zu suchen, erscheint es sinnvoller, einzelne Werke, die dem Genrekomplex zugewiesen werden, textuell, intertextuell und kontextuell (a. a. O., 16) zu analysieren. Strebt man dagegen das große Bild an, bietet sich der Genre-Dispositiv-Ansatz von Tom Ryall an, der das „generic system“ als Zusammenspiel von Diskursen, Praktiken und Institutionen versteht (Ryall 1998, S. 327 ff.). Beides soll in den folgenden Beiträgen zum Tragen kommen.
6 Zum vorliegenden Handbuch
Die vorangehenden Ausführungen mögen belegen, dass es nicht nur fruchtbar, sondern notwendig ist, sich heute und in Zukunft theoretisch mit Filmgenres zu beschäftigen. Der Erfolg des Genrekinos in einem hybriden Sinne wirft andere Fragen und Probleme auf als das Genrekino der klassischen Ära, und somit werden
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auch differenzierte und neue Perspektiven notwendig, um diesen Phänomenen gerecht zu werden. Das vorliegende Handbuch ist das Resultat einer zwei Jahrzehnte anhaltenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit Filmgenres.
Das Buch ist in drei große Teile gegliedert, die der gegenwärtig höchst differenzierten Genreforschung Rechnung tragen. Im ersten Teil wird es um unterschiedliche theoretische Perspektiven gehen, die allesamt einer essenzialistischen Methode entgegenarbeiten. Der zweite Teil untersucht die Bedeutung von Filmgenres in unterschiedlichen nationalen Kinematografien. Angesichts der vorangehenden Ansätze kontrovers wird der dritte Teil erscheinen, der klassische Genrebegriffe neu evaluiert. Es soll hier jedoch nicht um die Rückkehr zum Essentialismus gehen, sondern um die konkrete Auseinandersetzung mit Genremodellen („sets of conventions“) im Verlauf der Filmgeschichte, um eine grundsätzliche Orientierung zu ermöglichen.
Dieses Handbuch kommt der vielfach formulierten Nachfrage seitens eines interessierten Fachpublikums entgegen, ohne sich in den ausgereizten Konzepten bereits vorliegender Werke im deutschsprachigen Raum zu erschöpfen. Das Handbuch Filmgenre stellt sich der Herausforderung, einen möglichst erschöpfenden Einblick in die Geschichte der Genretheorie und den status quo dieses Diskurses zu bieten.
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Am Anfang war das Chaos
Filmgenres und ihre Genese im frühen Kino (18951914)
Klaus Kreimeier
Inhalt
1 Attraktion und Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2 Archetypische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3 Im Innenraum der Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4 Genre und Filmwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Zusammenfassung
Alle Genres, die sich in der Geschichte des fiktionalen Films entwickelt haben, teilen eine gemeinsame Wurzel: die Narration, also den Impetus eines auktorialen Subjekts, eine Geschichte zu erzählen, sowie die Begierde eines Publikums, sich von der Erzählung fesseln zu lassen. Obwohl narrative Ansätze sogar in prä-kinematografischen Bewegtbildmedien wie der Laterna magica anzutreffen sind, wurde ihr Auftreten im frühen Kino von der Filmwissenschaft lange gering geschätzt: exemplarisch in Siegfried Kracauers folgenreicher Bemerkung, die Geschichte des deutschen Films bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sei „Vorgeschichte“ gewesen, „eine Frühzeit, der an sich keine Bedeutung beizumessen ist.“ (Kracauer 1984, S. 21) Eine entscheidende, wesentlich von nordamerikanischen Wissenschaftlern inspirierte Wende in der Forschung im Sinne der New Film History hat seit einigen Jahrzehnten in dieser Frage zu einem Umdenken, zu neuen Kategorien und Ergebnissen geführt. Der vorliegende Text untersucht die Frühgeschichte des Films aus einer neuen Perspektive und eruiert die Wurzeln der später etablierten Filmgenres. Dabei werden etablierte Definitionen, Termini und Theorieansätze einer kritischen Neubetrachtung unterzogen.
K. Kreimeier (*) Freier Wissenschaftler, Berlin, Deutschland E-Mail: klauskreimeier@netscape.net
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_36
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K. Kreimeier
Schlüsselwörter Tags · Filmgeschichte · Stummfilm · Genre · Filmstar · Filmtheorie
Einleitung Das erste Dokudrama in der Geschichte der Bewegtbildmedien entsteht 1899, vier Jahre nach der Einführung der kommerziellen Kinematografie durch die Brüder Lumière. Georges Méliès Film Laffaire Dreyfus (Fr 1899) ist das Produkt einer beispiellosen Propagandaschlacht, die der Skandal um den fälschlich des Landesverrats angeklagten und zu lebenslanger Haft verurteilten jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus in Frankreich ausgelöst hat. (Bottomore 1993, S. 7074) Elf „Minutenfilme“ verbindet Méliès zu einer quasi-dokumentarischen Chronik von insgesamt 15 Minuten. Es ist seine bis dahin längste Produktion, die er mit großem Erfolg an die frühen Kinoschausteller im eigenen Land wie im Ausland verkaufen kann.
Filmgeschichte im traditionellen Verständnis betrachtet ihren Gegenstand als Kunstform, die sich nach „primitiven“ Anfängen gleichsam organisch zu einem technisch und ästhetisch komplexen System entwickelt, bis sie einen „Reifegrad“ erreicht hat, der es den Historikern erlaubt, ihre Produkte übersichtlich in Abteilungen und Unterabteilungen, Genres und Subgenres anzuordnen. Schon eine leichte Blickverschiebung, eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Mediengeschichte ergeben ein anderes Bild. Ein in Theater, Radio, Film und Fernsehen gleichermaßen bewährtes Medienformat wie das Dokudrama soll hier als propädeutisches Beispiel dienen. Avant la lettre begegnet es bereits im Theater des 19. und im (USamerikanischen) Radio in den 1930er-Jahre. Offenbar handelt es sich um ein stabiles medienübergreifendes „Dispositiv“, das nahelegt, sich in der Mediengeschichte anders als in den klassischen Kunst- und Literaturgeschichten nicht allein auf Produkte, sondern auf ein Ensemble technisch-ästhetischer Anordnungen und Präsentationssysteme, auf Marktkategorien und Medienmischungen einzustellen: auf eine Vielfalt kulturindustrieller Strategien, zu denen auch der Film gehört.
In solcher Betrachtungsweise sind, neben linear verlaufenden Entwicklungsprozessen, auch Gleichzeitigkeiten und Parallelen zu beobachten. Sie kennzeichnen besonders die Frühphase des Films, die noch stark mit der Geschichte der vorkinematografischen Medientechnologien verflochten ist und zu diesen in einem ökonomischen Wettbewerbsverhältnis steht: eine Konstellation, die sich mit der Konkurrenz zwischen Kino und Fernsehen einige Jahrzehnte später wiederholen wird. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte der Begriffe eine andere ist als die ihres jeweiligen Gegenstands. Es ist richtig, dass um beim Beispiel des Dokudramas zu bleiben seine Karriere im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts im US-amerikanischen Fernsehen beginnt: Die TV- Familiensaga Roots/Roots Wurzeln über die Geschichte der Sklaverei (USA 1977) ist ein international erfolgreicher Prototyp und sehr bald wird auch der Terminus „docudrama“ im internationalen TVHandel zum Markenzeichen. Allerdings gilt schon im US-amerikanischen Kino ein
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Gerichtsfilm-Klassiker wie Stanley Kramers Judgement at Nuremberg (USA 1961) als „docudrama“ als Umschreibung für einen Spielfilm, dessen Handlung/Das Urteil von Nürnberg auf einer „wahren Begebenheit“ beruht und darüber hinaus dokumentarisches Material verwendet. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass das Genre seine spezifische Ausformung als Sendeformat im Serienbetrieb des Fernsehens erlangt mit der Folge, dass wir auch dann, wenn die Werbung einen Kinofilm als Dokudrama ankündigt, die Normen der TV-Ästhetik erwarten. An diesem Umstand haben Studiokonzepte und Marketingstrategien einen mindestens ebenso großen Anteil wie jene Parameter, die im Bereich der Gestaltung und des Ästhetischen zu suchen sind.
Méliès Dokudrama Laffaire Dreyfus wird auf dem deutschen Kinomarkt als „Aktualität“, von anderen Anbietern auch als „Sensationsdrama“ vertrieben. Im Frankreich der vorletzten Jahrhundertwende entwickelt die Dreyfusaffäre mit ihren hemmungslosen antisemitischen Kampagnen eine Dynamik, die durch den Einsatz traditioneller und „neuer“ Medien verstärkt wird. Postkartenserien, Bildergeschichten, Karikaturen, illustrierte Broschüren, sogar Brett- und Kartenspiele werden zu Propagandamedien im Meinungskampf. In den Music Halls spalten polemische Sketche und Spottgesänge das Publikum in Dreyfusards und Anti-Dreyfusards. Die Fotografie wird erstmals als Allzweckwaffe zur Aufklärung wie zur gezielten Irreführung, zur Demaskierung wir zur gnadenlosen Verhöhnung des Gegners eingesetzt. Und sie ruft geradezu nach dem Bewegtbild: Méliès filmische Szenenfolge Laffaire Dreyfus ist keineswegs das einzige, aber das avancierteste „Dokudrama“, das in diesen Jahren zu den Ereignissen in Frankreich entsteht.
Méliès ist ein überzeugter Dreyfusard. Sein Film, singulär in seinem an Feerien und fantastisch-utopischen Sujets so reichen Werk, besteht aus elf autonomen Tableaus, die Dreyfus Schicksal chronologisch von seiner Verhaftung und Degradierung über die Verbannung auf die Sträflingsinsel Cayenne bis zum Prozess vor dem Kriegsgericht in Rennes erzählen. Die „realistisch“ nachempfundenen Dekors hat Méliès nach Illustrationen populärer Pariser Wochenmagazine hergestellt. Zwar gibt es in einigen Episoden noch gemalte Kulissen, aber die Kostüme sind authentisch, und anders als in den meisten zeitgenössischen reenactments bemüht sich der Regisseur um Detailgenauigkeit so hat er z. B. das Innere des Gerichtssaals nach einer fotografischen Vorlage bauen lassen. Laffaire Dreyfus zeigt nicht zuletzt ein sehr modernes Verständnis dafür, dass ein Massenpublikum nicht nur informiert, sondern auch unterhalten werden will, nach Nahrung für seine emotionalen Bedürfnisse verlangt. So rührt die sechste Episode, in der Dreyfus im Gefängnis seine Frau wiedersehen darf, die Zuschauer zu Tränen und erinnert sie zugleich daran, dass die reale Mme. Dreyfus auf ihrem Weg zum Gefängnis auf Schritt und Tritt von Paparazzi verfolgt wird. (Bottomore 1993, S. 75)
Auf dem internationalen Markt bietet Méliès seinen Film als kohärente Serie ebenso wie in ihren einzelnen Episoden an: eine Strategie, die dem journalistischen Zugriff auf brisante aktuelle Ereignisse entspricht und, nach dem zeitweiligen Verbot des Films in Frankreich, auf starke Nachfrage in den USA, in Großbritannien und Deutschland trifft. Luke McKernan, Kurator der British Library, urteilt, Méliès habe seinen Film „with an eye to commercial opportunity but also as a means to express his personal sympathies“ hergestellt „ probably the first time that film had ever
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been used in this way.“ (McKernan, The Bioscope 2010) Und der britische Filmhistoriker Stephen Bottomore meint, die Dreyfus-Affäre habe in einer sehr frühen Phase der Filmgeschichte demonstriert, „that the cinema could tackle burning contemporary events in both factual and dramatised formats.“ (Bottomore, Whos Who in Victorian Cinema 2016) Politische Passion und ökonomisches Kalkül, künstlerische Intuition und ein bemerkenswertes Verständnis für die Besonderheiten des Sujets hatten, der Entwicklung vorausgreifend, gleichsam aus dem Nichts ein modernes Medienformat geschaffen.
Das Problem, das ein Film wie Laffaire Dreyfus für die Film- und besonders für die Genretheorie bedeutet, ist damit jedoch noch nicht definiert. In seinem grundlegenden Essay „Non-Continuity, Continuity, Discontinuity“, der sich mit dem „concept of genres“ im Kontext des frühen Films befasst, sieht Tom Gunning der analytischen Arbeit Grenzen gesetzt durch die im Filmdiskurs dominierende Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen, den „aspects of content“ (Gunning 19901, S. 88). Im Mainstream-Kino kommender Jahrzehnte mit seinen Kategorien wie Western, Gangsterfilm, Horrorfilm etc. sei dieses auf die Filmstory bezogene Genre-Konzept gerechtfertigt, da es sich aus der Logik der industriellen Filmproduktion und -distribution entwickelt habe; es sei jedoch eher ein Hindernis für die Auseinandersetzung mit Genres unter dem Gesichtspunkt ihrer filmischen Form. Tatsächlich wurzeln die Schwierigkeiten, den Genrebegriff in der Geschichte des frühen Kinos zu verankern, keineswegs in der oft unterstellten „Primitivität“ seiner technischen Mittel, sondern in seiner spezifischen Formbestimmtheit als eines (neuen) Mediums, das beansprucht, uns etwas zu erzählen.
Die vorliegende Untersuchung wird in einem ersten Schritt darstellen, wie sich bereits unter den Bedingungen des Attraktionskinos narrative Ansätze, frühe Strukturen filmischen Erzählens herausschälen. Im Anschluss daran werden filmdramaturgische Topoi und Repräsentationsformen daraufhin geprüft, inwieweit sich in ihnen „archetypische“ Muster für ein noch unentfaltetes Genre-Konzept verbergen. Eine Betrachtung zunehmend komplexer ästhetischer Mittel im Bereich des komischen Genres sowie der frühen Gangsterfilme und Western ergänzt diese Überlegungen; abschließend wird die Entwicklung von Genres im Kontext des Film- und Kinomarktes dargestellt.
1 Attraktion und Narration
Alle Genres, die sich in der Geschichte des fiktionalen Films entwickelt haben, teilen eine gemeinsame Wurzel: die Narration den Impetus eines auktorialen Subjekts, eine Geschichte zu erzählen, und die Begierde eines Publikums, sich von der Erzählung fesseln zu lassen. Obwohl narrative Ansätze sogar in prä-kinematografischen Bewegtbildmedien wie der Laterna magica anzutreffen sind, wurde ihr Auftreten im frühen Kino wie die Anfänge der Kinematografie insgesamt von der Filmwissenschaft lange gering geschätzt: exemplarisch etwa in Siegfried Kracauers folgenreicher Bemerkung, die Geschichte des deutschen Films bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sei „Vorgeschichte“ gewesen, „eine Frühzeit, der an sich keine
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Bedeutung beizumessen ist.“ (Kracauer 1984, S. 21) Eine entscheidende, wesentlich von nordamerikanischen Wissenschaftlern inspirierte Wende in der Forschung im Sinne der New Film History hat seit einigen Jahrzehnten in dieser Frage zu einem Umdenken, zu neuen Kategorien und Ergebnissen geführt.
In diesem Prozess haben sich einige zentrale, heute unbestrittene Begriffe herauskristallisiert und der Forschung zu Orientierungspunkten und Perspektivierungen verholfen. Ohne die von Tom Gunning eingeführte Kategorie des cinema of attractions etwa wäre das Kino der beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg mit seinen starken Spurenelementen aus der Jahrmarkts- und Zirkuskultur nicht zu verstehen. Die oft nur minutenlangen one shot pictures repräsentieren um die Jahrhundertwende ein Kino, das durch seinen Zeigegestus, seine „ability to show something“ die Zuschauer in seinen Bann zieht. In der sinnlichen demonstratio spektakulärer Kunststücke oder erotisch-humoristischer Eskapaden liege, so Gunning, seine nachgerade „exhibitionistische“ Qualität. Die Beziehung zum Zuschauer werde dabei durch den Blick der Akteure in die Kamera definiert: „From comedians smirking at the camera, to the constant bowing and gesturing of the conjurors in magic films, this is a cinema that displays its visibility, willing to rupture a selfenclosed fictional world for a chance to solicit the attention of the spectator.“ (Gunning 19902, S. 57) Gunnings Beobachtungen sind zugleich offen für das Prozesshafte in der Kinematografie des ersten Jahrzehnts, auch für frühe narrative Ansätze, wie sie sich z. B. in Filmen des Briten George Albert Smith zeigen. Die mit viktorianischer Eleganz inszenierte Begegnung eines Gentlemans mit einer jungen Dame in einem Zugabteil in The Kiss in the Tunnel (UK 1899) mehrfach variiert in europäischen und amerikanischen Filmattraktionen um die Jahrhundertwende ist der Anfang einer love story, wie sie nur mit den Mitteln des Kinos erzählt werden kann. Der Film arbeitet intelligent mit Außen und Innen, Hell und Dunkel: Er beginnt als phantom ride auf einem fahrenden Zug, taucht in die Schwärze eines Tunnels und schneidet gleichzeitig ins Innere eines Abteils, beobachtet eine zärtliche Szene zwischen zwei Reisenden und endet, abermals als phantom ride, mit der Fahrt aus dem Tunnel heraus. Den Vorführern stand es frei, die Kuss-Szene als eigenständige „Attraktion“ zu zeigen oder sie in den Kontext der populären Eisenbahnfilme zu integrieren.Andere Theorieansätze folgen dem Vorschlag von Noël Burch, in der Kinematografie zwischen einem „primitive mode“ und einem (erst im Studiosystem Hollywoods entwickelten) „institutional mode of representation“ (PMR bzw. IMR) zu unterscheiden (Burch 1990, S. 220). Sie verleiten freilich zur Vorstellung, bis zur Etablierung fester Abspielstätten ab ca. 1905 und vor der Durchsetzung des zwanzigminütigen und längeren feature films sei das Kino eine in sich abgeschlossene, den Vergnügungen des Jahrmarkts verhaftete Bilderwelt gewesen, in der sich erzählende Elemente oder gar Ansätze zu Genres noch nicht hätten entfalten können. Diese Lehrmeinung wird den Mischungsverhältnissen in den ökonomisch noch ungeregelten Anfangsjahren nicht gerecht. Gerade in den burlesk-„exhibitionistischen“, den männlichen Blick provozierenden und gleichzeitig ironisierenden Sujets des Attraktionskinos fließen in das Spektakel kleine interpersonale Handlungen ein, Momente einer frühen Narration. Airy Fairy Lillian tries on her new corsetts (USA 1905) zum Beispiel zeigt nicht nur die Probleme einer beleibten Tänzerin mit ihrer
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Korsage, der Film gibt auch ihren Partner, der sich allzu beflissen an ihrem Mieder zu schaffen macht, dem Gelächter preis. George Albert Smiths As Seen Through a Telescope (UK 1900, mit einer voyeuristischen Großaufnahme von einem weiblichen Fußgelenk) oder Edwin S. Porters The Gay Shoe Clerk (USA 1903) enthalten kleine, (noch) äußerst fragmentarische Geschichten, die sich über männlichen Sexismus oder gouvernantenhafte Prüderie amüsieren.
Tom Gunning spricht von „ambiguous heritage“ des frühen Films und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Porters Blockbuster The Great Train Robbery (USA 1903), den „ersten Western“ der Filmgeschichte. Er weise in beide Richtungen: „towards a direct assault on the spectator“ im Sinne der performativen Attraktion und „towards a linear narrative continuity“. (Gunning 19902, S. 61) Doch gilt diese Ambiguität in nicht minderem Maße bereits für die chronologisch-linear aufgebauten, gleichzeitig mit ihren Schauwerten brillierenden Sensationsfilme von Georges Méliès. Le voyage dans la lune (Fr 1902) etwa ist eine artifizielle Konstruktion aus Trick- und Realfilm, gebauten Kulissen und gemalten Prospekten, bizarren Kostümen und romantisch-fantastischen Requisiten. Jede einzelne Kameraeinstellung in diesem zwölfminütigen Film demonstriert ihre Künstlichkeit, stellt ihre theatrale Anordnung aus überwiegend totalen, bühnenbildähnlichen Einstellungen zur Schau. Gleichzeitig folgt der Film der sequenziellen Logik einer mit bewegten Bildern erzählten fantastischen Geschichte, die bereits wesentliche Merkmale des Fantasywie auch des Science-Fiction-Genres aufweist. Performative Schauwerte und erzählerische Kontinuität schließen einander nicht aus, sie durchdringen sich gegenseitig. Der Widerspruch liegt in der Sache begründet: in jener Koexistenz unterschiedlicher Konzepte kinematografischer Gestaltung, jener Mischung aus Erzählung und circensisch-akrobatischer Event-Dramaturgie, die sich in der Geschichte der Kinematografie weiter entfalten wird und heute im „Attraktionskino“ eines Films wie Matrix oder der hochkomplexen Narration computergenerierter Fantasy-Blockbuster kulminiert.
Narration entwickelt sich in dem Maße, wie sich der Ort einer Performance zu einem identifizierbaren Schauplatz, die filmische Bewegung zur raumzeitlichen Logik einer Aktion und die Aktion wiederum zur Handlung, zur Interaktion mehrerer Figuren verdichtet. Diese Prozesse sind bereits im cinema of attractions zu beobachten. In seinem bereits zitierten Genre-Essay schlägt Tom Gunning vor, zwischen vier Genre-Formen zu unterscheiden: dem single-shot-Film, der seinen Erzählstoff innerhalb einer Kameraeinstellung behandelt; dem non-continuity-Film mit mindestens zwei Einstellungen, in dem der Cut einen Einschnitt auf der Ebene der Story setzt; dem genre of continuity, das durch zahlreiche Schnitte, aber auch durch Kontinuität der Handlung gekennzeichnet ist, und schließlich dem genre of discontinuity, der multi-shot-Erzählung, in der die Story kontinuierlich referiert wird, einzelne Aktionen jedoch durch Schnitte unterbrochen werden. (Gunning 19901, S. 8992) Im Folgenden soll versucht werden, dieses strikt formbestimmte, konkret: auf die Montage bezogene Konzept um inhaltliche Beobachtungen zu erweitern. Zu untersuchen ist, wie sich innerhalb der von Gunning beschriebenen Strukturen Muster herausbilden, die hier als „Archetypen“ bezeichnet werden und entweder als Bauelemente oder als Vorformen filmischer Genres im klassischen Sinne angesehen werden können.
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2 Archetypische Muster
Von Beginn an sind den Ansätzen zum filmischen Erzählen inspiriert von der fotografischen Visualität des Mediums und dem Phänomen der (technisch basierten) Bewegung archetypische Grundfiguren eingeschrieben. Dazu gehören zum einen Handlungselemente, die das dramaturgische Gerüst vieler Filmburlesken bilden wie etwa die Verfolgungsjagd (Stop Thief!, UK 1901), das Ritual des Aus-, An- oder Verkleidens (From Show Girl to Burlesque Queen, USA 1903) oder die Situation des beobachteten Beobachters mit ihrer implizit voyeuristischen Komponente (Vor dem Damenbad, D 1912). Zum andern handelt es sich um Archetypen sozialer Interaktion, die aus älteren Medien vertraut sind und nun mit filmspezifischen Mitteln neu formatiert werden etwa das Verbrechen, der Zweikampf oder der Motivkomplex boy meets girl (Interrupted Lovers, USA 1896). Ebenso finden sich schon in den frühen Burlesken dem Medium Film inhärente ästhetische Qualitäten wie seine Affinität zum Traum, zu den Übergängen zwischen realer und virtueller Erlebniswelt (The Dream of a Rarebit Fiend, USA 1906). Gerade in ihrer Heterogenität bilden diese Elemente den Grundstoff für die Herausbildung sehr unterschiedlicher Filmgenres oder, genauer: für die weitere Ausformung bestimmter Topoi, die den einzelnen Genres ihr Gepräge verleihen.
Die Verfolgungsjagd zum Beispiel, sehr bald integraler Bestandteil zahlloser Western und Abenteuerfilme ebenso wie des Kriminal- und Gangsterfilm-Genres, fasziniert schon um die vorletzte Jahrhundertwende in zahlreichen chase films das Publikum der Edison-Attraktionen in den USA wie auch das der britischen Jahrmarktkinos, der fairground bioscopes. Ihr Markenzeichen ist die Rasanz physischer Bewegung (von Menschen, Tieren und Vehikeln) vor einer noch starren Kamera. Während die Burleske Stop Thief! von Williamsons Kinematograf (UK 1901) die Jagd nach einem Hühnerdieb noch als attraction als technische Entfesselung des fotografischen Bildes und, im Stil einer Zirkusnummer, unter Beteiligung dressierter Hunde in Szene setzt, zeigt A Desparate Poaching Affray von William Haggar (UK 1903) Verfolgte und Verfolger in einzelnen Phasen des Geschehens und baut sogar einen veritablen Schusswechsel ein. Tom Gunning zählt den chase film, als Beispiel für das continuity-Prinzip, ausdrücklich zu den frühen Genres: Die Kontinuität der Bewegung „überbrücke“ hier die Unterbrechungen durch die Montage. „The end of one shot is signalled by characters leaving the frame, while the next shot is inaugurated by by their reappearance.“ (Gunning 19901, S. 91) Zehn Jahre später, mit Mack Sennetts berühmter Keystone Cops-Serie, hat der chase film die komplexe Montagekunst des frühen Griffith für den Polizeifilm adaptiert; und in The Bangville Police (R: Henry Lehrman, USA 1913) bedient das Genre, mit der Verhöhnung der schwerfälligen Ordnungshüter, bereits alle Register der (Selbst-)Parodie.
Die Keystone Cops, eingefleischte „Vaudevillians“, hatten sich um die Jahrhundertwende noch als Preisboxer, Rennfahrer, Zirkusakrobaten, Clowns und Gelegenheitsarbeiter für alles Grobe verdingt und in den besonders robusten Branchen des prä-kinematografischen Showgeschäfts durchgeschlagen. In Mack Sennetts Slapstick-Fabrik sind sie hochwillkommen, hier bilden sie das erste stunt team: „They were a wild bunch, up for nearly any stunt the Sennett writers could concoct, and left behind a hilarious legacy of diverse performances“, schreibt der Medienhistoriker
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Donovan Montierth. „They were doused in oil, tossed off rooftops, launched into the ocean, butted by wild animals and plastered with pie.“ (Montierth, Brothers Ink Productions 2015) Repräsentieren diese Haudegen des Entertainments noch die alten Schaustellerkünste, so hat Sennett zugleich, kontrapunktisch zu seiner Cop-Bande, mit der zarten Mabel Normand einen der ersten weiblichen Filmstars kreiert. Sie und ihre Kolleginnen Florence Lawrence (American Biograph), Norma Talmadge (Vitagraph), David Wark Griffiths Hauptdarstellerin Mary Pickford und das „Kalem-Girl“ Alice Joyce beschleunigen, noch bevor die US-amerikanische Filmindustrie von der Ostküste nach Kalifornien umzieht, den Übergang vom cinema of attraction zum feature film. Der Glamour-Faktor der Stars im „Langfilm“ trägt wesentlich zur Ausformung des klassischen Genre-Kinos bei. Mit ihm wird deutlich, dass es nicht nur erotische Filme gibt, dass vielmehr der Eros das innere Zentrum und die geheime Botschaft der Kinematografie und jeglicher Schaulust ist.
Am Anfang nicht nur der amerikanischen Film- und Kinogeschichte steht ein Kuss, der, in den Worten des Filmhistorikers Charles Musser, buchstäblich vor Augen führt, „that cinema [. . .] began to disrupt and change the world of theatrical entertainment.“ (Musser 2009, S. 64) Musser hat den Umbruch, der sich im Mai 1896 in New York ereignet, präzise rekonstruiert. Seit einigen Wochen läuft im Bijou Theater am Broadway mit großem Erfolg das Musical The Widow Jones mit den Hauptdarstellern May Irwin und John Rice. Am 11. Mai präsentiert die Edison Company in der Music Hall von Koster & Bials in einem Filmstreifen von 35 Sekunden Länge den Kuss des Paars aus dem letzten Akt, in halbnaher Kameraeinstellung: The John C. Rice-May Irwin Kiss (USA 1896) in den Kategorien Tom Gunnings ein „incident of erotic display“ im Rahmen des single-shot-Genres. 35 Sekunden bedeuten nicht gerade Überlänge, weder im Kino noch beim Küssen in New York jedoch sind sie eine Sensation. Eine Woche lang, schreibt Musser, hatte man nun die Wahl „between seeing Rice and Irwin kiss live and onstage at the Bijou or seeing their virtual kiss performed repeatedly and in medium close-up at Koster & Bials.“ Erstmals sei dieselbe Aktion, vorgestellt von denselben Akteuren, an zwei verschiedenen Orten zu sehen gewesen „in two different modes and, potentially at least, at the same time.“ (Musser 2009, S. 64) Die „disruption“, die hier dem traditionellen Theater widerfährt, besteht in der Verdopplung seiner Performance in einem anderen Medium und einem neuen Wahrnehmungsmodus: einem Modus, der 1896 allenfalls ahnen lässt, wieviele Filmküsse folgen werden und wieviele Geschichten und Genres, die von ihnen erzählen. Edison vertreibt den Film auch in Europa, die Firma Vitagraph eröffnet mit ihm in den folgenden Wochen zwei neue Theater in Boston und Philadelphia.
Der sinnliche Reiz der puren Anschauung, der demonstratio ad oculos, ist auch in Frankreich das Kennzeichen des frühen erotischen Films. Georges Méliès enthüllt in Après le Bal (Fr 1897, 1 min. 26 sec.) die Dessous, schließlich den nackten Rücken einer schönen Frau, und schon ein Jahr zuvor eröffnet Eugène Pirou mit Le coucher de la mariée (Fr 1896, 1 min. 41 sec.) die lange Reihe der sog. „pikanten Filme“ der Firma Pathé. „Pikant“ ist um die Jahrhundertwende ein Synonym für „anzüglich, anstößig, nahe am Schlüpfrigen, erotisch“, so der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen. Das Aufsehen, das „pikante Filme“ erregen, hält sich in Grenzen, zumal ihre Sujets
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„sowohl zum Repertoire der Varietés gehörten als auch einen florierenden Teil des fotografischen Gewerbes ausmachten.“ (Goergen 2002, S. 45) Auch Postkarten und Daguerreotypien mit „Nuditäten“ sind Vorläufer des erotischen Filmgenres. Ab 1906 wird es von dem Österreicher Johann Schwarzer, Begründer der Wiener Saturn-Film, mit seinen „Herrenabendfilmen“ bedient. Sie heißen Besuch in der Theatergarderobe (Ö 1907), Der Traum des Bildhauers (Ö 1907) oder Im Maleratelier (Ö 1909): vorzugsweise Entkleidungsnummern in einem Bohème-Ambiente, die vordergründig an den Blick des männlichen Zuschauers adressiert sind, gleichzeitig jedoch die Begierden des meist anwesenden männlichen Akteurs ironisch ins Leere laufen lassen und seinen Sexismus entlarven. Unter den Bedingungen einer noch rigiden patriarchalen Kultur antizipieren diese frühen Mini-Pornos eine dem Genre eigentümliche Ambiguität, eine Doppelstrategie: Der spezifisch männliche Voyeurismus, dem sie zu schmeicheln vorgeben, konkurriert mit dem weiblichen Interesse, den eigenen, in der Öffentlichkeit zensierten erotischen und sexuellen Wünschen im Kino zu begegnen und weibliche Handlungsoptionen thematisiert zu sehen. 1911 unterbindet das österreichische Auswärtige Amt den Export von Schwarzers Filmen in die USA, die Produktion weiterer „Herrenabendfilme“ wird verboten.
In den Burlesken und „Minuten-Filmen“ der frühen Jahre kristallisieren sich genretypische Muster, Charaktere, dramaturgische Konstellationen und Präsentationsformen heraus, in denen das Erbe älterer Medien aufbewahrt ist und spätere Entwicklungen bereits aufblitzen. Konfiguration und Ausdifferenzierung der Genres beanspruchen Jahre, oft Jahrzehnte. Die Periode zwischen 1895 und 1913 ist jedoch auch von Sprüngen und Beschleunigungen gekennzeichnet, deren Dynamik sich im weiteren Verlauf der Filmgeschichte, selbst in den Phasen technischer, ästhetischer und ökonomischer Umwälzungen (Ton- und Farbfilm, neue Formate usw.), nicht wiederholen wird.
3 Im Innenraum der Filme
Mit den frühen Nummernprogrammen befindet sich das neue Medium in einer Art Testbetrieb. Die Schausteller, die zunächst auf Jahrmärkten und in Varietévorstellungen ihre Filme zeigen und etwa ab 1905, zunächst in den Großstädten, ihre Kneipen- und Ladenkinos eröffnen, müssen sich auf einen neuen Konsumententypus einstellen. Seine Erwartungen, Neigungen und Abneigungen sind noch unbekannte Größen. Es zeigt sich: Der Film als ökonomisches System ist widerspenstig. Mit ihm mischen sich unwägbare Faktoren wie Kunst, Ideologie, individuelle Obsessionen ins Geschäft und sorgen dafür, dass sich in den Kostenkalkulationen Fehlerquellen häufen zwangsläufig schlagen sich diese in den Bilanzen nieder. Die Kinematografie wird zu einer Zeit marktförmig, in der die Industrie das Fließband einführt; 1913 installiert Henry Ford in seinen Fabriken seine erste moving assembly line. Doch obwohl das Tempo der Filmproduktion in diesen Jahren mit dem in der Automobilindustrie durchaus Schritt halten kann, tut sie sich noch schwer, ihre Erzeugnisse zu „formatieren“, Genres zu entwickeln, wie in der Autoindustrie Produktlinien und Marken entwickelt werden.
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Hier wie dort freilich sind es technische Interventionen, die den Entwicklungsprozess vorantreiben. Sie finden im Innenraum der Filme statt gerade dort, wo die erste Ideenskizze, das Szenar, die Schauspieler- und Kameraführung und das frühe Montage-Handwerk noch in einer Hand liegen. Zufälle unterstützen die unermüdliche Suche nach Effekten: Georges Méliès erzählt, wie ihm bei dokumentarischen Aufnahmen auf der Place de lOpéra der Film in der Kamera riss und er so den stopmotion-Trick „erfand“. (Méliès 1993, S. 25) Technische Neugier, Erfindungsfreude, Experimentierlust sorgen dafür, dass aus den Attraktionen des Jahrmarktskinos komische oder groteske Sketche werden, die sich schließlich zu jenen comedies weiterentwickeln, die schon im ersten Jahrzehnt die Kinoprogramme in Europa wie in den USA dominieren.
Genre-Zuordnungen, wie sie hier unvermeidlicherweise ex post, aus der Perspektive des modernen Mainstream-Kinos vorgenommen werden, sind allerdings unhistorisch terminologisch greifen sie der Entwicklung vor, überspringen die Filme selbst und ihre spezifische Vermarktungsgeschichte. Zumal für die Kurz- und Kürzestfilme, die um die Jahrhundertwende entstehen, sind die Gattungsbegriffe, die sich unter den Geschäftsbedingungen der Hollywood-Studios in den 1920er-Jahren durchsetzen werden, schwerlich anwendbar. Der Terminus „comedy“, der im amerikanischen Filmgeschäft sehr früh geläufig ist, hat im übrigen eine andere Konnation als die „Komödie“ in Deutschland hier kündigen die Kinobetreiber Burlesken, „köstliche Humoresken“, sogar „urkomische Pantomimen“ an (Thomas Elsaesser 20021, S. 25, Abb. 2), betonen den Fragmentcharakter ihres Angebots, die Nähe des Filmgewerbes zum Varieté. Die Sujets der Laterna magica sind den Kinobesuchern noch vertraut und werden bis in die 1920er-Jahre mit den Filmbildern konkurrieren.
Dies gilt auch für die Produktion. In den Anfängen hat die Technik der Laterna magica, die es mit ihrem Linsensystem erlaubt, zwischen unterschiedlichen Einstellungen zu wechseln, die Filmemacher inspiriert, „to deal with changes in time, perspective and location“ (Gray, Screenonline 2014) und mit Hilfe der Montage komische Effekte zu erzielen. Der Brite George Albert Smith etwa beginnt mit einfachen one shots: The Miller And The Sweep (GB 1898) ist noch ein Rüpelspiel, eine „lustige Prügelszene“ vor einer eindrucksvoll präsentierten Windmühle. Auch der bereits erwähnte The Kiss in the Tunnel (GB 1899) besteht noch aus einer Einstellung, doch eingefügt in den phantom-ride-Film View From an Engine Front Train Leaving Tunnel (GB 1899) von Cecil Hepworth ergibt sich für die Zuschauer „a new sense of continuity and simultaneity across three shots“ (Gray 2014), ein Effekt, der die Komik der kleinen Geschichte verfeinert. Mary Janes Mishap (GB 1903), bereits vier Minuten lang, präsentiert die Hauptfigur, eine überaus geschäftige ältere Dame, in totalen und halbnahen Kameraeinstellungen sowie close ups; am Ende jagt sie sich aus Übereifer selbst in die Luft, in einer Naheinstellung zeigt der Film ihren Grabstein. Die wechselnden Einstellungsgrößen, die Aktionen der Miss Jane und die Grimassen, die sie schneidet, bedingen den lebendigen Rhythmus dieses Films nach Gunning ein cut-in/cut-out-Verfahren, „in which successive shots overlap spatially.“ (Gunning 19901, S. 93)
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Sehr schnell erweist sich die mit grotesken oder makabren Pointen operierende Komödie als transnational erfolgreiches, somit auch für den internationalen Filmhandel lukratives Format, das Einflüsse aus anderen Medien aufsaugt und einen regen Austausch zwischen Produzenten und Regisseuren ermöglicht. Damit vervielfachen sich die Stilmittel, werden die Handlungen komplexer, die Erzähltechniken raffinierter. Vaudeville-Gags oder Anregungen aus beliebten Comics werden dankbar aufgegriffen und in die filmische Erzähltechnik integriert. Die EdisonProduktion The Dream of a Rarebit Fiend von Edwin S. Porter und Wallace McCutcheon (USA 1906) basiert auf dem gleichnamigen, äußerst populären Comicstrip von Winsor McCay, der im New York Telegram seit 1904 erschienen war. Eine Fülle von Spezialeffekten lässt hier einen Käse-Gourmet im Vollrausch durch skurrile, halsbrecherisch-surreale Erlebnisse torkeln: Doppelbelichtungen, pendelnde Kameraschwenks, stop-motion-Tricks und split-screen-Effekte erweitern das cinema of attractions um filmtechnische Dimensionen, die das Publikum, ähnlich wie wenig später die Slapstick-Komödien Mack Sennetts, gleichermaßen in Staunen versetzen und erheitern sollen. Aus dem Baukasten kinematografischer Stilmittel, der zu dieser Zeit entsteht, wird sich in den kommenden Jahren das Medium insgesamt bedienen, aber es ist kein Zufall, dass die aus den komischen Nummern entstandene (Situations-)Komödie sein wichtigstes Exprimentierfeld ist.
Konventionellere Genres oder Subgenres wie die Charakter- und die Gesellschaftskomödie (Beispiele sind etwa die französische Rigadin-Serie, die Komödien von Léonce Perret oder die italienischen Filme mit dem Komiker André Deed) entwickeln ihre Konturen zwischen 1905 und 1910 in dem Maße, wie sich das Filmdrama als kohärente und strukturierte Erzählung etabliert und sich dabei vom Formenrepertoire des Bühnendramas emanzipieren kann. Max Linder, Starkomiker der Pathé Frères und ab 1911 sein eigener Regisseur, vereint in seinen weit über dreihundert Filmen zwischen 1907 und 1917 die Varianten des komischen Genres Situations-, Charakter- und Gesellschaftskomödie zu einer singulären Synthese: eine Leistung, der seine Firma mit kostspieligen Werbekampagnen und der herausgehobenen Plakatierung seines Namens huldigt. Als Fin-de-siècle-Dandy par excellence verkörpert er einen Gesellschaftstypus, der sich zwischen den Zwängen einer hierarchischen Ordnung und den Unbilden und Risiken einer rauen Moderne bewegt Siege und Niederlagen bewältigt er mit bestrickender Eleganz und stoischer Nonchalance. Sein Film Le duel de Max (Fr 1913) gilt mit 63 Minuten als erste lange Filmkomödie; zwar firmiert auch Mack Sennetts Keystone-Produktion Tillies Punctured Romance (USA 1914, 82 min.) mit Charles Chaplin, Marie Dressler und Mabel Normand als „the worlds first feature-length comedy“ (Allex Crumbley, Spellbound Cinema 2011), kommt jedoch erst im Dezember 1914 auf den Markt.
Die wachsenden Ansprüche des Publikums an das Affektangebot des Kinos beschleunigen die Genreentwicklung umgekehrt steigen mit der Genrevielfalt die Anforderungen an das Wahrnehmungsverhalten des Zuschauers, an seine Bereitschaft, sich flexibel auf die raumzeitlichen Verhältnisse filmischer Realität einzulassen. In den Anfängen sind in der Rezeption bewegter Bilder noch prä-kinematografische Sehgewohnheiten präsent, werden kausale Beziehungen additiv, in einer einfachen
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parataktischen Struktur veranschaulicht. „Raum und Zeit“, schreibt Thomas Elsaesser (20022, S. 83), „müssen erst einmal als variable Größen getrennt erfahrbar gemacht werden, ehe sie im neuen Verbund (etwa durch Montage oder Änderung der Einstellungsgröße) dem Zuschauer den Eindruck kausaler Zusammenhänge vermitteln und somit eine Handlung als kohärent und zwingend erscheinen lassen können.“
Ein Beispiel dafür ist Ferdinand Zeccas früher Kriminalfilm Histoire dun crime (Fr 1901), laut Pathé-Katalog eine „scène dramatique en 6 tableaux“ (Bertrand 2010, S. 93) weniger das Drama eines Verbrechens als das Schicksal eines Verbrechers in sechs chronologisch aufgebauten Stationen. Ein Raubmord, die Verhaftung des Mörders, seine Überführung, das Todesurteil, die Vorbereitungen zur Hinrichtung, schließlich die Exekution durch die Guillotine werden in Tableaus wie die Bildfolge einer Moritat präsentiert. Die Einstellungen werden nicht durch Schnitte getrennt, vielmehr durch Überblendungen verbunden eine von Méliès eingeführte filmische Lösung, die, ganz im pädagogischen Sinne einer von einem Bänkelsänger vorgetragenen Moritat, das Nacheinander der Stationen als Kausalkette, mithin die Zwangsläufigkeit der Logik von Verbrechen und Strafe unterstreicht. Zeccas Film ist die filmische Rekonstruktion einer vom Pariser Wachsfigurenkabinett Grévin ausgestellten Attraktion unter dem Titel „Lhistoire dun crime“, die dem Publikum in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts als eine serielle Konfiguration dreidimensionaler Tableaus präsentiert wurde.
Eine weitaus kompliziertere Struktur weist, sieben Jahre später, die Pathé-Produktion Le Médecin du Cha^teau (Fr 1908) auf, ein Kriminal- bzw. Gangsterfilm der Prä-Griffith-Periode. Zwei Schurken überfallen das Haus eines Arztes, um es in seiner Abwesenheit auszurauben. Mit dem Eindringen der Gangster ins Haus scheint sich das Erzähltempo zu erhöhen, obwohl die Schnittfrequenz konstant bleibt. Es sind die cross-cutting-Effekte, die alternierenden Aktionsebenen, die Beschleunigung suggerieren. Vom Zuschauer wird verlangt, zwei oder mehr parallel verlaufende Erzählstränge zu verknüpfen. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Schauplätzen und agierenden Figuren dynamisiert die filmische Narration, steigert die Spannung und mündet in eine hier noch ungelenk inszenierte last second rescue nach Gunning ein Beispiel für das genre of discontinuity, in dem die Story kontinuierlich vorangetrieben, die einzelnen Aktionen jedoch durch Schnitte getrennt werden. Das Verfahren ist um 1908 neu und wird von David W. Griffith bald zur Meisterschaft entwickelt werden. Unter dem Titel A Narrow Escape bringt Pathé Le Médecin du Cha^teau im März 1908 in New York heraus; einige Szenen, vor allem das vermutlich erste Telefongespräch der Filmgeschichte, das beide Partner in Naheinstellungen zeigt, inspirieren Griffith zu seinem Film The Lonely Villa (USA 1909).
In den Vereinigten Staaten treibt das Gangsterthema schon in diesen Jahren Subgenres hervor. Als Wallace McCutcheon im März 1906 mit G.W. Bitzer, dem späteren Kameramann von Griffith, für die Biograph The Black Hand dreht, kann die Firma den Film mit dem Untertitel „The True Story of a Recent Occurrence in the Italian Quarter of New York“ auf den Markt bringen. Nur einen Monat zuvor hatten süditalienische Gangster mit dem Versuch Schlagzeilen gemacht, von einem ihrer ehrlichen Landsleute aus dem Fleischergewerbe Schutzgeld zu erpressen, und waren
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vor Mord und Kidnapping nicht zurückgeschreckt. Die Polizei schaltet sich ein und bringt die Sache zu einem guten Ende. The Black Hand, vermutlich der erste Mafiafilm und ein früher Exploitationfilm (Stiglegger 2017, S. 148150), ist auch ein Film über Immigration, der in den Jahren der großen Einwanderungswellen von Immigranten handelt und sie zugleich adressiert. Er profitiert von „the notoriety of the well-known urban immigrant gangs as well as the February headline while appealing to new immigrant Italian audiences in its portrayal of the good Italian immigrant butcher“, wie Lauren Rabinovitz schreibt (Rabinovitz 2009, S. 162).
Während The Black Hand mit seinen langen, meist totalen Einstellungen noch einer konventionellen, parataktischen Erzählweise folgt, nähern sich spätere Filme des Kriminal- und Gangstergenres der Dramaturgie des Thrillers an. In Suspense (1913) von Lois Weber, der ersten Filmregisseurin der USA, dringt ein Einbrecher in ein einsames Haus ein und bedroht eine junge Frau. Ungewöhnliche Kameraperspektiven und Bildeffekte steigern sukzessiv die Spannung der Situation: So wird der Einbrecher mit dem subjektiven Blick der gefährdeten Frau in einer extremen Aufsicht gezeigt, während er plötzlich nach oben, also der Frau und dem Zuschauer ins Auge starrt; drei simultan stattfindende Aktionen erscheinen im split-screenVerfahren gleichzeitig im Bild. Im selben Jahr entsteht der Kriminalfilm The Evidence of the Film (USA 1913), der das selbstreferentielle Spiel mit den Techniken des eigenen Mediums zum Motor, ja zum Thema der Erzählung macht: In einer elaborierten Film-im-Film-Montage schildert er, wie ein Scheckbetrüger mit Hilfe einer zufällig am Tatort anwesenden Filmkamera überführt werden kann.
The Evidence of the Film ist in der Liste der Produktionsfirma Thanhouser als „drama“ ausgewiesen (Thanhouser 1995/2016) und entspricht damit den Gepflogenheiten der amerikanischen Filmindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, in den gängigen Werbeträgern (Tagespresse und Fachzeitungen) ihre Filme als „drama“, „comedy“ oder „documentary“ anzupreisen. Gelegentlich tauchen Kennzeichnungen wie „comedy-drama“ oder „fairy tale“ (so für Cinderella, 1911) auf, spezifizierende Begriffe wie „detective drama“ (wie für den Thanhouser-Film The Centre of the Web, 1914) sind dagegen seltener. Die zahlreichen Mischformen des frühen Kinos erschweren zudem die kategorielle Zuordnung. Dies gilt für amerikanische wie europäische Filme gleichermaßen: Det hemmelighedsfulde X (Dk 1913) des Dänen Benjamin Christensen zum Beispiel, der mit 85 Minuten bereits eine klassische Kinolänge aufweist (und mit seiner exzellenten Kamera die Schwarz-weißEffekte des deutschen Expressionismus vorwegnimmt), wird in Dänemark und Deutschland als „Sensationsdrama“ herausgebracht. Während sich in seiner verzweigten Handlung Motive der Familientragödie, des Abenteuergenres und des patriotischen Kriegsfilms überkreuzen, charakterisiert das zentrale Motiv des Plots den Film nach heutigem Verständnis ohne weiteres als Spionagefilm.
Ähnlich gelagert sind die Genre-Verhältnisse im mutmaßlich ersten langen Spielfilm der Filmgeschichte, dem australischen The Story of the Kelly Gang aus dem Jahre 1906. Von der ursprünglich etwa 60-minütigen Fassung sind heute nur noch 20 Minuten erhalten. Bezeichnenderweise finden sich auf der Website des Filmportals IMDb für diesen Film vier Genrevorschläge: „Biography, History, Drama, Western“. Er behandelt die Umtriebe der berüchtigten Bushranger Gang unter ihrem
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Anführer Ned Kelly, die in den 1870er-Jahren den australischen Bundesstaat Victoria unsicher gemacht und etliche Spuren in der zeitgenössischen Populärkultur hinterlassen hatte. Die Produzenten des Films, John and Nevin Tait, ursprünglich Besitzer mehrerer Kinos in Australien und Neuseeland, hatten genügend Geld verdient, um 1906 selbst in die Produktion einzusteigen. Angeregt wurden sie besonders durch den überwältigenden Erfolg, den ein konkurrierendes Kinounternehmen mit dem berühmten Gangsterdrama The Great Train Robbery von Edwin S. Porter (USA 1903) verzeichnen konnte. In der Tat finden sich Überschneidungen zwischen beiden Filmen und beide sind in die Annalen der Film-, ja sogar der Weltkultur eingegangen: The Story of the Kelly Gang wurde als „the worlds first full-length narrative feature film“ von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, The Great Train Robbery gilt als erster Western der Filmgeschichte. Prädikatisierungen dieser Art sind freilich nicht unproblematisch bedenkt man, dass von der globalen Filmproduktion vor dem Ersten Weltkrieg höchstens fünf bis zehn Prozent erhalten, der weitaus größte Teil dieses Erbes also entweder verschollen oder spurlos verschwunden ist.
Das film- und mediengeschichtliche Umfeld von Porters zwölfminütigem The Great Train Robbery wurde von amerikanischen Forschern allerdings mustergültig erschlossen. Obwohl der Film keineswegs in den Prärien und Canyons des amerikanischen Westens, der angeblichen Geburtsstätte des Westerns, sondern in New Jersey gedreht wurde, spricht in der Tat vieles dafür, dass er das Western-Genre begründet und seine Entwicklung wesentlich befruchtet hat vor allem sein langes Leben auf dem US-amerikanischen Markt. Noch im April 1906, zweieinhalb Jahre nach seiner Premiere, notiert ihn die Edison Manufacturing Company als den beliebtesten Film, der sich im Umlauf befindet (Musser 1991, S. 330). Berücksichtigt man den enormen Verschleiß, dem die Filme in Produktion wie Distribution dieser Jahre ausgesetzt sind, zeugt dies von einer außergewöhnlichen Nachhaltigkeit. Eine Erklärung für diesen Erfolg ist zweifellos darin zu sehen, dass The Great Train Robbery wie kein anderer Film dieses Zeitraums (vielleicht mit Ausnahme von Uncle Toms Cabin) von amerikanischen Mythen zehrt und die amerikanische Populärkultur als Fundus nutzt. (Musser 1991, S. 242) Für die Genrebildung sind daher in diesem Fall die intermedialen Bezüge von besonderer Relevanz. Dies gilt neben den seit den 1860er-Jahren populären dime novels, den Groschenheften mit Wild-West-Geschichten vor allem für die legendäre Bühnenschau „Buffalo Bills Wild West Show“, mit der William Frederick Cody seit 1883 zunächst durch die Vereinigten Staaten und dann durch die halbe Welt tourte.
Zwei (verschollene) Filme dieses Titels mit Cody als Star aus den Jahren 1900 und 1901 gehen The Great Train Robbery voraus. Charles Musser vermutet, dass Porter selbst Anfang April 1901 Buffalo Bills Wild West Show Parade mit dem triumphalen Einzug Codys und seiner Familie in New York gedreht hat. In den folgenden Wochen finden im Madison Square Garden Wild-West-Shows statt nach Musser möglicherweise eine Inspiration für den Film Stage Coach Hold-up in the Days of 49 der Edison Manufacturing Company, der seine Darsteller und Requisiten aus den Shows übernimmt und im Juli 1901 auf den Markt kommt. Dieser wiederum gilt als Vorlage sowohl für den britischen Film Robbery of a Mail Coach
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(UK 1903) von Frank S. Mottershaw, den die Sheffield Photo Company im Herbst 1903 produziert, als auch für The Great Train Robbery, den Porter nur wenige Wochen später dreht und noch im November als „highly sensationalized headliner“ an die Öffentlichkeit bringt. (Musser 1991, S. 174)
Die komplizierte Vorgeschichte rückt auch die Genrefrage in den Blick. Schon Cody zeigt in seiner Wild-West-Show veritable Verfolgungsjagden und macht so den Archetypus chase ab 1903 auch für das Filmgewerbe populär. „Porters initial use of the chase “, so Musser, „was not to create a simple, easily understood narrative but to incorporate it within a popular and more complex story. “ (Musser 1991, S. 260) Ein weiterer Aspekt ist die Nähe von The Great Train Robbery zum railway subgenre, dem Eisenbahnmotiv, das schon in den travelogues (mediengestützten Reiseberichten) und phantom rides vor 1900 zu sehen ist und nun auch den narrativen Film erobert. „The railroad and the screen have had a special relationship, symbolized by the Lumières famous Train Entering a Station (1895) and half a dozen other films. “ (Musser 1991, S. 260) Musser legt überzeugend dar, dass die Eisenbahn in den ersten acht Sequenzen des Porter-Films eine Hauptrolle spielt und das Sichtfeld beherrscht sei es im Blick durchs Fenster bereits in der ersten Einstellung, in der Kampfszene auf dem Lokomotivtender oder am Rand der Gleise, wenn der Zug zum Stehen gekommen ist und die Reisenden von den Gangstern beraubt werden. (Musser 1991, S. 264)
Die erste und letzte Einstellung Justus Barnes als Gangsterboss feuert aus einer Naheinstellung direkt ins Publikum wurde, ähnlich wie der erste Filmkuss 1896, zum emblematic shot eines ganzen Genres. Als Nebendarsteller in drei Rollen wirkt der ehemalige Vaudeville-Schauspieler Maxwell Henry Aronson mit. Er gründet, unter dem Künstlernamen Gilbert M. Anderson, 1907 mit seinem Partner George K. Spoor in Chicago die Filmgesellschaft Essanay und produziert in den folgenden Jahren annähernd 150 kurze und mittellange Wild-West-Filme, in denen er selbst die Hauptrolle übernimmt und als Cowboy „Broncho Billy“ ein Markenzeichen und den ersten Westernhelden der Prä-Hollywood-Ära kreiert.
4 Genre und Filmwirtschaft
Nur wenige Jahre liegen zwischen dem ersten Filmkuss von May Irwin und John Rice und jener darstellerisch und filmisch verfeinerten Kunst, die Béla Balázs in Mimik und Gestik des dänischen Stars Asta Nielsen aufgespürt hat und für die er den Begriff der „Mikrophysiognomik “ erfand (Balázs 1961, S. 63). Ihr Debutfilm Afgrunden (Urban Gad, Dk 1910, dtsch. Abgründe) ist eines der ersten modernen Melodramen der Filmgeschichte. Seine Verleih- und Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Filmgenres nicht zuletzt aus Kalkül und Programmierung hervorgehen, mithin auch aus Marktentwicklungen resultieren oder diese innerhalb kürzester Zeiträume verändern.
Afgrunden ist mit knapp 40 Minuten Länge einer der frühen Zweiakter, die im internationalen Filmgeschäft ab 1910 den one reeler und damit das bis dahin übliche Nummernprogramm aus kurzen, maximal 15 Minuten langen Streifen abzulösen
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beginnen. Der Film erzählt von Liebe und Leid der Klavierlehrerin Magda, die ihren Verlobten und ihr bürgerliches Zuhause verlässt, um im Milieu der Bohème, der Theater und Varietés ihre Emanzipation und sexuelle Erfüllung zu suchen. Am Ende wird sie zur Mörderin an ihrem Geliebten. Seinen Höhepunkt findet der Film in einer berühmt gewordenen Attraktion, dem „Gaucho-Tanz“, einer Performance, die als konventioneller pas de deux beginnt, bis Magda, in eng anliegendem schwarzen Gewand, ihren Geliebten mit dem Lasso einfängt, ihn fesselt, umgirrt und umgarnt, ihm auf den Leib rückt, sich an ihn presst und ihn schließlich in ungezügeltem Begehren umschlingt. Afgrunden, unter provisorischen Bedingungen und ohne künstliches Licht gedreht, wird innerhalb weniger Monate ein internationaler Erfolg und macht die bis dahin fast unbekannte Asta Nielsen zum Weltstar.
Den internationalen Filmmarkt beherrscht vor dem Ersten Weltkrieg die Firma Pathé Frères. Charles und Émile Pathé hatten schon 1902 die Patentrechte der Brüder Lumière übernommen und ihre Geschäftstätigkeit in den folgenden Jahren international ausgeweitet. Bereits 1904 versorgen sie Europa und die Vereinigten Staaten mit 40 Prozent aller auf dem Markt gehandelten Filme. Pathé-Filialen existieren um 1909 in London, New York, Rom, Madrid, Moskau, Melbourne und Tokio. Ihre Monopolstellung erlaubt der Firma, das bis dahin anarchisch-regellos betriebene Film- und Kinogeschäft zu modernisieren. Unter ihrer Herrschaft wird der Filmmarkt neu organisiert. Das von Pathé eingeführte Verleihsystem setzt dem wilden An- und Verkauf der Kopien unter den Kinobetreibern ein Ende; ortsfeste Projektionssäle beschleunigen ab 1905 den Exodus des ambulanten Jahrmarktkinos. Da die Kurzfilme von Pathé, überwiegend Grotesken und Verfolgungsjagden, ohne Unterbrechung den ganzen Tag bis in die tiefe Nacht in den Nickelodeons laufen, prägen sie auch die Verhaltensweisen und Konsumwünsche der amerikanischen Mittel- und Unterschichten; genau genommen betreibt Pathé von Europa aus, wie Richard Abel festgestellt hat, die „americanization of early American cinema“ (Abel 1995, S. 183). Von künstlerischen Ambitionen kann noch nicht die Rede sein; erst ab 1908 wird Pathé versuchen, mit dem film dart ein neues Marktsegment für die gebildeten Schichten zu etablieren. Die Neuorganisation der Märkte erweist sich als Voraussetzung für die Ausdifferenzierung des in den Anfängen noch diffusen Massenpublikums. Sie sorgt dafür, dass sich in der überwiegend urbanen Laufkundschaft der frühen Kinos Präferenzen herausbilden, dass unterschiedliche Publikumsschichten adressiert und für das Kino gewonnen werden können. Diese stellen an das neue Medium wiederum unterschiedliche, jeweils sozial und kulturell geprägte Erwartungen: auf der Rezeptionsseite eine Grundbedingung für die Entstehung distinkter ästhetischer Sprachen, Genres und Subgenres. Zunehmend werden Filme benötigt, die sich (auch) an ein bürgerlich gebildetes, am Theater geschultes Publikum wenden. Um es dauerhaft an die Angebote der Kinos zu binden, bedarf es strukturell komplexerer und längerer Filme.
Die Handlung eines Films, seine erzählte Zeit, entfaltet sich nach Maßgabe der Dauer, die ihr von der Erzählzeit (also der Filmlänge) eingeräumt wird. Mit der Feature-Länge potenzieren sich die Möglichkeiten, Haupt- und Nebenfiguren aufzubauen, ihre Motive einzuführen und sie plausibel zu machen, dem Film eine Grundstimmung, aber auch Stimmungsumschwünge einzuschreiben, Schauplatz-
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wechsel und Zeitsprünge als Instrumente filmischer Narration sinnvoll einzusetzen. Dies sind lapidare Erkenntnisse, die sich jedoch ein Schaustellergewerbe, das dem Milieu der Jahrmärkte und Varietés entstammt und gezwungen ist, innerhalb weniger Jahre industrielle Strukturen aufzubauen, gegen viele Widerstände aneignen und im Produktions- wie im Verleihbetrieb umsetzen muss. In den USA verkörpert David Wark Griffith mit seiner Werkbiografie zwischen 1908 und 1914 exemplarisch diese Entwicklung. Die mehr als fünfhundert Biograph shorts (maximal 20-minütige Kurzspielfilme), die er in diesen Jahren gewissermaßen als Leibeigener der American Mutoscope and Biograph Company verfertigt, nutzt er als Übungsstücke für die Ausformulierung seiner filmischen Grammatik, für den dramaturgischen Zugriff auf unterschiedliche Stoffe und Genres und die Erprobung seines Montageverfahrens. 1913 ist diese Testphase ausgeschöpft; Griffith trennt sich von der Biograph, da ihm die Gesellschaft die Produktion längerer Filme verweigert, und bereitet sich auf seinen ersten „Großfilm“, das Bürgerkriegsdrama The Birth of a Nation (USA 1914/ 15) vor. Die Biograph, die dem Feature-Film lange misstraut, steht mit ihrem rückständigen Konzept bald vor erheblichen finanziellen Problemen.
An der Distributionsgeschichte von Urban Gads Film Afgrunden lässt sich zeigen, wie Ökonomie und Ästhetik, Geschäftsmodelle und Medienformate, Konsumwünsche und Genrebildung einander wechselseitig bedingen. In Deutschland hat dieser Film einen „Medienumbruch“ (Loiperdinger 2010, S. 194) bewirkt eine Zäsur, die drei wesentliche Veränderungen zur Folge hat: die Etablierung des langen Spielfilms, die Einführung des urheberrechtlich geschützten „Monopolfilms“ als unternehmerische Strategie der Verleihbranche und die Entwicklung des Starsystems in Europa in Analogie zu den US-amerikanischen Studios. Es sind eben diese Entwicklungen, die sowohl die Herausbildung des Genresystems als auch einzelner filmischer Genres vorantreiben.
Produzenten, Verleiher und Kinobesitzer sind gleichermaßen daran interessiert, die Überproduktion und den Preisverfall unter den Bedingungen der Nummernprogramme zu überwinden. Es geht ihnen darum, „die einzelnen Filme durch die Vergabe von Aufführungsmonopolen und die künstliche Verknappung ihrer Verfügbarkeit“ (Elsaesser 20021, S. 29) aufzuwerten. Das ermöglicht das Monopolfilm-System: Es ermächtigt den Fabrikanten, die exklusiven Auswertungsrechte seines Films einem Verleiher zu übertragen, der das Erstaufführungsrecht und die Auswertung für einen vertraglich geregelten Zeitraum wiederum an einen Theaterbetreiber in einer bestimmten Stadt oder Region weitergeben darf. Dieses Modell wird zum „kommerziellen Imperativ“ (Elsaesser 20021, S. 29), der sich erstmals in der florierenden dänischen Filmindustrie ankündigt, als die Firma Fotorama 1910, noch vor Afgrunden, mit Den hvinde Slavehandel (dtsch. Die weiße Sklavin) von August Blom ihren ersten Langspielfilm herausbringt. Berücksichtigt man, dass dieser Film (samt seinen alsbald gedrehten Fortsetzungen) seinen beträchtlichen Erfolg ebenso dem Thema des Mädchenhandels wie dem zeitgenössischen politischen Diskurs verdankt, lässt er sich mit Fug und Recht einem Genre zuordnen, das erst ein halbes Jahrhundert später seinen Namen erhalten wird: dem Exploitationfilm. „Das Thema Mädchenhandel bot Aussicht auf pikante Szenen und ließ sich zugleich moralisch unbedenklich als aktueller Beitrag zur Bekämpfung des Mäd-
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chenhandels präsentieren, weil hierzu Anfang Mai 1910 ein internationales Abkommen geschlossen wurde.“ (Loiperdinger 2010, S. 195). „Weiße Sklavinnen-Filme waren Kino auf der Höhe des Zeitgeistes.“ (Esser 1994, S. 55)
Die Länge der neuen Filme, ihr Kassenerfolg, die starke Nachfrage im Ausland verlangen nach einer der Branchenentwicklung angemessenen Vertriebsform. Sie wird mit Afgrunden, dem dritten dänischen Langfilm, vom deutschen Geschäftsmann Ludwig Gottschalk realisiert. Er erwirbt in Dänemark das Exklusivrecht, Afgrunden in Deutschland zu vertreiben, startet im November 1910 mit ganzseitigen Textanzeigen eine bisher beispiellose Werbekampagne und bietet im Branchenblatt Der Kinematograf den Kinobetreibern im gesamten Deutschen Reich an, „sich das konkurrenzlose Erstaufführungsrecht dieses Schlagers bis zur zehnten Woche“ am jeweiligen Ort zu sichern. (Loiperdinger 2010, S. 159). Der Erfolg ist überwältigend; bis ins Frühjahr 1911 hinein melden die Kinobesitzer volle Häuser und schon im Januar werden in den Werbeannoncen neben dem Regisseur Urban Gad erstmals die Hauptdarsteller genannt, unter ihnen an erster Stelle Asta Nielsen. Wenngleich Afgrunden, den Usancen der zeitgenössischen Kinowerbung gemäß, noch als „Sensationsdrama“ oder „Kinematographisches Theater-Drama“ angekündigt wird, bereitet Asta Nielsens Film dem Melodrama ebenso wie dem klassischen Genrekino insgesamt den Weg. Die Begriffsbildung ist allerdings auch in diesem Fall den rasanten technischen, ästhetischen und stilistischen Entwicklungen nicht gewachsen. Noch 1914 unterscheidet Emilie Altenloh, die erste Soziologin des Kinos, dem Angebot der Nummernprogramme entsprechend zwischen „Stücke(n), die Handlungen enthalten“ wie „Dramen, Humoresken“, „Naturaufnahmen von Landschaften, von Tagesereignissen und aus der Industrie“ und „wissenschaftlichen Aufnahmen, die Experimente zeigen.“ (Altenloh 1914, S. 23) Auch der Genrebegriff selbst ist in Deutschland noch nicht geläufig. Relativ früh verwendet ihn der Kinoreformer Hermann Häfker, der ihn allerdings pauschal auf das (Film-)Drama zur Unterscheidung vom Theater bezieht, wenn er 1908 in seinem Aufsatz zur „Kulturbedeutung“ des Films konstatiert, ein „kinematographisches Drama“ sei erst dann zu erwarten, wenn „sich ein eigener Stil für dies Genre herausgearbeitet hat und geübte Spieler in diesem Stile eine eigens dazu erdachte Pantomime vorführen.“ (Diederichs 1996, S. 21/22) Ähnlich argumentiert noch 1913 Oscar A.H. Schmitz, der im Rahmen einer Umfrage im Börsenblatt erklärt, das Kino müsse, um als Kunst Anerkennung zu finden, „aus seinen eigenen Gesetzen heraus ein neues Genre hervorbringen, das ohne die Hülfe des gesprochenen Wortes, ähnlich wie die Pantomime, mit den technischen Mitteln des Kinos selbst verständlich würde.“ (Diederichs 1996, S. 104)
Um 1913 ist diese Aufgabe freilich längst gelöst, werden in Frankreich, Italien, Dänemark und den USA lange und mittellange Filme produziert, die nicht nur komplexe Geschichten erzählen und entwickelte dramaturgische Strukturen aufweisen, sondern Licht und Dekor, Kameraeinstellungen und Raumgestaltung, Schauspielerführung und Montage in den Dienst dramatischer Effekte und melodramatischer Stimmungen stellen. Deutschland sieht im Jahr 1913 den Auftritt des nun auch als „Genre“ bezeichneten „Autorenfilms“. Neben den immer wieder genannten Beispielen Der Andere (R: Max Mack, D 1913) und Der Student von Prag (R: Stellan Rye/Paul Wegener, D 1913 zählt Diederichs für dieses Jahr allein 36 nach Originaldrehbüchern produzierte deutsche Spielfilme (Diederichs 1996, S. 59). 1913
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schließlich spricht Häfker erstmals vom „Melodrama“, meint damit jedoch das dem Theater entlehnte pantomimische Tanzdrama (Diederichs 1996, S. 194). Auch in der Terminologie der frühen angloamerikanischen Fachpresse vermisst Ben Singer den Begriff melodrama als Filmgenre, obwohl schon um 1910 der Typus des tear-drenched drama oder drama of heart-ache alle narrativen Konventionen zeige, die das Hollywood-Melodrama der 1930er- und 1940er-Jahre definieren werden: wie zum Beispiel „the dignity and difficulties of female independence in the face of conventional small-mindedness and patriarchal structure“ (Singer 2001, S. 37 f.). Erst im Kino der 1920er-Jahre wird der Terminus eingebürgert, oder besser: wiederbelebt, denn seine Mediengeschichte ist wesentlich älter. Nach Ben Singer signalisiert das Melodrama auf der Bühne des späten 18. Jahrhunderts die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche in der Epoche der Französischen Revolution; als „cultural expression of the populist ideology of liberal democracy“ (Singer 2001, S. 132) stehe es für Volksnähe und Emanzipation. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschieben sich seine Koordinaten, und im frühen Kino tritt seine Ambivalenz zutage. Es ist kein Zufall, dass Asta Nielsens rebellische Energie in ihren deutschen Filmen, unter dem sozialen und politischen Druck des Wilhelminismus, in einem neuen Medium noch einmal die radikale Frühgeschichte des Genres aufflackern lässt: so etwa in Der fremde Vogel (D 1911), Die arme Jenny (D 1912), Vordertreppe und Hintertreppe, D 1914/15. Doch während in ihrer Darstellungskunst aufsässige Ungebundenheit und Unbändigkeit triumphieren, enthüllen die Geschichten, in denen ihre Figuren kämpfen, sich durchsetzen oder tragisch untergehen, jene „essence of social atomization and allagainst-all antagonism“ (Singer 2001, S. 144), die das Melodrama seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als kulturellen Reflex zerstörerischer gesellschaftlicher Kräfte charakterisiert.
Das Genre hat ein Doppelgesicht, es treibt ein Versteckspiel, sein immer wieder getadelter „Rückzug ins Private“ ist (auch) eine Maske: Das Melodrama schweigt von Ökonomie und Politik, zeigt aber ihre Folgen „the stark insecurities of modern life“ (Singer 2001, S. 132), die Ungeschütztheit des Lebens, Entfremdung und Verwundbarkeit des Menschen in einer „entzauberten“ Welt. Asta Nielsen hat eine zeitgenössische Antipodin: Henny Porten. Schon vor 1914 verkörpert sie die von Siegfried Kracauer exemplarisch analysierte „Triebstruktur“ in vielen populären deutschen Melodramen der kommenden beiden Jahrzehnte: eine nachgerade masochistische Liebe zum Verzicht und, als Subtext, eine prekäre Bereitschaft zu politischer Unterwerfung. Asta Nielsen repräsentiert eine diametral entgegengesetzte Position und wird sie bis zum Ende ihrer Karriere in der auslaufenden Stummfilmzeit behaupten.
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Teil II Definition & Begriffsgeschichte
Gattungen und Genre
Florian Mundhenke
Inhalt
1 Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2 Gattungen und Genres historische Genese der Begriffe in der Literaturwissenschaft und
Kunstgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3 Die Gattungsdifferenzierung der deutschsprachigen Film- und Medienwissenschaft bei
Käthe Rülicke-Weile und Knut Hickethier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4 Zum Verhältnis von Gattungen und Genres Hybridisierungen von Gattungen . . . . . . . . . . . 46 5 Vorläufige Definition und Operationalisierung einer Differenzierungsmatrix filmischer
Gattungen und Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Zusammenfassung
Das Kapitel „Gattungen und Genres“ versucht sich an grundlegenden Definitionen der beiden Begriffe und möchte diese voneinander differenzieren. Historisch wird eine Herleitung der Bezeichnungen über die Genese der Formen in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geleistet. Im Anschluss daran werden die Definitionsversuche des Gattungsbegriffs in der deutschsprachigen Medienund Filmwissenschaft seit 1980 überblickshaft dargestellt, um daraus eine operationalisierbare Konkretisierung abzuleiten. Im Folgenden werden noch zwei grundsätzliche Fragen geklärt: Erstens geht es darum, in welchem Verhältnis Gattungen und Genres zueinander stehen können und welche Bezüge denkbar sind. Zweitens wird der Frage nachgegangen, ob nicht nur Genres mittlerweile als hybrid angesehen werden müssen, sondern ob man auch von Gattungshybriden sprechen kann. Eine abschließende Begriffsbestimmung und Zusammenfassung schließen den Beitrag ab.
F. Mundhenke (*) Institut für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: mundhenke@uni-leipzig.de; florian.mundhenke@uni-hamburg.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_1
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Schlüsselwörter
Filmgattung · Filmgenre · Gattungsgeschichte · Genregeschichte · GenreHierarchie · Gattungen interdisziplinär · Genres interdisziplinär
1 Einleitung und Überblick
Das folgende Teilkapitel untersucht das Verhältnis der Begriffe Gattung und Genre im filmwissenschaftlichen Kontext. Eine kurze theoretisch-definitorische Herleitung von Gattungen in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte leitet über zu kanonischen Definitionsversuchen des Begriffs in der Medienwissenschaft. Ein weiteres Teilkapitel beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Formen Gattung und Genre sowie mit hybriden Formen von Gattungen. Eine vorläufige Definition und der Versuch einer anwendungsorientierten Differenzierungsmatrix schließen das Kapitel ab.
2 Gattungen und Genres historische Genese der Begriffe in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte
In der Alltagssprache ist häufig festzustellen, dass die Begriffe Gattung und Genre synonym verwendet werden. Diese Gleichsetzung ist nicht zufällig, sondern der begrifflichen Genese schon per se eingeschrieben. Zwar geht das Wort Gattung auf „gatten“ (im Sinne von „zusammenkommen, vereinen“) zurück und wird schon im 15. Jahrhundert in diesem Sinne verwendet (vgl. Kemp 2011, S. 135). Aber bereits Martin Luther übersetzte für seine Bibelübertragung den griechischen Begriff génos mit Gattung und stiftete damit den Grundstein für eine mögliche Gleichsetzung der beiden Wörter in der Philosophie sowie Kunst- und Literaturwissenschaft, die bis heute erhalten geblieben ist. Das zeigt sich auch daran, dass der englische Begriff genre als deutsche Äquivalente sowohl das Genre als auch die Gattung kennt. Auch wenn alternative Übersetzungen denkbar sind (category, type, species), haben sich diese nicht wie genre als Ordnungsmetaphern durchsetzen können.
Im Folgenden sollen zunächst einige Schlaglichter auf die Verwendung der Begriffe in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geworfen werden, weil hier die Bedeutungen teils schon seit der Antike verwendet wurden, bevor sie mit dem Aufkommen der modernen Massenmedien Ende des 19. Jahrhunderts auch Eingang in die Differenzierung von Medienformen (nicht nur des Films, sondern etwa auch des Radios oder der Zeitung) gefunden haben.
In der Betrachtung literarischer Formen subsumiert man unter dem Gattungsbegriff relativ unscharf sowohl die bekannten Großformen Lyrik, Epik und Dramatik wie auch „speziellere[] Dichtarten“ (Zymner 2007, S. 262), also spezifischere Formen wie Kurzgeschichte, Roman, Fabel, Essay usw. Eine erste Differenzierung geht dabei bekanntlich schon auf die Antike und die Anfänge der
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sogenannten Gattungspoetik zurück (vgl. Wenzel 2004, S. 73 f.). Die Ausführungen von Platon und Aristoteles zu den drei Formen der Tragödie, der Komödie und des Epos haben vor allem die römische Literaturtheorie geprägt (etwa bei Cicero, Horaz und Quintilian). Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser Forschungsstrang wiederum revidiert (unter anderem durch Johann Wolfgang Goethe) und es wurden als Gattungen des Literarischen die drei Naturformen Epik, Lyrik und Dramatik begriffen (vgl. ebd., S. 74). Goethe begründete diese Einteilung mit der Vermittlungsweise jeder einzelnen Gattung: Die Epik sei erzählend und repetierend, die Lyrik erregend und befindlichkeitsorientiert und die Dramatik drücke menschliche Handlungen und Verhaltensweisen aus (vgl. Goethe 1981, S. 187 f.). Jean Paul korrelierte diese ontologische Einteilung darüber hinaus mit den drei Darstellungsformen einer vergangenen Handlung, die etwa in einem Roman nacherzählt wird (Epik), eines gegenwärtigen Befindlichkeitsausdrucks (Lyrik) und einer zukünftigen Handlungskompetenz, die durch das Drama im Publikum beflügelt werden sollte (vgl. Wenzel 2004, S. 74). Die oben schon erwähnte kleinteiligere Differenzierung unterschiedlicher literarischer Gattungen stammt dann erst aus dem 19. und 20. Jahrhundert, orientiert sich aber in der Regel an keinem verbindlichen und übergreifenden Mechanismus. Wie Rüdiger Zymner festhält, kann die Differenzierung nicht nur nach formalen Kriterien (etwa Versform) oder nach der Redeweise (wer spricht?) gesetzt werden, sondern es gibt zahlreiche Eigenschaften, die als Unterscheidung dienen können, wie „Umfang (Fabel, Kurzgeschichte, Roman), Inhalt (Liebesroman und Abenteuerroman), Adressaten (Frauenromane oder Kindergeschichten) oder Haltungen (Ernst vs. Scherz).“ (vgl. Zymner 2007, S. 263)
Mögen die theoretischen Prämissen literarischer Gattungen und die daran beteiligten Denkschulen sehr unterschiedlich sein, so ist doch eine hohe Kohärenz bei einer basalen Definition von Gattung gegeben. So schreibt Zymner abschließend: „Das Ordnungsmuster Gattung sortiert die Literatur als System und orientiert alle Beteiligten im literarischen Feld; es bindet den Autor an bestimmte, durch Tradition und Konvention verbürgte Anforderungen, die freilich jederzeit zurückgewiesen oder umdefiniert werden können, und es weckt und lenkt Leseerwartungen, die erfüllt, aber auch (gezielt) getäuscht werden können.“ (ebd.) Diese Funktionen der Gattungstheorie (Bildung eines geordneten Zusammenhangs aus einer MetaPerspektive, Beschreibung der Kommunikationssituation zwischen Produzent des Gegenstands und seinen Rezipienten, Spiel mit Traditionen und Konventionen, die bestätigt, aber auch negiert werden können) gelten im weitesten Sinne auch in den anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, so auch in der Publizistik, der Rundfunkgeschichte und eben in der Filmtheorie. In allen diesen Zusammenhängen sind in der Theorieschreibung nicht mehr ontologische Setzungen von außen (als naturgesetzliche Bestimmungen) maßgeblich, sondern es geht um eine „Rezeptionsästhetik“, die ein Zusammenspiel aus Verwendung der Formen durch Produzenten und dem „Erwartungshorizont der Leser“ (Wenzel 2004, S. 72) umfassen, also erst in der Kommunikationssituation entstehen und damit flexibel bleiben.
Ist die Situation der Beschäftigung mit Gattungen in der Literaturwissenschaft zumindest hinsichtlich der Naturformen Epik, Lyrik und Dramatik noch einigermaßen stark kanonisiert und hat so etwa Eingang in die schulischen Lehrpläne
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gefunden, so ist das Feld in der Kunstgeschichte wesentlich uneinheitlicher, auch wenn es von verschiedenen Seiten aus bestellt wurde. Neben Gattung und Genre tauchen hier noch eine Reihe weiterer Begriffe auf, wie etwa Form, Typ oder Medium. Während sich zumindest in der Architekturtheorie eine stabile Ordnung von Typen manifestiert hat, so ist in Bezug auf die bildende Kunst zu sagen, so Wolfgang Kemp, dass hier „Sortierungen nach funktionalen, inhaltlichen oder medialen Eigenschaften [. . .] konkurrieren bzw. nebeneinander laufen.“ (Kemp 2011, S. 135) Er unterscheidet immerhin „Funktionstyp und Substanztyp“ in Bezug auf künstlerische Gattungen, also Einteilungen nach der Verwendungsweise künstlerischer Objekte (wie etwa Altarbilder) oder ihres inhaltlichen Weltbezugs (Landschaft, Porträt). (vgl. ebd.) Kemp erwähnt Jacob Burckhardt, der eine „gemeinsame Plattform für die Behandlung von Typen, Funktionstypen, Inhaltsklassen und Problemstellungen“ angestrebt hatte, aber „mit diesem Vorschlag nicht durch[drang]“ (ebd.).
Herrmann Bauer macht in seiner Einführungspublikation Kunsthistorik (1989) den Vorschlag, die Großformen des künstlerischen Ausdrucks als Gattungen zu begreifen, also eine Unterscheidung zu treffen zwischen Architektur (Bauten, Denkmäler), Bildnerei (Gemälde, Skulptur) und Ornament (Verzierungen, Schmuck). (vgl. Bauer 1989, S. 3950) Damit knüpft der Kunsthistoriker an die Literaturwissenschaft an, die unter dem Begriff der Gattung die drei Großformen Epik, Lyrik und Dramatik zusammenfasste (die sich dann weiter gliedern lassen, so gehören sowohl Roman wie Kurzgeschichte zur Epik, Sonett und Ballade zur Lyrik etc.). Dies ist auch vergleichbar mit Ansätzen der Filmwissenschaft, die in der Differenzierung von Dokumentarfilm und Spielfilm als Gattungen übergeordnete Sinnzusammenhänge ausdrücken. Interessant ist der Vorstoß Bauers auch deshalb wenngleich er nicht als kanonisch gelten kann , als dass er bei der Kategorisierung der Gattungen vor allem von „Repräsentanzen“ (vgl. S. 49) spricht. Ist also die Genremalerei durch Sujet und Zeit geprägt (als Sitten- oder Zeitbild, vgl. Gaethgens 2002), ist die künstlerische Gattung eher an einer Systematisierung überzeitlicher und überthematischer Zusammenhänge beteiligt. Deshalb spricht Bauer auch von einem „Relationsbegriff“ (Bauer 1989, S. 49), es müssen also die Fragen „von wem, wozu, wie, und für wen?“ beantwortet werden (ebd., S. 50). In einem Bild stellt sich nicht nur die Frage nach dem Künstler (und seiner Schule), sondern auch nach dem Abgebildeten, welches das Bild verbürgt wenn es nicht völlig abstrakt ist , es geht also auch um die Existenz des Dargestellten. Ein Bild ist also „Vermittlung“ (ebd., S. 44), etwas „Instrumentales“, „im Bild [wird] etwas imaginiert, was zwar aus dem menschlichen Vorstellungsvermögen stammt, gleichzeitig aber auch am Urbild beteiligt ist.“ (ebd., S. 45) So dient ein Sakralbau einem Zweck (etwa dem Abhalten von rituellen Handlungen wie Gottesdiensten), es ist aber auch Ausdruck künstlerischer Stile und Traditionen (Kirchen aus der Gotik sehen anders aus als Kirchen aus der Barockzeit). Ähnliches gilt für die abstrakten, schmückenden Verzierungen etwa auf Darstellungen oder Gebrauchsgegenständen wie geprägten Münzen. Es gibt immer ein Verhältnis von „Darstellungs- und Bildwerten“ (ebd., S. 46). Ausgehend vom Abbildcharakter einerseits und vom künstlerischen Eigenwert andererseits schließt sich dann eine Vielheit von „Annäherungen, Abspaltungen, Emanzipationen
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und Integrationen“ (ebd., S. 50) an, die für alle Stilformen der Kunst prägend ist. In diesem Sinne hat die Gattung in der Fassung Bauers die übergeordnete Aufgabe einer Hierarchisierung, die an der Wirklichkeitsreflexion einerseits (Landschaften, abgebildete Personen) und am künstlerischen Ausdruck (Stile, Formen, Traditionen) beteiligt ist; sie bildet also in der Kunstgeschichte eine Heuristik, mit der übergreifend künstlerische Vermittlung von Wirklichkeit ausgedrückt werden kann.
3 Die Gattungsdifferenzierung der deutschsprachigen Filmund Medienwissenschaft bei Käthe Rülicke-Weile und Knut Hickethier
Die theoretische Betrachtung und Systematisierung der großen filmischen Genres wie des Westerns, des Science-Fiction-Films oder des Horrorfilms setzen in der angloamerikanischen Filmwissenschaft schon recht früh ein und werden selbst Bestandteil der Kommunikation zwischen Medienproduzenten und -rezipienten über diese Relais, wie sie seit der Institutionalisierung der industriellen Filmproduktion in Hollywood ab 1920 existieren. Spätestens in den 1970er-Jahren gibt es durch die Publikationen von Altman, Neale und Grant in den USA eine Debatte um Formen, Merkmale, aber auch um die stattfindende Medienkommunikation generell, sowohl anhand einzelner Beispiele, als auch in Bezug auf das große Ganze, wobei insbesondere die historische Genese der Formen und ihre Modulierbarkeit fokussiert wird (vgl. Grant 1977; Neale 1992; Altman 2009). Die Filmgenreforschung in Deutschland beginnt eigentlich erst mit der Institutionalisierung der Medienwissenschaft in den 1970er-Jahren und schließt sich den angloamerikanischen Betrachtungen grundsätzlich an, verweilt aber dabei oft im Essentialistischen, indem Merkmale von Inhalten, Ästhetik und Figuren festgehalten werden, ohne deren Flexibilität und Adaptierbarkeit mithilfe eines übergeordneten Systems zu thematisieren (vgl. etwa bei Faulstich 2002, S. 2758). Die Unterscheidung zwischen Filmgenre und Filmgattung taucht überhaupt erst in den 1980er-Jahren auf und hat seitdem Eingang in filmwissenschaftliche Einführungspublikationen gefunden.
Ein grundlegendes Werk aus dieser Reihe ist Einführung in die Film- und Fernsehanalyse des Hamburger Medienwissenschaftlers Knut Hickethier (2007). Er unterscheidet zwischen Œuvre (Werk eines Autors oder Filmemachers), Format (fernseheigenes Differenzkriterium in Bezug auf Vermarktung und Sendeplätze), Programm (Ablauf unterschiedlicher Bausteine in einer zeitlichen Angebotsfolge, z. B. das TV- oder Kinoprogramm) sowie Gattung und Genre (vgl. ebd. 2007, S. 201 ff.). Hickethier sieht in Bezug auf die letzten Formen eine Differenzierung zwischen „einem Modus des Erzählens und Darstellens (Gattung) und einer historisch-pragmatisch entstandenen Produktgruppe (Genre), die ihre Sammelbezeichnung aus einem besonderen Verwendungszeck, einer besonderen Produktionsweise und Vermittlungsintention heraus definiert.“ (ebd., S. 206 f.)
Dieser Unterschied zwischen semantischen und syntaktischen, historisch definierten Reihen (den Genres, die bestimmte Settings, Erzählmuster und Figuren verbinden) und den darüberliegenden großen Erzähl- und Darstellungsweisen als
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Gattungen, hat die DDR-Film- und Fernsehwissenschaftlerin Käthe Rülicke-Weiler
schon in den 1980er-Jahren in Anknüpfung an die Differenzierung der Literaturwissenschaft eingefordert, worauf sich Hickethiers Kurzdefinition explizit bezieht. Sie unterscheidet dabei zwischen den vier Gattungen „Spielfilm, Dokumentarfilm, Animationsfilm [sowie] Mischformen“. (Rülicke-Weiler 1987, S. 21) Sie nimmt an, dass sich diese vier Ausdrucksformen so ausgeprägt „unterscheiden, [. . . ] dass von unterschiedlichen Gattungen gesprochen werden muss.“ (Ebd.) Grundlegend für die Vergleichbarkeit einzelner Werke einer Gattung ist dabei wiederum „die Gesamtheit von Gegenstand, Abbild, Produktionsweise und Rezeption.“ (ebd.) Es ist also davon auszugehen, dass sich sowohl Absichten, also vor allem Herstellung und
Repräsentation, grundlegend unterscheiden, was wiederum pragmatisch auf die Rezeption der Publika zurückwirkt also auch hier handelt es sich um einen rezeptionsästhetischen Fokus. Es lässt sich sagen, dass im Animationsfilm eine bestimmte Herstellungsweise dominiert (das Zeichnen und Bewegbarmachen von
Figuren entweder analog auf dem Zeichenbrett oder digital im Computer), wodurch sich verschiedene Ausdrucksmuster (US-Trickfilm, japanischer Anime) entwickelt haben. Zugleich wird diese Gattung in der historischen Sicht auch durch ein bestimmtes Publikum wahrgenommen in diesem Fall überwiegend im Familienverbund, da der kommerzielle Zeichentrickfilm viele Jahre vorwiegend als Familienfilm institutionalisiert wurde. Zentral ist dabei die Verbindung von Produktionsweise und Repräsentation darauf hatte auch Hermann Bauer bei seiner kunstgeschichtlichen Definition schon hingewiesen. Rülicke-Weiler formuliert: „Zu den konstituierenden Elementen aller vier Gattungen des Films gehört, dass ihre fotografisch oder elektronisch erzeugten bewegten Abbildungen Reproduktionen von physischen Erscheinungen bzw. Vorgängen und Handlungen sind. Die
Geschehnisse zwischen Menschen, ihre Beziehung zueinander, zur Gesellschaft und zur Geschichte können im Dokumentarfilm direkt während der Ereignisse aufgenommen oder im Spielfilm für die Aufnahme arrangiert worden sein.“ (ebd., S. 22)
Im Animationsfilm werden sie so könnte man ergänzen einer abstrahierenden Konstruktion durch die Hand des Animierenden (Zeichners, Puppenkünstlers) her-
vorgebracht. Auch wenn sich argumentieren ließe, dass der Abbildcharakter und die
Realitätsverhaftung des Dokumentarischen am Größten seien, gefolgt vom inszenierten Spielfilm und schließlich vom komplett künstlerisch entworfenen, nicht notwendigerweise realitätsabbildenden Animationsfilm, so lässt sich die Rahmung durch die künstlerische Durchdringung einerseits und den Aussagecharakter über
das Reale (auch im ideellen Sinne) für alle drei Gattungen feststellen. Sie weisen sowohl einen „Autenthiecharakter“ (ebd.) auf, wie Rülicke-Weiler es nennt, sind also den Handlungen, Motivationen und Entwicklungen in der Realität verbunden,
wobei sie gleichzeitig auch eine künstlerische Formung des rein Referentiellen bewerkstelligen: „Das künstlerische Abbild zielt auf Interpretation, auf ideelle Aussage, auf Verallgemeinerung.“ (Ebd.) Warum sich Rülicke-Weiler auf die drei genannten Formen konzentriert, aber den Experimentalfilm (bzw. Kunstfilm, Avantgardefilm) ausklammert, wird aus ihrer Schrift nicht ganz klar, mag aber historischen Umständen geschuldet sein, da der Sammelband 1987 noch in der DDR erschien.
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Der Experimentalfilm, also die Entwicklung des künstlerischen Kinos, welche vom Absoluten Film der 1920er-Jahre über Experimente von Jonas Mekas und Andy Warhol in den 1950er-Jahren bis hin zur Videokunst von Nam June Paik seit 1960 und digitalen Filmkunstwerken heute reicht, ist als Gattung ebenfalls vielschichtig historisch systematisiert worden, vergleichbar dem Dokumentar- oder Animationsfilm (vgl. etwa schon Hein 1971 oder Vogel 1974). Es lassen sich auch hier unterschiedliche Unterformen, vom völlig abstrakten direkten Malen auf den Film über Found-Footage-Filme bis zur Einbeziehung des Raums in Videoinstallationen ziehen (vgl. die dementsprechend differenzierende Systematik bei Young und Duncan 2009).
Folgt man Rülicke-Weiler weiter, lassen sich Gattungen am ehesten durch ihren Repräsentationsanspruch unterscheiden (also nicht, was sie tatsächlich abbilden, sondern was durch die filmische Diegetisierung tatsächlich erscheint). Der Dokumentarfilm beansprucht die Abbildung einer geteilten Wirklichkeit mit dem Rezipienten (entweder aktuell oder historisch vergangen), indem vermittelt wird jenseits dessen, welche Inszenierungstechniken zur Anwendung kommen , dass es sich um eine geteilte Lebenswirklichkeit Regisseur-Subjekt-Rezipient handelt. Der Spielfilm hingegen entwirft in aller Regel eine mögliche (also wahrscheinliche, unter Umständen reale Orte und Ereignisse einbeziehende), aber in dieser Handlungsausgestaltung fiktive Wirklichkeit, die sich ereignen könnte, aber nicht notwendigerweise ereignet hat oder ereignen wird. Im Animationsfilm wird die Handlungswirklichkeit durch den Zeichenprozess abstrahiert und damit verallgemeinert. Im Experimentalfilm wird nun der Bezug auf eine mögliche oder reale Wirklichkeit völlig zurückgenommen, ein Weltbezug muss nicht vorhanden sein.
Der wesentliche Unterschied zwischen angloamerikanischer und europäischer Differenzierung (in der Folge von Rülicke-Weiler eben auch bei Hickethier) ist das Herausnehmen des Dokumentarfilms, des Animationsfilms (und hier ergänzend auch des Experimentalfilms) aus dem Konglomerat der Genres und ihre Erhebung zu Gattungen. Die Wirklichkeitsreflexion und deren Formgebung werden in den genannten Ausführungen zu einem wesentlichen Merkmal der Gattungen. Die Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm scheint innerhalb dieser Matrix dennoch stärker zu sein, da in ihr die Markierung Faktenwiedergabe vs. Fiktionalität aufgehoben zu sein scheint. Hans-Jürgen Wulff schreibt in einer grundlegenden Definition, dass im Spielfilm „eine Geschichte erzählt“ wird, er wird „[u]nterschieden vom Dokumentarfilm, der auf der Nichtfiktionalität des Sujets beruht. Spielfilme basieren meist auf einem Drehbuch, das den Ablauf der Geschehnisse und die Dialoge noch vor dem Dreh festlegt.“ (Wulff 2012). Herausragende Merkmale des Spielfilms sind also Figuren, erfundene Geschichten (die dennoch der Wirklichkeit verhaftet bleiben können) und eine Kausalität von Ereignissen, die Figuren, Settings und dramatische Struktur logisch verbinden (vgl. zur Verbindlichkeit der Spielfilmnarration: Bordwell 1985). Der Dokumentarfilm hingegen ist eine „Filmform, die ausdrücklich auf der Nichtfiktionalität des Vorfilmischen besteht.“ (Wulff und von Keitz 2014) Dabei, so Wulff und von Keitz, ist der „Dokumentarfilmer [. . .] Zeuge von Handlungen, Ereignissen oder Phänomenen der Zeitgeschichte, die er mittels Film erschließt, verdeutlicht, analysiert oder rekonstruiert, wobei er als Autor
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z. B. im Interview je nach künstlerischem Konzept als Fragender, Gesprächspartner etc. an- oder abwesend sein kann.“ (ebd.)
Diese vorsichtige Definition macht schon deutlich, dass die Unterscheidung zwischen faktischem Wirklichkeitsbezug und fiktiver Geschichte nicht immer eindeutig erfolgen kann, sondern vielmehr aufgrund von metatextuellen Setzungen erfolgt: Der Filmemacher sagt, er mache einen Dokumentarfilm. Dabei kann er aber durchaus narrative (zum Beispiel in Filmbiografien), schauspielerische (z. B. in Re-Enactments als Nachstellungen historischer Szenen) oder dramatische Techniken
(etwa eigens komponierte Filmmusik) einsetzen. Auch wenn diese Trennlinie also
tentativ ist, basiert sie dennoch auf einem Gebrauchszusammenhang dieser Muster, auf den sich Filmemacher (als Dokumentarfilmregisseure wie etwa Frederick Wiseman oder Klaus Wildenhahn) wie Theoretiker (wie in der Dokumentarfilmtheorietagung Visible Evidence) oder Zuschauer beziehen (die ein Dokumentarfilmfestival wie das Dok Leipzig aufsuchen oder eine Dokumentarfilmsendeplatz bei 3sat oder arte einschalten). Der Dokumentarfilmtheoretiker Bill Nichols erwähnt ebenfalls diese Korrelation der Ebenen als Grundlage für das Sprechen über die Gattungen, in seiner Betrachtung insbesondere des Dokumentarfilms (vgl. Nichols 2001, S. 2041). Statt zu essentialisieren, also von dem Dokumentarfilm zu sprechen, schlägt er vor, bei der Betrachtung allen drei Ebenen Rechnung zu tragen. So entstehen Dokumentarfilme im Rahmen einer bestimmten institutionellen Praxis von Filmemachern und Produzenten („community of practioners“, ebd., S. 25), die durch Regeln dieser Institutionen vermittelt sind (Produktionsfirmen, filmische Bewegungen). Die Ebene des Textes wiederum folgt bestimmten Regeln der Anordnung, Strukturierung und Aufbereitung dieses Materials („documentary modes of representation“, ebd., S. 27), die an historisch entwickelte Konventionen anschließen. Zuletzt nehmen eben auch Zuschauer diese Werke in einem Rahmen wahr, in dem sich ihre Rezeption vollzieht (es entsteht also eine „constituency of viewers“, ebd., S. 35). Der Zuschauer stimmt in den textvermittelnden Diskurs über Welt ein, indem er ein Dokumentarfilmfestival besucht. Das Zusammenwirken der drei Ebenen institutionelle Herstellung, Strukturierung des Filmtexts und Rezeption in bestimmten Gruppen, an Orten und zu Zeiten definiert die Gattung nicht eben allein das Vorhandensein bestimmter textueller Merkmale. Die Gattungen markie-
ren infolgedessen geteilte Wissensbestände und gemeinsame Orte von Sinnaus-
handlung.
4 Zum Verhältnis von Gattungen und Genres Hybridisierungen von Gattungen
Das Verhältnis zwischen filmischen Genres und Gattungen wird von Rülicke-Weiler nur am Rande behandelt und auch Hickethier stellt die grundsätzlich zu unterscheidenden Begrifflichkeiten nur nebeneinander und verknüpft sie nicht explizit. Wie Christian Hißnauer ausführt, ist grundsätzlich eine hierarchische (eine Gattung enthält mehrere Genres als Unterkategorien) und eine nicht-hierarchische Beziehung denkbar (Gattungen und Genres als überlappende, aber nicht deckungsgleiche Be-
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griffskategorien auf verschiedener Ebene) (vgl. Hißnauer 2011, S. 165 ff.). Für die hierarchische Beziehung spricht vor allem eine Gliederung in verschiedene inhaltlich-ästhetische Bedeutungsbereiche, die durch Genres konstituiert werden, die unter der Großkategorie des fiktionalen Spielfilms zusammengefasst werden können (der Western, der Horrorfilm etc.). Dies wirft allerdings die Frage des Umgangs mit Beispielen auf, die nicht explizit einem Genre zugerechnet werden können. Will man nicht eine weitere problematische Kategorie aufmachen (wie die des Autorenfilms oder der „arthouse narration“, wie Bordwell jene Filme begreift, die nicht dem classical style der Hollywood-Erzählung unterliegen, vgl. Bordwell 1985, S. 205233), dann bleiben diese einfach in einer großen Kategorie der Nicht-GenreFilme übrig. Eine Unterteilung in Unterformen könnte auch für den Dokumentarfilm gelten, wie die Definition von Hans-Jürgen Wulff und Ursula von Keitz deutlich macht, die unter dem Signum unter anderem „Sach-, Reise-, Nachrichtenfilm, ethnografische[n] Film [und] Essayfilm“ (Wulff und von Keitz 2014) einordnen. So ließe sich sagen, dass jede der vier Gattungen unterschiedliche Genres als weitere Differenzierungskategorien (die vertiefte Angaben zu Merkmalen machen) in sich trägt. Dabei fällt auf, dass die Genres des Spielfilms letztlich eher inhaltlich-stofflich motiviert sind (als Ensembles von Erzählungen, Figuren, Settings etc.), während es beim Animationsfilm um Herstellungsprozesse (Puppentrick, Knettrick), beim Dokumentarfilm hingegen entweder um Ereignisse der Vermittlung (Reportage, Interviewdokumentation) oder um Gebrauchsformen (Wissenschaftsfilm, ethnografischer Film) geht.
Demgegenüber, so Christian Hißnauer (2011, S. 167), erscheint eine nichthierarchische Gliederung durch die Unterschiedlichkeit der Ansätze und Merkmalseigenschaften letztlich fruchtbarer. Auf diese Weise wirken die Bedeutungskategorien von Merkmalen der Gattungen einerseits und der Genres andererseits nicht in einem festen Bedingungsgefüge zusammen (das Genre als Unterform der Gattung), sondern sie sind vielmehr als übereinanderliegende Kartierungen zu verstehen, die teilweise deckungsgleich sind bzw. Berührungspunkte teilen, aber auch wieder Elemente aufweisen, die singulär zur Beschreibung nur der einen oder anderen Kategorie beitragen. Bedeutend ist dabei, dass „Genres [. . .] intermediale Verständigungsbegriffe dar[stellen].“ (ebd., vgl. auch Hickethier 2007, S. 151) So kann ein Kriminalstoff jeweils medienspezifisch als Roman, als Comic, als Film oder Computerspiel aufbereitet werden, wobei genretypische Merkmale wie Plotstrukturierung, Setting und Figuren als übergreifende Konstanten bestehen bleiben. Dabei ist die Kriminalerzählung prinzipiell modulierbar und kann in den spezifischen Gattungskontexten (z. B. als Schauspiel mit menschlichen Darstellern im Spielfilm oder als Zeichentrick-Portfolio im Animationsfilm) und darüber hinausgreifend in den verschiedenen Medien (Spiel, Buch, Film) unterschiedlich adaptiert werden. Wie oben schon angedeutet, sind es dabei drei Bedeutungskontexte, die eine Kategorisierung erlauben, wobei jeder dieser Zugriffsmöglichkeiten auf Formen/Erscheinungen/Genres eine gewisse Adaptierbarkeit und Modulierbarkeit aufweist. Für den Spielfilm ließe sich also das Verhältnis von Gattung und Genre folgendermaßen begreifen: Als Basiskategorien lassen sich zunächst die drei Ebenen Herstellung, Text und Rezeption unterscheiden. Die Kommunikationskategorien
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Herstellung und Rezeption sind dabei kartierbar durch den Gattungsbegriff, die textuelle Gestaltung (Inhalt, Ästhetik) ist dabei eher durch das Genre erfasst. Medienproduzenten im weitesten Sinn fühlen sich einer der Gattungen zugehörig, begreifen sich als Dokumentarfilmer oder Regisseure innerhalb des HollywoodStudiosystems; sie bilden bestimmte Form- oder Genrepräferenzen aus. Diese wiederum finden hauptsächlich auf der Stoffebene Ausdruck (ästhetische Merkmale wie die Verwendung der Kamera, musikalische Kompositionsstile der Filmmusik, und auch inhaltliche Merkmale wie Figurentypen, Motive und Standardsituationen der Showdown im Western und Bezüge auf zeitliche und räumliche Parameter). Hierbei geht es auch um das Informationsmanagement im Film, wie also Handlungen und Strukturierungen im filmischen Text beschaffen sind, um die Inhalte für die Vermittlung aufzubereiten. So kann prinzipiell ein ähnliches Thema mit unterschiedlichen Mitteln umgesetzt werden: Oliver Stone etwa hat zwei völlig unterschiedliche Filme über US-Präsidenten gedreht: Während Nixon (1995) das Leben der Person als Tragödie Shakespearescher Prägung erzählt, setzt W. (2008) das Wirken und Handeln des damals noch amtierenden George W. Bush als polemische Realsatire um. Während der eine Film also mythologisiert, ist der andere eher spöttischparteiisch, an einer reinen Vermittlung vorliegender Fakten sind beide weniger interessiert. Dem Produktionskontext gegenüber stehen die Gebrauchsformen der Rezeption von Film. Der Dokumentarfilm kann etwa als Lehrfilm im Kontext der Schule auftreten, aber auch als Image-Film, den eine Firma auf ihrer Homepage zur Verfügung stellt. Sie bedürfen jeweils unterschiedlicher Nutzungsweisen, die eine bestimmte Lesart des Zuschauers einfordern. Die Lesarten sind dabei nicht stabil, insofern hier immer eine Flexibilität erhalten bleibt: So kann der Spielfilm Schindlers List (1993, Steven Spielberg) auch im Unterrichtskontext als Teil der Lehre in einer Schule gezeigt werden, eine Daily Soap kann in Hinblick auf ihre schlechten schauspielerischen Leistungen zum Amüsement der Betrachter beitragen, ein neu restaurierter Filmklassiker kann auf einem Festival in Hinblick auf die Leistung der technischen Rekonstruktion rezipiert werden etc. Insofern spielt die letzte Kategorie der Lesarten eine herausragende Rolle, als in ihr der Schlüssel auch für ein Verständnis von filmischen Wahrnehmungsweisen enthalten ist. Diese relative Flexibilität der filmischen Sinnangebote, als auch der Möglichkeiten, Lesarten einzunehmen, erscheint dabei zwar theoretisch-hermeneutisch ein Nachteil zu sein (da Analysen dazu neigen, zu essentialisieren), für den Gebrauch von Gattungen und Genres sind sie jedoch äußerst hilfreich. Denn sie erlauben, dass sich viele Nutzer in den Sinnangeboten wiederfinden und an sie anschließen können und so allgemeine Bedeutungsangebote der Filme individuelle Findungen von Lektüreweisen und Sinndeutungen zulassen. Im Spannungsfeld von Gattungen und Genres werden also unterschiedliche Kategorien und Begrifflichkeiten angesprochen: Wer im Alltagskontext von Western spricht, hat eher Landschaften und Figuren im Kopf, wer von Dokumentarfilm spricht, meint damit eine Umsetzung und künstlerische Formung von Ausschnitten aus der Realität etc.
Abschließend lässt sich also sagen, dass zwar eine Relation von Gattungen und Genres auszumachen ist, doch diese Trennung (und gar Hierarchisierung) heuristisch nur dann Sinn macht, wenn diese nicht als ontologisierend aufgefasst wird. Die
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Folie Kriminalermittlung und Spielfilm mögen in vielen Beispielen des Detektivfilms deckungsgleich sein, aber es ist durchaus denkbar, auch einen Dokumentarfilm als Ermittlung zu strukturieren (wie etwa in Searching for Sugarman, 2012, Malik Bendjelloul) hier liegen dann gleichsam Genre und Gattung als offene Folien mit unterschiedlichen Intentionen übereinander, die sich ergänzen, aber auch reiben können. Was Peter Scheinpflug über Genres sagt, gilt damit grundsätzlich auch für Gattungen: „Die vermeintliche Unschärfe von Genre-Begriffen ist somit nicht nur produktiv, sondern sie ermöglicht in den meisten Fällen überhaupt erst die erfolgreiche (und effiziente) Kommunikation und bietet darüber hinaus in vielen Situationen die Chance für eine Konsensfindung. Das Varianz-Spektrum der Genre-Konzepte entspricht somit üblicherweise den Bedingungen und Zielen der jeweiligen Kommunikationssituation.“ (Scheinpflug 2014, S. 62)
Diese relative Flexibilität gilt zuletzt auch für mögliche Hybride der Gattungen. Dass sich Genres des Spielfilms aus Gründen des Marketings oder aus einer historischen Entwicklung heraus weiterentwickeln und auch untereinander hybridisieren,
war seit Anbeginn der Filmgeschichte zu beobachten, wie zahlreiche Publikationen
festgestellt haben (vgl. den Disput über das Melodrama als erst abenteuerlicher, dann
eher dramatisch-emotionaler Stoff bei Neale 1993). Wenn man sich an Käthe Rülicke-Weilers Systematik mit den drei oder vier Großformen orientiert, kann man feststellen, dass auch in Bezug auf die Gattungen in den letzten Jahren Annäherungen auszumachen sind, die auf die spezifischen Potenziale einer Reibung der Ebenen Produktion, Textgestaltung und Rezeption abzielen. Dies gilt insbesondere für die Sinnbereiche des Dokumentar- und Spielfilms, die gerade in den letzten zwanzig Jahren immer wieder in einen produktiven Dialog gebracht worden sind. Zwei Formen identifizieren etwa die angloamerikanischen Wissenschaftler Gary Rhodes und John Parris Springer in ihrer Gegenüberstellung der Pole Ästhetik und Inhalt in Bezug auf diese beiden Gattungen: „[T]he interrelationships between documentary and fictional narrative film involves an interplay among four basic categories: documentary form, documentary content, fictional form, and fictional content.“ (Rhodes und Springer 2006, S. 4) Sie leiten also von den etablierten Kategorien Spiel- und Dokumentarfilm, in denen eine Übereinstimmung von Ästhetik und Inhalt vorliegt (documentary form/documentary content im Dokumentarfilm), auf Mischungen dieser Merkmale über, hier namentlich auf der einen Seite das Doku-Drama, welches reale Ereignisse mithilfe der fiktionalen Gestaltungsweise der spielfilmartigen Illusionsherstellung umsetzt (geschlossene Drei-Akt-Struktur in der Narration, Einsatz von Schauspielern, Verwendung von Kompositionen im Stil der Hollywood-Symphonik), also documentary content vs. fictional form. Auf der anderen Seite dieser Annäherung sehen die Theoretiker die Mockumentary, also das Erzählen einer fiktiven Geschichte mithilfe von Schauspielern, die aber dokumentarisch aufgezeichnet und vermittelt werden (etwa mithilfe eines expositorischen
Off-Erzählers, einer Handkameraführung und vorgeblichem Archivmaterial), also fictional content vs. documentary form.
Solche Systematisierungen können ertragreich sein, täuschen aber zumeist darüber hinweg, dass die Annäherungen weitaus vielschichtiger und kleinteiliger sind: Im Animadokfilm (etwa Waltz with Bashir, 2008, Ari Folman) werden reale
50
F. Mundhenke
Begebenheiten mit den Techniken des Animationsfilms umgesetzt, im Essayfilm begegnen Praxen des Experimentalfilms einem dokumentarischen Anspruch und im komischen Dokumentarfilm werden sachliche Vermittlungspraxen der Gattung mit komischen Mitteln parodiert und hinterfragt. Was sich aber übergreifend für diese
Formen aus einer größeren Perspektive festhalten lässt, ist ein umfassendes Spielen
mit den Merkmalen, das zu einer offenen Friktion, einem Kritisieren, NeuAdaptieren und Auflösen tradierter Praxen führt und grundsätzlich bis heute unabgeschlossen ist. Diese schon von Rülicke-Weile oben als Mischformen bezeichneten Gattungshybride üben sich also darin, vor allem die Lesarten des
Publikums herauszufordern und neu abzustimmen. Deutlich wird dies etwa in der
Mockumentary wie Blair Witch Project (1999, Daniel Myrick, Eduardo Sanchéz), die einen Zweifel an der vermittelten Geschichte von in einem Wald verschwundenen Studenten sät und auf diese Weise ein auch für den Zuschauer auf der MetaEbene stattfindendes Spiel mit der Echtheit des Abgebildeten einerseits und seiner filmischen Verarbeitung andererseits treibt. Es lässt sich also abschließend sagen, dass Mischformen die Gattungen als solche bewusstmachen und deren Festigkeit hinterfragen und neue Praxen der Realitätsfassung und des oben erwähnten Authentiecharakters im Sinne Rülicke-Weilers betreiben.
5 Vorläufige Definition und Operationalisierung einer Differenzierungsmatrix filmischer Gattungen und Genres
Abschließend lässt sich sagen, dass die Ebenen der Weltrepräsentation (künstlerisch, animiert etc., das Wie des Weltbezugs) und die Frage nach der Rezeption (als Fiktion oder Non-Fiktion, das Wie der Rezeption) in den zitierten Publikationen primär mit der Institution der Gattung in Verbindung stehen, während technische Fragen (Praxen von Kameraführung und Schnitt) und inhaltliche Fragestellungen (Figuren, filmische Orte, Anordnungen, Erzählsituationen, das Was der filmischen Diegese und ihrer Gestaltung) mit den Genres korrespondieren. Die Frage nach der Rezeption ist dabei einerseits immens wichtig (da sie Genres und Gattungen in Bezug auf die wichtige Kommunikationsfunktion zwischen Produzent und Rezipient verbindet), andererseits aber auch hochkomplex, da die aktuelle Kommunikationssituation immer nur tentativ und vorübergehend sein kann. Es gibt für einzelne filmische Beispiele dabei zumeist Idealisierungen, doch jedes Werk ist dabei auch immer multimodal adaptierbar für unterschiedliche Realisierungen, so etwa zur Unterhaltung, zur Wissensvermittlung oder als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung seiner Kontexte.
Aufschlussreich zu sehen ist dabei, wie die Bestandteile der ersten beiden Ebenen, von technischer Weltvermittlung/Herstellung und Strukturierung/Informationsaufbereitung, verwendet werden, um die dritte Ebene der Rezeption zu determinieren. So ist zu beobachten, dass die Verwendung der Handkamera (Technik) häufig auf einen Modus der Präsenz während realer Momente hinweist, wie sie für den Dokumentarfilm konventionalisiert worden ist; sie beeinflusst den Zuschauer also, das Gesehene als dokumentarisch zu rezipieren, obwohl es dafür keinen ursächlichen Beweiszusammenhang gibt diese Konvention taucht deshalb mittlerweile
Gattungen und Genre
51
auch in einer Reihe von Spielfilmen auf (etwa Cloverfield, 2008, Matt Reeves). Die Gattungen (im Sinne von Weltbezügen, die nach der Aufbereitung des filmischen Wirklichkeitsbezugs fragen und oft Lektüreanordnungen vorgeben) und Genres (als stoffliche Inhalte, Strukturierungen und technische Umsetzungen) sind also immer als flexible Austauschinstrumente zu verstehen, die man in Heuristiken zur Analyse einsetzen kann, es wäre aber sicher falsch sie also solche zu ontologisieren.
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Formen und Funktionen von Genrebenennungen
Katja Hettich
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2 Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Zusammenfassung
Der Artikel zeigt auf, inwiefern Genrebenennungen aufgrund ihrer wesenhaften Heterogenität und Wandelbarkeit kein taxonomisches System zur Klassifikation von Filmen bereitstellen. Er beschreibt sie stattdessen als flexible Verständigungsbegriffe, deren Funktion und Bedeutung sich verändert, je nachdem, in welchen historischen, kulturellen, pragmatischen und wissenschaftlichen Kontexten sie verwendet werden.
Schlüsselwörter
Genrebenennungen · Genrebegriffe · Genreklassifikation · Subgenres · Theoretische Genres
1 Einleitung
Die Selbstverständlichkeit, mit der Filme im alltäglichen Sprechen und auch im wissenschaftlichen Diskurs in Genres und Subgenres eingeordnet werden, erweckt den Eindruck, dass diese Begriffe analog zu biologischen Nomenklaturen ein hierarchisch geordnetes Klassifikationssystem bereitstellen. Dementsprechend dienten
K. Hettich (*) Romanisches Seminar, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_2
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K. Hettich
Genrebenennungen in der Genretheorie lange Zeit in erster Linie als Ordnungskategorien, über die Filme anhand definierter Gemeinsamkeiten oder Familienähnlichkeiten zu Gruppen zusammengefasst wurden.
Mit der allmählichen Abkehr von essenzialistischen Genrekonzeptionen geraten seit den 1970er-Jahren allerdings zunehmend diese Benennungen selbst, ihr Wesen, ihre Funktionen sowie die Prozesse und Kontexte ihrer Entstehung, Entwicklung und Aneignung durch unterschiedliche Nutzer und Nutzerinnen in den Fokus der Genreforschung. In dieser Perspektive werden Genrekonzepte als wandelbare kulturelle Konventionen untersucht (Tudor 1973), als flexible Verständigungsbegriffe (Casetti 2001), deren Bedeutung sich in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen und kulturhistorischen Umfeldern verändert. Um auf die prinzipielle Kontingenz und Kontextgebundenheit von generischen Ordnungssystemen aufmerksam zu machen, wird in der Genretheorie häufig auf eine fingierte chinesische Enzyklopädie verwiesen, die Michel Foucault in Les Mots et les choses (Die Ordnung der Dinge) nach einem Text von Jorge Luis Borges zitiert. In dieser werden Tiere wie folgt kategorisiert:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen. (Foucault 1974, S. 17)
Auch in der filmkulturellen Praxis und selbst in der filmwissenschaftlichen Forschungsliteratur stehen Genrebenennungen nebeneinander, die in vielerlei Hinsicht disparat und unbeständig sind. Filmische Genrekategorien richten sich nach unterschiedlichen Kriterien und sind nicht trennscharf auseinanderzuhalten (1). Sie legen unterschiedlich enge Definitionen an und sind auf verschiedenen Abstraktionsniveaus anzusiedeln (2). Die Herausbildung, Etablierung und Transformation von Genrebegriffen ist als prinzipiell unabschließbarer Prozess zu denken (3). Die Bedeutung selbst scheinbar stabiler Kategorien unterliegt dem historischen und kulturellen Wandel (4). Die Funktion von Genrezuordnungen und das Verständnis einzelner Genrebegriffe variiert nach dem Kontext ihrer Verwendung durch verschiedene Akteure (5). Auch innerhalb der Filmwissenschaft kommen Genrebegriffen unterschiedliche Funktionen als Gegenstand und als heuristische Hilfsmittel zu (6).
2 Hauptteil
2.1 Heterogene Benennungskriterien
Selbst die geläufigsten und langlebigsten Genrebenennungen richten sich nach ganz unterschiedlichen Merkmalsdimensionen; sie beziehen sich mal auf die Inhaltsebene von Filmen, mal auf ihre emotionale Wirkung, mal auf ihre Zielgruppe. Beispiels-
Formen und Funktionen von Genrebenennungen
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weise dient bei Liebes-, Kriegs- oder Kriminalfilmen das behandelte Thema als Benennungskriterium, bei Science-Fiction-Filmen ebenfalls das Thema, zugleich aber auch der spekulative Status der Filmwelt als Zukunftsfiktion. Horrorfilme, Thriller und Komödien leiten ihre Namen von der intendierten Affektwirkung auf den Zuschauer her, Midnight Movies von ihrer ursprünglichen Aufführungszeit. Musicals und Tanzfilme werden formal durch den Einsatz von diegetischer Musik und Tanznummern definiert, Episodenfilme durch ihre narrative Makrostruktur, Actionfilme durch spektakuläre Handlungselemente wie Zweikämpfe, Verfolgungsjagden und Explosionen. Der Film Noir verdankt seinen Namen einer bestimmten Lichtdramaturgie, die zugleich als Ausdruck der düsteren Weltsicht solchermaßen benannter Filme gelten kann. Detektiv- und Gangsterfilme sind nach den handlungstragenden Figurentypen benannt. Kinder- und Jugendfilme wiederum stellen zwar meist auch Kinder und Jugendliche dar, beziehen sich mit ihrer Genrebezeichnung jedoch anders als wiederum die analog anmutende Kategorie des Tierfilms vor allem auf die anvisierte Zuschauerschaft. Allein schon die Inkonsistenz von Genrebenennungen zeigt an, wie schwierig es ist, Filme einer einzigen, eindeutig passenden Genre-Schublade zuzuordnen. Genregrenzen sind nicht trennscharf, und Filme können Muster verschiedener Genres kombinieren. Das muss nicht immer so auffällig vonstattengehen wie in FROM DUSK TILL DAWN (USA 1996, Robert Rodriguez), wenn der Film unvermittelt vom Gangster-Roadmovie zum Vampirsplatter wechselt. Filme müssen ihre Hybridität nicht zur Schau stellen und können auch auf verschiedenen Ebenen völlig widerspruchsfrei die Kriterien mehrerer Genres erfüllen. Ein Klassiker wie WEST SIDE STORY (USA 1961, Robert Wise und Jerome Robbins) wartet zum Beispiel mit handlungstragenden Gesangsund Tanznummern auf, hat zur Vorlage Shakespeares Romeo and Juliet, erzählt eine Liebesgeschichte mit unglücklichem Ausgang und spielt im Milieu zweier Jugendgangs. Der Film lässt sich somit als Musical, zugleich aber auch als Literaturverfilmung, Liebesdrama und Jugendfilm bezeichnen. Zumindest auf thematischer Ebene kombinieren die meisten Filme Elemente verschiedener Genres. In Filmen des postklassischen Kinos treten Genrehybridisierungen besonders auffällig zutage (Collins 1993). Allerdings war bereits im klassischen Hollywoodkino die generische Diversifizierung von Filmen, beispielsweise durch die Einwebung eines Liebesplots in eine andere Haupthandlung, eine gängige Strategie, um mehrere Zielgruppen gleichzeitig anzusprechen (Bordwell et al. 1985, S. 1617; Staiger 1997).
Der Umstand, dass Filme selten passgenau den Definitionskriterien nur eines Genres entsprechen, spiegelt sich in den Genrezuordnungen von Informationsplattformen und Publikationen wider, die eine möglichst treffsichere Orientierung über das zu erwartende Filmerlebnis geben wollen. Beispielsweise listet die Internet Movie Database (IMDb) die meisten Filme gleichzeitig unter mindestens zwei der 22 dort vorhandenen Genrekategorien. Ein besonders in Fernsehprogrammzeitschriften viel genutztes Verfahren ist es, Genremischungen durch Bindestrich-Komposita anzuzeigen, zum Beispiel durch die Etikettierung von BACK TO THE FUTURE II (USA 1989, Robert Zemeckis) als Science-Fiction-Western-Komödie.
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K. Hettich
2.2 Benennungstypen: Genres, Modi, Subgenres und Zyklen
Nicht nur bedienen Genrenamen unterschiedliche Merkmalsdimensionen und bezeichnen diverse Kategorien, die einander teilweise überlappen. Sie sind außerdem unterschiedlich eng definiert und variieren dementsprechend stark hinsichtlich der Zahl der Filme, die sich ihnen zuordnen lassen. Teilweise sind sie sogar auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus anzusiedeln und können dadurch ineinander aufgehen. Transhistorisch und transkulturell bedeutsame Großkategorien wie die Komödie oder das Drama, die unterschiedliche Themen, Schauplätze und historische Rahmen bespielen, diverse Figuren auftreten lassen und mannigfache Rezipientenkreise ansprechen können, stehen neben vergleichsweise engen Kategorien wie zum Beispiel dem Fantasyfilm, dem Katastrophenfilm und dem Kriegsfilm, neben noch engeren Kategorien wie dem Märchenfilm, dem Weltuntergangsfilm oder dem Vietnamkriegsfilm oder sogar neben Typisierungen, die nur eine (zum Beispiel durch ihren Entstehungszeitraum oder ihren Inhalt) sehr beschränkte Gruppe von Filmen umfassen, zum Beispiel Blaxploitation-Filme, Flapper-Komödien oder James-Bond-Filme.
Zur Beschreibung dieser unterschiedlichen Gruppierungsformate sind mehrere Begriffe im Umlauf. So wurde verschiedentlich vorgeschlagen, unter anderem die Komödie, das Melodrama und die romance in Anbetracht ihrer diffusen Erscheinungsformen nicht als Genres, sondern als Modi des filmischen Ausdrucks und Erlebens zu begreifen, die über die Grenzen verschiedener Genres hinweg zum Einsatz kommen können (Gledhill 1987b, S. 1; Williams 1998; Thomas 2000; King 2002, S. 23). Allerdings spielt die Unterscheidung zwischen dem Genre und dem Modus eines Films in der alltäglichen Kommunikation keine Rolle, und sie hat sich auch in der filmwissenschaftlichen Genreforschung bislang nicht durchgesetzt.
Eine in vielen Kontexten gängige Praxis ist es hingegen, Genres in Subgenres auszudifferenzieren. Als Subgenres werden Filmgruppen zweiter Ordnung bestimmt, die Eigenschaften eines Genres teilen und sich darüber hinaus noch durch zusätzliche distinkte Gemeinsamkeiten in Abgrenzung von anderen Vertretern des Genres als eine Sondergruppe konstituieren (Fowler 1982, S. 112; Altman 1987, S. 122124). Dieses Distinktionsmerkmal dient dann zur Benennung einer Untergruppe, die sich auf die gleiche Weise immer noch weiter in Sub-Subgenres ausdifferenzieren lässt (z. B. Actionfilm Martial-Arts-Film Kung-Fu-Film).
Als Zyklus werden Filme bezeichnet, die sich über ein eng definiertes, innerhalb einer begrenzten Zeitspanne von meist wenigen Jahren auffällig beliebtes Genremuster als zusammenhängende Gruppe identifizieren lassen (Grindon 2012, S. 44). Als ein bekannter Zyklus lässt sich zum Beispiel die Reihe von Slasherfilmen anführen, die Anfang der 1980er-Jahre, ausgehend von dem Kassenhit HALLOWEEN (USA 1978, John Carpenter), in die Kinos kam. Das Prinzip der seriellen Variation eines publikumswirksamen Motivs hatten Produzenten bereits im Frühen Kino als gewinnbringende Strategie erkannt. So zog die ebenso skandal- wie erfolgsträchtige erste Vorführung eines Filmkusses mit THE KISS (USA 1896, William Heise) auch gleich einen der ersten Filmzyklen nach sich: den kissing cycle (Klein 2011, S. 14). Mit dem Begriff des Zyklus wird im engeren Sinne häufig der kommerzielle
Formen und Funktionen von Genrebenennungen
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Charakter von Filmreihen markiert, die in strategischer Nachahmung eines bestimmten Erfolgsmusters von einzelnen Studios lanciert werden (Altman 1998; Klein 2011). Der Begriff findet aber auch Verwendung, um vorübergehende Trends innerhalb eines Genres zu kennzeichnen. In diesem Sinne werden in Abkehr von transhistorischen Genrekonzeptionen ganze Genres als Abfolge von Zyklen beschrieben, mit denen Merkmale variiert werden. Gerade vermeintlich gleichbleibende Genres wie die Romantic Comedy können anhand ihrer zahlreichen Zyklen (ScrewballKomödie, sex comedy, nervous romance usw.) als wechselnde Momentaufnahmen produktions-, kultur- und sozialhistorisch spezifischer Konstellationen betrachtet werden.
Die Grenzen zwischen Zyklen, Subgenres und Genres sind in der Praxis nicht klar zu bestimmen. Ein Zyklus bildet sich häufig innerhalb eines Genres heraus und lässt sich somit auch als temporär besonders populäres Subgenre betrachten. Zudem haben jeder Zyklus und jedes Subgenre das Potenzial, mit der Zeit eigenständige Genrestrukturen zu entwickeln (siehe Punkt 3) oder auch ein Genre so stark zu prägen, dass beide schließlich zur Deckung kommen (Grindon 2012, S. 44). Das Verhältnis von Subgenre-Begriffen und übergeordnetem Genre ist ebenfalls häufig prekär, insofern Subgenres quer zu Genrebezeichnungen höherer Ordnung stehen können, die bereits länger etabliert sind. Dadurch kann es zum einen vorkommen, dass Subgenres in verschiedenen Klassifikationen unterschiedlichen Genres unterstellt werden: Beispielsweise lassen sich Stalkerfilme dem Horrorgenre oder aber dem Thriller zuordnen, je nachdem, welche Wirkungseffekte ihre Inszenierung in den Vordergrund stellt. Zum anderen gibt es keine klaren Richtlinien dafür, wann ein Subgenre selbst den Status eines Genres erreicht hat.
Letztendlich lässt sich nicht eindeutig entscheiden, welcher Art von Kategorie einzelne generische Benennungen zuzurechnen sind, und es stellt sich bei vielen Genrebegriffen die Frage, ob sie tatsächlich ein eigenständiges Genre, ein Subgenre oder einen auf wenige Produktionsjahre beschränkten Zyklus bezeichnen. Dieses Problem betrifft selbst so eine geläufige Kategorie wie die des Gangsterfilms. Einerseits stellt er, wie der Detektiv- oder der Polizeifilm, eine subgenerische Spielart des Kriminalfilms dar. Der klassische Gangsterfilm lässt sich zugleich auf nur einen kurzen Produktionstrend der Jahre 19301932 reduzieren, der als Zyklus betrachtet werden kann (Maltby 2003, S. 78). Andererseits kann argumentiert werden, dass dem Gangsterfilm allein schon durch seine herausgehobene Stellung in einschlägigen Texten der filmwissenschaftlichen Genretheorie (Warshow 1962 [1948a]; MacArthur 1972; Schatz 1981, S. 81110) offensichtlich der Status eines paradigmatischen Genres zukommt, das ein eigenes bedeutungstragendes Merkmalsrepertoire aufweist und eine in beständiger Variierung und Ausformung eigener Subgenres bis heute andauernde Geschichte hat.
2.3 Entstehung und Transformation von Genrebegriffen
In einer anti-essenzialistischen Sichtweise stellen Genrenamen nicht einfach Bezeichnungen dar, mit denen bereits bestehende Entitäten etikettiert werden.
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K. Hettich
Vielmehr bringt die Zirkulation von Genrebegriffen Genres erst hervor. Rick Altman hat die These aufgestellt, dass sich die allmähliche Herausbildung neuer Genres unmittelbar anhand der Entwicklung generischer Benennungen verfolgen lässt (Altman 1998, S. 36). Auf dem Weg zu ihrer Etablierung durchliefen Genrebezeichnungen einen Nominalisierungsprozess: Neue generische Tendenzen schlügen sich häufig in einem Adjektivattribut nieder, mit dem auffällige Variationen innerhalb bestehender Genres oder auch über ihre Grenzen hinweg gekennzeichnet würden. Wenn sich diese Variationen im kollektiven Bewusstsein als eigenständige Genreform verankerten, wechsle ihre Kennzeichnung vom adjektivischen Beiwort zum eigenständigen Substantiv. Auf diese Weise folgt Altman zufolge beispielsweise aus dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommendem Produktionstrend, Filme verschiedener Genres an der frontier des US-amerikanischen Westens anzusiedeln, eine zunehmend starke Identifizierung dieser Untergruppe mit ihren distinkten Schauplätzen, Ikonografien, Figuren, und Themen: Aus western romances, western melodramas, western comedies, western adventure films usw. entwickelte sich der Western als eigenständiges Genre (Altman 1998, S. 45). In ähnlicher Weise entstand nach Einführung des Tonfilms aus musical comedies, musical dramas und musical farces das Musical, das als unabhängige Kategorie eigene Unterformen in Form von Subgenres und Zyklen ausbildet (z. B. das Backstage-Musical), die wiederum selbst einen Ablösungsprozess durchlaufen können (z. B. in Form von Backstage-Filmen, die den Zuschauer hinter die Kulissen eines Bühnengeschehens führen, ohne ihre Figuren dabei singen und tanzen zu lassen). Um den Status von der adjektivisch gekennzeichneten Genretendenz zum eigenständigen Genre-Nomen zu vollziehen, müssen laut Altman mehrere Bedingungen erfüllt werden: erstens eine Aufwertung der adjektivischen Komponente gegenüber dem Ursprungsgenre in der Wahrnehmung sowohl der Produzenten als auch der Zuschauer, zweitens eine Anreicherung dieser Komponente mit spezifischen Bedeutungen (z. B. durch die Funktionalisierung von Musical-Nummern als Anstoß und Ausdruck heterosexueller Paarbeziehung), und drittens die Etablierung dieser Konventionen als gemeinsames Interpretationsraster für ansonsten unterschiedliche Filme (Altman 1998, S. 5).
Vor dem Hintergrund von Altmans Theorie lässt sich beobachten, wie neue Genres aus Subgenres und Zyklen entstehen, auch wenn dieser Prozess nicht immer über die von Altman beschriebene Nominalisierung abläuft. Die Ausdifferenzierung von Genrenamen ist häufig auch durch eine thematische Spezifizierung motiviert, die zunächst durch Zusammenfügungen wie Heist-Thriller oder Heist-Komödie ausgedrückt wird und schließlich als Genrebezeichnung für sich stehen kann (Heist-Filme). In manchen Fällen erfolgt die Benennung neuer Genretendenzen auch nach gänzlich anderen Kriterien und von Anfang an unabhängig von bestehenden Genrenamen, wie zum Beispiel im Fall des so genannten Mindgame-Films oder auch des Feel-Good-Films (siehe Punkt 6). Bestimmte Themen und Motive können über Genregrenzen hinweg aufgegriffen werden, sodass die entsprechenden Subgenrebezeichnungen sich nicht mehr einzelnen Genres unterordnen lassen. Selbst wenn die Verwendung eines Subgenrebegriffs zu Beginn noch klar mit einem bestimmten Ursprungsgenre verbunden wird, so können sich die Assoziationen doch in wechselnden historischen und kulturellen Kontexten verändern. Beispielsweise
Formen und Funktionen von Genrebenennungen
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hat sich der Vampirfilm ursprünglich zwar als Subgenre des Horrorfilms konstituiert. Sobald die Vampirfigur jedoch nicht mehr als furchterregendes Monster auftritt, entzieht sie sich ihrem Ursprungsgenre und kann sogar ein generisches Eigenleben entwickeln. So wird spätestens nach dem durchschlagenden Erfolg der TwilightVerfilmungen der Vampirfilm im 21. Jahrhundert auch in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr unweigerlich als Spielart des Horrorgenres verstanden, sondern auch mit anderen Genres wie dem Liebesfilm assoziiert oder als eigenes Genre betrachtet werden. Je nach Fokus kann sich das Verhältnis von Genre und Subgenre auf diese Weise sogar umdrehen und die Frage aufgeworfen werden, was den Vampirfilm über das Vorkommen der Vampirfigur hinaus als eigenständiges Genre auszeichnet, als dessen subgenerische Varianten unter anderem der Horror-Vampirfilm oder der Romantische Vampirfilm angesehen werden können.
Der sich im Aufleben, Vergehen und Vermischen von generischen Tendenzen vollziehende Prozess der Genrebildung und -entwicklung ist potenziell niemals abgeschlossen. Erst der historische Abstand lässt erkennen, ob eine Reihe von Filmen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als zusammenhängende Gruppe erkennbar waren, lediglich einen zeitlich begrenzten Zyklus gebildet haben oder ob ihr Erfolg zu einem späteren Zeitpunkt in Neo-Zyklen wieder auflebt, ob sie womöglich die Entstehung eines Subgenres oder sogar die eines neuen Genres begründet haben. Die Einschätzung hängt vom Standpunkt des Betrachters ab und ist letztlich nicht abschließend möglich, solange die Genregeschichte weitergeschrieben wird.
2.4 Historischer und kultureller Wandel der Bedeutung von Genrebegriffen
Genrewandel manifestiert sich jedoch nicht zwangsläufig im Wechsel von Genrenamen. Die gleichbleibende Präsenz und weite Verbreitung mancher Genrebegriffe sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass doch die Vorstellungen, die mit ihnen verbunden werden, starken Veränderungen ausgesetzt sein können. Manche Genrenamen mögen Stabilität suggerieren, doch die Erwartungen, die über einen Genrenamen aufgerufen werden, erschöpfen sich keineswegs in der namensgebenden Eigenschaft. Diese stellt in der Regel nur eine Minimalbedingung dar, die in der Entstehungsphase eines neuen Genrebegriffs als offensichtliches Distinktionsmerkmal zur Umkreisung einer neuen Spielart von Filmen aufgegriffen wird, an die sich aber schnell Erwartungen bezüglich weiterer Merkmale anheften. Beispielsweise zeichnet sich ein Western nicht allein durch seine historische und lokale Situierung als solcher aus, sondern durch weitere Eigenschaften, die unter anderem wiederkehrende Handlungselemente, seine Ikonografie, seine Figuren oder auch seine Themen und die mit ihnen verhandelte Ideologie betreffen. Einerseits können diese angelagerten Eigenschaften eines Films seine Zugehörigkeit zum Western-Genre sogar so evident erscheinen lassen, dass der ursprünglich namensgebende Indikator nicht einmal mehr gegeben sein muss, wie das Beispiel der sogenannten PennsylvaniaWestern zeigt: Filme wie HIGH, WIDE, AND HANDSOME (USA 1937, Rouben Mamoulian) und DRUMS ALONG THE MOHAWK (USA 1939, John Ford) werden als Western
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K. Hettich
diskutiert, auch wenn sie östlich des Mississippi und in Zeiten des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs angesiedelt sind, anstatt im Westen der USA und im 19. Jahrhundert (Altman 1999, S. 220). Andererseits sind die Konventionen, die einem Genre über seine weiteste Definition hinaus zugeschrieben werden, flexibel, sodass die Vorstellungen der Zuschauer hinsichtlich der Figuren, Narrative, Ikonografien und Bedeutungsgehalte eines typischen Westerns zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich ausfallen. Die Geschichte eines Genres kann nur als Prozess der ständigen Variation von Konventionen verstanden werden: Jeder neue Film hat das innovative Potenzial, die Erwartungen an ein Genre zu verändern, indem er dessen Merkmalsrepertoire modifiziert und erweitert.
Die Bedeutung von Genrebegriffen unterliegt nicht nur historischen, sondern auch kulturellen Besonderheiten. Für nationalspezifische Genregruppierungen haben sich zahlreiche eigenständige Begriffe herausgebildet. Hier gilt es unter anderem, mögliche Unterschiede zwischen ihrem Gebrauch im Bezugsland selbst und in anderen Ländern zu beachten. Beispielsweise bezieht sich der Begriff des Giallo im deutsch- und englischsprachigen Raum speziell auf eine Reihe italienischer Horror-Kriminalfilme der 1960er- und 1970er-Jahre, während in Italien alle möglichen Formen von Krimierzählung in Literatur, Film und anderen Medien als Gialli bezeichnet werden (Scheinpflug 2014, S. 79).
In Bezug auf die internationale Kinolandschaft kommen jedoch auch viele Genrekonzepte zum Tragen, die in der Einteilung von Hollywoodproduktionen eine wichtige Rolle spielen.
Im Zuge der weltweiten Zirkulation von Filmen und damit von Themen, Erzählformen und Bilderwelten können manche Genrebegriffe durchaus transnationale und -kulturelle Bedeutungen annehmen, wie zum Beispiel die globale Verbreitung des Film-Noir-Begriffs in Verbindung mit einer Wiederaufnahme seiner Elemente in internationalen Filmproduktionen der letzten Jahrzehnte zeigt (Naremore 1998; Desser 2012). Allerdings sind beim Blick über den Tellerrand Hollywoods auch die spezifischen Filmkulturen anderer Länder und Kulturkreise zu beachten, die aus eigenen künstlerischen Traditionen hervorgehen, eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen unterliegen und mitunter auch ein ganz eigenes Genresystem entwickelt haben. Die Bedeutung nationaler Filmgenres, ihre Funktionen und spezifischen Zusammenhänge als soziale Institutionen lassen sich nicht erfassen, wenn sie lediglich im Vergleich zu mutmaßlichen Gegenstücken US-amerikanischer Prägung betrachtet werden (beispielweise der Yakuza-Film als Pendant zum Gangsterfilm oder die japanische Großkategorie jidai-geki als Variante des Historienfilms). Zudem läuft ein vornehmlich am Hollywoodfilm geschulter Blick auch Gefahr, auf der Suche nach Genrestrukturen die Eigengesetzlichkeit anderer Filmkulturen zu verkennen. Dies kann dazu führen, dass beispielsweise Filme des populären Hindi-Kinos vorschnell als Musicals identifiziert werden, obwohl Gesangs- und Tanzszenen über alle Genregrenzen hinweg integraler Bestandteil der indischen Kinoproduktion sind und das Musical somit im nationalen Genresystem nicht als distinkte Kategorie angesehen wird (Gopal und Moorti 2008, S. 12). In manchen Fällen kann es aber durchaus sinnvoll sein, Genrefilme anderer Herkunftsländer vor der Folie von Genrebegriffen zu betrachten, die eigentlich in Bezug auf das Hollywoodkino geprägt worden sind. Eine
Formen und Funktionen von Genrebenennungen
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solche Herangehensweise ist in vielen Fällen sogar unumgänglich, wenn diese Filme sich gezielt an den Konventionen der US-amerikanischen Vorbilder abarbeiten, so zum Beispiel im Fall des Italo-Westerns oder der chanchada, die in den 1930er- bis 1950erJahren als brasilianische Antwort auf das klassische Hollywood-Musical zu sehen ist.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für das wandelbare Verständnis von Genrebegriffen stellt das filmische Melodrama dar. Zum einen blickt es mit seinen Ursprüngen im europäischen Theater des frühen 19. Jahrhunderts auf eine lange Geschichte zurück und hat, von dort ausgehend, weltweit und in verschiedenen Kulturen ausgesprochen vielgestaltige Konzeptualisierungen und mediale Ausdrucksformen hervorgebracht, denen im Einzelnen nachgegangen werden kann (Dissanayake 1993; McHugh und Abelmann 2005; Sadlier 2009). Zum anderen lassen sich allein schon in der Geschichte des Hollywood-Melodramas wechselhafte Ausdeutungen des Begriffs nachzeichnen. Mit dem Melodrama wird heutzutage für gewöhnlich die pathosträchtige Inszenierung sentimentaler Schicksalsgeschichten assoziiert, deren Fokus in der Regel auf dem Gefühlsleben weiblicher Hauptfiguren liegt. Ein Blick auf die Begriffsgeschichte zeigt allerdings, dass diese Auffassung des Genres stark von der filmwissenschaftlichen Debatte der 1970er-Jahre geprägt ist. In einem richtungsweisenden Aufsatz hatte Thomas Elsaesser Filme von Douglas Sirk, Vincente Minnelli und Nicholas Ray aus den 1940er- und 1950er-Jahren als Prototypen des sophisticated family melodrama untersucht (Elsaesser 1973), woraufhin das Melodrama zu einem bevorzugten Forschungsfeld der feministischen Filmtheorie avancierte, in der es teilweise mit dem womans film gleichgesetzt worden ist (Gledhill 1987a; Doane 1987). Wie Steve Neale dargelegt hat, diente der Begriff hingegen in den 1930er- bis 1950er-Jahren in der US-amerikanischen Filmfachpresse noch vornehmlich zur Kennzeichnung besonders spannungs- und aktionsgeladener Filme, die mit Genres wie dem Abenteuerfilm, dem Thriller, dem Horrorfilm, dem Kriegsfilm und dem Western in Verbindung gebracht wurden und in der Regel männliche Figuren in den Mittelpunkt des Geschehens rückten (Neale 1993). Auf eine weitere Diskrepanz in der Verwendung des Melodrama-Konzepts hat Barbara Klinger hingewiesen: Aus zeitgenössischen Werbematerialien und Filmkritiken lässt sich erschließen, dass der von Elsaesser untersuchte Filmkorpus, der heute als prototypisch für das Familien-Melodrama gilt, dem Publikum ursprünglich in einem viel breiteren Kontext präsentiert worden ist. Die Filme wurden damals unter dem Label des adult film beworben, mit dem in den 1950er-Jahren ein transgenerischer Trend zur sensationalistischen Darstellung transgressiven Verhaltens bezeichnet wurde (Klinger 1994).
2.5 Gebrauch von Genrebegriffen in unterschiedlichen Kontexten
Anhand des Melodramas wird deutlich, dass das Verständnis von Genrenamen sich nicht nur durch den historischen und kulturellen, sondern auch durch den pragmatischen Kontext ihres Gebrauchs verändert. Die sich in Umlauf befindlichen Genrebenennungen konstituieren auch deswegen kein einheitliches Begriffssystem, weil
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unterschiedliche Gruppen, die an der Kommunikation durch und über Film beteiligt sind, teilweise verschiedene Begrifflichkeiten benutzen, teilweise aber auch identische Begriffe, deren jeweilige Bedeutungen allerdings nicht deckungsgleich sind.
Während sich die Arbeit mit Genrebegriffen in der Filmtheorie erst um 1950 mit Aufsätzen zum Gangsterfilm und zum Western etablieren konnte (Warshow 1962 [1948a], 1962[1948b]; Bazin 1953, 1955), spielten sie in der filmindustriellen und alltäglichen Kommunikation über Film schon um 1910 eine wichtige Rolle (Bowser 1990, S. 167189). In der Produktion von Filmen erleichtern Genrebegriffe die Planbarkeit von Budgets, personellen Ressourcen und Produktionsabläufen. Genrebegriffe dienen beim pitching eines neuen Filmkonzepts gegenüber Produzenten der knappen Ankündigung möglicher Zielgruppen, Ausgaben und Einnahmen, und sie markieren in der internen Kommunikation bestimmte Erfordernisse hinsichtlich Drehbuch, Set-Design, Besetzung, Kostüm, Filmtechnik usw. Bei der produktionsseitigen Kategorisierung von Filmen können auch Kriterien zum Tragen kommen, die im Sprechen über Filmgenres in anderen Kontexten eine untergeordnete Rolle spielen, beispielsweise die Anzahl der benötigten Filmrollen, die vor 1910 als Ordnungsraster diente (Langford 2005, S. 4), die Unterscheidung zwischen prestigeträchtigeren A- und kostengünstigen B-Pictures in Hollywoods klassischer Studio-Ära oder nach der Altersfreigabe (Altman 1999, S. 110111). In der Vermarktung eines Films stellen Genres bewährte Vehikel dar, um Zuschauern erwartbare Inhalte zu vermitteln und genrespezifische Filmvergnügen in Aussicht zu stellen (Hediger und Vonderau 2005). Allerdings zeigt die Auswertung von Paratexten, dass in der Bewerbung von Filmen distinkte Genrebegriffe eher vermieden werden. Auf Plakaten, in Presseheften und anderen Werbematerialien dominieren stattdessen implizite Hinweise, welche die angepriesenen Filme mit mehreren Genres gleichzeitig verknüpfen, um sie für ein möglichst breites Publikum attraktiv erscheinen zu lassen (Altman 1998, S. 79). Wiederum einer anderen Logik folgt die Gruppierung von Filmen im Onlinehandel und -verleih oder in den Regalen von Videotheken. Die Ausrichtung an aktuellen Sehgewohnheiten potenzieller Kunden und das Ziel, diesen eine schnelle Entscheidungsfindung zu ermöglichen, bewirkt häufig eine Reorganisation der Genreordnung. Aktuelle Trends werden unabhängig von klassischen Genrekonzepten mit einer eigenen Abteilung bedacht („Bollywood“), während Vertreter genregeschichtlich etablierter Kategorien wie dem Western oder dem Musical aufgrund deren Bedeutungsverlusts in andere Sparten einsortiert werden. Neben herkömmlichen Genrekategorien finden sich hier außerdem Bezeichnungen, die verstärkt an Zielgruppen orientiert sind (z. B. „Familienfilm“, „Ab 18“, „Arthouse“, „Gay & Queer“) oder die Filme über Genregrenzen hinweg nach rezeptionsbezogenen Gütesiegeln ordnen („Neuerscheinungen“, „Klassiker“, „Kultfilme“).
Auch Filmkritiker und Filmwissenschaftler nutzen Genrebenennungen, um Zuschauern eine Vorstellung davon zu vermitteln, was sie von einem bestimmten Film zu erwarten haben. Zugleich geht es ihnen darum, mithilfe eines Genrerasters seine Bedeutung zu ergründen (Bordwell 1989, S. 146151), ihn zu anderen Filmen in Beziehung zu setzen und seine Stellung in einem breiteren kulturellen und historischen Kontext zu bestimmen. Da sie in einem größeren Rahmen Kohärenz und
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Gültigkeit beanspruchen, sind filmkritische und filmwissenschaftliche Genreeinordnungen weniger flexibel als die Begriffe, die in der Produktion, Distribution und in der alltäglichen Zuschauerkommunikation zur flüchtigen Charakterisierung einzelner Filme kursieren.
Wie anhand des Melodramas bereits deutlich wurde, unterscheidet sich die generische Einordnung von Filmen seitens der Filmwissenschaft oft erheblich von ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung. Ein in diesem Zusammenhang viel zitiertes Beispiel ist THE GREAT TRAIN ROBBERY. Edwin S. Porters Film aus dem Jahr 1903 gilt in der Genreforschung als Gründungstext oder zumindest als das einflussreichste frühe Beispiel des Westernfilms. Die Rezeptionsgeschichte des Films zeigt allerdings, dass der Film vom zeitgenössischen Publikum noch nicht als Western betrachtet wurde, zumal sich der erste Gebrauch dieser Genrebezeichnung in Bezug auf einen Film erst auf 1912 datieren lässt (Neale 1990, S. 168). Das zeitgenössische Publikum sah THE GREAT TRAIN ROBBERY als eine Kombination aus melodrama, chase film, railway genre und crime film (Musser 1984; Neale 1990, S. 168169). Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Filmen, die rückblickend als Prototypen bestimmter Genres genannt werden, obwohl sie zur Zeit ihrer Uraufführung mit anderen Genrebezeichnungen beschrieben worden sind (Altman 1999, S. 3044).
2.6 Genrebenennungen als Gegenstand und Hilfsmittel der Filmwissenschaft
Die Diskrepanzen, die sich zwischen den Genrekonzepten der Filmwissenschaft und denen des filmpraktischen Alltags auftun, haben in der Genretheorie eine zunehmende Sensibilisierung für die Kontextbedingtheit und Historizität von Genrekategorien bewirkt. Seit Ende der 1980er-Jahre tun sich vor allem filmwissenschaftliche Arbeiten hervor, die Genre nicht als inhärente Eigenschaft von Filmen, sondern als Diskursphänomen untersuchen und dabei Quellen zum tatsächlichen Einsatz von Genrebegriffen durch Industrie, Filmkritik und Zuschauerschaft berücksichtigen (Altman 1987, 1999; Neale 1993, 2000; Klinger 1994; Staiger 1997). Während die empirische Untersuchung von nicht-akademischen Genrediskursen grundsätzlich auf breiten Konsens stößt, herrscht allerdings keine Einigkeit darüber, welchen Stellenwert die von der Filmindustrie verwendeten, die im populären Diskurs über Film zirkulierenden und die von Filmspezialisten eigens erdachten Kategorien in der Genreanalyse jeweils einnehmen sollen.
Tzvetan Todorov hatte bereits 1970 in seiner Theorie der Fantastischen Literatur unterschieden zwischen einerseits historischen Genres, die aus der beobachteten Realität entnommen werden können, und andererseits theoretischen Genres, die deduktiv zur analytischen Bestimmung eines bestimmten Korpus erdacht werden (Todorov 1970, S. 1819). In seiner Studie zum US-amerikanischen Musical greift Rick Altman Todorovs Unterscheidung auf, um einen zwischen diesen beiden Typen vermittelnden Weg der Genredefinition vorzuschlagen, bei dem er dem Filmwissenschaftler allerdings eine privilegierte Stellung zuweist (Altman 1987, S. 515). Die Genrekonzepte, die in der Filmindustrie und im Alltagsgebrauch kursieren,
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stellen für Altman zwar wertvolle Hinweise auf die Präsenz eines Genres dar. Ihre Bestimmungskriterien seien für wissenschaftliche Belange jedoch unzureichend reflektiert und müssten anhand einer Auswahl als besonders typisch erachteter Filmbeispiele durch den Analytiker verfeinert werden, um einen aussagekräftigen Genrekorpus zu bestimmen. Steve Neale kritisiert Altmans Vorgehen und plädiert entschieden dafür, als Genres im eigentlichen Sinne überhaupt nur jene gelten zu lassen, die im zeitgenössischen industriellen und journalistischen Diskurs als solche geführt worden sind (Neale 1990, 2000). Einzig legitimer Ansatzpunkt zur Bestimmung von Genres und Genre-Korpora als soziale Phänomene ist für Neale dementsprechend das „inter-textual relay“ (Lukow und Ricci 1984), das potenziellen Zuschauern die generische Zugehörigkeit eines Films über Werbematerial, Presseberichte und andere Paratexte vermittle (Neale 2000, S. 3943). Christine Gledhill sieht wiederum eine streng historistische Genreforschung Gefahr laufen, wieder in eben jene taxonomische Falle zu geraten, die durch die Berücksichtigung pragmatischer Kontexte eigentlich umschifft werden sollte (Gledhill 2000, S. 225226). Indem Genres dogmatisch auf eine vermeintlich originäre Bedeutung festgelegt würden, die ihnen zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung von Produzenten und Marketing-Fachleuten zugeschrieben worden seien, geriete aus dem Blick, dass sie gerade durch Prozesse der wechselnden Aneignung durch verschiedene Akteure, durch Umbenennungen, Neu- und Resemantisierungen ihre filmkulturelle Dynamik entwickelten.
Bereits anhand eines kurzen Einblicks in die Diskussion über historische und theoretische Genres zeichnet sich ab, dass Genrebegriffe auch innerhalb der Filmwissenschaft je nach Erkenntnisinteresse und Methode verschiedene Funktionen einnehmen können. Genrebenennungen können auf der einen Seite als historische Diskurspraktiken zum Gegenstand filmwissenschaftlicher Analysen werden. Der Wert ihrer Untersuchung liegt dann darin, bestimmte produktionsgeschichtliche und soziokulturelle Hintergründe offenzulegen, vor denen sich die generische Zuordnung bestimmter Filme oder auch die Auffassung bestimmter Genrebegriffe gestaltet und unter Umständen verändert hat. Ein solcher diskursanalytischer Zugang ermöglicht es, auch noch nachträglich historisch spezifische Deutungen von Genrebegriffen aufzuzeigen, die von textzentrierten Genrebestimmungen und Korpusbildungen zum Teil verdeckt worden sind. Zudem eröffnet er die Möglichkeit einer genretheoretischen Annäherung an Labels, die sowohl in der Filmwerbung als auch in Filmkritiken und Zuschauergesprächen weit verbreitet sind, die sich aber aufgrund ihres diffusen und transgenerischen Charakters üblichen Genredefinitionen entziehen und denen in der Filmwissenschaft kaum Beachtung geschenkt wird, z. B. an das des Familienfilms (Brown 2012) oder das des Feel-Good-Films (Brown 2014).
Auf der anderen Seite können Genrebenennungen auch als heuristische Hilfsmittel dienen, über die sich analytische Befunde zu bestimmten Filmen und Filmgruppen bündeln und anschaulich kommunizieren lassen. Dieser Form der Genreforschung geht es nicht um historisch korrekte Genrezuordnungen, sondern um den sinnvollen Einsatz von Genrekategorien als Interpretationsschemata. Als solche Schemata können Genrebegriffe dienen, die sich mit dem historischen Diskurs
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decken; es kann aber auch gewinnbringend sein, Genrebegriffe mit Filmen zusammenzudenken, die gar nicht damit assoziiert wurden oder werden. An denselben Film können zudem verschiedene Fragestellungen herangetragen werden, je nachdem, ob er zum Beispiel vor der Folie des Melodramas oder der des Film Noir betrachtet wird (Staiger 2008). Die bewusst heuristische Nutzung von Genrebegriffen erlaubt auch Genreinterpretationen, die in historistischer Perspektive als anachronistisch zurückzuweisen wären. Auf diese Weise kann zum Beispiel der Science-Fiction-Film auch für Filme ein zweckmäßiges Interpretationsraster bereitstellen, die wie LE VOYAGE DANS LA LUNE (F 1902, George Méliès) in einer Zeit produziert und rezipiert worden sind, die den Begriff der science fiction noch lange nicht kannte. Im Übrigen ist zu bedenken, dass auch vermeintlich falsche weil unter dem Primat der Erstaufführung anachronistische Zuordnungen von Filmen reale Vermarktungs- und Rezeptionsgegebenheiten widerspiegeln können: Sowohl das inter-textual relay eines Films als auch die Genreerwartungen seines Publikums können sich in der Zweit- und Drittverwertung erheblich von seiner ursprünglichen generischen Rahmung unterscheiden und stellt doch auch ein in einer anderen Zeit zu verortendes historisches Faktum dar.
Besonders anschaulich wird dieser Umstand am Beispiel des Film Noir. Da der Begriff seinen Ursprung in der französischen Filmkritik hatte und erst seit den 1970er-Jahren weite Verbreitung auch in der englischsprachigen Filmwissenschaft fand, ist sein Status als legitime Genrekategorie heftig umstritten (Naremore 1998, S. 948; Neale 2000, S. 151177). Obwohl die mit ihm assoziierten Filme ursprünglich nicht unter dem Label liefen, und auch trotz der notorischen Uneinheitlichkeit seiner Definitionen und Korpuszuordnungen kann nicht bezweifelt werden, dass der Begriff als Genrekategorie gleich in dreierlei Hinsicht eine weitreichende Wirkung hat: Seit Jahrzehnten illustriert eine Flut von Publikationen zum Film Noir der 1940er- und 1950er-Jahre die Produktivität des Begriffs als Analysekategorie, durch seine Popularisierung hat das Label im Nachhinein auch die Funktion eines Rezeptionsrahmens und eines erfolgreichen Vermarktungsvehikels übernommen, und indem er die Folie für neuere Produktionen von sogenannten Neonoirs bildet, dient der Film Noir inzwischen sogar als genuine Produktionskategorie.
Als Analysekategorien werden theoretisch entworfene Genres wie der Film Noir in der Filmwissenschaft aus nachvollziehbaren Gründen bisweilen skeptisch betrachtet, geraten sie doch schnell in den Verdacht, womöglich allein auf subjektiven Seherfahrungen oder auf formallogischen Begründungen zu fußen und sich im Selbstzweck zu erschöpfen anstatt tatsächliche historische Bewusstseinsprozesse widerzuspiegeln (Schweinitz 2006, S. 81). Diesen Bedenken lässt sich allerdings mit Altman entgegenhalten, dass sich die Dichotomie von theoretischen und historischen Genrebegriffen selbst in Zweifel ziehen lässt: Einerseits sei jede historische Kategorie an irgendeinem Punkt noch nicht im Sprachgebrauch verankert und müsse somit zunächst theoretisch geschaffen werden. Andererseits stehe auch der Theoretiker selbst nicht außerhalb der Geschichte, sondern präge seine Begriffe innerhalb eines spezifischen kulturhistorischen Zusammenhangs (Altman 1987, S. 67). Oft ermöglicht es erst der historische Abstand, generische Muster, Kontinuitäten und
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Brüche zu erkennen und aufschlussreiche Verbindungslinien zu früheren oder späteren Entwicklungen der Filmgeschichte zu ziehen (Gledhill 2000, S. 239240). Zudem kann der Genreforscher gerade in Bezug auf die aktuelle Filmlandschaft auch als eine Art Seismograf für generische Entwicklungen fungieren, indem er Tendenzen beschreibt und benennt, die durchaus im allgemeinen Genrebewusstsein vorhanden sein können, die sich aber in keiner oder noch in keiner allgemein verbreiteten Benennung manifestieren.
Zu bedenken ist auch, dass sich die Begriffsprägungen aus industriellem, journalistischem, akademischem und zuschauerseitigem Diskurs wechselseitig beeinflussen. Anhand jüngerer Genre-Neuschöpfungen lässt sich gut beobachten, wie diese Begriffe zwischen verschiedenen Sphären zirkulieren. Seit der Jahrtausendwende sind im Hollywoodkino einige auffällige Tendenzen zu beobachten, die sowohl in Filmkritiken und wissenschaftlichen Fachpublikationen als auch unter Filmfans in Online-Plattformen unter diversen Begriffen diskutiert werden, darunter erstens komplexe Narrationsstrukturen (mindfuck film (Eig 2003), mind-bender (Johnson 2006), mind-game film (Elsaesser 2009), puzzle film (Buckland 2009)); zweitens die Interaktion von Erzählsträngen zu verschiedenen Figuren (hyperlink film (Quart 2005), network narrative film (Bordwell 2006), Ensemble-/Mosaikfilm (Tröhler 2007), polyphonic film (Bruns 2008) multi-protagonist film (del Mar Azcona 2010)); drittens (wirkungs-)ästhetische Besonderheiten von Produktionen an der Grenze zwischen Hollywood- und Independent-Kino (American smart film (Sconce 2002; Perkins 2012), quirky new wave (MacDowell 2005), Melancholische Komödie (Hettich 2008)). Theoretisch formulierte Genrebegriffe fallen hier offensichtlich auf fruchtbaren Boden, weil sie einer kollektiven Wahrnehmung generischer Tendenzen Gestalt geben. Allerdings ist es bezeichnend, dass es in den Definitionen dieser Genrekonzepte, der Auswahl besonders symptomatischer Filmbeispiele und ihrer Deutung trotz wichtiger Schnittpunkte zu Verschiebungen kommt: Als flexible Verständigungsbegriffe genügen auch theoretisch bestimmte Genrekategorien nicht den Anforderungen einer eindeutigen Kategorienbildung. Ihr wissenschaftlicher Nutzen liegt nicht in ihrem Selbstzweck, sondern muss sich an ihrer über sie selbst hinausweisenden Erkenntnisleistung und ihrer Ergiebigkeit in der Kommunikation über filmkulturelle Phänomene bemessen lassen.
3 Fazit
Genrebenennungen, so lässt sich lapidar zusammenfassen, sind trotz ihrer vermeintlichen Evidenz eine höchst heikle Angelegenheit und gerade deshalb für die Filmforschung so interessant. Ihre Heterogenität und Wandelbarkeit sind symptomatisch für das Gesamtphänomen „Filmgenre“, das als Orientierungsraster bei der Produktion, Vermarktung, Rezeption und Reflexion von Filmen durch laufende Verschiebungen, Transformationen und Erweiterungen in ständigem Fluss ist. Genrebenennungen sind daher zum einen ein lohnender Ansatzpunkt für Fragen danach, wer Genrekonzepte in welcher Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt, unter
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welchen Bedingungen und zu welchem Zweck verwendet. Zum anderen bieten sie Interpretationsschemata, die gerade aufgrund ihrer Flexibilität immer wieder neue Sichtweisen auf Muster filmischer Ausdrucksformen ermöglichen.
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Marginale Genres und Grenzphänomene
Nils Bothmann
Inhalt
1 Die Stabilität von Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2 Marginale Genres mit überschaubarem Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3 Marginale Genres mit definitorischer Unschärfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4 Grenzphänomene der Genretheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Zusammenfassung
Obwohl die neuere Genreforschung den Standpunkt vertritt, dass Genres nicht als Filmen inhärente Eigenschaft existieren, sondern vor allem Zuschreibungen durch Produzenten, Rezipienten etc. sind, so lässt sich an Diskursen ablesen, dass einige Genres weniger kanonisiert sind. Mögliche Gründe für die Marginalisierung dieser Genres sind, dass sie weniger Filme umfassen als stabilere Genres, sie innerhalb der Diskurse ausgesprochen unterschiedlich definiert werden oder ihr Status als Genre nicht umfassend anerkannt ist. Beispielhaft werden Fälle wie der Film Noir und der Actionfilm untersucht.
Schlüsselwörter
Genretheorie · Genre · Film Noir · Actionfilm · Giallo
N. Bothmann (*) Köln, Deutschland E-Mail: NilsBothmann@web.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_3
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N. Bothmann
1 Die Stabilität von Genres
Die neuere Genreforschung, vor allem die deutschsprachige, vertritt einen antiessentialistischen Standpunkt, geht also davon aus, dass es Genres nicht an sich als inhärente Eigenschaft in Filmen gibt, sondern dass es sich hierbei in erster Linie um Zuschreibungen durch Produzenten, Rezipienten etc. handelt (Schweinitz 1994, S. 99118; Liebrand 2004, S. 171191; Scheinpflug 2014). Diese Zuschreibungen sind alles andere als wertneutral und werden mit unterschiedlichen Zielen vorgenommen: Während Kritiker und Filmwissenschaftler oft nach einer eindeutigen Zuordnung eines Films in einem Genrekontext suchen, um diesen im Vergleich zu bewerten und analysieren zu können, streben Produzenten häufig eine multiple Genrezuordnung an, um wiederum möglichst viele Zielpublika anzusprechen (Altman 1999, S. 5459). Peter Scheinpflug schlägt in seiner Ausarbeitung dieses Konzepts eine Doppelperspektive vor, die nicht allein auf verschiedenen Genrezuschreibungen in unterschiedlichen Diskursen beruht, sondern auch stetig iterierte Muster in Filmen und Filmzyklen als Basis der Genrebestimmung nimmt. So ist ein Text offen für multiple, aber nicht willkürliche Genrelesarten; erst bestimmte Spuren ermöglichen die von Scheinpflug so bezeichnete Genre-Lektüre-Entscheidung, d. h. die Entscheidung den gerade gesehenen Film einem bestimmten Genre bzw. bestimmten Genres zuzuordnen (Scheinpflug 2014, S. 6671).
Während diese Ansätze einen wesentlich weniger rigiden, an alltäglichen Praxen und Diskursen orientierten Zugang zum Thema Genre liefern, so verweisen Beobachtungen verschiedener Diskurse gleichzeitig darauf, dass es mehr und weniger stabile Genres gibt; etwas, das Rick Altman bereits 1984 in seinem „semantic/ syntactic approach“ feststellte und mit ebenjenem Ansatz zu erklären versuchte (Altman 1999 [1984], S. 216226). Während Altmans Ansatz oft für die mangelnde Unterscheidbarkeit zwischen semantischen und syntaktischen Elementen kritisiert wurde (Neale 2000, S. 203204; Langford 2005, S. 1617; Scheinpflug 2014, S. 151152) und er diesen daraufhin selbst um die Komponente der Pragmatik erweiterte (Altman 1999, S. 207215), so erweist sich seine Beobachtung über die unterschiedliche Stabilität von Genres in öffentlichen Diskursen als immer noch valide. In seiner Studie Genre and Hollywood etwa stellt Steve Neale einen Kanon von elf „major genres“ (Neale 2000, S. 45) auf, die also Haupt- bzw. stabilere Genres in seiner Wahrnehmung darstellen; auch Mark A. Graves und Frederick Bruce Engle limitieren ihre Genreauswahl in Blockbusters (2006) auf zwölf. Ähnlich funktionieren generische Ordnungssysteme wie die Regalaufteilung einer Videothek, die Zuschreibungen eines Streaming-Dienstes oder die zur Auswahl gestellten Genreoptionen in einer Datenbank wie der Internet Movie Database. Selbst in ihren Auswahlmöglichkeiten unbegrenzte Filmbeschreibungen, etwa in Fernsehzeitschriften oder in Online-Lexika wie Wikipedia, greifen zur Komplexitätsreduktion meist auf eine begrenzte Anzahl kanonisierter, stabilerer Genres zurück. Im Hinblick auf die Überschneidungen diese Diskurse erscheinen Genres wie der Western, der Horrorfilm oder der Science-Fiction-Film stabiler als andere, die nur von einigen Quellen oder gar nicht zum Kanon dieser Hauptgenres gezählt werden. Obwohl diese Hauptgenres in quasi jedem Kontext als solche begriffen und erkannt werden,
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ist allerdings auch diesen eine gewollte, produktive Unschärfe eingeschrieben: Peter Scheinpflug nimmt die in einer Gruppe getroffene Entscheidung einen Horrorfilm zu sehen als Beispiel, welche einen Konsens darstellt, aber noch nicht spezifiziert, ob man einen Gothic-Horrorfilm, einen Torture Porn etc. sehen will (Scheinpflug 2014, S. 6061). Schon Andrew Tudor verweist darauf, dass Genreunterscheidungen beinahe willkürlich sind, da etwa der Western ein bestimmtes Setting als grundlegendes Merkmal besitzt, der Horrorfilm dagegen den Versuch eine bestimmte emotionale Reaktion beim Zuschauer auszulösen (Tudor 1995 [1973], S. 4). Im Falle von weniger stabilen, also in der Gesamtwahrnehmung marginalen Genres, lässt sich jedoch häufig erkennen, dass diese produktive Unschärfe nicht mehr gegeben ist. Hierbei lassen sich zwei Strömungen erkennen: Entweder handelt es sich hierbei um Genres mit einem (im Vergleich zu stabileren Genres) kleinen Korpus oder um Genres, deren Unschärfe größer als bei den etablierten Hauptgenres ist und deren Definition oft umstritten ist. Die Aufzählung dieser beiden Strömungen folgt keinem Entweder-Oder-Prinzip: Einige der weniger stabilen Genres lassen sich durchaus beiden Tendenzen zuordnen.
2 Marginale Genres mit überschaubarem Korpus
Zu den Vertretern dieser Kategorie gehören unter anderem der Katastrophenfilm, das Road Movie, der Gefängnisfilm, der Spionagefilm und der Giallo. So handelt es sich bei diesen Genres um durchaus anerkannte Zuschreibungen, die etwa eigene Artikel im Online-Lexikon Wikipedia besitzen, über wiederkehrende Elemente verfügen und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind; zu diesen Monografien und Aufsätzen gehören Peter Scheinpflugs Formelkino (2014) und Marcus Stigleggers „In den Farben der Nacht“ (2007, S. 511) zum Giallo, die Sammelbände The Road Movie Book (Cohan und Hark 1997) und Road Movies (Grob und Klein 2006) zum Road Movie oder Maurice Yacowars „The Bug in the Rug“ (1995 [1977], S. 261279) und Stephen Keanes Disaster Movies (2006) zum Katastrophenfilm. Gleichzeitig lassen sich diese Genres kaum als Subgenres eines anderen auffassen.1 Sie besitzen zwar verwandtschaftliche Beziehungen zu diesen, sind aber eben nicht eindeutig einem anderen Genre zuzuweisen: Der Spionagefilm vereint in sich oft Elemente des Thrillers, des Kriminalfilms und des Actionfilms, der Giallo besitzt eine große Menge an Berührungspunkten zum Kriminalfilm, zum Thriller und Horrorfilm, lässt sich aber keinem davon eindeutig zuordnen. Obwohl (potenzielle) Hybridität an sich jedes Genre auszeichnet, so scheint diese in marginalen Genres stärker ausgeprägt zu sein. Diese Hybridität ermöglicht allerdings gleichzeitig ihre
1An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Idee des Subgenres darüber hinaus in der anties-
sentialistischen Genreforschung oft abgelehnt wird, da die Unterteilung in Sub- und übergeordnete Genre meist auf einem starren, eher essentialistischen Genremodell beruht (Scheinpflug 2014, S. 117122).
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Zuordnung zu Hauptgenres im Falle einer Komplexitätsreduktion: Ein Videothekar würde sich vermutlich entscheiden, seine Gialli entweder in seiner Horror- oder seiner Thrillerabteilung unterzubringen oder auf diese beiden Abteilungen aufzuteilen.
Zudem werden diese Filme nicht in dem Umfang produziert wie jene der Hauptgenres, wobei es auch hier Unterscheidungen gibt. Der Gefängnisfilm und der Spionagefilm etwa treten von Werken wie 20,000 Years in Sing Sing (1932) und Secret Agent (1935) bis hin zu Filmen wie The Escapist (2008) und A Most Wanted Man (2014) relativ kontinuierlich innerhalb der Filmgeschichte auf und steuern immer wieder Beiträge zum Genre bei, wobei sich auch hier mehr und weniger produktive Zyklen erkennen lassen. Der oft von technischen Innovationen abhängige, aufwändig zu drehende und daher nur bei entsprechenden Erfolgsaussichten produzierte Katastrophenfilm dagegen zeichnet sich wesentlich stärker durch verschiedene Boomphasen aus, die sich in entsprechenden Produktionszyklen zeigen: In den 1970ern (z. B. The Poseidon Adventure [1972], Earthquake [1974], The Towering Inferno [1974]) und 1990ern (z. B. Twister [1996], Dantes Peak [1997], Armageddon [1998]) lassen sich beispielsweise Popularitätsschübe des Katastrophengenres ausmachen, während der Output des Genres zwischen diesen beiden Phasen kaum von Bedeutung ist. Der Giallo hingegen wird oft als ein abgeschlossenes Genre verstanden, dessen Beginn häufig auf Sei donne per lassassino (1964) festgelegt wird und dessen Endpunkt in vielen Darstellungen Opera (1987) markiert (Abb. 1). Es stellt sich gleichzeitig die Frage, ob ein Genre je abgeschlossen sein kann, wie es evolutionäre Genremodelle andeuten, die von dem Tod eines Genres ausgehen, das seinen Lebenszyklus abgeschlossen hat; etwa Thomas Schatz Genremodell, das besagten Zyklus in eine experimentelle Phase, eine klassische Phase und eine selbstreferenzielle Phase einteilt (Schatz 1981, S. 3741). Das (nicht marginale) Westerngenre, dessen Tod bzw. Niedergang an Popularität in den 1970ern verortet wurde, bringt immer noch Filme hervor, wenn auch in geringerer Frequenz als zu seiner Blütezeit. Bei Genres wie dem Giallo oder dem Film Noir werden neuere Vertreter oft nicht als Gialli oder Film Noirs gelesen, sondern als Neo-Gialli und Neo Noirs. Diesem Umstand tragen sowohl Peter Scheinpflug (2014, S. 221253) als auch Andrew Spicer (2002, S. 130174), Mark Bould (2005, S. 92107) und Paul Werner (2005, S. 137197) Rechnung, die in ihren Untersuchungen zum Giallo bzw.
Abb. 1 Im Diskurs wird oft Sei donne per lassassino (1964) als Beginn des Giallo verortet (Label: Anolis/e-m-s)
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Film Noir nicht nur das jeweilige klassische Genre analysieren, sondern auch jeder ein oder mehrere Kapitel dem jeweiligen Neo-Genre widmen. Derartige Historisierungen tragen auch zur Marginalisierung eines Genres bei: Werden Filme eines bestimmten Typus nicht mehr produziert, so verlieren sie etwa für Mainstreamvideotheken, die vor allem auf aktuelle Produktionen setzen, an Bedeutung.
Manche dieser marginalen Genres sind zudem durch eine Unschärfe geprägt, die nicht mehr unbedingt produktiv ist. Der Gefängnisfilm zeichnet sich seinem Namen nach allein durch das in Rick Altmans Termini: semantische Element des Gefängnis aus, das Road Movie durch das Motiv der auf der Straße zurückgelegten Reise. Dabei haben sich in der öffentlichen Wahrnehmung dominante Spielarten herausgebildet: Unter einem Gefängnisfilm werden gemeinhin spannungsvolle Dramen verstanden, welche das soziale Gefüge des Systems Gefängnis beschreiben und dabei wiederholt auf Motive wie Machtverhältnisse unter den Gefangenen, das Leben unter Beobachtung durch die Wärter und eventuelle Fluchtversuche zurückgreifen (z. B. Midnight Express [1978], Escape from Alcatraz [1979], The Shawshank Redemption [1994]). Diese Themen finden sich in untergeordneter Form auch in Gefängnisactionfilmen wie Death Warrant (1990) oder Gefängnishorrorfilmen wie Prison (1987), werden dort jedoch deutlich von den Attraktionen anderer Genres überlagert, obwohl sich diese Filme ebenfalls auf den Handlungsort des Gefängnisses beschränken und damit per definitionem nicht weniger als Gefängnisfilme zu lesen sind. Diese definitorische Unschärfe zeichnet einen weiteren Korpus an Genres aus.
3 Marginale Genres mit definitorischer Unschärfe
Andere Genres besitzen dagegen einen festen Platz in diversen Diskurs- und Einordnungssystemen. Der Actionfilm etwa findet sich als Bezeichnung an den Regalen von Videotheken und Elektromärkten, als Genrezuordnung in Kinomagazinen und Fernsehzeitschriften und als Genrezuweisung in der Internet Movie Database, damit also vor allem populären Diskursen. In der Forschung ist er dagegen wesentlich marginaler; oft wird ihm der Status als Genre aberkannt. Die vorhandenen Schriften zum Actionfilm weisen daher oft explizit auf die spärliche akademische Beschäftigung mit dem Genre hin (Tasker 1993, S. 78; Lichtenfeld 2007, S. 78). Der Film Noir hingegen ist ein weit diskutiertes und analysiertes Genre, dessen Status in der akademischen Literatur allerdings stark umstritten ist, da er ebenso auch als Zyklus, als Idee oder als Stil begriffen wurde. Bevor beide Genres als Fallstudien genauer untersucht werden, soll allerdings kurz die Idee des Modus angerissen werden, welche einige dieser weniger stabilen, umstrittenen Genres auszeichnet.
3.1 Marginale Genres als Modi
Der Action- wie auch der Splatterfilm werden häufig anhand ihrer Inszenierungsstrategien besprochen. Bei ersterem sind es vor allem die kinetische Bildsprache in
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Abb. 2 Hybrider Genreaufbau: Trotz seines Status als Actionklassiker enthält Lethal Weapon (1987) klar Elemente des Polizeifilms (Label: Warner)
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der Darstellung von Spektakel, etwa durch das Schnittsystem der „intensified continuity“ (Bordwell 2002, S. 1628) oder andere Mittel in Kameraführung und Montage, die auf einen maximalen kinetischen Effekt abzielen (OBrien 2012, S. 811; Purse 2011, S. 5675), bei letzterem die detaillierte Darstellung der Zerstörung des menschlichen Körpers durch aufwendige Make-Up-Effekte, welche auf größtmögliche Sichtbarmachung angelegt sind (Meteling 2006, S. 6097; Arnzen 1994, S. 176184). Gleichzeitig fällt auch bei diesen Genres ihr starker Hang zur Hybridität auf. Handelt es sich bei den meisten zum Genreklassiker geadelten Splatterfilmen um (häufig komödiantische) Horrorfilme (z. B. The Evil Dead [1981], Re-Animator [1985], Braindead [1992]), so weisen auch als Klassiker apostrophierte Werke des Actiongenres deutliche Spuren anderer Genres auf, etwa des Kriegsfilms in Rambo: First Blood Part II (1985), des Science-Fiction-Films in The Terminator (1984) oder des Polizeifilms in Lethal Weapon (1987) (Abb. 2).
Ausgehend von diesem Hang zu Hybridität und dem häufigen Verweis auf inszenatorische Marker kann man diese Genres als Modus auffassen, in dem Filme anderer Genres inszeniert werden. Einen der bekanntesten Texte zum Modus hat Linda Williams verfasst, in dem sie den melodramatischen Modus bespricht, in dem amerikanische Hollywoodfilme inszeniert werden, was aber nicht zwangsläufig ihre Genrebestimmungen ändert: Sowohl männlich/aktiv konnotierte Genres als auch weiblich/passiv konnotiere Genres folgen den grundsätzlichen Strukturen des melodramatischen Filmemachens (Williams 1998, S. 4288).2 Es besteht allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen der oben genannten These Filme als im Splatteroder Actionmodus inszeniert zu lesen und Williams Konzept: Beim melodramatischen Modus nach Williams handelt es sich um die zentrale Art des amerikanischen Filmemachens, der quasi jeder Hollywoodfilm folgt, während die Lesart des Splatter- bzw. Actionmodus nur einen Teil des amerikanischen Filmschaffens betrifft. In der antiessentialistischen, an Diskursen orientierten Genretheorie sind die Grenzen zwischen Modus und Genre allerdings mehr oder weniger aufgehoben: Eine diskur-
2Ähnlich argumentiert auch der Williams Artikel vorausgehende Essay „Melodrama and the American Cinema“ (1982) von Michael Walker, der zwischen (männlich konnotierten) melodramas of action und (weiblich konnotierten) melodramas of passion unterschied.
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sive Anerkennung des wiederkehrenden Musters bestätigt den Modus bereits als Genre. Auch dies trifft eher auf das oben skizzierte Verständnis des Action- und Splattergenres zu als auf das Verständnis des melodramatischen Modus nach Walker und Williams. Allerdings waren es in erster Linie die Schriften zum Melodrama, welche sich intensiv mit dem Konzept des Modus beschäftigten; die Debatte zum Modus wurde nicht prominent für andere Genres geführt.
3.2 Fallstudie: Der Film Noir als marginales Genre
Genrebenennungen entstehen erst in der nachträglichen Betrachtung, wie Steve Neale es anhand des Westerns ausführt: The Great Train Robbery (1903), oft als erster Western der Filmgeschichte bezeichnet, wurde bei seiner Erstaufführung noch als Melodrama, Kriminalfilm oder Eisenbahnfilm benannt, ehe er in der Rückschau die Genrekategorisierung als Western erhielt (Neale 2000, S. 40). Während die Genrebezeichnung des Western schließlich jedoch verschiedene Diskurse wie die Produktion, die Distribution und die Filmkritik durchdrang, gehört der Film Noir zu jenen Genres, die für lange Zeit in erster Linie nur in einem begrenzten Teil der Diskurse zu finden waren; in diesem Falle die der Akademie und der Kritik. Dies wiederum begründet den umkämpften Genrestatus des Film Noir.
Bereits 1946 stellte Nino Frank in einem Artikel in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma eine (auch von amerikanischen Kritikern erkannte) Tendenz im amerikanischen Kino vor, die er als erster mit dem Begriff Film Noir bezeichnete (Spicer 2002, S. 2). Der Film Noir blieb lange Zeit allerdings ein in erster Linie von Filmkritikern und Akademikern verwendeter Terminus und wurde vor allem in der Hinsicht retrospektiv angewandt, dass man den Film Noir als Genre beendet sah. Bereits in ihrem 1955 veröffentlichten Buch Panorama du film noir américain 19411953 gaben Raymond Borde und Etienne Chaumeton schon im Titel eine Zeitspanne an, auf die sich der Film Noir erstreckte. Wie Vivian Sobchack feststellt, verorten unterschiedliche Autoren die Lebensdauer des Genres Film Noir von 1941 bis 1953, von 1941 bis 1949 oder von 1940 bis 1958 (Sobchack 1998, S. 134135). In der Regel wird Stranger on the Third Floor (1940) als erster Film Noir bezeichnet (Spicer 2002, S. 49), während spätestens Touch of Evil (1958) als Endpunkt des Genres gilt (Stiglegger 2002, S. 226). Arthur Lyons dagegen bestimmt bereits Let Us Live (1939), Rio (1939) und Blind Alley (1939) als erste Film Noirs (Lyons 2000, S. 35), Andrew Spicers Noir-Filmografie endet mit Odds Against Tomorrow (1959), womit er den Endpunkt der Hauptphase des Film Noir noch später als andere Autoren verortet (Spicer 2002, S. 227231).
Neben einer erkennbaren Uneinigkeit über die historische Dauer des Genres Film Noir gibt es auch Widersprüche prominenter Filmwissenschaftler, die ihn nicht als Genre anerkennen. David Bordwell erklärt, dass es sich bei Film Noir um kein Genre handeln könne, da dieses zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jener in der Rückschau so bezeichneten Filme nicht als solches erkannt wurde (Bordwell et al. 1985, S. 75). Steve Neale argumentiert ebenfalls mit der Nichterkennen durch das zeitgenössische Publikum gegen den Film Noir und verweist gleichzeitig darauf, dass viele
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dem Film Noir zugerechnete Elemente, sowohl visueller als auch inhaltlicher Natur, sich ebenso in zur gleichen Zeit entstandenen Filmen finden, die nicht dem NoirGenre zugerechnet werden (Neale 2000, S. 142167). Darüber hinaus ist eine Verzerrung der Wahrnehmung des Film Noir in der Rückschau zu erkennen, nachdem dieser sich retrospektiv auch in populären Diskursen etablierte: In Hommagen und Parodien wie Blade Runner (1982), Dead Men Dont Wear Plaid (1982) und Who Framed Roger Rabbit? (1988) wird oft die Figur des Detektivhelden betont, obwohl dieser nur in einem Teil der klassischen Film Noirs vorkommt (z. B. The Maltese Falcon [1941], Laura [1944], The Big Sleep [1946]) (Abb. 3), in anderen dagegen gar nicht (z. B. Double Indemnity [1944], Gilda [1946], Sunset Boulevard [1950]). Neale hingegen sieht in der bewussten Produktion von Neo-Noirs und der akademischen Beschäftigung mit dem Genre einen wichtigen Schritt zur Genrifizierung des Film Noir, da nun im Nachhinein bestimmte Elemente als wesentlich konstituiert werden (Neale 2000, S. 164166) auch wenn dies bedeutet, dass die oben genannte Akzentverschiebung stattfindet.
Andrew Spicer führt als wesentliche Elemente des Film Noir folgende an: Urbane Schauplätze, eine kontrastreiche Low-Key-Ausleuchtung im Chiaroscuro-Stil, eine komplexe Erzählstruktur, eine Subjektivierung der Geschichte durch Mittel wie Voice-Over, Rückblenden und multiple Erzähler, den entfremdeten männlichen Antihelden und die Femme Fatale als zentrale Hauptfiguren des Genres, wobei der Film Noir Einflüsse aus scheinbar oppositionellen Bewegungen wie dem deutschen Expressionismus und dem dokumentarisch angelegten Straßenfilm in sich vereint (Spicer 2002, S. 424). Er geht dabei auch auf Neales Kritik am Film Noir ein und verweist darauf, dass es sich bei dem Genre um ein diskursives Konstrukt handelt, das nie einen zweifelsfrei festlegbaren Kanon hervorbringen kann und dessen Elemente nicht zwingend in jedem Vertreter des Genres vorzufinden sind (Spicer 2002, S. 2426), was sich schon an den unterschiedlichen Definitionen des FilmNoir-Korpus bei verschiedenen Autoren ersehen lässt. Gleichzeitig erweist sich der Film Noir dabei in erster Linie aus besonders deutlich extreme Ausformung jener
Abb. 3 The Big Sleep (1946) gehört zu den Werken, deren Detektivprotagonisten das „generic image“ des Film Noir geprägt haben (Label: Warner)
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These, die sich grundsätzlich auf jedes Genre anwenden lässt: „[N]o individual genre film can ever embody the full range of attributes said to typify its genre; by the same token as volumes of frustrated critical effort can attest no definition of a genre, however flexible, can account equally well for every genre film“ (Langford
2005, S. vi).
3.3 Fallstudie: Der Actionfilm als marginales Genre und Grenzphänomen
Gemessen an seiner Präsenz in populären Diskursen und in der öffentlichen Wahrnehmung kann man den Actionfilm schwerlich als marginales Genre betrachten. Es ist weniger die Menge an so bezeichneten Filmen, die aus ihm ein weniger stabiles Genre macht, sondern seine umstrittene Definition. Diese wird dadurch erschwert, da der Begriff von Action als Genrekategorie einem starken Wandel unterlegen ist. Der heutzutage in erster Linie als Giallo erachtete Il gatto a nove code (1971) etwa wurde in Deutschland als Actionkrimi beworben (Scheinpflug 2014, S. 29), ein MGM-Katalog von 1932 führt bereits ein Department an, dessen Aufgabe die Produktion von Actionfilmen war (Staiger 2012 [1997], S. 209), während einige Filmwissenschaftler die Entstehung des Actiongenres erst in der Veröffentlichung von Dirty Harry (1971) begründet sehen (Lichtenfeld 2007, S. 2359) oder seine Konstitutionalisierung zu einer erkennbaren Form in den frühen 1980ern verorten, mit einem Verweis auf eine vorige formative Phase in den späten 1960ern und den 1970ern (OBrien 2012, S. 12; Grant 2007, S. 83; Webb und Browne 2004, S. 81; Gallagher 2006, S. 45). Die angeführten Beispiele unterscheiden sich nicht nur durch ihre jeweilige historische Verortung, sondern auch durch ihr Wesen als Diskurse der Distribution, Produktion und Rezeption, die ein jeweils anderes Verständnis der Genrekategorie Action bedingen. Daraus lässt sich ableiten, dass der Begriff nicht nur unscharf ist, sondern auch eine Entwicklung durchgemacht hat und seine generische Festlegung schon deshalb schwer ist; jedoch erscheint auch bei Berücksichtigung der Begriffsgeschichte sinnvoll, vor allem das derzeitige diskursive Verständnis des Genres zu bestimmen.
Heutzutage scheint das „generic image“ (Neale 2000, S. 36) des Actionfilms, also die in der öffentlichen Wahrnehmung zirkulierende Vorstellung des Genres (Neale 2000, S. 3536), tatsächlich vor allem den Actionfilm der 1980er und seine ikonischen Stars wie Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone und Bruce Willis in den Mittelpunkt zu stellen, wie es sich unter anderen an den Coverabbildungen von filmwissenschaftlichen Arbeiten zu dem Genre ablesen lässt, darunter Barna William Donovans Blood, Guns and Testosterone (2010), Harvey OBriens Action Movies (2012) oder der Sammelband Actionkino (2014). Während die Bedeutung dieser Filme für das Genre unumstritten ist und auf eine Konkretisierung der Formeln des Genres in den 1980ern (und frühen 1990ern) verweist, so ist darüber hinaus definitorische Uneinigkeit zu erkennen. Rainer Rother weist darauf hin, dass Action eine Qualität vieler Genres ist (Rother 1998, S. 271) und sieht im Actionfilm den „Erbe[n] wie Zerstörer des Genrekinos“ (Rother 1998, S. 275). Während Rother das Action-
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kino kulturpessimistisch als eine Uniformwerdung der Genres abtut, so ist jedoch
der von ihm angeführte Punkt, dass die Qualität Action und das Genre Action nicht
unbedingt gleichbedeutend sind, das zentrale Erschwernis bei der Genrebestimmung des Actionfilms, da auch viele Western, Science-Fiction-Filme etc. mit imposanten Set Pieces aufwarten.
Gerade diese Überschneidung mit vielen anderen Genres sorgt bereits in der
Filmwissenschaft für unterschiedliche Auffassungen des Begriffs. Stellenweise wird der Actionfilm mit dem Abenteuerfilm als „action-adventure“ zusammengedacht (Neale 2000, S. 4653; Graves und Engle 2006, S. 128), von Barry Langford als Teil eines Hybridgenres namens „action blockbuster“ besprochen, in dem er den Actionfilm, den Abenteuerfilm und grundsätzlich auf Spektakel ausgerichtete Filme vereint sieht (Langford 2005, S. 233256). Linda Williams nimmt den Terminus der männlichen Actiongenres als Oberbegriff, der für sie Western, Gangsterfilme, Kriegsfilme, Polizeifilme und Clint-Eastwood-Filme umfasst (Williams 1998, S. 60), während Douglas Brode in Boys and Toys (2003) nahezu alle dem Spektakel zugeneigten Produktionen nach 1945 dem Action-Abenteuerfilm zurechnet, darunter auch Kriegsfilme, Western und Boxerfilme. Harvey OBrien hingegen grenzt den Actionfilm dezidiert vom Abenteuerfilm ab (OBrien 2012, S. 611) unter Berufung auf das Konzept der Involvierung des Zuschauerkörpers durch „kinesthesia“ (Anderson 1998, S. 111), welche dem Action- im Gegensatz zum Abenteuerfilm gegeben ist. Jedoch werden auch enger gefasste Definitionen wie jene von OBrien oder Eric Lichtenfeld kritisiert, etwa von Lisa Purse, die Lichtenfelds Konzept dahingehend ablehnt, dass es zwar eine valide Definition für das Actionkino der 1970er und vor allem der 1980er erbringt, allerdings unklar in Bezug auf den Actionfilm der 1990er und 2000er bleibt (Purse 2011, S. 19).
Tatsächlich finden sich unterschiedliche Konzepte des Actionkinos nach seiner Hochphase in den 1980ern. Während OBrien den Actionfilm an Popularität verlieren sieht und seine Rückkehr im neuen Jahrtausend in vereinzelten, oft reflexiven Werken wie Death Sentence (2007), Gran Torino (2008) und The Expendables (2010) erkennt (OBrien 2012, S. 87110) eine Ansicht, die auch in Fandiskursen ihre Anhänger hat , so gehen andere Autoren von einer stärkeren Hybridisierung aus: Lichtenfeld etwa beschreibt, dass der Actionfilm in Mischformen in Katastrophenfilmen wie Volcano (1997), Science-Fiction-Filmen wie The Chronicles of Riddick (2004) und Superheldenfilmen wie Batman Begins (2005) seinen Fortbestand hat (Lichtenfeld 2007, S. 190331). OBrien erwähnt diese Hybridisierung auch, sieht in ihr jedoch eher eine Verwässerung der Formel in der postklassischen
Phase des Actiongenres in den 1990ern, die von der oben erwähnten, neoklassischen Phase traditionellerer Produktionen gefolgt wird (OBrien 2012, S. 1517).
Den Arbeiten von Lichtenfeld, OBrien und Purse ist gemein, dass sie sich um eine Bestimmung des Genres bemühen, die über die problematische alleinige Definition durch Spektakel hinausgeht. Auch andere Autoren weisen auf einzelne Merkmale des Genres hin, darunter seine Tendenz zu männlichen Hauptfiguren und der hauptsächlichen Adressierung eines männlichen Zielpublikums, die Betonung von
Körperlichkeit, vor allem in den Actionszenen, und die Bedeutung von Spezialef-
fekten für das Genre (Neale 2000, S. 46; Graves und Engle 2006, S. 1), gehen im
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Anschluss jedoch zu einer Erörterung einzelner Facetten und Ausformungen des Action- oder Action-Abenteuerfilms über. Irsigler, Lembke und Strank versuchen sich in der Einleitung des Sammelbandes Actionkino bewusst nicht an einer genauen Bestimmung des Genres, sondern stellen lediglich elf Thesen auf, die zentrale Merkmale des Genres benennen sollen (Irsigler et al. 2014, S. 721).
Eric Lichtenfeld sieht im Actionfilm eine Fusion des Genres Western und Film Noir, welche die rechtschaffene „regeneration through violence“ (Slotkin 1992, S. 10) des Western mit dem abgebrühten Milieu und der Stimmung des Film Noir vereint; dabei übernimmt das Genre auch Elemente des Police Procedurals, verschiebt den Fokus vom Aufspüren und Überführen des Verbrecher jedoch zu deren spektakulärer Auslöschung in seinen zentralen Actionszenen (Lichtenfeld 2007, S. 15). Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Actiongenres für Lichtenfeld ist die Übernahme des Topos des Mannes, der Indianer kennt, aus dem Western (Slotkin 1992, S. 1416), also desjenigen, der das Wesen des Feindes kennt, es in sich trägt und damit niemals ganz Teil der Gesellschaft sein kann, die er beschützt. In Dirty Harry wird daraus schließlich der Mann, der Verbrecher kennt, und weitere Variationen dieses Topos ziehen sich durch das Actiongenre: Der titelgebende Protagonist des Superheldenactionfilms Blade (1998) etwa ist der Mann, der Vampire kennt (Lichtenfeld 2007, S. 29, 292).
Harvey OBrien betont die Dimension des volitionism als konstitutiv für das Actiongenre: Die Selbstbestimmung des Helden zeichnet das Genre zentral aus, aktiv zu handeln bedeutet Actionheld zu sein, wobei der Held in erster Linie durch physische Aktion sein Ziel erreicht und Hindernisse überwindet. Diese Physis wird durch die kinästhetische Dimension der Action betont, in welcher der Körper zuvorderst angesprochen wird, wobei dieser Effekt durch korrespondiere Bildsprache und Schnitt verstärkt wird (OBrien 2012, S. 112). Während OBrien dies, wie bereits erwähnt, vor allem historisch in den 1980ern verortet, plädiert Lisa Purse für eine allgemeinere Definition des Actiongenres. Dabei verweist sie ähnlich wie Anderson und OBrien auf die Zentralität des Heldenkörpers sowie die Ansprache des Zuschauerkörpers als konstitutive Elemente des Genres. Die für sie bestimmenden Elemente des Genres laufen nämlich auf folgende hinaus: „[A] preoccupation not simply with physical acts but with processes of exertion, a sensory address to the spectator, and an emphasis on the contingency as well as the power of the action body“ (Purse 2011, S. 3).
In der Problematik der sich vielfach überschneidenden und doch nur teilweise kongruenten Definitionen und Verortungen des Genres erscheint das Actiongenre als besonders starke Ausprägung eines weiteren Phänomens, das jeder Genrebestimmung inhärent ist: Der Unterscheidung von inklusiven und exklusiven Ansätzen der Genredefinition. Bei exklusiven Ansätzen wird eine Bestimmung des Genres anhand einer geringen Menge von kanonisierten Klassikern vorgekommen, welche das Genre idealtypisch abbilden und damit eine genaue Genrebestimmung ermöglichen. Inklusive Ansätze hingegen streben eine Aufnahme möglichst vieler Beispiele an, was einen größtmöglichen Überblick über alle Facetten und Ausprägungen eines Genres ermöglicht, gleichzeitig aber auch die Unschärfen in seiner Definition vergrößert (Altman 1999 [1984], S. 216217). Während stabilere Genres oft eine
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diskursübergreifende Balance zwischen diesen Ansätzen gefunden haben, so ergibt sich im Hinblick auf den Actionfilm eine Polyfonie zwischen eher inklusiven Ansätzen wie jenen von Neale oder Langford und eher exklusiven Ansätzen wie jenen von Lichtenfeld und OBrien; eine Polyfonie, die sich über akademische Diskurse hinauszieht und auch Fandiskussionen und andere Debatten zum Actiongenre weiterhin befeuert.
4 Grenzphänomene der Genretheorie
In einem (in der Genretheorie) vielzitierten Satz aus seinem Essay „The Law of Genre“ schreibt der Philosoph Jacques Derrida Folgendes: „Every text participates in one or several genres, there is no genreless text; there is always a genre and genres, yet such participation never amounts to belonging“ (Derrida 1980, S. 65). Basierend auf dieser Annahme stellt sich die Frage, vor allem in der antiessentialistischen Genretheorie, ob es überhaupt ein Kino außerhalb des Genrefilms geben kann. Steve Neale etwa führt an, dass auch die im Deutschen eher als Gattungen bezeichneten Kategorien wie Kurzfilm, Spielfilm oder Animationsfilm als Genres zu verstehen sind, weshalb jeder Film zwangsläufig an mehreren Genres partizipiert (Neale 2000, S. 2227). In seiner frühen Genrestudie Hollywood Genres definiert Thomas Schatz außerhalb des Genres liegende Hollywoodfilme als jene Werke, die sich nicht auf Stereotypen des Genres verlassen, einem linearen Ursache-und-Effekt-Muster folgen und auf psychologisch runde Charaktere sowie einen Ausgang setzen, den der Zuschauer nicht vorhersehen kann (Schatz 1981, S. 7). Obwohl die meisten Genretheoretiker davon ausgehen, dass sich Genrefilme aus Gründen der Erzählökonomie gern auf bekannte Muster, Charaktere und Ikonographien verlassen, was Barry Keith Grant als „generic shorthand“ (Grant 2007, S. 8) bezeichnet, so wurde Schatz essentialistisches und evolutionäres Genremodell stark kritisiert (Gallagher 1995 [1986], S. 246260; Neale 2000, S. 199201; Langford 2005, S. 2425). Steve Neale verwies dabei unter anderem auf die Problematik, dass bestimmte Muster und Charaktere im Genrefilm nicht zwangsweise so redundant sind wie von Schatz behauptet (Neale 2000, S. 196). Zudem sind viele der Filme, die Schatz als außerhalb des Genres liegend betrachten dürfte, in akademischen und populären Diskursen wieder genrifiziert worden, indem sie als Dramen klassifiziert werden eine Kategorie, in Schatz Buch lediglich als Genre des „Family Melodrama“ (Schatz 1981, S. 221260) vorkommt, heutzutage allerdings wesentlich weiter gefasst ist. Selbst der sogenannte Arthousefilm, der vielerorts als Gegenstück des (von Genres geprägten) Mainstreamfilms aufgefasst wird, lässt sich in der antiessentialistischen Genretheorie als eines begreifen: So verweist Andrew Tudor bereits 1973 darauf, dass Kunstfilme von gewissen Publikumsschichten bewusst als ein präferiertes Genre besucht werden (Tudor 1995 [1973], S. 89). Steve Neale argumentiert ähnlich, indem er festhält, dass Empire (1964), eine acht Stunden lange, nicht narrative Aufnahme des Empire State Buildings, im Kontext des kommerziellen Hollywoodkinos nicht als richtiger Spiel- oder Dokumentarfilm angesehen würde, in einem avantgardistischen Kontext wie dem Museum hingegen entsprechend
Marginale Genres und Grenzphänomene
83
institutionalisiert und genrifiziert würde (Neale 2000, S. 3435). Im Hinblick auf Scheinpflugs Verständnis von Genre tut sich an dieser Stelle allerdings eine Schwierigkeit auf: Während sich klar diskursive Verortungen von Kategorien wie dem Avantgarde- oder Experimentalfilm erkennen lassen, so mangelt es ihnen jedoch an über die Mehrzahl ihrer Vertreter stetig iterierten zentralen Mustern; die Konstante ist eben die Enttäuschung und Brechung von klassischen Genremustern und -erwartungen, das zentrale wiederkehrende Element ist allein das Fehlen von jenen Dingen, die Genrefilme klassischerweise auszeichnen.
5 Fazit
Auch marginale bzw. weniger stabile Genres können produktiv untersucht und analysiert werden, wovon etwa der große Korpus an Artikeln und Monografien zum Film Noir zeugt. Jedoch stellt die Beschäftigung mit diesen Genres die Anforderung einer genauen Diskursanalyse und Betrachtung der Diskrepanzen zwischen verschiedenen Definitionen eines Genres, um ein möglichst differenziertes Verständnis zu ermöglichen und definitorische Probleme klar zu benennen. Gleichzeitig ist die Forschung zu marginalen Genres und Grenzphänomenen der Genretheorie auch ein wichtiges Feld: Eine Beschäftigung mit ihnen ermöglicht nicht nur neue Erkenntnisse zum jeweiligen Phänomen, sondern kann darüber hinaus auch wertvolle Einsichten für die Genretheorie im Allgemeinen erzielen. Marginale Genres sind eine Leerstelle in der Forschung, welche die neuere Genreforschung nach und nach zu füllen beginnt.
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Teil III Film-Genre-Theorie
Genredramaturgie
Lars R. Krautschick
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2 Zu unterschiedlichen Ansätzen der Genreidentifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3 Horrorfilmszenarios und ihre Abgrenzungsparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4 Horrorfilmregeldramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Zusammenfassung
Mittels einer Untersuchung dramaturgischer Regeln lassen sich nähere Analysepunkte bzgl. Genres aufdecken: Liegen ihnen konzeptionelle Strukturen zugrunde? Werden bestimmte Elemente wiederholt, die Genrebezüge erkennbar machen? Um sich dem Begriff Genredramaturgie anzunähern und die konstruktiven Aspekte eines regeldramaturgischen Katalogs aufzudecken, wird eine exemplarische Untersuchung am Fallbeispiel Horrorfilm vorgenommen. Die Horrorfilmregeldramaturgie wird dabei bedingt durch ein übergeordnetes diegetisches Szenario, das in verschiedenen Ausprägungen dem übernatürlichen Horror wie auch seinen Subgenres zu eigen ist. Zudem lässt sich über Rückschlüsse auf die Weiterentwicklung dieser Regeldramaturgie letztlich auch das Faszinosum der Genreevolution erfassen.
Schlüsselwörter
Regeldramaturgie · Horrorfilmszenario · Genreevolution · Subgenres · Subdiegese
L. R. Krautschick (*) Institut für Theaterwissenschaft, LMU München, München, Deutschland E-Mail: Lars.Krautschick@campus.lmu.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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M. Stiglegger (Hrsg.), Handbuch Filmgenre,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_15
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L. R. Krautschick
1 Einleitung
Mit seinem Paradigma, „there is always a genre and genres“ (Derrida 1981, S. 61), verdeutlicht Jacques Derrida die grundlegende Funktion von Genres für eine effektive Kommunikation. In unserem Sprachschatz verwenden wir fortwährend Kategorien/Genres, um mit anderen kommunizieren zu können: Wortgruppen, Tierarten, Institutionsnamen . . . somit ermöglichen Genres überhaupt erst Kommunikation (vgl. Tudor 1974, S. 2023; Fowler 1989, S. 216; Altman 1999, S. 14; Langford 2005, S. 4). Aber nicht allein auf der rein verbalen Ebene, sondern ebenso für Filme und deren Rezeption ist Derridas Betrachtungsweise relevant. So erleichtert und beschleunigt eine Genreeinteilung bspw. den informativen Austausch (über Filme und deren Inhalte) zwischen den jeweiligen Kommunikationspartnern, da über Adressierung eines simplen Schlagworts wie Western gleichzeitig spezifische ästhetische Komponenten oder narrative Muster angesprochen werden; im Falle des Westerns bspw. Setting, Figuren oder Handlungszeit. „Genre provides an important frame of reference which helps the reader to identify, select and interpret texts“ (Chandler 2000, S. 7). Der Genreforscher Tzvetan Todorov behauptet gar: „A genre, whether literary or not, is nothing other than the codification of discursive properties“ (Todorov 1995, S. 18).
Zudem sind Genreeinteilungen (z. B. durch Produktionsfirmen) für die Vermarktung von Filmen einsetzbar, da sie ein konkretes Zielpublikum ansprechen und dem Rezipienten gleichzeitig die Angebotsauswahl erleichtern, wenn er in Videotheken, Kinoprogrammen und TV-Zeitschriften zielgenau nach Filmen suchen kann, die seinen Vorlieben entsprechen. „People go to genre films to participate in events that somehow seem familiar“ (Altman 1999, S. 25). So erleichtern Genrebegriffe gleichzeitig die Recherche. Außerdem und dies ist der springende Punkt ermöglichen Genrebegriffe überhaupt erst (film-)wissenschaftliches Arbeiten im Bereich des (Genre-)Films mittels ihres mitkommunizierten, mehr oder weniger fixen Kanons an ästhetischen sowie dramaturgischen Mitteln. Ohne eine derartige Einigung bliebe eine nicht zufriedenstellend beantwortete Frage nach dem Untersuchungsbeispiel bestehen, die oftmals über ein dialektisches Verfahren beantwortet wird, worüber sich jedoch höchstens feststellen ließe, was bspw. Horrorfilm nicht ist so u. a. bei Arno Meteling:
[So] wird die Notwendigkeit von Sujet- und Genrebegriffen, wie unzureichend sie auch sein mögen, [. . .] nicht abgestritten. Die Begriffe werden genutzt, um Konzepte und Kontinuitäten verschiedener Gruppen und Reihen von Horrorfilmen zu beschreiben und abzugrenzen. [. . .] Mitunter mischen sich die Kategorien. So zählen zum Beispiel Filme mit den Sujets Slasher, Zombies oder ,Kannibalen zum Genre des Splatterfilms, das einzig wegen seiner Ästhetik und Erzählweise, aber nicht wegen seines Figurenkatalogs klassifiziert wird. (Meteling 2006, S. 15)
Die „hitzige“ Genredebatte um den Horrorfilm soll auch der Anlass sein, an dieser Stelle einige Betrachtungen über genredramaturgische Reglements zu diskutieren. Metelings Kommentar lässt sich hierzu entnehmen, dass eine wesentliche Verwirrung um das Genre Horror darauf zurückgeht, dass zwischen Horrorfilm und
Genredramaturgie
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dem von ihm gesondert zu betrachtenden Subgenres kaum unterschieden wird. Aus einer fehlenden Differenzierung resultiert somit eine Vermischung verschiedenster dramaturgischer wie auch ästhetischer Genrekonzepte unter dem Schlagwort Horrorfilm. Solange also Subgenres mit eigenen narrativen Mustern und eigenen ästhetischen Regeln dem Untersuchungsgegenstand hinzugerechnet werden, lassen sich keine gültigen Gesetzmäßigkeiten für den Horrorfilm ableiten. Bereits Derridas Aufforderung in seinem Artikel über das Gesetz des Genres, die man wohl kaum direktiver formulieren kann, verbietet eine solche Vermischung: „Genres are not to be mixed. I will not mix genres. I repeat: genres are not to be mixed. I will not mix them“ (Derrida 1981, S. 51).
Tatsächlich empfiehlt sich jedoch das Filmgenre Horror als Paradebeispiel für eine Untersuchung von Genredramaturgie wie sie hier angestellt werden soll, weil v. a. dieses Genre festen Handlungsmustern folgt, die zu einem hohen Wiedererkennungswert führen.
Anyone familiar with the genre of horror knows that its plots are very repetitive. Though here and there one may encounter a plot of striking originality [. . .]. A horror adept has, typically, a very good sense of what is going to happen next in a story [. . .]. Part of the reason for this is that many horror stories [. . .] are generated from a very limited repertory of narrative strategies. (Carroll 1990, S. 97)
Dennoch besteht Klärungsbedarf darüber, ob sich derartige phänomenologische Feststellungen auch dramaturgisch notieren lassen. Dieses Unterfangen wird im Folgenden in vier Schritten angegangen: Zuerst soll anhand differenter Definitionsansätze für den Genrebegriff von Horrorfilm die Notwendigkeit einer Untersuchung der dramaturgischen Ebene des Horrorgenres aufgedeckt werden, bevor die dramaturgischen Abgrenzungsparameter von Horrorfilmen gegenüber anderen Genres abgebildet werden können. Anhand der daraus ablesbaren Kriterien kann so auf einen dem Horrorgenre immanenten regeldramaturgischen Katalog geschlossen werden, der als weiteres Identifikationsmerkmal für einen Film des Genres gelten soll. Letztlich lässt sich wiederum mittels dieses Regelkatalogs im Fazit entfalten, wie es zu einer Genreevolution bzw. zur Entwicklung von Subgenres kommen mag.
2 Zu unterschiedlichen Ansätzen der Genreidentifizierung
While some genres are based on story content (the war film), others are borrowed from literature (comedy, melodrama) or from other media (the musical). Some are performerbased (the Astaire-Rogers films) or budget based (blockbusters), while others are based on artistic status (the art film), racial identity (Black cinema), locate (the Western) or sexual orientation (Queer cinema). (Stam 2007, S. 14)
Einerseits ist der Horrorfilm tatsächlich vorwiegend über seine spezifische Ästhetik definiert worden ein Kriterium, das Robert Stam in seiner obigen Aufzählung gar nicht erst direkt anspricht. Gerade Ästhetik ist prinzipiell nämlich alles andere als spezifisch, sondern erweist sich als das, was Irina O. Rajewsky transmedial nennt,
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und damit als unspezifisches Kriterium, das in jedem Genre eingesetzt werden kann. Denn als transmedial bezeichnet Rajewski gerade Phänomene,
die man als medienunspezifische Wanderphänomene bezeichnen könnte, wie z. B. das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienprodukts relevant würde. [. . .] [I]n diesen Fällen wird auf Ästhetiken bzw. Diskurse abgehoben, die in unterschiedlichen medialen Systemen mit den jeweils eigenen Mitteln realisiert werden können. (Rajewsky 2002, S. 1213)
Andererseits wurde Horrorfilm ebenfalls über seine angsterregende Wirkung auf den Zuschauer definiert.1 Allerdings fällt eine Einigung darüber, was Angst erregt, schwer, da sich Ängste auf rein individuelle Auslöser beziehen und daher Verschiedenstes Angst im Zuschauer hervorruft; selbst Phänomene, die nicht unbedingt in Horrorfilmen, sondern in anderen Genres auftreten. „If every film depicting the fearsome or the horrific is of the horror genre, then everything from The Godfather to Titanic is horror. In which case the term loses all meaning and horror ceases to be a distinct genre“ (Sipos 2010, S. 6). Der Schwachpunkt eines Definitionsansatzes über angsterregende Topoi liegt also darin, dass nicht zwischen Horrorfilm und Genres unterschieden wird, die ebenfalls mit Angst, Ekel und Schrecken arbeiten, um Spannung zu erzeugen. So lässt sich lediglich festhalten, dass ästhetische wie auch Angst erregende Faktoren, in verschiedensten Genres eingesetzt werden, um Ängste im Rezipienten anzusprechen. Für eine Genredefinition müssen demnach weitere beschreibbare Faktoren berücksichtigt werden.
[G]enres are thought to reside in particular topic and structure or in a corpus of films that share a specific topic and structure. [. . .] Even when films share a common topic, they will not be perceived as members of a genre unless that topic systematically receives treatment of the same type. (Altman 1999, S. 23)
Mit dieser Aussage erhebt Rick Altman die Wiederholung wesentlicher Strukturelemente in mehreren Filmen (Altman 1999, S. 2426; vgl. Neale 1980, S. 48), was er auch „the repetitive nature of genre films“ (Altman 1999, S. 25) nennt, zum Genre-Identifikationsmerkmal schlechthin. Dieser „repetitive nature“ folgend gilt
1Dies mag daraus resultieren, dass viele filmwissenschaftliche Definitionsansätze für das Horrorgenre eine etymologische Sichtweise auf den Terminus Horror anwenden. Horror entstammt urspr.
dem Lateinischen (horror[-is causa]) und bezeichnet einen Schauer, der jemandem über den
Rücken läuft. Übernommen wurde der Begriff erst im 18. Jh. in die deutsche Umgangssprache
und diente zuvor als medizinische Fachvokabel für Schüttelfrost o. a. Fieberschauer. Umgangssprachlich wird Horror als Synonym für Schrecken, Schauder oder Abscheu genutzt. „The word horror derives from the Latin horrere to stand on end (as hair standing on end) or to bristle and the old French ,orror to bristle or to shudder. And though it need not be the case that our hair must literally stand on end when we are art-horrified, it is important to stress that the original conception of the word connected it with an abnormal (from the subjects point of view) physiological state of felt agitation“ (Carroll 1990, S. 24).
Genredramaturgie
93
es demnach, Elemente festzustellen, die sich in Horrorfilmszenarios permanent
wiederholen, um zum Kern des Genres vorzustoßen. Eckhard Pabst rechnet bspw. und dies lässt sich bereits dem Titel seines Essays „Das Monster als die genrekonstituierende Größe im Horrorfilm“ entnehmen all diejenigen Filme zum Genre Horrorfilm, in deren Diegese2 ein fiktives paranormales Wesen, ein Monster,3 auftritt. Mit Pabsts These geht auch Thomas Sipos konform, der schreibt: „To differentiate itself, the horror genre must dramatize horrific events other than the
commonplace, realistic, or historical. It must posit an unnatural threat that is outside the realm of normalcy, reality, or history“ (Sipos 2010, S. 6).
Das Paranormale wird somit als „genrekonstituierende Größe“ (vgl. Pabst 1995, S. 1) für den Horrorfilm angesehen. Hingegen funktioniert keineswegs der Umkehrschluss, jeden Film, in dem ein Monster auftritt, als Horrorfilm zu betrachten. Zwar sind Figuren wie Superman oder das Krümelmonster einwandfrei als Monsterfiguren u. U. sogar als bedrohliche Monsterfiguren zu identifizieren, allerdings treten diese Figuren in Filmen auf, die ebenso einwandfrei nicht als Horrorfilme zu bezeichnen sind. Auch in Scary Movie 3 (US 2003, David Zucker) tritt eine selbst visuell identisch gestaltete Geisterfigur mit gleichen stilistischen Attributen wie in Gore Verbinskis The Ring (US 2002) auf. Dennoch bleibt Scary Movie 3 eine Parodie4 und wird nicht allein aufgrund des Einsatzes einer Monsterfigur oder der Simulation typischer Horrorfilmstilmittel zum Horrorfilm. Sipos stellt dieses Verhältnis mit
wenigen Worten klar:
Film genres are usually defined by a set of story conventions, which may include plot, character, period, and/or setting. Story conventions spawn a genres icons, such as vampires or spaceships. Genre should not be confused with style: the techniques and manner whereby the story is told. (Sipos 2010, S. 5)
Derartige „story conventions“, wie sie Sipos anführt, finden sich allerdings in der dramaturgischen Konfiguration, die im Horrorfilm um die auftretenden paranormalen Figuren herum konzipiert wird. So bleibt das Monster Dreh- und Angelpunkt eines Horrorfilmszenarios und damit auch erstes Erkennungsmerkmal eines Films
2Diegese „(= inhaltliche Betrachtungsweise)“ (Kanzog 1997, S. 55); „[z]um Grundraster der Diegese gehören: Ort und Zeit; Figuren und Figurenkonstellationen; Handlung. Aus diesem Ansatz folgt die Wahl der Handlungsepisode als maßgebende Erzähleinheit“ (Kanzog 1997, S. 55). 3„Das Monster in seiner Bedeutung und Funktion als Zeichen ist der Signifikant eines transzendentalen und nicht eines transzendenten Signifikats. Denn dieses Signifikat entspringt zunächst keinem äußeren Raum, keinem Zirkus und keiner Freakshow, sondern ist das Produkt von Literari-
zität oder Filmzitat selbst sowie der Imagination des Lesers oder Betrachters. Gerade der MonsterSignifikant entzieht sich deshalb immer dem Signifikat als einer eindeutigen und sinnhaften Referenz auf eine Außenwelt“ (Meteling 2006, S. 325). 4Gerade am Bsp. der Parodie macht Rajewski deutlich, was Transmedialität bedeutet: „Diese Qualität kommt etwa der Parodie zu, ein Genre bzw. Diskurstyp, der zwar im literarischen Medium entwickelt und paradigmatisch verwirklicht worden ist, dessen Regeln aber nicht medienspezifisch sind. Eine Parodie kann ebenso im literarischen wie etwa filmischen Medium mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln umgesetzt werden“ (Rajewsky 2002, S. 13).
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aus dem Horrorgenre, wie Carroll weiterführend feststellt: „The object of suspense is a situation or an event; the object of horror is an entity, a monster. [. . .] Of course, the type of situation which generates suspense in horror fictions will typically include a monster by whom the audience ist art-horrified“ (Carroll 1990, S. 143). Aufbauend auf diese Erkenntnis lässt sich feststellen, dass eine Genredefinition anhand der dramaturgischen Konzeption von der paranormalen Figur im Zentrum der Dramaturgie eines Horrorfilms ausgehen muss. Entlang des Handlungsspielraums dieser Figur strukturieren sich von Syd Field als solche bezeichnete „Plot Points“5 bzw. Narrationsmuster, von denen ausgehend sich definitive Merkmale und eindeutige Gemeinsamkeiten der Filme des Horrorgenres feststellen lassen. Letztlich begegnet
der Rezipient in diesen Filmen wiederholt denselben narrativen Mustern, die sich um
die paranormalen Parameter spannen, die einen Aspekt darstellen, durch den sich das
Horrorgenre von den übrigen Genres abhebt.
Das Kriterium des Übernatürlichen [. . .] fungiert als Abgrenzungsparameter zu denjenigen anderen Filmgenres, die ebenfalls angsterzeugende Momente erhalten und/oder Blutiges, Grauenhaftes oder Unvorstellbares inszenieren wie (manche) Kriegsfilme, Science Fiction, Psycho-Thriller oder Serial-Killer-Filme. Dabei heben viele Definitionsversuche als das zentrale Element des Horrorfilms das Motiv vom Halbwesen oder fantastischen Wesen hervor, aus dem sich die Abgrenzung des Genres zur Science Fiction oder zum Psycho-
Thriller gewinnen lässt[.] (Shelton 2008, S. 115)
3 Horrorfilmszenarios und ihre Abgrenzungsparameter
Der Gefahr eines argumentativen Pygmalion-Effekts im Genredefinitionsansatz, bei dem Filme ausgewählt werden, um von dieser Auswahl im Nachhinein auf ihr Genre zu schließen, begegnet Todorov in seinen Untersuchungen über das (literarische) Genre des Fantastischen mit einem Kompromiss, mit dem er letztlich den deduktiven Ansatz wählt.
[O]ne of the first characteristics of scientific method is that it does not require us to observe every instance of a phenomenon in order to describe it; scientific method proceeds rather by deduction. We actually deal with a relatively limited number of cases, from were we deduce a general hypothesis, and we verify this hypothesis by other cases, correcting (or rejecting) it as need be. Whatever the number of phenomena [. . .] studied, we are never justified in extrapolating universal laws from them; it is not the quantity of observations, but the logical coherence of a theory that finally matters. (Todorov 1975, S. 4)
Entscheidend für diese Methode scheint zunächst die Festlegung auf systematische Auswahlkriterien, durch deren Anwendung ein Filmkanon entsteht, aus dem
5„Plot Point is defined as any incident, episode or event that hooks into the action and spins it around into another direction[.] [. . .] A Plot Point can be anything you want it to be; it is a story progression point“ (Field 2006, S. 49).
Genredramaturgie
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wiederum deduktiv weitere Aspekte gewonnen werden, die dazu beitragen, sich wiederholende Narrationsmuster im Horrorfilm zu identifizieren.
Wie vorangehend erläutert, lässt sich nach Theoretikern wie Langford (2005, S. 166168) a priori zumindest ein Auswahlkriterium für das Genre Horrorfilm ausmachen, nach dem „sich alle spezifischen Genremerkmale (= Strukturkonventionen) des Horrorfilms darstellen lassen als vom Monster determinierte Relationen zwischen formalen und inhaltlichen Aspekten des Films“ (Pabst 1995, S. 1). Diese Feststellung deckt sich wiederum mit der oft zitierten Basisformel Woods für den Horrorfilm: „[N]ormality is threatened by the Monster. [. . .] The Monster is, of course much more protean, changing from period to period as societys basic fears clothe themselves in fashionable or immediately accessible garments [. . .]“ (Wood 2004, S. 117118). Bei genauerer Betrachtung weisen all diese Formeln zwei gemeinsame systemische Bezüge auf, die für Horrorfilmszenarios geltend gemacht werden können: (a) die Bedrohung durch das Andere, ein paranormales Monster und (b) dasjenige, das von diesem Monster bedroht wird, was Wood u. a. als „Normalität“ deklarieren. Pabst verschärft sogar noch diese Woodsche Systematik eines Horrorfilmszenarios, wenn er die Bedrohung durch das Paranormale zur konstituierenden Größe erhebt: „Der Horrorfilm perspektiviert den Blick auf die Grenze: Sie scheidet die Welt in ein [b] Hier (= Wir) und ein [a] Dort (= Das Andere). Hinter der Grenze verbirgt sich das Monster als Vertreter des oppositionellen Systems“ (Pabst 1995, S. 4). Damit bleiben dargestellte paranormale Figuren zwar das erste Erkennungsmerkmal eines Horrorfilms, gleichermaßen lässt sich über deren Funktion als „oppositionelles System“ auf die im Kontrast dazu inszenierte „Normalität“ als ein weiteres Identifikationsmerkmal schließen. Offenbar lässt sich demnach die Horrorfilmdiegese in zwei voneinander zu unterscheidende Subdiegesen mit jeweils eigenen Regeln (a & b) unterscheiden:
(a) in eine Subdiegese, deren Regelsystem innerhalb der filmischen Umsetzung in seinen Gesetzmäßigkeiten vollkommen von der Realität abweicht, bspw. nicht den Naturgesetzen unterliegt bzw. vollkommen gegen diese verstößt. „Dieser Verstoß manifestiert sich grundsätzlich in Form eines Monsters [. . .]. Das Monster zeichnet sich meistens durch ein fantastisches Merkmal aus[.]“ (Pabst 1995, S. 10). Diese Subdiegese (a) soll mit dem Terminus Meta(physik)-System6
bezeichnet werden, da sich deren intradiegetischen Phänomene (Monster, Dämonen, Geister, Phantome etc.) über die Alltagserfahrung, d. h. ein Wirklichkeitsprinzip, hinwegsetzen und stattdessen als metaphysische genauer: para-
6Die Vorsilbe Meta drückt aus, dass sich das so benannte auf einer höheren Stufe oder Ebene befindet. Metaphysik bezeichnet ursprünglich „diejenigen Schriften des Aristoteles, die Andronikos von Rhodos nach den naturwissenschaftlichen angeordnet hatte. Sie hatten die ,erste Philosophie zum Inhalt, die Wissenschaft, deren Betrachtung gerichtet ist auf das Seiende und die höher reicht als die Naturwissenschaft [. . .] In der Folgezeit wurde [. . .] [u]nter Metaphysik [. . .] die philoso-
phische Lehre vom Übersinnlichen, von dem, was jenseits der materiellen Welt existieren soll, vom wahren Sein, das allem Seienden zugrunde liege, verstanden“ (Klaus und Buhr 1975, S. 789790).
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L. R. Krautschick
normale Phänomene in Erscheinung treten, wie sie sich der jeweilige Filmschaffende vorstellt. (b) in eine zweite Subdiegese, deren Regelsystem innerhalb der filmischen Umsetzung in all seinen physikalischen Gesetzmäßigkeiten und naturgemäßen Abläufen dem alltäglichen realen Leben angeglichen ist. Aus diesem Grund wird diese Subdiegese im weiteren Verlauf als Parallel-System bezeichnet, da dieses in seiner Angleichung an eine fiktionale Parallelwelt ähnlich der menschlichen Wirklichkeit erinnert. Was vom Rezipienten als Wirklichkeit begriffen werden soll und was deshalb von Wood als „Normalität“ verstanden wird, bietet somit das größte Affektionspotenzial für den Zuschauer. Zwar spricht Rudolf Arnheim dem Film bereits in dessen grauer Vorzeit die Fähigkeit zur Realitätskonstruktion ab, wenn er in Film als Kunst (1932) akribisch auflistet, welche Parameter filmische von realer Wahrnehmung unterscheiden (Arnheim 2002, S. 3139), folgt man jedoch Marcus Stigleggers Seduktionstheorie, ist die bedingungslose Annahme (bzw. die genaueste Nachbildung) von filmischer Realität als Realität auch nicht erforderlich, um Affekte beim Rezipienten auszulösen.
Laut Stiglegger genügt es, dem Film, einen Anreiz mit den ihm „eigenen, anderen Gesetzmäßigkeiten und inszenatorischen Strategien [. . .] als das reale Vorbild“ (Stiglegger 2006, S. 33) zu schaffen, um „den gewünschten sinnlichen Affekt im Rezipienten stimulieren zu können, [d. h.] das Publikum regelrecht zu verführen“ (Stiglegger 2006, S. 33). „Die seduktive Qualität des Films selbst zeigt sich [. . .] auf verschiedenen Ebenen, seien sie äußerer Natur (Bewegung, Körperlichkeit, Sinnlichkeit), dramaturgischer (Fabel, Drama) oder ethisch-moralischer Art (innerer Konflikt, Ambivalenz)“ (Stiglegger 2006, S. 33). Als entscheidend für die Definition der kinematografischen Seduktion erkennt Stiglegger sechs Aspekte:
1. der Bezug der filmisch reproduzierten beziehungsweise re-inszenierten Welt zu einer sozialen Realität sowie der Vergleich dieser Ebenen; 2. die Fähigkeit des Films, Raum- und Zeitkontinuität aufzulösen; 3. der Zusammenhang zwischen Filminszenierung, Filmwahrnehmung und dem menschlichen Bewusstsein; 4. die flüchtige Leichtigkeit filmischen Geschehens; 5. die Musikalität filmischer Inszenierung und Montage; und schließlich 6. der Hochgenuss, den das Medium seinem Publikum bereitet. (Stiglegger 2006, S. 10)
Ziel der Seduktion ist es dabei, „den Blick so intensiv auf sein Objekt [zu lenken], dass daraus eine Hyperrealität entstehen könne. [. . .] Diese Intensität der visuellen Inszenierung zwingt den Betrachter nicht nur in eine Perspektive, sie verführt ihn geradezu, die neu ergründete Qualität mit der Wirklichkeit zu vergleichen und an ihr zu messen“ (Stiglegger 2006, S. 11). Und dies ist schließlich auch das Ziel eines Horrorfilms: Die dargestellte Subdiegese Parallel-System soll in der „Rezeption eines Horrorfilms zur Annahme (ver)führen, dass die in Szene gesetzten Angst erregenden Faktoren als kongruent mit der eigenen Realität zu betrachten sind“ (Krautschick 2015, S. 29). Insgesamt will ein Horrorfilm also dazu verführen, Angst zu empfinden, woraus der Rezipient als Sensation Seeker seinen „Hochgenuss“ zieht (vgl. Zuckerman 1996, S. 147160) Um es also mit der „eigenen sozialen Realität“ vergleichbar zu machen und so zum Angstempfinden um diese Wirklichkeit einzu-
Genredramaturgie
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laden, muss das Parallel-System in seiner Inszenierung stets der zeitgemäßen Rea-
lität des Rezipienten angepasst sein. Im Horrorfilm sind dem Parallel-System allerdings spezifische Charakteristika zu
eigen, die es nach Baumann einem instabilen System angleichen, das Brüche entlang der oftmals visuell in Szene gesetzten Grenze (Pabst 1995, S. 47) zwischen beiden Subdiegesen aufweist. Durch diese Brüche dringt das Paranormale schließ-
lich in das Parallel-System ein (Abb. 1): Ist dieses Oszillieren zwischen Meta- und Parallelsystem „– im Kontext der fiktionalen Welt bruchlos möglich, haben wir es mit Fantasy oder Märchen zu tun; ist es nur möglich, weil sich in der mit unserer Welt identisch gesetzten Welt Brüche auftun, geht es um Horror“ (Baumann 1989, S. 107). Demnach ist keine der beiden Subdiegesen monadisch organisiert, wie es Leibniz für einheitliche Systeme annimmt und was durchaus auf Diegesen anderer Genreszenarios bspw. die des Fantasyfilms zutrifft. „Es gibt [. . .] keine Möglichkeit zu erklären, wie eine Monade durch irgendein anderes Geschöpf umgewandelt oder in ihrem Inneren verändert werden kann [. . .]. Die Monaden haben keine Fenster, durch die irgend etwas ein- oder austreten könnte“ (Leibniz 2005, S. 13). Im Gegensatz zur leibnizschen Monade sind Parallel- und Meta-System im Horrorfilm an ihren Bruchstellen demnach semipermeabel durchlässig (Abb. 1): „Der Bruch besteht darin, daß etwas Wirklichkeit geworden ist, obwohl es definitionsgemäß unmöglich bleibt“ (Baumann 1989, S. 107). Die paranormalen Figuren im MetaSystem nutzen die Instabilität des Parallel-Systems aus, finden im Szenario einen Weg in das Parallel-System und bringen es phasenweise aus seinem naturgesetzli-
chen Gleichgewicht, wenn bspw. Geister kopfüber an der Decke laufen oder befal-
lene Körper kurzzeitig zum Schweben befähigen. Der Einbruch dieser Figuren in das Parallel-System vollzieht sich innerhalb der filmischen Inszenierung dabei als sequenzieller und oszillierender Vorgang: Das paranormale übernatürliche Wesen
greift wiederholt an den Plot Points aus dem Meta-System auf das Parallel-System über und zieht sich ebenso oft in das Meta-System zurück (Abb. 1). So wird dem
Eindruck entgegengewirkt, das Meta-System würde zu einem integrativen Bestandteil des Parallel-Systems; beide Subdiegesen bleiben im Horrorfilm unabhängig und stetig voneinander unterscheidbar (Abb. 1). Diese Unterscheidbarkeit lässt sich
Abb. 1 Darstellungschema der Horrorfilmdiegese. © Lars R. Krautschick 2015