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Neue Perspektiven der Medienästhetik
Ivo Ritzer · Harald Steinwender Hrsg.
Politiken des Populären
Medien Kultur Wissenschaft
Neue Perspektiven der Medienästhetik
Reihe herausgegeben von Ivo Ritzer, Bayreuth, Deutschland
Die Reihe „Neue Perspektiven der Medienästhetik“ versteht sich als Brückenschlag zwischen Ansätzen von Medientheorie und ästhetischer Theorie. Damit sollen ästhetische Qualitäten weder als determinierende Eigenschaften einer technologisch-apparativen Medialität noch als Effekt dieses medialen Apriori begriffen sein. Stattdessen werden sowohl die Relevanz des Technologisch-Apparativen als auch die im Rahmen der apriorischen Konstellation sich entfaltende Potentialität an ästhetischen Verfahren ernst genommen. Die Frage nach medienästhetischen Qualitäten bedeutet demnach, die einem Medium zur Verfügung stehenden ästhetischen Optionen zu spezifizieren, um ihrer Rolle bei der Konstitution des jeweiligen medialen Ausdrucks nachzuspüren. Dabei projektiert die Reihe insbesondere, entweder bislang vernachlässigte Medienphänomene oder bekannte Phänomene aus einer bislang vernachlässigten Perspektive zu betrachten.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13443
Ivo Ritzer · Harald Steinwender
(Hrsg.)
Politiken des Populären
Medien Kultur Wissenschaft
Hrsg. Ivo Ritzer Universität Bayreuth Bayreuth, Deutschland
Harald Steinwender Programmbereich SpielFilmSerie Bayerischer Rundfunk München, Deutschland
ISSN 2524-3209
ISSN 2524-3217 (electronic)
Neue Perspektiven der Medienästhetik
ISBN 978-3-658-22922-1
ISBN 978-3-658-22923-8 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22923-8
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhaltsverzeichnis
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . 1 Ivo Ritzer und Harald Steinwender Teil I Mediale Regimes und Populärkultur Caravaggios Medusa, Woodstock und die Gefahren des medialen Effekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Thomas Meder Depräsentieren: Auf der Suche nach der Gegenwart des Computers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Jan Distelmeyer Zirkulierende Bildformeln zwischen Ost und West: Politiken des Populären und Shakespeare: The Animated Tales. . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Hannah Schoch Geboren aus Schlamm und digitalem Code: Zum Monströsen in Peter Jacksons Tolkien-Verfilmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Tim Slagman Teil II Genre, Gesellschaft und Politik Der Geist der Atopie, oder Lets Put the Loch in Bloch: Versuch in einer politischen Filmtheorie des Nonsens als (schwaches) Gesetz und Versetzung mit Simon Pegg. . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Drehli Robnik
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Inhaltsverzeichnis
Die Popularisierung des Politischen und die Aktualisierung nationaler Mythen im Main-Melody-Film. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Tim Trausch
Geopolitische Höhenkrankheit und der wiedergefundene Horizont der Cinephilie: Johnnie Tos Romancing in Thin Air. . . . . . . . . . 163 Lukas Foerster
Der Bürger rebelliert! Der italienische Polizei- und Gangsterfilm 19681980. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Harald Steinwender
Teil III Gender und Race
Blockbusterkino gegen den Strich gelesen: Queering Fantastic Beasts and Where to Find Them und Logan . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Vera Cuntz-Leng
Shadeshifter: Konstruktionen von Gender und Schwarzsein in Black Emanuelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Lisa Andergassen
Kulturwissenschaft (re)Assigned: Transmediale Identitätspolitik, post-postkoloniale Theorie und pan-afrikanische Diaspora. . . . . . . . . . . . 269 Ivo Ritzer
Herausgeber und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber
Prof. Dr. Ivo Ritzerlehrt Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth. Koordinator des DFG-Netzwerks „Genres und Medien“. Arbeitsschwerpunkte: Medienphilosophie, Medienanthropologie, Medienkulturtechnikforschung. Herausgeber der Schriftenreihen „Neue Perspektiven der Medienästhetik“ und „Medienwissenschaft: Einführungen kompakt“. Zahlreiche Publikationen zu Medien-, Bild-, Kultur- und Filmtheorie, aktuell u.a.: Medientheorie der Globalisierung, 2018; Media Cities: Mapping Urbanity and Audiovisual Configurations, 2018; Mediale Dispositive, 2018; Medialität der Mise-en-scène: Zur Archäologie telekinematischer Räume, 2017. Dr. Harald Steinwender, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Philosophie in Mainz. Promotion 2009 mit der Studie Sergio Leone Es war einmal in Europa (2.Aufl. 2012). Während des Studiums und danach Arbeit als freier Autor, Drehbuchlektor und Übersetzer. Beiträge für zahlreiche filmwissenschaftliche und -historische Zeitschriften und Sammelbände; Herausgeber (mit Ivo Ritzer) von Transnationale Medienlandschaften (2017). Ab 2010 redaktioneller Mitarbeiter und Redakteur im Programmbereich SpielFilmSerie und in der Kinoredaktion des Bayerischen Rundfunks (BR) in München. 20162018 Redakteur für die 3sat-Koordination der ARD, seit 2018 Redakteur und Programmplaner für das BR Fernsehen. Redaktion u.a. bei Alles Inklusive (2014, Kino), Mitten in Deutschland: NSU Die Ermittler: Nur für den Dienstgebrauch (2016, TV), Der NSU-Komplex (2016, TV), Kirschblüten und Dämonen (2019, Kino), Und morgen die ganze Welt (2019, Kino;im Dreh). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Europäisches Populärkino; Geschichte des europäischen Films nach 1945; italienisches Kino und internationale Koproduktionen; Genrekino; Gender und Film.
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Herausgeber und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
Lisa Andergassen, MA, ist freie Autorin, Dozentin und Übersetzerin. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften und Fotografie in Wien sowie Europäische Medienwissenschaft in Potsdam. Von 20142015 war sie assoziiertes Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs Sichtbarkeit und Sichtbarmachung: Hybride Formen des Bildwissens und bis Oktober 2017 Promotionsstipendiatin des Fachbereichs Design an der Fachhochschule Potsdam. Zuletzt hat sie den Sammelband Explizit! Neue Perspektiven auf Pornografie und Gesellschaft (2013) mitherausgegeben und das internationale Symposium Pointed or Pointless? Recalibrating the Index (London/Potsdam, 2017) co-organisiert.
Dr. Vera Cuntz-Leng ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg und leitende Redakteurin der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen|Reviews, außerdem Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des Gleichstellungsbüros der Goethe-Universität Frankfurt; Studium der Film- und Theaterwissenschaft in Mainz, Wien und Marburg; Promotion zum Thema Verque(e)re Fantasien: Die Harry Potter-Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Fan Studies, Gender/Queer Studies, Filmanalyse.
Prof. Dr. Jan Distelmeyer lehrt Mediengeschichte und -theorie im Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der Fachhochschule Potsdam und Universität Potsdam. Er ist Gründungsmitglied des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften ZeM und der „AG Interfaces“ der Gesellschaft für Medienwissenschaft sowie Teil des Forschungskollegs SENSING: Zum Wissen sensibler Medien am ZeM (www.sensing-media.de). Letzte Buchveröffentlichungen: Machtzeichen. Anordnungen des Computers (2017), Katastrophe und Kapitalismus. Phantasien des Untergangs (2013), Das flexible Kino. Ästhetik und Dispositiv der DVD & Blu-ray (2012), Raumdeutung. Zur Wiederkehr des 3D-Films (2012 mit Lisa Andergassen und Nora Johanna Werdich).
Lukas FoersterMA, arbeitet als Medienwissenschaftler, schreibt Filmkritiken und organisiert Filmreihen. Veröffentlichungen unter anderem: Amerikanische Komödie (2016; gemeinsam mit Daniel Eschkötter, Nikolaus Perneczky, Simon Rothöhler, Joachim Schätz); Spuren eines Dritten Kinos (2013; Hg. gemeinsam mit Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti).
Herausgeber und Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. Thomas Meder lehrt Medientheorie an der Hochschule Mainz (Zeitbasierte Medien). Studium der Kunstgeschichte in Bamberg, Berlin, Rom. Zuvor acht Jahre an der Uni Frankfurt, daneben schreibend für die Feuilletons von FAZ und NZZ unterwegs. Gutachtet für die FSK. Zahlreiche Publikationen zu den Interdependenzen von Bildender Kunst und Film. Bereitet eine größere Studie mit dem Titel Caravaggios Medienwissenschaft vor. Seit 2011 mehrere filmerklärende Projekte, siehe http://filmeerklaeren.hs-mainz.de.
Dr. Drehli Robnikist Theoretiker in Sachen Film & Politik, Nebenerwerbsessayist, Gelegenheitskritiker, musikbasierter Teilzeit-Edutainer. Lebt in Wien-Erdberg. Arbeiten zur Wahrnehmung politischer und sozialer Machtverhältnisse/Subjektivierungen in öffentlichen Inszenierungen (insbes. Film/Kino, Popmusik, Public History). Doktorat Uni Amsterdam (2007). Er ist Herausgeber u.a. der Film-Schriften von Siegfried Mattl (2016). Jüngste Monografien: Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière (2010), Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren (2015) und DemoKRACy: Siegfried Kracauers Politik*Film*Theorie (erscheint 2019).
Hannah Schoch,MA, ist wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin am Englischen Seminar der Universität Zürich und Mitglied des DFG-Netzwerks Genres und Medien. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Titel Intimate Politics: The Couple and the American Democratic Project. Sie ist Mitherausgeberin zusammen mit Elisabeth Bronfen und Ivo Ritzer von Ida Lupino: Die zwei Seiten der Kamera (2018). Ihr Interesse gilt Fragen von Gender, Genre und Medien, insbesondere mit Blick auf das amerikanische kulturelle Imaginäre in Literatur, Film und Fernsehserien sowie der Intersektion von Literatur, Kulturtheorie und politischer Philosophie.
Tim Slagman,MA, hat Filmwissenschaft und Amerikanistik in Mainz und Kulturkritik in München studiert. Er war Agenturredakteur, Übersetzer und freier Kulturjournalist. Er lebt in München und arbeitet als Redakteur beim Bayerischen Rundfunk.
Dr. Tim Trausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich chinesischer Medienkultur und Ästhetik. In verschiedenen Publikationen hat er sich aus medienästhetischer Perspektive mit Malerei, Fotografie, Film und Fernsehen beschäftigt. Aktuelle Veröffentlichungen umfassen Affekt und Zitat: Zur Ästhetik des Martial-Arts-Films (2017) und Chinese Martial Arts and Media Culture: Global Perspectives (2018). Gegenwärtig arbeitet er im Projekt Chinas Dritte Moderne des DFG-SPP Ästhetische Eigenzeiten zu medienkulturellen Konstruktionen von Zeit.
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft
Ivo Ritzer und Harald Steinwender
1 Zur Politik des ästhetischen Regimes
Die Relation von Politik und Ästhetik ist zu einem zentralen Thema der philosophischen Diskussion evolviert (Ritzer 2015, 2018). Ästhetik, führt Jacques Rancière aus, hat immer mit Intervention zu tun: Künste, die wir heute Medien nennen, „leihen den Unternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, […] was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren“ (2002, S.34). Hier ist angedacht, wie eine Suspendierung von Ordnungsmacht im Sinnlichen mit dem Überkommen sozialer Hierarchien korrespondieren kann, indem sie Gleichheitsrelationen beliebiger Subjektivitäten konstituiert (Ritzer 2018). Die spezifische Politik des Ästhetischen realisiert sich für Rancière dabei in der „reconfiguration of worlds of experience based on which police consensus or political dissensus are defined“, d.h. „in the way in which modes of narration or new forms of visibility established by artistic practices enter into politics own field of aesthetic possibilities“ (2006, S.146), ergo in der Bestreitung etablierter Ordnungen von Sichtbarkeiten und Wahrnehmungen: „The common work of art and politics is to interrupt […] this incessant substitution of words that make us see and of images that speak […], to separate words and
I. Ritzer(*) Bayreuth, Deutschland E-Mail: ivo.ritzer@uni-bayreuth.de
H. Steinwender München, Deutschland E-Mail: harald.steinwender@br.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
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I. Ritzer und H. Steinwender (Hrsg.), Politiken des Populären, Neue
Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22923-8_1
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I. Ritzer und H. Steinwender
images, to get words to be heard in their strangeness and images to be seen in their silliness“. Im Sinn eines Aufbrechens des Status quo in der „sensory evidence of a world in order“ (2006, S.152) ist das genuin politische Moment des Ästhetischen zu sehen. Es leistet Interruptionen konsensueller Selbstverständlichkeiten und evolviert dadurch zum politischen Akt. Ästhetisches und Politisches sind mithin aufs Engste miteinander verwoben, wenn Ersteres als Bestreitung von Machtrelationen politisch und wenn Letzteres als Narration von Egalitätsinszenierungen ästhetisch wird. Die Verschränkung von Politik und Ästhetik läuft demnach einerseits auf eine Fiktion von Gleichheitskonstitution im Politischen und andererseits auf eine Negation von Hierarchisierungsstrukturen im Ästhetischen hinaus. So verstanden treibt Rancière gegenüber traditionellen Ansätzen politischer Philosophie eine signifikante Nobilitierung von Ästhetik voran. Politisches Agieren fußt bei ihm nachgerade auf Inspirationen im Ästhetischen, auf deren Basis sich soziales Handeln nachbilden lässt. Das Ästhetische wird zur Bedingung der Möglichkeit von Politik. Anders gesagt, es geht hier um ein Konzept von Politik, die auf Ästhetik baut und sich in dezidierter Versinnlichung selbst erkennt. Rancière denkt ein radikales Ineinander von Politik und Ästhetik, das in Form von versinnlichtem Denken operiert. Ästhetisches feiert er geradezu als „Verwirklichung des Denkens, das Lebensformen erzeugt, Formen einer konkreten und empfundenen Realität der Ideen“. Konträr zu romantischen Ansätzen ist dabei jedoch kein Neo-Idealismus zentral, vielmehr tritt das politische Potenzial des Ästhetischen in den Fokus des Interesses. Als der apostrophierte Modus zur Realisierung von Denken und Genese von Lebensformen geht es Ästhetik um Konkretion im Materiellen: „Sie ist der Gedanke der Veranschaulichung, die die Ideen vergemeinschaftet, die eine Gemeinschaft in den Besitz der anschaulichen Formen ihrer Ideen bringt. Die Ideen zu veranschaulichen, um sie unters Volk zu bringen, um die Trennung zwischen denen, die denken, ohne zu fühlen, und jenen, die fühlen, ohne zu denken, aufzuheben, ist das älteste Programm der Ästhetik“ (2003, S.240). In einer Überwindung der Dichotomie von Aktivität und Passivität fungiert Ästhetik als Medium versinnlichter Subjektivierung und Sozialisierung, das in der Aufteilung des Sinnlichen direkt selbst interveniert.
Die Interventionen des Ästhetischen sind bei Rancière nicht in Opposition zu populären Anordnungen von Generizität, Melodramatik und Spektakularität situiert (Ritzer 2018). Konträr zur elitären Tradition naiver Ideologiekritik konstatiert Rancière einen konstitutiven Charakter der Dissonanz in den Medien des audiovisuellen Bewegungsbildes, allen voran dem populären Film. Anstatt eine phänomenologische Theorie des In-der-Welt-Seins zu entwickeln, fragt Rancière nach der politisch-medienkulturellen Distribution des Sinnlichen in differenten Regimen des Ästhetischen, die für ihn immer und immer wieder neu historisch
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft
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genau zu bestimmen sind. Das Medium des Bewegungsbildes sieht er stets schon in einem modernen ästhetischen Regime gegenüber einem klassischen repräsentierenden Regime der Ästhetik situiert. Dieses ästhetische, genuin populäre Regime aber folgt nicht etwa teleologisch auf das Zeitalter der Repräsentation, wie es eine Progressionslogik der Moderne hypostasieren mag. Ebenso wenig sorgt es für eine Autonomie des Mediums nach dem Vorbild prämoderner Ästhetik, die in der Hochmoderne allein ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten zum Gegenstand der Darstellung erheben. Rancière sieht das audiovisuelle Bewegtbild vielmehr einer kausalen Logik der repräsentierenden Entsprechung von Handlung und Ausdruck entgegenstehend, weil es im ästhetischen Regime die Adäquanz zwischen Poesie und Aisthesie aufhebt. Das ästhetische Regime der Audiovision setzt neben eine „Innerlichkeit des Denkens“ eine unbedingte „Äußerlichkeit der sinnlichen Form“ (2012, S.128), es überschreitet die rational nachahmende Repräsentation also sowohl ideell als auch materiell. Seine Bilder und Töne sind keinem Imperativ der Intelligibilität und Wiedererkennbarkeit mehr unterstellt, weshalb diese auch in populären Inszenierungsweisen zur Konstitution unkonventioneller Praktiken beitragen können. Weil im Populären kein verbindlicher Maßstab des Ästhetischen mehr besteht und die Körper sowohl in sich als auch gegeneinander Alteritäten entwickeln, entstehen Formen einer Inszenierung die jeweils ihren eigenen Maßstab zwischen Sichtbarem und Sagbarem entwerfen: „Das Vermögen der Worte ist nicht mehr das Modell, das der bildlichen Repräsentation als Norm gelten muß. Es ist das Vermögen, das die Repräsentationsfläche durchbricht, um die piktorale Ausdruckskraft sichtbar zu machen“ (2005, S.91). Zwischen Bildlichkeit und Idee, zwischen Populärem und Politik herrscht ein unauflöslicher Widerspruch, der alle moderne Medialität verbindet. Und das nicht nur, weil das Bewegtbild ein Medium moderner Technologie ist, sondern auch weil es im Populären stets die Macht der Repräsentation, d.h. den Imperativ des Moderaten, des Narrativen, des Rationalen zu stören und sinnliche Wahrnehmung populär zu entgrenzen weiß: „[T]he image is no longer the codified expression of a thought or feeling. Nor is it a double or translation. It is a way in which things themselves speak and are silent“ (2009, S.13). Durch das Populäre der Audiovisionen entsteht eine Sprengkraft in Bildern und Tönen, die stets über Eingrenzungsforcierungen hinausweisen. Nie können Audiovisionen ganz auf eine Idee und deren synthetisierende Kraft reduziert werden, scheint doch zwischen populärem Spektakel und begriffsbasierter Idee immer ein Riss zu verlaufen: „the art of the moving image can overthrow the old Aristotelian hierarchy that privileged muthos the coherence of the plot and devalued opsis the spectacles sensible effect“ (2006, S.13). Das Medium des Bewegungsbildes ist mithin in einem permanenten Prozess der Selbstdurchkreuzung begriffen. Bilder
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I. Ritzer und H. Steinwender
und Töne sprengen den Konnex von Idee und Narration durchweg auf. Rancière leistet damit zum einen eine wichtige philosophische Intervention gegen essenzialisierende Positionen. Simultan demonstriert er zum anderen in seiner Medienphilosophie der reziproken Durchkreuzung von Melodramatik und Idee nicht zuletzt auch die zentrale These seiner politischen Theorie: den Widerstreit eines unaufhebbaren Dissenses. Politik und Ästhetisches sind in diesem Denkmodell eng miteinander verzahnt, im Sinne einer Politik des Ästhetischen ebenso wie im Sinne einer Ästhetik der Politik. Wo auf der einen Seite stets Wort und Bild antagonistische Konfigurationen ausbilden, geht es auf der anderen Seite um Fragen der Teilnahme an distribuierten Sinnlichkeiten. Dabei kommt dem audiovisuellen Bewegtbild eine Schlüsselstellung zu: Das Medium ist nicht nur eine Massenkunst, durch seine Spaltung in Melodramatik und Idee bildet es auch eine demokratische Gleichheit des Kontrastiven aus, die als genuine Politik des Populären gelten kann.
Das ästhetische Regime der Audiovisionen besitzt für Rancière emanzipatorisches Potenzial, weil seine Medien sich durch eine radikale Gleichgültigkeit auszeichnen, die sie einer spezifischen Sinnlichkeit ebenso entsprechen lassen wie einem charakteristischen Erfahrungsmodus (Ritzer 2018). Gerade das Populäre, dessen ästhetische Erfahrung in der Anerkennung von Skopophilie auch im sozialen Raum enthierarchisiert wird, sorgt für eine Desavouierung aller vorangegangenen Prädispositionen der Wahrnehmung von Ästhetik. Das Ästhetische des Sinnlichen zu denken, muss dementsprechend heißen, sich dieser unzweckmäßigen Unbestimmtheit intentional auszusetzen. Der politische Effekt der populären Skopophilie entsteht dabei dann eben dadurch, dass das Melodramatische in seiner Indetermination und Defunktionalisiertheit jede eindeutige Besetzung zu negieren weiß. Anders gewendet, das Populäre kennt keine Hierarchie, die es in einer spezifischen Tendenz ausrichten würde. Weil es sich absolut egalitär ereignet, steht die Politik des Populären quer zu jedem Populismus der Politik. Das Populäre ist politisch, weil es in der Skopophilie einen genuinen Wahrnehmungsmodus konstituiert, der in seiner Politik nicht durch eine Immanenz der Intention definiert ist, gerade dadurch aber eben politisiert werden kann.
2 Zur Hybridität der populären Ästhetik
Auch bei Alain Badiou ist der Ausgangspunkt die Frage nach der Relation von Ästhetik und Politik (Ritzer 2015). Privilegiert erscheint dabei die Medialität des Bewegungsbildes, der besonderes Interesse cinéphiler Couleur zukommt. Das Bewegungsbild wird von Badiou einerseits als Kunstform gesehen, von den traditionellen Künsten aber andererseits dadurch abgegrenzt, als dass es sein
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft
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Gedachtes dem Denken der anderen Künste, d.h. von Architektur, Bildhauerkunst, Malerei, Musik, Tanz und Dichtung in seiner basalen Multimedialität entlehnt. Das Medium der Bewegungsbilder operiert für Badiou immer „parasitär und inkonsistent“, indem es sich nicht einfach egalitär zu den anderen Künsten hinzuaddiert, sondern vielmehr als ihr „Plus-Eins“ (2001, S.136) figuriert. Es ist eben jenes Supplement der bereits zuvor ausdifferenzierten Künste, das deren universalste Elemente appropriiert: „Die Filmkunst ist eine unreine Kunst. […] Aber ihre Stärke als zeitgenössische Kunst liegt genau darin, im Moment des Übergangs die Idee von der Unreinheit jeglicher Idee entstehen zu lassen“ (2001, S.136). Durch die „Verunreinigung“ der anderen Künste nimmt die Kunst des Bewegungsbildes nicht nur einen Zwischenraum inmitten der Künste ein, sie evolviert auch zu einem privilegierten Partner der Philosophie. Für Badiou existiert das Medium des Bewegungsbildes an einer Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Kunst meint hier in einem hochmodernistischen Sinn denjenigen Gegenstandsbereich, der sich allen ihm extern situierten Verpflichtungen entzieht, um eine dem Objekt intrinsische Wahrheit auf artistische Weise zu formulieren. Kunst entzieht sich jedem Schema und hat keinerlei dienende Funktion, ob kommunikativ oder unterhaltend. Freilich kommt dem Medium des Bewegungsbildes aus dieser Perspektive eine ungemein prekäre Position zu. Dies hat bei Badiou damit zu tun, dass es zum einen das Produkt einer Industrie ist, zum anderen aber auch ein artistisches Potenzial besitzt. So beruht die „Unreinheit“ des Bewegungsbildes auf voneinander separierten Feldern, die zunächst nur durch Geldflüsse verbunden sind. Von den Gagen der Schauspieler über die Bauten des Sets, das technologische Equipment der Kameras, die Computer-Hardware bis hin zu den Kosten von Distribution und Exhibition, es ist Geld, das sowohl Personal als auch Produktionsschritten als Konnex dient. Die Medialität der Bewegungsbilder ist mithin zuallererst Produkt einer Industrie. Simultan zirkulieren neben dem Geld aber auch künstlerische Leistungen. Diese versuchen für Badiou das Medium des Bewegungsbildes zu „reinigen“, indem sie den kapitalistischen Grundlagen des Mediums entgegen streben. Filmkunst leistet eine Synthese dadurch, dass aus der „unreinen“ Infinität der Industrie ein artistisches Potenzial extrahiert wird:
Arts task is to make a few fragments of purity emerge from that impurity, a purity wrested, as it were, from a fundamental impurity. So I would say that cinema is about purification: it is a work of purification. With only slight exaggeration cinema could be compared to the treatment of waste. You start out with a bunch of different things, a sort of indiscriminate industrial material. And the artist makes selections, works on this material. Hell condense it, hell eliminate some things, but hell also gather things together, put different things together, in the hope of producing moments of purity (2013, S.226).
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I. Ritzer und H. Steinwender
Wo die traditionellen Künste, ob Musik oder Malerei oder Literatur, für Badiou mit der „Reinheit“ des artistischen Materials beginnen und eben diese „Reinheit“ im Akt der künstlerischen Produktivität konservieren wollen, nimmt das Medium des Bewegungsbildes also den exakt umgekehrten Weg (Ritzer 2015). Als ein immer schon plurimediales Medium ist seine Aufgabe nicht, die Stille im Klang, die leere Seite im Schreiben, das Unsichtbare im Sichtbaren zu erhalten, vielmehr geht es in einem immer unabschließbaren Versuch der Purifikation auf. Das Bewegungsbild figuriert für Badiou als eine negative Kunst, die sich an ihrer eigenen Unmöglichkeit entzündet. „This impossibility is the real of cinema“, konstatiert Badiou:
a struggle with the infinite, a struggle to purify the infinite. In its very essence, the cinema is this hand-to-hand combat with the infinite, with the infinity of the visible, the infinity of the sensible, the infinity of the other arts, the infinity of musics, the infinity of available texts. It is an art of simplification, whereas all the other arts are arts of complexity. Ideally, cinema involves creating nothing out of complexity, since the ideal of cinema is, at bottom, the purity of the visible, a visible that is transparent, a human body that is like an essential body, a horizon that is a pure horizon, a story that is an exemplary story. To attain that ideal, cinema must pass through impure material, must use everything there is, and must above all find the path to simplicity (2013, S.227).
Das Bewegungsbild ist für Badiou also eine radikal „unreine“ Kunst, da das System seiner Bedingungen in der „Unreinheit“ des Materials begründet liegt. Diese Hybridität konterkariert die artistische Dimension des Bewegungsbilds in ihrem Durchspielen der basalen medialen Konditionen, sodass im Spannungsfeld von Kunst und Nicht-Kunst sich eine Nicht-Kunst-Kunst konstituiert (Ritzer 2015).
Badious Bestimmung des Bewegungsbildes als medialer Hybrid zwischen Kunst und Nicht-Kunst betrifft aber noch eine weitere zentrale Frage: Wenn Badiou nämlich von einem „unreinen“ Material spricht, ist damit ebenfalls die Relation des Bewegungsbildes sowohl zu seinem soziokulturellen Status als auch zu den anderen Künsten adressiert (Ritzer 2015). So erscheint es ihm einerseits als ein populäres Phänomen, andererseits als eine autonome Kunst: „Cinema is always located on the edge of non-art; it is an art affected by non-art, an art that is always full of trite forms, an art that is always below or beside art with respect to certain of its features. In every era cinema explores the border between art and what is not art. That is where it is located“ (2013, S.210; Herv. i.O.). Wenn Badiou hier vom Trivialen spricht, liegt der Verdacht nahe, dass er, im Sinne eines progressionslogisch orientierten Hochmodernismus, populäre gegen elitäre Kunst ausspielen will. Dem ist aber gerade nicht so. Vielmehr würdigt Badiou das Medium des Bewegungsbildes eben wegen dessen Qualität als Kunst der Massen. Badiou lokalisiert mit dieser Politik des Populären freilich eine Paradoxie:
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft
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„In mass art there is the paradoxical relationship between a pure democratic element (in terms of eruption and evental energy) and an aristocratic element (in terms of individual education and differential registers of taste)“ (2013, S.235). Während „die Masse“ für Badiou eine politische Kategorie darstellt, fällt Kunst für ihn in das Feld einer autonomen Ästhetik, die dennoch an das Politische rückgebunden ist. Für ihn fungiert das Bewegungsbild in seiner multimedialen Verfasstheit als eine popularisierende Instanz der Demokratisierung aller anderen Künste: „cinema does indeed take something from all the arts, but it is usually what is most accessible in them. I would even say that cinema opens up all the arts, strips them of their aristocratic value and delivers them over to the image of life. As painting without painting, music without music, the novel without psychology, the theater with the charm of the actors, cinema is like the popularization of all the arts“ (2013, S.210; Herv. i.O.). Indem das Medium des Bewegungsbildes nicht nur eine hybride Kunstform zwischen den anderen Künsten ist, sondern sich gerade diejenigen Parameter der selbigen anverwandelt, welche der populären Appropriation nahestehen, demokratisiert es das elitäre Moment von Malerei, Musik, Literatur oder Theater. Darin liegt seine universalistische Qualität: im Öffnen des Aristokratischen für die Masse. Triviales, Stereotypisches und Klischeehaftes gehen im Medium des Bewegungsbildes auf, ohne dadurch an Bedeutung zu verlieren. Es konstituiert sich gerade an der Schnittstelle von Kunst und NichtKunst, wobei sowohl Erstere als auch Zweitere unabdingbar für das Medium erscheinen. Dabei wird dessen Hybridität auch epistemologisch interessant. Denn für Badiou ist das Medium des Bewegungsbildes dem traditionellen Verständnis der Künste dahin gehend entgegengesetzt, als dass es in seinem demokratischen Potenzial gerade nicht die sinnlich-wahrnehmbare Form einer Idee darstellt. Statt der Implementierung einer Idee im Akt der Aisthesis macht das Bewegungsbild deutlich, wie Idee und Körper voneinander separiert sind. Ideen realisieren sich für Badiou stets nur als Visitation oder Passage. Sie kommen immer nur temporär zur Anschauung und verschwinden nach einer ephemeren Präsenz wieder aus dem Container des Mediums. Die Kunst des Bewegungsbildes ist daher nicht primär, wie bei Deleuze, eine Ordnung der Bilder, sondern eine Organisation von Brüchen. Das Medium des Bewegungsbildes demonstriert diese Herbeiführung eben dadurch, dass es sich den anderen Künsten gegenüber subtraktiv verhält. Es selbst kann nicht sein, sondern immer nur agieren. Weil das Bewegungsbild keine essenzielle Idee besitzt, arbeitet es an einer kontinuierlichen Subtraktion anderer Künste. Das Medium des Bewegungsbildes also entnimmt diesen anderen Künsten ihre Spezifika, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Das Publikum populärer Künste ist ein intuitiv medienkompetentes Publikum (Ritzer 2015). Diese Medienkompetenz erscheint konstitutiv, weil populäre
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I. Ritzer und H. Steinwender
­Produktionen mit iterativen Konventionen operieren, die von ihrem Publikum verfolgt, erkannt und genossen werden. Die Relation von Konvention und Innovation ist bei Badiou für das Bewegungsbild zentral. „When we consider the question of the relationship between art and non-art“, konstatiert Badiou, „we also encounter new cinematic syntheses, in particular via cinemas use of the great popular genres and its transformation of these unique forms into artistic materials“ (2013, S.116f.). Das Potenzial der Bewegungsbilder liegt für Badiou in der Herstellung einer Synthese. Ihr Medium nämlich deutet er als einen spezifischen Modus, das Andere zu denken. So wie Platon die Philosophie als das Denken des Anderen definiert, so spezifiziert Badiou das Medium des Bewegungsbild als Realisierung einer Existenz der Alterität. Im Rahmen einer materialistischen Dialektik versucht Badiou hier die Deleuzesche Differenz zwischen Aktualität und Virtualität die „Beziehungen des Aktuellen und des Virtuellen bilden immer einen Kreislauf“ (Deleuze 2007, S.253) dialektisch aufzuheben. Für Badiou existiert demgegenüber lediglich ein immer infinites Aktuelles, das sich in radikaler Negativität gegenüber dem Seienden konstituiert. Dieses Aktuelle birgt auch ein Anderes, das aber dennoch erst eingeholt werden muss. Möglich wird das durch eine Synthese von Konvention und Innovation. Populäre Künste sind so nicht als Blockaden gedacht, vielmehr bieten sie Anknüpfungspunkte, die zu jener „unreinen“ Passage führen, die das Medium der Bewegungsbilder definieren. Darin liegt für Badiou das zentrale Charakteristikum des Mediums: „The most important feature of cinema, in my opinion, is precisely this acceptance of the material of the images contemporary imagery and its reworking. Cars, pornography, gangsters, shoot-outs, the urban legend, different kinds of music, noises, explosions, fires, corruption, everything that basically makes up the modern social imaginary“ (2013, S.229). Konventionalisierte Bildarsenale geben daher nicht etwa das populäre Imaginäre und seine immer politisch verfasste Kollektivität auf. Vielmehr wird genau dort eine Politik des Populären eingeschrieben. Sie nutzt Ästhetik als Ereignis, das in der populären Konvention sui generis interveniert. Die Politik ist mithin nicht zuletzt eine der medialen Form selbst: als Synthese zwischen Repetition und Modifikation, die Differenz schafft.
3 Zum Diskurs der Populärkulturforschung
„Politik“ und das zugehörige Adjektiv „politisch“ sind wie auch „populär“, „Kultur“ und das Kompositum „Populärkultur“ fluide, im allgemeinen Sprachgebrauch, meist aber auch im akademischen Kontext intuitiv verwendete und
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schwierig zu bestimmende Begriffskategorien. Dennoch möchten wir in der Einleitung zu diesem Sammelband zumindest skizzenhaft der Frage nachgehen, wie sich Populärkultur als Begriff nutzbar machen lässt und wie es im Kontext der Populärkultur mit der Frage des „Politischen“ bestellt ist.
Tatsächlich wird bereits die Frage, ob etwa ein populärer Film überhaupt ein „politischer Film“ sein kann, traditionell meist abschlägig beantwortet. Im akademischen Diskurs ebenso wie im Feuilleton ist die traditionelle ästhetische Dichotomisierung von „hoher“ und „niederer“ Kultur (im angloamerikanischen Sprachgebrauch: highbrow und lowbrow), die zwischen intellektueller, „gehobener“, legitimer Kultur und nichtintellektueller, „niederer“, populärer Unterhaltungskunst unterscheidet, bis heute wirkmächtig. Alan OLeary führt z.B. anhand der Diskurse zum italienischen Kino aus: „The problem lies in the fact that politics in Italian cinema has typically been discussed in terms of film-makers engagement with issues that have been predefined as valuable or important, even as political per se“ (OLeary 2016, S.107; Herv. I.R./H.S.). Die Zuschreibung (bzw. das Absprechen) eines politischen (Mehr-)Werts von Kulturproduktionen folgt so deren Zuordnung zum Bereich der legitimen Kunst, zum kulturellen Kanon und der „seriösen“ Auseinandersetzung, dem das Populäre als Ausdruck des Gewöhnlichen, des Trivialen und einer dem Amüsement dienenden Gebrauchskunst entgegengesetzt wird. Gaetana Marrone (2014, S.195) etwa definiert „politisches Kino“ nicht nur als in Opposition zu hegemonialen Positionen stehend, sondern auch anhand der Intention des Film-auteurs: „While one may identify the political dimension of virtually all films, even those that present themselves as pure entertainment, the term political cinema generally denotes films that raise particular social issues by challenging prevailing viewpoints. A political film signals something quintessential about the directors manner of interpreting and representing key aspects of social experience, such as the national character or the cultural mode of production.“ In Konzeptionen wie der Marrones wird der auteur zum eigentlichen Produzenten einer politischen Botschaft, das Politische selbst vor allem auf die „bedeutenden“ Aspekte des Sozialen („key aspects of social experience“) oder gar einen abstrakten höheren Wert („the national character“) reduziert. Den Produktionen des populären Kinos („those that present themselves as pure entertainment“) wird zwar ein Potenzial politischer Dimension zugestanden, letztlich werden sie aber mit einer solcherart eng gefassten Definition en passant aus dem Diskurs exkludiert, obgleich sie gerade die Lebenswirklichkeit und die Bedürfnisse der Menschen direkt oder indirekt abbilden.
Dagegen setzen Theoretiker wie Ivo Ritzer (2009, 2015, 2018) oder Alan OLeary (2016), Ersterer mit Alain Badiou und Jacques Rancière, Letzterer in
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Anlehnung an Giorgio Agamben, ein Verständnis von Populärkultur, das gerade die Produktionen, die von der breiten Bevölkerung konsumiert werden (oder so intendiert sind) als politischen Ausdruck erkennt:
We can say that popular culture is culture for the lower case popolo; popular film is film for ordinary people constructed as other. In short, then, the politics of popular cinema can refer to two things. The first is the process by which a cinema is constructed as other. Political has often functioned as a value-laden genre label that is also a way of saying better. Secondly, though, it refers to a cinema that articulates the concerns of people in their ordinariness. Popular cinema is political, that is, in the paradoxical sense that it deals with the pre-political, that which has not yet entered into the realm of recognised political discourse (OLeary 2016, S.117; Herv. i.O.).
In diesem Verständnis von populärem Film und populärer Kultur, aber auch von der politischen Funktion von Kulturproduktionen finden viele Aspekte ihren Widerhall, die in den Diskursen zum Populären und der Frage nach der Definition von Populärkultur virulent sind. Die Frage, was populäre Kultur ist, ist oft gestellt und von verschiedenen Schulen und Traditionen unterschiedlich beantwortet worden. John Storey (2008, S.113) etwa skizziert sechs grundlegende Definitionsansätze für populäre Kultur, die die Debatten maßgeblich bestimmt haben:
1. Populärkultur als Kultur, die populär ist (also als das, was beliebt ist bei vielen Menschen),
2. Populärkultur als Gegensatz zu „high culture“ (ein Ex-negativo-Ansatz, der Populärkultur implizit als minderwertig versteht),
3. Populärkultur als Massenkultur bzw. Ausdruck der Kulturindustrie (gegenüber den Produkten der Populärkultur eher pejorativ verwendet und tendenziell elitistisch),
4. Populärkultur als Kultur des Volkes/der Bevölkerung/„of the people“ (Konsument*innenorientiert und mit Betonung der aktiven Rezeption),
5. Populärkultur als das gesellschaftliche Feld, in dem dominante und untergeordnete (bzw. widerständige) Kulturen aufeinandertreffen, sich austauschen und kulturelle Hegemonie verhandelt wird,
6. Populärkultur als eine Kultur, die keine Grenzen zwischen „high“ und „low culture“ mehr kennt (Populärkultur als postmoderne Kultur).
Manche dieser Konzepte, etwa der erste, „quantitative“ und nur scheinbar tautologische Erklärungsansatz, erweisen sich als wenig ergiebig, schlicht, da hier die zahllosen Produkte der Populärkultur ausklammert werden, die ihr Publikum
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nicht finden. Andere Konzepte, etwa das der Kulturindustrie und der Populärkultur als Kultur des Volkes, sind einander diametral entgegengesetzt. Und selbst einen Vorschlag für eine Definition von „populärem Film“ respektive „Populärfilm“ zu machen, der dem Gegenstand in seiner Komplexität gerecht wird, erweist sich als problematisch, ist vielleicht nicht einmal zielführend (Ritzer und Steinwender 2017, S.713). Mit den produktiven, vor allem philosophisch höchst innovativen Konzepten von Rancière und Badiou sind in dieser Einleitung den nachfolgenden Aufsätzen zwar grundlegende Konzeptionen von Politik und Ästhetik in Relation zum Populären vorangestellt, eine letztgültige Definition ist damit wie bei der Frage der Populärkultur jedoch nicht intendiert, ist weder möglich noch sinnvoll, und die Verwendung des Plurals „Politiken“ im Titel dieses Sammelbandes indiziert zugleich die Vielfältigkeit der Konzepte.
Gegenüber traditionellen Auffassungen, die das Politische in der Kultur exklusiv dem Feld der legitimen Kultur zuordneten, waren es Horkheimer und Adorno, die in der Dialektik der Aufklärung die Produkte der populären Kultur darunter Architektur, Magazine und Comics; Tonfilm, Fernsehen und Radio; Schlager und Jazz als explizit politisch verstanden und eine Repolitisierung der Diskurse der Unterhaltung initiierten. Die Autoren, die 1944 im US-amerikanischen Exil ihre Polemik gegen die Kulturindustrie formulierten, identifizierten die Produkte der US-amerikanischen Unterhaltungskunst zunächst als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung. Kunst im Spätkapitalismus, so ihre These, definiere sich nur über ihren ökonomischen Wert, nicht mehr anhand ästhetischer Gesichtspunkte, die für die Analyse der „avancierten Kunst“, dem autonomen oder „authentischen“ Kunstwerk der bürgerlichen Gesellschaft, zentral seien. Das Ästhetische selbst werde dabei zur Funktion der Ware, sei letztlich von Reklame nicht zu unterscheiden. Homogenität und Uniformität, bedingt durch Standardisierung, Stereotypisierung und Serienproduktion, zeichnen die Produkte der Kulturindustrie ebenso aus wie ihre Vorhersehbarkeit, Konformität und Totalität: „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen. Die ästhetischen Manifestationen noch der politischen Gegensätze verkünden gleichermaßen das Lob des stählernen Rhythmus“ (Horkheimer und Adorno 1997, S.128). Im Kern des Essays steht die Annahme, dass populärkulturelles Amüsement letztlich eine Ohnmachtserfahrung des Publikums installiere und dessen (politische/emanzipatorische) Resignation bewirke: „Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor“ (Horkheimer und Adorno 1997, S.145). Und, mehr noch: „Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren, selbst das Amusement einziehen: dem kulturellen Fortschritt sind
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da keine Schranken gesetzt. […] Die ursprüngliche Affinität aber von Geschäft und Amusement zeigt sich in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügtsein heißt Einverstandensein“ (Horkheimer und Adorno 1997, S.152f.). Letztlich erscheint den Autoren Populärkultur als Ausdruck der Machtverhältnisse und Herrschaftsinstrument, wobei die Rezipient*innen gänzlich passiv und ­fremdbestimmt sind: „Von Interessenten wird die Kulturindustrie gern technologisch erklärt. […] Die Standards seien ursprünglich aus den Bedürfnissen der Konsumenten hervorgegangen: daher würden sie so widerstandslos akzeptiert. In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist“ (Horkheimer und Adorno 1997, S.129). Es ist gerade die Annahme der passiven Konsument*innen, die elitär legierte Verachtung der Massenkultur als Mittel des Eskapismus und Instrument des Illusionismus sowie die hier implizit postulierte Dichotomie von U- und E-Kunst und die damit einhergehende These, dass die autonome Kunst ästhetisch den affirmativen Produkten der Kulturindustrie überlegen sei, gegen die sich die Cultural Studies wendeten. Zugleich aber ist es das Verdienst von Horkheimer und Adorno, die Analyse der Populärkultur, den Blick auf ihre Rezipient*innen und die politischen Implikationen der Populärkultur zumindest in den Diskurs eingeführt zu haben. In gewisser Weise arbeiten sich die Cultural Studies bis heute an einer Gegenposition zum Konzept der Kulturindustrie ab und rücken die aktiven Rezipient*innen ins Zentrum der Analyse. Einen typischen Einwand formuliert z.B. Strinati:
Popular culture may well be popular because of the pleasures its consumers derive from its standardization. The existence of genres, for example, is as likely to be due to audience expectations about the organization of pleasure as to the power of the culture industry. Genres are produced according to the criteria of profitability and marketability, and provide what audiences are familiar with, although not in ways which are completely predictable. The profitable market for genres is met by a product which balances standardization and surprise, not standardization and pseudo-individualisation. […] Audiences appear to be able to engage in active interpretations of what they consume which are not adequately described by Adornos notion of the regressive listener (2003, S.77f.).
Der Adornoschen Emphase konsumptioneller Passivität wird mithin die kreative Produktivität gerade innerhalb der Massenkultur entgegengehalten.
Die bis heute einflussreichste Gegenposition zu den Thesen der Frankfurter Schule findet sich bei Stuart Hall. In seinem wegweisenden Aufsatz Notes on
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Deconstructing the Popular stellt Hall, der als Begründer der Cultural Studies gilt, zwei Grunddefinitionen von populär gegenüber. Populär, das sei, erstens, ein Produkt, das von vielen konsumiert wird, folglich ein Produkt der Massenkultur, der Konsumentenwünsche und moderner Medientechnologien und -industrien, wodurch es im Gegensatz zur Volkskultur stehe, die vom „Volk“ (oder besser: der Bevölkerung) selbst produziert und konsumiert wird. Zweitens, ist im weitesten Sinn jede Kultur populär, die der Bevölkerung („the people“) und vor allem deren unteren Klassen und Gesellschaftsschichten zugehörig ist und entsprechend als Gegensatz zu Elitekultur aufgefasst wird. Hall betont dabei, dass es keine authentische, ganze, autonome Populärkultur gäbe, die jenseits der Pole von kultureller Macht und Herrschaft liegt. Vielmehr plädiert er dafür, Populärkultur als doppelte Bewegung von Integration und Opposition zu verstehen; sie nicht als homogen, sondern als Pastiche sich überschneidender kultureller Stile aufzufassen, die in einem System koexistieren, das als dynamisch aufgefasst werden muss. Populäre Kultur existiere im Spannungsfeld von Widerstand und Affirmation: „That is to say, the structuring principle of the popular in this sense is the tensions and oppositions between what belongs to the central domain of elite or dominant culture, and the culture of the periphery“ (1998, S.448). Und sie ist als offenes Deutungsystem, in und an dem Fragen von Kultur, Macht und Identität verhandelt werden, explizit politisch: „Popular culture is one of the sites where this struggle for and against a culture of the powerful is engaged: it is the stake to be won or lost in that struggle. It is the arena of consent and resistance. It is partly where hegemony arises, and where it is secured“ (Hall 1998, S.453). Dieser Ansatz greift ausdrücklich auf das Hegemonie-Konzept des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci zurück. Laut Gramsci ist Hegemonie ein Verallgemeinerungsprozess, der nicht nur ökonomische, sondern auch ideologische, politische und kulturelle Lebensbereiche umfasst. Hegemonie ist das Resultat von permanenten Kämpfen und Aushandlungen: „Hegemony is never simply power imposed from above: it is always the result of negotiations between dominant and subordinate groups, a process marked by both resistance and incorporation“ (Storey 2008, S.81). Studien zur Populärkultur haben das Hegemonie-Konzept genutzt, um Rezipient*innen-orientierte, gegen monokausale und reduktionistische Erklärungsansätze gerichtete Theorien zu entwickeln, die auch aktive Umdeutung, Anverwandlung und Nutzbarmachung betonen: „Using hegemony theory, popular culture is what men and women make from their active consumption of the texts and practices of the culture industries. […] Products are combined or transformed in ways not intended by their producers; commodities are rearticulated to produce oppositional meanings. […] [For example] youth cultures, according to this model, always move from originality and opposition
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to commercial incorporation and ideological diffusion as the culture“ (Storey 2008, S.81). Storey betont die Offenheit und Vorzüge dieses neogramscianischen Hegemonie-Ansatzes in Abgrenzung zu vorangegangenen Modellen: „Popular culture is no longer a history-stopping, imposed culture of political manipulation (the Frankfurt School); nor is it the sign of social decline and decay (the culture and civilization tradition); nor is it something emerging spontaneously from below (some versions of culturalism); nor is it a meaning-machine imposing subjectivities on passive subjects (some versions of structuralism). Instead of these and other approaches, hegemony theory allows us to think of popular culture as a negotiated mix of what is made both from above and from below, both commercial and authentic; a shifting balance of forces between resistance and incorporation. This can be analysed in many different configurations: class, gender, generation, ethnicity, race, region, religion, disability, sexuality, etc. From this perspective, popular culture is a contradictory mix of competing interests and values: neither middle nor working class, neither racist nor non-racist, neither sexist nor non-sexist, neither homophobic nor homophilic … but always a shifting balance between the two […]. The commercially provided culture of the culture industries is redefined, reshaped and redirected in strategic acts of selective consumption and productive acts of reading and articulation, often in ways not intended or even foreseen by its producers“ (Storey 2008, S.82). Mit diesem Ansatz wird die Forschung selbst explizit politisch: „Popular culture is a site where the construction of everyday life may be examined. The point of doing this is not only academic that is, as an attempt to understand a process or practice it is also political, to examine the power relations that constitute this form of everyday life and thus reveal the configurations of interests its construction serves“ (Turner 1996, S.6).
Die Cultural Studies zeichnet jedoch mitunter eine allzu einseitige Annahme widerständiger und bedürfnisorientierter Umdeutung durch die Rezipient*innen populärer Kultur aus, die bisweilen in einem „unkritischen Populismus“ (Storey 2008, S.213) resultiert, der die Macht der Konsument*innen absolut setzt und (real vorhandene) Machtstrukturen vonseiten der Produzenten ausblendet. Storey (2008, S.233f.) argumentiert daher für eine „post-marxistische Hegemonialtheorie“, „[that] insists that there is always a dialogue between the processes of production and the activities of consumption. The consumer always confronts a text or practice in its material existence as a result of determinate conditions of production. But in the same way, the text or practice is confronted by a consumer who in effect produces in use the range of possible meaning(s) these cannot just
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be read off from the materiality of the text or practice, or the means or relations of its production.“ Für Storey gilt es, die Widersprüche, auch der verschiedenen Theorien und Konzepte zur populären Kultur, mitzudenken:
We need to see ourselves all people, not just vanguard intellectuals as active participants in culture: selecting, rejecting, making meanings, attributing value, resisting and, yes, being duped and manipulated. This does not mean that we forget about the politics of representation. What we must do […] is see that although pleasure is political, pleasure and politics can often be different. Liking Desperate Housewives or The Sopranos does not determine my politics, making me more leftwing or less left-wing. There is pleasure and there is politics: we can laugh at the distortions, the evasions, the disavowals, whilst still promoting a politics that says these are distortions, evasions, disavowals. We must teach each other to know, to politicize for, to recognize the difference between different versions of reality, and to know that each can require a different politics (Storey 2008, S.234).
Zugleich dürfen die realen Machtverhältnisse ebenso wie die inhärente Widersprüchlichkeit der populären Kultur selbst nicht negiert werden:
[P]opular culture is what we make from the commodities and commodified practices made available by the culture industries. […] [M]aking popular culture (production in use) can be empowering to subordinate and resistant to dominant understandings of the world. But this is not to say that popular culture is always empowering and resistant. To deny the passivity of consumption is not to deny that sometimes consumption is passive; to deny that the consumers of popular culture are cultural dupes is not to deny that the culture industries seek to manipulate. But it is to deny that popular culture is little more than a degraded landscape of commercial and ideological manipulation, imposed from above in order to make profit and secure social control (Storey 2008, S.234).
Es ist mithin gerade das sich in relativer Autonomie ausdifferenzierende Spannungsfeld von Ökonomie und Ideologie, das jeweils situativ neu zu bestimmen ist.
Der Pluralismus der in diesem Sammelband vereinten Texte reflektiert auch die Vielfalt des Untersuchungsgegenstands und trägt der unterschiedlichen Konzeptionen des Populären Rechnung. Zentral dabei ist die Erkenntnis, dass ­populäre Kultur niemals monolithisch, eindeutig oder fixiert in ihrer Bedeutung und Rezeption ist. Sie ist auch nicht an einzelne Produktionsmodi, Medienformen und Kulturen gebunden. Sie kann affirmativ und eskapistisch sein, ebenso wie widerständig und subversiv. Sie nimmt immer eine Position ein zu Fragen der Kultur, Macht und Identität, kann jedoch stets auch gegen den Strich gelesen­
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werden. Die Bandbreite der im vorliegenden Band vertretenen Aufsätze ist sowohl medienübergreifend mit Texten zu Film und Animation, Malerei und Computerinterfaces wie kultur- und genreübergreifend mit Aufsätzen zu u.a. europäischen, US-amerikanischen, chinesischen und diasporatischen Produktionen, zu seriell produzierten B-Filmen wie aufwendigem Blockbusterkino.
4 Mediale Regimes und Populärkultur
Thomas Meder fragt in „Caravaggios Medusa, Woodstock und die Gefahren des medialen Effekts“ danach, ob Pop nicht erst mit den Medien der späten Moderne, sondern bereits mit den Arbeiten Caravaggios (15711610) entstand. Meder bemüht sich um eine Differenzierung der Instanzen, die zu einem derart überzeit­ lichen Pop-Phänomen beitragen. Neben Caravaggio selbst geht es ihm dabei um die Bereitschaft zum Dialog mit historischen Bildern, ihre ikonologisch gedachte Erweiterung, Verknappung und ihren kristallinen Kern; um Marketing und Vertriebsstrategien und am Ende wieder um die Konzentration auf einen solitären künstlerischen Korpus. Das Werk Caravaggios wird von Meder zum Anlass genommen, an diesem Künstler entwickelte kunsttheoretische Konzepte wie Versenkung und Adressierung, imitatio und aemulatio, das Wetteifern mit Vorbildern sowie ein komplex verstandenes Spiegeln als Momente von medial induzierter Identitätsbildung für die technologische Moderne in Anwendung zu bringen. Am Beispiel von Pop- und Rockfestivals der späten 1960er Jahre zeigt Meder, dass das Erlebnis medial verbreiteter Artefakte einem gemeinschaftlichen Dialog gleichkommt, den das Publikum im medialen Raum geschützt erlebt, um ihn zugleich aktiv zu gestalten und sich über das passive Rezipieren hinaus Vorstellungen zu erschließen, die sie gemeinsam mit einer Vielzahl von Zeitgenoss*innen beeindrucken und prägen, oder, wie bei Caravaggio, schockieren und faszinieren.
Jan Distelmeyer arbeitet in „Depräsentieren: Auf der Suche nach der Gegenwart des Computers“ heraus, wie der Computer heute in seinen diversen Formen von einem Widerspruch der gleichzeitigen An- und Abwesenheit geprägt ist. Die Omnipräsenz des Computers auf dem Weg zur Kybernetisierung der Welt erscheint für Distelmeyer gleichbedeutend mit seinem Verschwinden. Während einerseits eine Allgegenwart vorbereitet, angelegt und diskutiert wird, die in Begriffen wie Ubiquitous Computing, Internet of Things, Ambient Intelligence oder Smart Environments zum Ausdruck kommt, wird zugleich auf eine Unmerklichkeit eben jener Technologie gesetzt. Distelmeyer nun fragt danach, welche Politiken damit möglich werden. Hier wiederum kommen vor allem zwei Probleme in den Blick, die aus der Durchsetzung jener Betonung von Omnipräsenz
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und Verschwinden zu folgen drohen: Zum einen ist dies der Eindruck, man habe es bei dieser Form des Technischen mit einer Art Naturgewalt, einer magischen oder göttlichen Instanz zu tun. Zum anderen ist dies die drohende Eilfertigkeit eines Denkens, das bereits komplett mit/in einer Zukunft operiert, an deren aufwendiger Konstruktion es auch dadurch beteiligt ist, dass es eine Beschäftigung mit gegenwärtigen Verhältnissen oder gar der jüngsten Vergangenheit nicht mehr ganz satisfaktionsfähig erscheinen lässt. Um darauf zu reagieren, plädiert Distelmeyer für eine Aufwertung des Interface-Begriffs. Er wird hier in seiner oft unterschätzten Komplexität gestärkt, um zu zeigen, wie hilfreich er für die Diskussion der historischen, aktuellen und auch zukünftigen Gegenwart des Computers sein kann. Seit dem späten 19. Jahrhundert führt er zu Fragen der Energie-Übertragung und seit den frühen 1980er Jahren zu Erscheinungsformen, die bis heute zu den wirkmächtigsten Politiken des Populären gehören, als Leit- und Weltbilder von Interface-Inszenierungen, die Blockbuster der operativen Bilder auf unzähligen Screens. Distelmeyer zeigt, wie Interfaces leiten: Mit ihnen können sowohl die Schaltzustände der „inneren Telegrafie“ des Computers beschrieben werden als auch jene Beziehungen und Vernetzungen, die unmerklich oder nicht Computer, Dinge und Körper verbinden.
Hannah Schoch untersucht in „Zirkulierende Bildformeln zwischen Ost und West“ die medienkulturelle Konstellation der Animationsserie The Animated Shakespeare (19921994), die während des Zusammenbruchs des sowjetischen Regimes durch eine Zusammenarbeit zwischen der BBC, der walisischen Filmproduktionsfirma S4C und dem Animationsstudio Soyuzmultfilm entstand. Dabei wird zum einen das komplexe Netz von textuellen, medialen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Politiken, in deren Interaktionsfeld dieses Werk der Populärkultur verstrickt ist, ausgelegt. Zum anderen wird von Schoch herausgearbeitet, wie die (Selbst-)Positionierung der Serie insbesondere über paradoxe Doppelstrategien von Aneignung und Verfremdung, Hegemonie und Subversion, Universalanspruch und spezifisch Lokalem geschieht. Dafür wird vorgeschlagen, mit der Metapher der Auslegeordnung zu arbeiten, auch als grundsätzlichem Versuch, der Frage nachzugehen, in welcher Form es überhaupt möglich ist, dem Anliegen einer Politik des Populären gerecht zu werden. Schochs These ist, dass deren Verstrickungen vom Werk selbst schon immer mitreflektiert werden; dass es als Kunstwerk sich selbst stets darüber befragt, was die Konsequenzen dieser medienkulturellen Konstellationen sind, und dieses Wissen um seine ganze diskursive Komplexität im Kontext der sie produzierenden und rezipierenden Gesellschaften mitträgt. Gleichzeitig ist es als Werk der Kunst, im Gegensatz zu Wissenschaft oder Philosophie, bereit, darauf immer wieder unterschiedliche
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­Antworten zu geben, eben weil es sich in einem stets veränderlichen System bewegt, mit dem es selbst in Wechselwirkung steht.
Tim Slagman arbeitet in „Geboren aus Schlamm und digitalem Code“ die Kategorie des Monströsen in Peter Jacksons Tolkien-Verfilmungen heraus. In der Welt von Mittelerde, die Peter Jackson nach den Romanen von J.R.R. Tolkien entworfen hat, wimmelt es bekanntlich nur so von Monstern. Und im Wesen des Monströsen liegt es, Bild werden zu müssen; das Monster definiert sich über seine Körperlichkeit ebenso wie über dessen Sichtbarkeit. Das nicht-darstellbare Prinzip der Monstrosität etabliert in der Diegese der Ring und im extradiegetischen Kontext das Kapital. So wie das Monster das Bild braucht, so sehr braucht die technologische Entwicklung der Spezialeffekte ihr Einsatzgebiet. Sicherlich zeigt sich in den Trilogien The Lord of the Rings (Der Herr der Ringe; 20012003) und The Hobbit (Der Hobbit; 20122014) ein immenser produktionstechnischer Aufwand, zweifellos gelten diese Filme als spektakulär. Doch sie sind Spektakel im Sinne Guy Debords Symptomatik einer Gesellschaft, deren Akkumulationsdynamik ins Ästhetische umschlagen musste. Slagman fragt mithin danach, wie Monster und Kapital im gemeinsamen Zwang zur Bildwerdung eine unheimliche Allianz eingehen.
5 Genre, Gesellschaft und Politik
Drehli Robnik entwirft in „Der Geist der Atopie, oder Lets Put the Loch in Bloch“ die Skizze einer politischen Filmtheorie des Populären, die ihren Fokus auf Bildwerdung, Wahrnehmbarkeit und Erfahrbarkeit der Möglichkeiten legt. Mit Ernst Bloch, Siegfried Kracauer und Jacques Rancière versucht er, Politik am Film ohne Vollkommenheitsvoraussetzungen zu denken und stattdessen eine atopische Versetzung auch und gerade auf sich selbst, mithin auf ihr eigenes Pathos der Nicht-Position anzuwenden. Es geht Robnik darum, im Atopischen das Moment einer kritischen Setzung festzuhalten. Diese Störung von Macht und Gesetz wird dann verbunden mit einem Sinn für Rechtsansprüche, insbesondere entgegen rassistischer Normalisierung. Am Beispiel der „Nonsens-Bildform“ und zweier Filme des Schauspielers und Autors Simon Pegg der britischen Comedys Hot Fuzz (Hot Fuzz Zwei abgewichste Profis; 2007; R: Edgar Wright) und The Worlds End (2013; R: Edgar Wright) zeigt Robnik, wie die populäre Politik des Nonsens als schwaches Gesetz der Versetzung funktioniert.
Tim Trausch untersucht in „Die Popularisierung des Politischen und die Aktualisierung nationaler Mythen im Main-Melody-Film“ Strategien der Globalisierung, Kommerzialisierung und Popularisierung des als ­Manifestation und
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Kommunikation von „Mainstream-Ideologie“ angelegten chinesischen MainMelody-F­ilms. Trausch zeichnet nach, wie die im sich ausdifferenzierenden Konsum- und Unterhaltungsangebot der Volksrepublik China Ende des 20. Jahrhunderts geprägte Kategorie zunächst als Relikt sozialistischer Pädagogik erschien. Doch so wie sich die ideologischen Leitlinien der Volksrepublik etwa mit der (spät-)kapitalistischen Ausrichtung im „Sozialismus chinesischer Prägung“ als flexibel erwiesen, so sollte sich auch der regierungsnahe Main-Melody-Film zunehmend Strategien jener filmischen Unterhaltungskulturen aneignen, zu denen er zunächst in diametraler Opposition gedacht war. Trauschs Close Reading der als Vertreter der Kategorie geltenden Produktionen On the Mountain of Taihang (Taihang shan shang; 2005), The First of August (Ba yue yi ri; 2007) und The Founding of a Republic (Jianguo daye; 2009) zeigt auf, wie im Main-Melody-Film unter den ästhetischen und kommerziellen Bedingungen der Globalisierungsprozesse sowie sich wandelnden Diskursanordnungen und Mediendispositive des 21. Jahrhunderts nationalkulturelle Mythen in einem kontinuierlichen Prozess der Assimilation aktualisiert werden. Jener Prozess offenbart die wechselseitige Durchdringung des Politischen und des Populären.
Lukas Foerster arbeitet in „Geopolitische Höhenkrankheit und der wiedergefundene Horizont der Cinephilie“ heraus, wie Johnnie Tos Gao hai ba zhi lian II/ Romancing in Thin Air (2012) den mythisch-kolonialen Ort „Shangri-La“ zum Hauptschauplatz eines romantischen Blockbuster-Dramas macht. Dabei unternimmt Tos Film eine radikale Neubestimmung der geografisch-semantischen Lokalisation einer vorher frei durch den popkulturellen Raum flottierenden Fantasie: Für To dient „Shangri-La“ selbstverständlich und ausschließlich als Identifikationsmarkierung, die einen genau definierten Landstrich in der östlichen Peripherie Chinas bezeichnet und die diesen Landstrich damit von anderen, anders bezeichneten Landstrichen unterscheidet. Dabei wird von Tos Film gerade die Attraktivität der Landschaft in Bewegung vorgeführt, um sich von den exotistischen Klischees des ethnic tourism fernzuhalten. Foerster zeigt auf, wie dadurch die Kategorie der otherness gerade nicht kulturell oder ethnisch, sondern vielmehr medienreflexiv genutzt wird.
Harald Steinwender widmet sich in „Der Bürger rebelliert! Der italienische Polizei- und Gangsterfilm 19681980“ dem Poliziottesco, einem B-Film-­ Zyklus des italienischen Genrekinos, der mehr als 200 Einzelfilme umfasst. Steinwender identifiziert den Poliziottesco anhand der Terminologie des italienischen Populärkinos als filone, als verhältnismäßig homogenen Korpus von Filmen, der aus der kommerziell motivierten, quasi-seriellen und zeitlich eng begrenzten Imitation, Variation und Weiterentwicklung einiger weniger Erfolgsfilme entsteht und der im Fall des Poliziottesco Variationen von Polizeifilmen,
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action- und gewaltbetonten Mafia- und Gangsterfilmen sowie Selbstjustiz- und Verschwörungsthrillern hervorbrachte. Steinwender nähert sich dem filone nicht mit einem Auteur-zentrierten Ansatz oder einem Close Reading ausgewählter Schlüsselfilme. Vielmehr versucht der Essay, das Genre in seiner ganzen Breite zu erfassen und seine historische Entwicklung, die kulturellen und zeitgeschichtlichen Bezüge sowie übergeordnete Narrative und Motive herauszuarbeiten. Der Poliziottesco erweist sich als tief verwurzelt in der Kultur seiner Entstehungszeit, einer Ära des Umbruchs und der politischen Gewalt, die als „bleierne Jahre“ bekannt wurden. Das in seiner Haltung zur Gewalt und zur Politik höchst ambivalente filone erscheint als ideologisch inkohärentes Genre, das die fundamentale Verwirrung vieler Menschen angesichts der Unübersichtlichkeit der politischen Lage unmittelbar abbildet und eine paranoide Welt entwirft, die von undurchschaubaren Konglomeraten aus Politik, Justiz, Polizei und Geheimdiensten, rechten und linken Terroristen sowie organisiertem Verbrechen bestimmt wird. Die Darstellung von hysterischer und traumatisierter Männlichkeit, im filone an Schlüsselmomente der anni di piombo gekoppelt, verleiht dem Poliziottesco im Rückblick die Funktion einer kollektiven Traumaerzählung.
6 Gender und Race
Vera Cuntz-Leng unternimmt in „Blockbusterkino gegen den Strich gelesen“ eine queere Re-Lektüre der Hollywood-Blockbuster Fantastic Beasts and Where to Find Them (Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind; 2016; R: David Yates) und Logan (Logan: The Wolverine; 2017; R: James Mangold). Dabei zeigt sie, wie deren polyseme Verfasstheit und subversives Potenzial in Bezug auf non-heteronormative Vorstellungen von Geschlecht als Bestandteil transmedial-serieller Franchises wirken. Die magischen Welten nach den Romanen von Joanne K. Rowling und den X-Men-Comics werden herangezogen, um ein queer reading als Lesestrategie vorzuführen, das die Frage nach queerem Begehren jenseits eindimensionaler Zuschreibungen als manipulative Produkte der Kulturindustrie stellt. Cuntz-Leng thematisiert hier insbesondere, welche Formen queerer Re-Lektüre im aktuellen Blockbusterkino besonders präsent sind beziehungsweise welche Funktion queere Rezeptionsangebote per se erfüllen können.
Lisa Andergassen fragt in „Shadeshifter“ nach Konstruktionen von Gender und „Schwarzsein“ in Emanuelle nera (Black Emanuelle; 1975; R: Bitto Albertini). Besetzt mit der indonesisch-niederländischen Schauspielerin Laura Gemser liegt
Politiken des Populären: Medien Kultur Wissenschaft
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der Fokus der italienischen Produktion direkt auf dem Körper der Protagonistin. Während die französische Emmanuelle (in Just Jaeckins Vorgängerfilm Emmanuelle/Emanuela 1974 gespielt von Sylvia Kristel) ihr sexuelles Repertoire in der relativen Sicherheit einer internationalen Diplomatenblase erweitert, ist ihr als „schwarz“ markiertes Pendant nicht nur auf der ganzen Welt unterwegs, sondern findet sich auch in immer extremeren Situationen wieder. Die Black Emanuelle-Reihe verknüpfte, dem Genre-übergreifenden Produktionsmodus des italienischen Populärkinos dieser Jahre verpflichtet, Themen des Mondo-Films, Soft- bzw. Hardcore-Pornografie mit Horrorelementen und brachte dabei eine eigene Ästhetik und spezifische Konstruktionen von Weiblichkeit und „Schwarzsein“ hervor. Andergassen verortet die Bedeutungsproduktion von Black Emanuelle detailliert innerhalb einer (post-)kolonialen Tradition und unternimmt eine Beschreibung derselben vor dem Hintergrund globaler Geschichte und zeitgenössischer sozialer Umbrüche.
Ivo Ritzer nimmt in „Kulturwissenschaft (re)Assigned: Transmediale Identitätspolitik, post-postkoloniale Theorie und pan-afrikanische Diaspora“ eine Neubestimmung zentraler Diskurse kritischer Medienwissenschaft vor. Am Beispiel der Graphic-Novel-Adaption (re)Assignment/The Assignment/Tomboy (2016) die als eine Kollaboration des tunesischen Produzenten Saïd Ben Saïd, der karibischen Schauspielerin Michelle Rodriguez und des kalifornischen Regisseurs Walter Hill entstand wird diskutiert, auf welche Weise sich innovative Möglichkeiten einer Politik des Populären zu zeigen vermögen. Saïd, Rodriguez und Hill nehmen das dem Populären immanente Moment der Personalisierung im Besonderen ernst und zentrieren durch narratives Entfalten eine neue Universalisierung. Ihnen ist es nicht genug, Universalismen auf traditionelle Weise ideologiekritisch zu demaskieren und ein vermeintlich falsches Bewusstsein dahinter zu entlarven. Vielmehr erfolgt eine Identifikation mit dem ausgeschlossenen Anderen, sodass an die Stelle eines scheinbar neutralen und als universal verstandenen Begriffs ein neues, partikularisiertes Universales tritt, das eben gerade im unpassenden Besonderen sich konstituiert. Ritzer fokussiert dabei insbesondere zwei Aspekte: Einerseits fällt der Blick auf die schwarze Protagonistin/den schwarzen Protagonisten von (re)Assignment, durch die der zentrale Antagonismus von Kapital und Arbeit im Narrativ einer nicht-essenzialistischen Rache-Fiktion aufgehoben wird; andererseits wird analysiert, wie die genuin transmediale Politik der Adaption aus ihrer spezifischen Medialität resultiert und im maverick directing von Walter Hill eine gestische Ästhetik des Neo(n)-Noir entsteht, die den tiefen Antagonismus des globalen Kapitalismus im Spiegel eines neuen Klassenkampfes reflektiert.
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I. Ritzer und H. Steinwender
Literatur
Badiou, Alain. 2001. Kleines Handbuch zur In-Ästhetik. Wien: Passagen. Badiou, Alain. 2013. Cinema. Cambridge: Polity Press. Deleuze, Gilles. 2007. Das Aktuelle und das Virtuelle. In Deleuze und die Künste, hrsg.
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Teil I Mediale Regimes und Populärkultur
Caravaggios Medusa, Woodstock und die Gefahren des medialen Effekts
Thomas Meder
An einem zentralen Ort der Republik, dem Hauptbahnhof der Bankenstadt Frankfurt a. M., kann man seit geraumer Zeit ein eigenartiges Zusammenspiel erleben. An einem zentralen Ort eben dieses Bahnhofs, dem Fastfood-Restaurant McDonalds, sitzen Menschen aus aller Welt für Momente zusammen. Sie tun dies vor einer merkwürdigen Dekoration: ein volatiles, zu der zufälligen Gesellschaft hinzukommendes Element aus groß aufgeblasenen Fragmenten bzw. Details von Gemälden des 17. Jahrhunderts. Die Kundschaft der Imbisskette wird die Bilder über deren Versatzstücke wohl selten identifizieren. Ein geschulter Blick hingegen könnte auf einem Triptychon den Christusknaben aus der sogenannten Pilgermadonna Caravaggios, das um die Hüfte geschlungene Tuch des Henkers der Matthäusmarter desselben Malers sowie die Physiognomie eines jugendlichen Bravo in der Art des Caravaggismus erkennen (vgl. Abb.1).
Das ist, erstens, Pop allerdings, Pop einer ebenso maßlosen wie referenzarmen Art. Referenzarm, weil ein Bezug kaum mehr herzustellen ist, zu sehr geht es hier um Dekor, um die schmückende Applikation irgendeines, als gründende Bedingung allerdings klassischen Moments der Malereigeschichte kurz, um eine dekorative Aura. Und maßlos, weil diese Blow-ups nicht nur einem Vielfachen der annähernd lebensgroßen Originale Caravaggios entsprechen, sondern weil sie weiterhin auch keine integralen Gemälde reproduzieren, sondern „angenäherte“ Ausschnitte aus ebensolchen: Es handelt sich nicht nur um Blow-ups, sondern durchaus filmisch zu nennende Close-ups „nach Caravaggio“. Augenfällig ist dabei die einkalkulierte Differenz zu den Vorbildern sowohl in der absoluten wie in der relationalen Dimension.
T. Meder(*) Mainz, Deutschland E-Mail: thomas.meder@hs-mainz.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
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I. Ritzer und H. Steinwender (Hrsg.), Politiken des Populären, Neue
Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22923-8_2
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Abb.1 McDonalds im Hauptbahnhof Frankfurt a.M. (Foto: Imran Latif)
Ein zweiter Punkt springt ins Auge, wenn man eine gängige kommunikationstheoretische Fragestellung ins Visier nimmt: Wer kommuniziert hier eigentlich mit wem? Offensichtlich ist der historische Maler „verstummt“; es gibt auch keine Botschaft „in seinem Namen“. Vielmehr hat eine kleine, anonym bleibende Gruppe von Werbefachleuten eine Dekoration ersonnen, die von vielen, ebenso anonym bleibenden Menschen wahrgenommen, aber sozusagen nicht mehr beim Wort genommen werden soll. Lediglich der Konsum (das Essen) soll veredelt werden. Was mit dem historischen Phänomen Caravaggio im Eigentlichen zu tun hat, versendet sich im Modus des Few-to-Many.
Das Spezifische dieser Inszenierung lässt sich mit dem Blick auf ein vordergründig ähnliches Zitieren zuspitzen. Häufig wird Caravaggio auf dem Cover von Kriminalromanen aufgerufen. Mo Hayders Birdman (Der Vogelmann; 1999) ist ein eingängiges Beispiel unter zahllosen anderen, eine Geschichte mit ausgesucht grausamen Details wie in Leichen eingenähte lebende Vögel. Die Referenz ist nun da, doch sie ist neu: die erzählte Story. Im aufgerufenen Fall scheint sogar das Bedürfnis der Leserschaft nach Trost vorweggenommen, erscheint auf der deutschen Ausgabe doch die „Sturzflugfigur“ (Ebert-Schifferer 2012, S.126) des Engels aus dem Zweiten Matthäus von Caravaggio, in einem relationalen
Caravaggios Medusa, Woodstock …
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Ausschnitt, der beim Film am ehesten einer Halbnahen entspräche. Die Figur des Engels, der durch den Roman zum „Vogelmann“ wird, ist vor schwarzem Grund freigestellt, der Evangelist ganz verschwunden. Erklären kann man die Wahl des Motivs für das Krimi-Cover durch den enigmatischen Fingergestus des Engels, eine solcherart rätselhaft werdende Figur, die im ursprünglichen Kontext ein Schriftzeichen war, das der Engel vorexerzierte, weil der Evangelist bei Caravaggio Mühe mit dem Schreiben hat. Diese Inszenierung wird noch zugespitzt im closer gezeigten Motiv der Hände. (Die Massierung von Motiven auf kleiner Fläche, ein Kennzeichen der Bildkunst Caravaggios, nenne ich ein Nest der Wahrnehmung). In solcher Konzentration wird das Ausgangsbild in einen ebenso erratischen wie auratischen Ausdruck überführt. Die Variante der „korrekten“ ikonografischen Motivation hingegen ziert das deutsche Cover von Joy Fieldings Krimi Grand Avenue (Nur wenn Du mich liebst; 2001). Dessen zentraler Turn, die im wörtlichen Sinn verzehrende Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter, steht im Einklang mit dem auf dem Cover verwendeten übersteigerten Detail von Caravaggios Loreto-Madonna, die ihrerseits eine der sinnlichsten Frauengestalten des Malers darstellt. Wie ein Motto für die jeweilige Erzählung standen Details aus Caravaggio-Gemälden ganzen Buchreihen von Philip Roth und Susan Tamaro voran. In seiner Ganzheit erscheint hingegen das im hiesigen Zusammenhang interessierende Gemälde, der Tondo der Medusa (vgl. Abb.4), auf dem Cover einer Sammlung mit dem Titel Maler. Mörder. Mythos. Geschichten zu Caravaggio (Martinet al. 2006). Hier sind Deutung und Referenz wieder im Einklang: Sowohl die Erzählungen wie das Bild erscheinen zugerichtet als Versatzstücke einer auffälligen Kriminalstatistik wie auf das, was beim Maler dann „daraus wurde“. Der vorliegende Aufsatz soll ergründen, ob den kommunikativen Fähigkeiten des Kunstwerks damit Genüge getan wird.
Es ist bekannt, dass Caravaggio (15711610) selbst keine unmittelbaren Schüler hatte Gefährten, Gesinnungsgenossen, Bewunderer und Nachfolger, aber keine Werkstatt, keine Gesellen des Handwerks der Malerei, die ihm unmittelbar über die Schulter geblickt hätten, um zu lernen, um die erkannten Neuerungen die kunsthistorischen invenzioni zu erweitern und zu verbreiten.
Unter den mittelbaren Nachfolgern sind einige Malerschulen zu unterscheiden. Gemeinsam scheint allen, dass sie in je eigener Art das Erbe des großen Erfinders antreten, und zwar, in den Worten Rudolf Preimesbergers, durch „Momente der Kritik, der Korrektur und des Versuchs der Überbietung“ (Preimesberger 2016, S.78). Ich möchte das Phänomen etwas anders fassen: Die Weiterführung des caravaggesken Erbes birgt Gewinne und Verluste, die sich durchaus als Steigerung eines einzelnen Ausdrucksmittels erweisen kann, die Summe der invenzioni Caravaggios aber in keinem Fall mehr erreicht. Mit der
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Erkennbarkeit des referenzierten Vorbilds und der nachfolgenden Diffusion in verschiedene Zentren der öffentlichen Aufmerksamkeit ist aber ein Kennzeichen von Pop im 17. Jahrhundert bereits gegeben.
1 Der „subtraktive“ Caravaggio
Historisch am deutlichsten isolieren lässt sich die Gruppe der Utrechter Caravaggisten, namentlich Hendrick ter Brugghen (15881629), Gerrit van Honthorst (15921656), Dirck van Baburen (15951624) sowie ähnlich noch der Matthias Stomer oder Stom (um 16001652). Die holländischen Maler studierten Caravaggios Kunst in Rom und verbrachten Versatzstücke davon in ihre Heimat. Neu ist bei ihnen ein motiviertes Geschehen zur Nacht, das sogenannte Nachtstück; eine konkretisierte Handlungszeit, die bei Caravaggio bis auf begründete Ausnahmen wie der Gefangennahme Christi keine Rolle spielt. Sein Dunkel ist atmosphärisch; bei den Utrechter Malern werden aus Caravaggios zeitlich ubiquitären Lehrstücken hingegen konkrete Erzählungen des Volkstümlichen. Der „GenreTypus der fröhlichen Gesellschaft“ (J. Müller-Hofstede), gruppiert gern um einen Tisch eine größere Anzahl von Männern und Frauen, das Dunkel effektvoll illuminiert von einer Fackel oder Lampe das ergab eine neue, verkaufsfördernde Strategie für das mittelgroße Galeriebild, das Caravaggios Nachruhm im Norden in eigensinnig zugerichteter Weise förderte.
Ein stärkerer medialer Effekt setzte dagegen die Nachfolge in Neapel in Gang; jener Stadt, die der Maler am Beginn seines letzten Lebensabschnittes, nach der Flucht aus Rom im Sommer 1606, für neun Monate aufsuchte, um am Ende seiner Odyssee über Sizilien und Malta erneut hierhin zurückzukehren und dabei wiederum einige Gemälde zu hinterlassen. Noch heute in der Stadt befinden sich die Sieben Werke der Barmherzigkeit im Pio Monte della Misericordia, die großartige, michelangeleske Geißelung aus San Domenico Maggiore (heute im Museo del Capodimonte) sowie Caravaggios vermutlich spätestes Werk, das Martyrium der Hl. Ursula (Slg. Banca Intesa), mit der letzten „Signatur“ des Malers in Form eines offenkundigen Selbstporträts. Zu erinnern ist nicht zuletzt auch an Caravaggios seinerzeit vielkommentierte Auferstehung in Sant Anna dei Lombardi. Gemeinsam wurden Kirche und Gemälde 1798 von einem Erdbeben zerstört.
In Neapel griff die spektakuläre Fama des Malers zuerst. Hier entwickelte sich so etwas wie ein frühes Pop-Phänomen. Belegen lässt sich das am Auftrag für die Sieben Werke der Barmherzigkeit, einem der bestbezahlten des Malers überhaupt. Besteller war eine neu gegründete Fraternität der sozialen Fürsorge, in heutigem Verständnis eine Art jugendlicher Lions Club oder auch ein Start-up. Sprösslinge
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des neapolitanischen Adels hatten sich zusammengetan, um karitativ tätig zu werden und dieses Tun öffentlich deutlich zur Schau zu stellen. Von den anfangs 24 Mitgliedern des Monte, was auch „Vermögen“ oder „Kapital“ bedeutete, wurden sieben ausgewählt, um als deputati ein Jahr lang sieben Taten öffentlicher Fürsorge auszuüben. Konkret umfasste die Agenda, konzipiert nach einer Passage im Matthäus-Evangelium (Matt. 25: 3540), die Versorgung von Hungrigen und Durstigen, die Aufnahme Obdachloser, das Einkleiden Nackter, die Krankenpflege und den Besuch von Häftlingen; im Lauf des Mittelalters war als letzte der sieben Wohltaten das Begraben von Toten auch außerhalb der eigenen Familie hinzugekommen. So entstand ein Programm weniger lokal praktizierter Nächstenliebe denn als eine Demonstration zentraler Gedanken der christlichen Diakonie (Preimesberger 2016).
Caravaggio fasst die sieben Taten der Barmherzigkeit in einer einzigen Erzählung ko-chronologisch zusammen. Die spektakuläre Tafel im Hochformat von 390 mal 260 cm, wie gewohnt annähernd lebensgroß ausgeführt, umfasst im oberen Bereich die von Engeln herbeigebrachte Maria della Misericordia mit dem Christuskind. Teilhandlungen gliedern die irdische Sphäre: Ein Fackelträger im rechten Mittelgrund beleuchtet die Bergung eines Toten ebenso wie den Besuch der Pero im Gefängnis, die ihrem Vater Cimon in einem unbeachteten Moment die Brust gibt und damit nährt; die analoge Versorgung von Durstigen wird linkerhand in einem archaischen Samson personifiziert, der aus dem Eselskinn trinkt; vor ihm, ganz links außen, empfängt ein Wirt neue Gäste, von denen einer, ein jugendlicher Bravo, in einem weiteren konjekturellen Akt einerseits als Heiliger Martin einen Nackten mit seinem Mantel versorgt und einen anderen Mann als Kranken pflegt. Die kommunikative Wirkung der kleinen, engen und dunklen Kirche, die bis 1670 existierte, um dann vom helleren heutigen Bau ersetzt zu werden, muss spektakulär gewesen sein: Etwa so, wie die Krankenschwester Hana (Juliette Binoche) in The English Patient (Der englische Patient; 1996; R: Anthony Minghella) Fresken von Piero della Francesca mittels einer Fackel und eines Seilzugs durch ihren Freund ge-highlighted bekommt, drängte sich hier wohl bald der eine Körper, bald die andere Figur nach vorn, um als Teil des umfänglichen ikonografischen Programms rezipiert zu werden. Konkreter als im Bild wäre dieses Programm in sprachlich und performativ verfassten Äußerungen des Pio Monte zu fassen gewesen. Das Gemälde sicherte die kaum unwichtigere sinnliche Mitnahme (vgl. Abb.2).
Zuletzt war in der Caravaggio-Forschung der fast schon kollektive Versuch zu verzeichnen, die Spuren des Malers über das 17. Jahrhundert hinweg zu ordnen und zu bewerten. Eine groß angelegte Schau der National Galleries von London, Dublin und Edinburgh zeigte 2016/2017 unter anderem, dass in England bereits
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Abb.2 Caravaggio: Die Sieben Werke der Barmherzigkeit (1606); Neapel, Pio Monte della Misericordia
um 1626 eine der frühesten Sammlungen um die Bilderfindungen des Malers zusammengetragen wurde, ohne dass dabei auch nur ein einziges eigenhändiges Werk integriert gewesen wäre (Treves 2016, S.22f.). Seinem bahnbrechenden Buch The Moment of Caravaggio ließ Michael Fried (2010) nach sechs Jahre After Caravaggio folgen, das die früheren Einsichten des eminenten Kritikers
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zu seinen grundlegenden Kategorien von specularity und immersion sowie von absorption und address vorantrieb; gemeint sind damit jeweils polare Aktivitäten zwischen Künstler und Betrachter, die jener Korpus von Bildern in die Geschichte der Malerei eingebracht habe. Hier ist nicht der Ort, Frieds Einsichten im Detail zu diskutieren. Nur so viel: After Caravaggio veranschaulicht viele der unterschiedlichen Charakteristiken, mit denen versucht wurde, in einem jeweiligen Akt von imitatio und aemulatio an die Errungenschaften des großen Vorbilds anzuknüpfen. Deutlich wird auch, dass nur wenige Zeitgenossen, Vertraute wie Orazio Gentileschi (15631639) oder auch Bartolomeo Manfredi (15821622) Caravaggio in einer engen, mehr oder weniger eklektizistischen Manier folgten. Eine deutliche Fortentwicklung in Richtung eines kristallinen man könnte fast sagen: eines fotografischen Realismus stellt Cecco del Caravaggios Auferstehung von 1619/1620 dar, ein großformatiges Gemälde, das vieles den Sieben Wundern der Barmherzigkeit verdankt; „Cecco“, wohl Francesco Boneri (um 15891620), wird damit als eigenständiger Maler erkennbar (Fried 2016, S.109133). Andere Errungenschaften eines bereits internationalen Caravaggismus werden von Fried an Gemälden von Valentin de Boulogne (15911632), Jusepe de Ribera (1591 1652), Simon Vouet (15901646), Nicolas Tournier (15901639), Nicolas Régnier (15881667), Giovanni Francesco Barbieri, gen. Il Guercino (15911666) und nicht zuletzt Peter Paul Rubens (15771640) vorgeführt. In Neapel überführte währenddessen etwa ein Mattia Preti (16131699) die Neuerungen Caravaggios in eine gefälligere, marktgängigere Malerei: „In dem kleinen, erschwinglichen Historienbild konnte durch das Ausschnitthafte bei gleichzeitigem Erhalt der Lebensgröße die Konzentration der Affekte im Zentrum bleiben und so eine Kombination von Historie und moralischem Substrat gewährleistet werden“ (Krämer 2016, S.148f.). Diese Tendenz ist spürbar bereits in dem Bild, das Caravaggio sehr früh und mit am deutlichsten rezipiert: Artemisia Gentileschis Judith und Holofernes greift explizit die Theatralik und Brutalität des Mordes am männlichen Eroberer auf (vgl. Abb.3). Die Verbindung von Sex und Gewalt ist beide Male gleichermaßen augenfällig modern. Und doch rückt Caravaggios Judith weiter vom Geschehen ab, wirkt die alte Helferin bei ihm als eher grimmige Mittäterin, während Artemisia beide Frauen Lust am Geschehen entwickeln lässt. Bei ihr ist die Komposition radialer, gefälliger, läuft das Blut natürlicher: eine Entwicklung hin zum harmonisierten Kabinettstück, das die jeweiligen Anteile von „Erfindung“ und „Entwicklung“ augenfällig zuweist. Das Gemälde Artemisias war zuletzt in einer Ausstellung des Museum Wiesbaden zu sehen, die Caravaggios Wirkung auf die neapolitanische Malerei des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt in einem überzeugenden Katalog belegte (Forster etal. 2016). Auch diese Schau kam ohne ein einziges eigenhändiges Bild Caravaggios aus.
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Abb.3 Artemisia Gentileschi: Judith und Holofernes (um 1612); Neapel, Museo di Capodimonte
2 Caravaggios Hinweise
Caravaggio wurde zum zweiten Mal „Pop“ in Form medial/bildlicher Phänomene im späten 20. Jahrhundert, die sich auf den überschaubaren Korpus von Gemälden aus dem frühen Barock zurückführen lassen. Pop im geläufigen Sinn ist von klassischer Kunst demnach zuerst durch ein neues Sendemodell zu unterscheiden: Few-to-Many ersetzt das klassische One-to-All (unter der Voraussetzung, dass große klassische Kunst mehr oder weniger „alle“ erreicht). Auch Pop, so lässt sich von hier aus weiter definieren, hält am Werk- wie am Autorenbegriff fest; dieser
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weicht zwar auf, wird zu einem überzeitlichen Label, das auf vielerlei Derivate eines wie auch immer gearteten Originals gemünzt werden kann; Benjamins Matrix-Begriff kommt hier in den Sinn, der aus der „Masse der Anteilnehmenden“ einen veränderten Zugang zur Kunst folgert. Der Werk- oder Korpusbegriff spielt am Ausgang von Pop aber immer eine zentrale Rolle. Auf ihn wird sich in der Regel im Sinne eines Referenzverhältnisses berufen.
Caravaggio mitsamt all dem, was unter seinem Namen aufgerufen wird, erscheint als ein paradigmatisches Beispiel einer solchen Ausweitung. In seinem Namen oder, wenn so will, im Glanz seiner historischen Aura, wird vor allem medial kommuniziert; notwendig heißt das auch zunehmend indirekt, nicht zuletzt mit der Hilfe eines (neuen) Mediums. Was das eigentliche Tun von Medien definiert, ist danach einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Im zweiten Teil dieses Textes wird dann ein Zeitraum genauer beleuchtet, in dem ein entsprechender Wandel in der Späten Moderne manifest wird. Konkret scheint mir dies der Wandel von der englischen, autorenzentrierten Spielart von Pop zur amerikanischen, bereits massenmedial dominierten Variante des Phänomens zu sein.
Wenn die Ursprünge von Pop tatsächlich im späten 16. Jahrhundert liegen, mag dies Voraussetzungen geschuldet sein, die bereits das historische Phänomen Caravaggio erfüllt. Als solche erscheinen vorerst sechs Momente:
1. der Erfinder-Solitär; 2. der historisch „richtige“ Moment für einen symboltragenden „Dialog“ eines
Bildes mit seinem Publikum; 3. die inventio und die feste Form; 4. eine medial geeignete Verwendung der zur Verfügung stehenden künst-
lerischen Mittel; 5. entsprechende „Kunden“ und ästhetisches Material, das sich zum Vertrieb eig-
net, sowie die entsprechenden Vertriebswege; 6. Pop als Massenphänomen: das Verhältnis von inventio und Anerkennung als
Pop, mit dem stetem Beiklang des Medialen Effektes.
Nicht alle diese Kennzeichen werden hier nun sofort zur Anwendung gebracht; in vielerlei Belang geschieht dies im Anschluss im Blick auf den spektakulären Medusenschild. Vorher braucht es noch eine Begründung, warum es statthaft sein könnte, Artefakte von einer Anciennität wie dem Korpus des kanonisierten Malers in die Nähe von Begriffen zu rücken, die man aus der Medientheorie, vor allem aber aus der Sphäre der Ökonomie kennt. Geht es um den reinen Warenwert, ist die Lage der Dinge klar: Ein Original Caravaggios ist selten bis nie zu kaufen. Es erschiene kaum auf dem Kunstmarkt, da zum etablierenden Element
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einer privaten Sammlung oder eines öffentlichen Museums zählend; er wäre unantastbar (im Fall der 1990 wieder erkannten Gefangennahme ist die offizielle irische Rede die vom National Heritage). Kommt doch einmal ein Werk unter dem Namen des Malers zum Verkauf, wobei fast immer eine neue Zuschreibung eine Rolle spielt, treten Banken auf, die das Gemälde dann als Teil ihres Stammkapitals funktionalisieren, oder der Finanzier ist, wie 1986 im Fall des Londoner Knaben, von einer Eidechse gebissen, keine geringere Institution als die Getty Foundation.
3 Medientheorie
Das kostbare Sammlerstück ist auch nicht gemeint, wenn der Medientheoretiker Hartmut Winkler in seinem Versuch zur Diskursökonomie einen „symbolischen Akt der Kommunikation“ beschreibt, sondern, auf unseren Fall gemünzt, dessen medial instrumentalisierte Abbild-Seite. Winklers Studie stellt den Versuch dar, einen Medienbegriff von der Zirkulation her zu entwerfen. Medienprodukte werden dabei als immaterielle Botschaften oder auch als Währungen beschrieben, die wie Waren einen Wert darstellen, ohne dass es noch einer physischen Verankerung in der realen Welt bedarf (im Fall von Gemälden kann man vom Gebrauchswert des materiellen Trägermaterials getrost absehen). Für welche „Ware“ sollte eine Aussage wie die folgende eher gelten als für Gemälde, die außerhalb von symbolischen Konventionen kaum verwertbar sind: „Meine Hypothese ist, dass die Akte der Kommunikation selbst strukturbildende Kraft haben, wieder parallel zum Warenverkehr und zur Ökonomie, wo der einzelne Tauschakt das Atom bildet, aus dem alles, was an Strukturen vorzufinden ist, sich aufbaut“? (Winkler 2004, S.7) Jener einzelne Tauschakt wäre in meinem Modell der Moment des Aufeinandertreffens des Rezipienten mit dem Werk der Werkbegriff kommt im Fall von Gemälde und Kinofilm ungleich stärker zum Tragen als beim Fernsehen und dem World Wide Web, für die manche der von Winkler referierten „Verkehrs“-Theorien entwickelt wurden. Als weitere strukturelle Gemeinsamkeit ist das Werk in seiner originären Form an einem definierten Ort aufzusuchen Museum oder Kino, dialogisch, doch auch mit einem a priori gegebenem Abstand zum Original um den höchsten symbolischen Tauschwert zu erzielen. Auch in der Reproduktionsvariante findet ein Tausch statt, doch mit der für den Medienbetrieb charakterisierenden Ausbildung von „kleinen, schwachen Symbolen“ (Winkler 2004, S.11); die Aura des originären Werkes ist dabei in Gefahr, sich in Beliebigkeit zu verflüchtigen. Dagegen setzt Winkler die Metapher des „Nadelöhrs“: einem re-auratisierten Begegnungsszenario
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mit einem Werk, das, um diesen Exkurs in die Medientheorie zu Ende zu bringen, unter definierten Bedingungen (wie den oben skizzierten) entstanden sein muss, um sein Publikum in exemplarisch glückender Manier zu erreichen. Die Bedingungen des historischen Malers generieren das Sendemodell One-to-Few-to-Many; für den Kinofilm ist dann bereits die Anstrengung „mehrerer tausend Beteiligter“ nötig, um einen „Text“ [sic] zu generieren, der „so attraktiv ist, dass er ein Massenpublikum anzieht, das ihn refinanziert. Der Film selbst ist, so betrachtet, das Nadelöhr, durch das die gesamte Anstrengung hindurch muss; die genannten Ressourcen werden im Produkt kondensiert, um sich dann technisch reproduziert an die Massen zu verteilen“ (Winkler 2004, S.35; Herv. T.M.).
Wovor der Medientheoretiker im Allgemeinen einen Bogen macht, weil er stärker an „diskursökonomischen Mechanismen“ systembildender Art interessiert ist, ist die prägende Form des Einzelwerks oder der Korpus des einzelnen Künstlers. Aus dem historischen Maler wird, wenn man ihn unter solchem Aspekt betrachtet, mehr als nur der individuelle Revolutionär des künstlerischen Ausdrucks, zu schweigen von einer Rolle als Ideengeber einer gegenreformatorischen Konzeption der religiösen Malerei seiner Zeit, eine Idee, die etwa Walter Friedlaender (1955)vertrat. Es geht um den Kern der unverwechselbaren Marke, zu welcher der eine oder andere Skandal hinzukommt, der durchaus als provoziert erscheinen könnte, um mediale Aufmerksamkeit zu erreichen. Gewiss, das Bild bleibt ein physisches Medium, doch seine Aura speist sich aus einem mit seinem Schöpfer daherkommenden Effekt der Verbreitung und es, das neue Bild, wird bemüht, um wiederum den Effekt zu beflügeln. Von ihrem Kern her erfüllt die „Marke Caravaggio“ alle oben genannten Kriterien: der Erfinder-Solitär; der historisch „richtige“ Moment; inventio und feste Form; eine „medial“ geeignete Verwendung der Mittel; breitenwirksames ästhetisches Material, entsprechende „Kunden“ und Vertriebswege; schließlich Pop als Massenphänomen inklusive medialem Effekt, der negativ ausschlagen kann. All das soll nun am Beispiel der Medusa exemplifiziert werden.
4 Die Medusa
Auf den Topos einer „Momentaufnahme vor dem Spiegel“ geht, zuletzt nach Fried (2010), der eindrucksvolle Tondo zurück, den Caravaggio noch im Auftrag des Kardinal del Monte um 1597/1598 fertigte. Del Monte verwendete die Medusa als Geschenk für den Großherzog von Toskana, Ferdinando de Medici. Wohl gleichzeitig schuf Caravaggio eine Variante des Bildes und bewahrte
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Abb.4 Caravaggio: Medusa (um 1597); Florenz, Uffizien
diese Fassung bis mindestens 1606 bei sich auf.1 Die mythologische Motivik ist bekannt: Der Blick der Medusa, einzig sterbliche der drei Gorgonen, verwandelt jeden, der sich ihr nähert, in Stein. Perseus, dem von Pallas Athene die Tötung der Medusa zur Aufgabe gestellt ist, schützt sich vor dem Blick mit einem blank geputzten Schild, in dem sich das Ungeheuer im Kampf selbst sieht, und schlägt das Haupt mit den hervor züngelnden Schlangen ab. Den Moment zwischen Leben und Tod, zwischen (vitaler) Todesangst und Agonie der Medusa, bildet Caravaggio ab (Abb.4).
Aus einer weiteren Funktion neben der des Bildes lässt sich die Wahl eben der Form noch anders begründen: Die Fläche selbst ist konvex gewölbt, aus dem „flachen“ Bild wird tatsächlich ein Gegenstand. Der Bildträger imitiert das
1Die Forschung geht heute von einer gleichberechtigten ersten Fassung aus (Mailand, Privatbesitz). Sie ist etwas kleiner und weist deutlich sichtbar die Signatur „MichelA.f.“ auf (Harten und Martin 2006, S.106f. und 256f.).
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­Kriegsgerät, den spiegelnden Schutzschild, der im Kampf den Angriff des Gegners parieren soll und hier gar zu dessen Vernichtung führt: Das Bild wird zur haptischen „Waffe“, ein Topos, der aus der „Arma Christi“-Tradition bekannt ist. Durch die Simulation der echten Gestalt des Schildes kann imaginär die Vorstellung eines blank geputzten Schildes entstehen, der im Kampf funktional einzusetzen wäre. Aus der Vorstellung, dass ein im Kampf unterliegender Gegner als letztes (Spiegel-)Bild der Welt nicht die Medusa, sondern den eigenen abgeschlagenen Kopf sähe, lässt sich die apotropäische Absicht der Inszenierung erschließen. Caravaggio pointiert das, indem er das Medusenhaupt einerseits plan auf den gewölbten Untergrund aufträgt, durch einen Schlagschatten aber noch die Plastizität eines Bildnisses wie nicht auf, sondern (wie im Kino) eine Leinwand quasi durchdringend suggeriert. Und doch bleibt das Ganze Bild und nur Bild. „Die tiefere Dimension dieses Tatbestandes erhellt [sic] aus dem Mythos, aus dem hervorgeht, dass man Medusa nicht körperlich und durch leibhaftigen Anblick, sondern allein als Bild erfahren kann, anders würde man getötet“ (Krüger 2006, S.25).
Als sei diese gedankliche Aktivierung des Betrachters noch nicht genug, führt der Maler eine weitere Volte ein, die weniger als autobiografischer Zusatz zu verstehen ist denn wiederum als Verweis auf die Möglichkeiten und Grenzen des Malers. Gemeint ist damit eine wahrscheinliche, aber nicht belegbare Ähnlichkeit mit dem etwa 25-jährigen Künstler selbst, die durch die prominent lesbare Signatur der alternativen Fassung unterstrichen wird: Allein einem Maler scheint es möglich, die Medusa gleichzeitig zu bannen und „auf ewig am Leben“ zu erhalten. „Dieser Verlust der Eigentlichkeit, an deren Stelle eine reale Sprache der Uneigentlichkeit tritt, ist der darstellungsreflexive Kern des Bildes. Durch ihn tritt die Funktionsweise der Malerei in eine, wenn man so will, strukturelle Analogie mit der Funktionsweise des Mythos, indem sie den allmächtigen und erschreckend andrängenden Horror durch seine Überführung in ein Bild bearbeitet und distanziert und damit wieder Mythos selbst den Schrecken durch die Erzählung über ihn rationalisiert und depotenziert“ (Krüger 2006, S.26).
Auf den versteinernden Blick des Ungeheuers (der Medusa oder des Orpheus) geht auch die Sage von Peeping Tom (Augen der Angst; 1959) zurück, nach der Michael Powell seinen gleichnamigen Film von 1960 gestaltet hat. Was dem Maler durch sein Medium in aller Regel verwehrt bleibt, nämlich gleichzeitig ein Spiegel- und Effektbild des Grauens herzustellen, gelingt im Fall dieses Films durch die Wahl einer bizarren Geschichte: Ein scheinbar harmloser, freundlich wirkender Standfotograf beim Film bittet Frauen, ihm für private Aufnahmen zur Verfügung zu stehen; er tötet seine arglosen Opfer im Moment der Aufnahme mittels eines Bajonetts, das aus dem Stativ-Schaft seines Apparates ausfährt. Der Fotograf Mark (Karl-Heinz Böhm) benutzt die auf Film dokumentierte
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Todesangst seiner Opfer, um sein eigenes Trauma aufzuarbeiten: Als Kind wurde er von seinem Vater mit Filmaufnahmen seiner toten Mutter, der ungeliebten Stiefmutter und weiteren Quälereien traktiert. So wird die Arbeit am Trauma in Peeping Tom wie in Caravaggios Medusa in einen Prozess der ästhetischen Erfahrung eingewoben, in dem der Betrachter mit Ekel und Abscheu, aber auch in aller medial induzierten Sicherheit und Distanz operieren kann.
Der Blick in den Spiegel ist die effektivste mediale Konfiguration, mit der sich Analogien und Unterschiede der alten Medien der Hochkultur und der PopModerne beschreiben lassen. Während ein Maler wie Parmigianino in s­einem minimalistischen Selbstporträt von 1523/1524 den Siegeszug der optischen Wahrheitsgaranten Spiegel und Fotografie und damit das Ende mimetischer Malerei weit vor dem Impressionismus vorwegnimmt (vgl. Abb.5), lotet der Hofmaler Velázquez in seinen berühmten Meninas von 1656 die Möglichkeiten einer raffinierten Erzählung über die Bande der Mise-en-abyme aus; dabei nimmt er den Umweg über eine komplexe Erzählung und nicht jenen coup de l œil als Ausgang, von dem im 17. Jahrhundert bereits der Theoretiker Roger de Piles schrieb: die „Wahrheit“ eines Bildes könne sich bereits in einem Moment, in einem „Schlag des Auges“ mitteilen.
Abb.5 Parmigianino: Selbstbildnis im konvexen Spiegel (um 1524); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Dies sind die beiden Zugänge, von denen auch Mieke Bal als grundsätzlich zu unterscheidenden kategorialen Ebenen spricht. Sie reklamiert eine „unbestreitbare ontologische Grenze [.], durch die visuelle von sprachlichen Äußerungen getrennt werden“ (Bal 2002, S.23). Die Kulturwissenschaftlerin Bal ist darüber erhaben, ein weiteres Mal die Generaldifferenz von „statischen“ und zeitbasierten Gestaltungen aufzubereiten. Ihr geht es vielmehr einerseits um die Strategie des Bildes, auf eine rational nachzuvollziehende Narration zu bauen und den Betrachter damit rhetorisch zu überzeugen, wobei Las Meninas in ihrer Argumentation als Beispiel für eine solche Art von Bildrhetorik dient (Bal 2002, S.310). Nun kommen aber Bilder hinzu, die eine Rhetorik des Körpers, der Blicke und der epistemischen Selbstvergewisserung des Betrachters über das Medium/den Spiegel des Bildes anwenden. Bal siedelt ihre diesbezüglichen Beispiele vor allem bei Meistern des 17. Jahrhunderts an, bei Caravaggio, Rembrandt und Rubens. Was neu ist auf deren Bildern, lässt sich in einem Schlaglicht auf Vorgänger erhellen: Zwar baut das mittelalterliche, „haptische“ Kult- und Andachtsbild insbesondere als Teil der Passion Christi ebenfalls auf Schrecken, Schock und die hieraus im guten Fall hervorkommende Einkehr des gläubigen Betrachters (Suckale 2003), doch geht dies aus gelerntem, studiertem Verhalten hervor und gründet kaum im dominanten Punctum einer unmittelbaren, Als-obnatürlichen Seherfahrung über das selbstbewusste Medium eines Bildes und die daraus resultierende Sensation. Dabei gibt es den bildlichen Modus, der auf Gelerntem basiert und in dem die Erzählung zum Einbau in einen nachvollziehbaren Sinnes-Kontext tendiert, jedoch auch den anderen, der die Wirkung über ihre sinnliche Zugänglichkeit au premier coup d œil erzielt. Caravaggios Medusa erreicht beides: Das Apotropäische, das dem Medium und der Story innehaftet, wirkt weiter. Durch die Senkung des Blicks wird es gleichzeitig gebrochen und so tendenziell ins Medial-Live-Hafte gewendet. Diesen Gang geht noch einmal die Jugendkultur der 1960er Jahre.
5 Die Jugendkultur
Wim Wenders monierte in einer ansonsten verklärenden Rezension des Musikdokumentarfilms Monterey Pop (1968; R: D.A. Pennebaker), hier sehe man in nicht ausreichendem Maß die Musiker auf der Bühne, sondern immer wieder vor allem das Publikum, und zwar in Großaufnahmen (Wenders 1986). Damit berührt der Kritiker genau das Neue: Die Musik ist aufregend und verführerisch, die Performer geben sich originell, die Lightshow mit der Projektion liquider Farben (Iles 2005) ward kaum je zuvor gesehen, doch die Jugend sieht nun e­ rstmals
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in einem Massenmedium vor allem: sich selbst. Das Kino-Publikum reagiert mit einer medusenhaften „Brechung des Blicks“, eben weil es sich im Anderen erkennt. Das Angeblickte, das gesehene Objekt, weiß seinerseits genau, dass es neben der Bühnenschau einem dauerhaften Angeblickt-Werden in den Medien ausgesetzt sein wird.
Den Schriften des britischen Kulturwissenschaftlers und Pop-Journalisten Jon Savage sind weitgehende Einsichten in die Entstehung von Jugendkultur und ihrer kommerziellen Auswertung zu verdanken. Den „Teenager“ gibt es nach Savage bereits in den 1870er Jahren; seine Entwicklung erlebt zum Ende des Ersten Weltkriegs aufgrund der konjekturalen Krise einen langen Rückstau, ehe Werbeleute und Produzenten die Kaufkraft Heranwachsender nach 1945 tatsächlich entdecken und die Zielgruppe wirtschaftlich bedeutsam wird. Der ökonomische Faktor ist fortan entscheidend für die Entwicklung der populären Gestaltungskünste. In seinem Buch Teenage. The Creation of Youth Culture (18751945) analysiert Savage die historischen Entwicklungen in Europa, insbesondere die Parallelen in Deutschland und England, und setzt diese dann in Kontrast zur „Erfindung der Jugend“ in den USA. Er kommt dabei wiederholt auf einen eklatanten Unterschied zu sprechen, der mit der beschleunigten Entwicklung der Vereinigten Staaten hin zur massenmedialen Gesellschaft zu tun hat; beschrieben in einem Zitat: „[Es] kamen mit einem der sensationellsten Mordfälle des Jahrhunderts die dunklen Mächte zum Vorschein, die hinter der amerikanischen Jugendobsession lauerten“ (Savage 2008, S.228f.). Es ist dieses Bewusstsein eines Draußen, einer anderen, durchaus manifest „bösen“ Welt, der der neuen amerikanischen Jugendkultur zunächst den Aufbau eines eigenen Kosmos, oder, nur etwas kleiner, einer eigenen Nation entgegensetzt. In einer Spanne von nur zwei Jahren wird vom Sommer 1967 der geschlossene Kreis des reinen Ausbruchs verlassen. Das abschließende Großereignis des verlängerten Summer of Love bildet durchaus auch die Schattenseiten einer „neuen“, medialisiert wahrzunehmenden Welt ab, wie sie auch „da draußen“ nun einmal unabänderlich zu existieren scheint.
5.1 Monterey Pop
Das Monterey Pop Festival (16.18. Juni 1967) gilt als erstes größeres PopEreignis in der Geschichte von Musikfestivals, die bis dato als Programm nur Jazz und Folk kannten (Havers und Evans 2009, S.1221). Initiatoren von Monterey waren ein bekannter Impresario, ein Musikjournalist sowie ein Musiker
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von The Mamas and the Papas; nicht zuletzt aus diesem Grund der geteilten Autorschaft gilt Monterey als gelungenes Zusammentreffen von Machern, Musikern und Publikum. Die Popkultur beginnt sich (nun auch im Film) massenmedial zu zeigen, oder anders, aus dem überkommenen Übertragungsverhältnis Few-toMany wird in der Ära globalisierter Kommunikation tendenziell ein Few-to-All, in äußersten Momenten wie Woodstock dann sogar ein Many-to-All.
Medium und nachhaltiger Botschafter des Ereignisses von Monterey wird ein Kinofilm (Monterey Pop von D.A. Pennebaker), der in der Manier des Direct Cinema vermehrt Impressionen abseits der Bühne und der Performances dokumentiert. Heute zirkulieren viele Derivate des Gesamtmaterials (Strong und Griffin 2008, S.520); u.a. gibt es DVDs der Auftritte von Ravi Shankar, Jefferson Airplaine, The Mamas and the Papas, sowie, seit 1970, die rasch legendären Sets von Otis Redding und Jimi Hendrix. Eine repräsentative Auswahl ist in der Criterion Edition erschienen und bietet Kommentare und Outtakes.
Monterey Pop wurde zum Modell für das weitaus größere Festival, das ab März 1968 geplant wurde und durch eine Kleinanzeige in der New York Times und dem Wall Street Journal in Gang kam, in der zwei junge Ökonomen mit „unlimitiertem Kapital“ nach einer Geschäftsidee suchten (Makower 1989, S.21ff.). Diese Geschichte wurde häufig erzählt (Havers und Evans 2009, S.32). Allerdings wurde schon der Name zum fake. Die Entwicklung zum falschen Woodstock (im Folgenden in normaler Schriftlage: das mediale Ereignis/der Ort; kursiv gesetzt: der Kinofilm) ist kurz nachzuzeichnen.
5.2 Woodstock: die Referenz
Die Byrdcliffe Colony im Norden des Städtchens Woodstock im US-Staat New York, 110 Meilen bzw. knapp 180km nördlich von New York City, eine Gründung von 1903, ist eine von vielen Künstlerkolonien der Vereinigten Staaten, jedoch die größte des amerikanischen Arts-and-Crafts-Movements. Die Verbindung von freien und angewandten Künsten sollte noch im Ergebnis jener Entwicklung aufscheinen, die mit dem Umzug des paradoxerweise noch größer werdenden Performers seiner Zeit nach Woodstock einsetzt und in „Dylans Woodstock hibernation“ (Hoskyns 2016, S.114) begründbar ist, dem sich alsbald Promoter und Geschäftsleute anschlossen. Michael Lang, einer der Produzenten eines Pop-Festivals in Miami im Mai 1968 und bald kreativer Kopf von Woodstock Ventures, hatte sich gleichfalls in Woodstock eingemietet. Er überzeugt die eigentlichen Investoren des späteren Festivals, ihren ersten Plan, ein Tonstudio
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einzurichten, von Manhattan ins Hinterland zu verlagern. Dylans Weigerung, zu jener Zeit irgendwelche Musik aufzunehmen, bringt die Multi-Medialisierung von Pop einen großen Schritt voran.
Dylan als Pop-Performer zu bezeichnen, hätte sich zunächst verboten, galt er doch bis John Wesley Harding (1966) als Folk Singer. In Woodstock vollzog Dylan aus eigenem Antrieb (und wohl intuitiv) seine performative Wende hin zum massenmedial verwertbarem Produkt oder Medium (Musik spielt ab den 50er Jahren, wie zuletzt Thomas Crown (2014) aufgezeigt hat, im Prozess insbesondere auch der Malerei hin zur Pop-Werdung immer stärker die Rolle der inspirierenden Leitkultur). Hier verwandelt sich regelmäßig ein Individuum, das die ersten gestalterischen Impulse setzt, dann aber zum unselbstständigen Element in einer Kommunikations-Relation von Einigen zu Vielen wird; an dieser Stelle sind bereits technische Medien im Spiel, die nicht mehr mono-, sondern plurimedial fungieren. Das auditive Element wird dann in der Regel um die Sichtbarkeit einer definierten Marke im Sinne eines singulären Produkts bzw. der Aura eines Solo-Künstlers/ einer Band ergänzt oder gar regelhaft überformt (Rayner etal. 2012). Die Beatles hatten diesen Prozess schon von 1964 bis 1966 durchexerziert; sie verschwanden im Anschluss ebenso radikal selbst von der Bühne, wie sich das sleeve cover des „weißen“ Albums (1968) der Konzeptkunst näherte. Haptischer blieben The Who, die einerseits durch ihr Outfit dem Image der british mods Tribut zollten, andererseits bereits ab 1964 auf der Bühne, stets während der Zugabe, ihr Equipment zerstörten und damit figurativ den Ast durchsägten, auf dem sie selbst saßen. Ein dritter Musiker, Jimi Hendrix, nutzte die Gunst der Stunde, um während Dylans hibernation innerhalb von nur neun Monaten an die Spitze aller stage performer zu gelangen (und in der Folge zum weitaus teuersten Act von Woodstock zu werden). Hendrix war noch als unbekannter Begleitmusiker nach London gelangt; er sog, bezeichnenderweise exakt parallel zur Drehphase von Blow Up (1966; R: Michelangelo Antonioni) in London, die Einflüsse des Design- und Mode-orientierten Swinging London auf (Metzger 2011, Savage 2015), um sie ähnlich wie Antonionis Film zur originären Vision einer avantgardistischen Massenkunst umzuformen. Auf Augenhöhe mit Janis Joplin wurde Hendrix im Sommer 1967 zum bleibenden Innovationsmoment des Summer of Love. Ehe ich auf das zentrale Massenereignis der Pop-Moderne in seiner gestalteten Form eingehe, sei auf die Regelhaftigkeit des Zusammentreffens von genuinen Antriebsmitteln wie der Musik (und, für die relevante Epoche, besonders den „bewusstseinserweiternden“ Drogen) mit einem Ereignis verwiesen, das noch real stattfinden kann, im Fall der Pop-Moderne aber öfter bereits ein virtuell gestaltetes ist, das in irgendeiner Weise Warencharakter annimmt, um dabei den pekuniären Aspekt durch den Image-bildenden, oder, im gelungeneren Fall, durch einen Erfolg in der Identitätsbildung
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eines signifikanten Teils der Weltbevölkerung zu ergänzen oder zu ersetzen. Den Großteil meiner Chronologie des Summer of Love machen noch gestaltete Werkstücke im Sinne der Art-and-Crafts-Bewegung aus, die dem Nadelöhr des singulären Kunstwerks durchaus eng verwandt sind, um potenziell, wie die Prototypen am Bauhaus, in großer Stückzahl vervielfältigt zu werden; am Ende steht als Ziel die größtmögliche Zahl an „Teilhabenden“ (Abb.6).
Etwa 30 Holzhäuser bilden den Kern der Künstlerkolonie Byrdcliffe; es ist nicht dort, sondern im nahe gelegenen Bearsville, wo der Artefakt des großen Festivals seinen Ausgang nimmt. Hier kauft der Musik-Impresario und Dylan-Manager Albert Grossmann 1963 ein Steinhaus, das Dylan des Öfteren aufsucht, um New York zu entkommen (Hoskyns 2016, S.4960). Hier kommt Dylan erstmals mit LSD in Kontakt; für den Moment folgenreicher ist die Begegnung mit einem ländlich geerdeten Amerika, das auf die Dignität einer lang verfolgten, hochkulturellen Tradition gründet. Noch weht der Geist der Hudson River School herüber; die Arts-and-Crafts-Bewegung prägt das Wohnen. An zeitgenössischen Malern scheint am ehesten Philipp Guston einer Erwähnung wert, mit Musikern vor Ort steht es ähnlich, an bekannteren Dichtern kommt ab und zu der beat poet Alan Ginsberg vorbei. So wird dies der Zeitpunkt für einen kompletten Rückzug und Neuanfang, aus den Ruinen von Dylans frühem, hollywoodesken rise to the stars sozusagen, den er mit einer Rückkehr „zu den Wurzeln“ konterkariert. Dylan schreibt an einem Roman und beginnt zu malen diese Versuche sehen erst Jahre später das Licht der Öffentlichkeit. Entscheidend ist, dass er sich dem Resonanzboden auch des kleinsten Publikums entzieht. Ab Sommer 1965 besitzt Dylan ein Haus in Byrdcliffe, das zuvor die aus Deutschland stammende Malerin Lotte Stoehr bewohnt hatte; es geht als Hi Lo Ha in die Annalen ein. Dylan bricht mit Grossmann auch das wird nicht kommuniziert. Er schneidet mit D.A. Pennebaker an Material fürs Fernsehen, das nicht gesendet wird. Dem Verharren im Status quo ein Ende setzt er mit dem Unfall auf seiner Triumph 500, der zu dem medialen Ereignis wird, das Dylan schließlich, wenn auch nur indirekt, in die Öffentlichkeit zurückholt. Heute gibt es Vermutungen, dass diese Verletzungen übertrieben worden sein könnten (Hoskyns 2016, S.88). Die Sessions mit der noch unbekannten Band The Hawks, die zu The Band wird, beginnen im Frühjahr 1967 und eröffnen ein neues Kapitel in der Saga Woodstocks. Dylans Image wird, neben seinen wechselhaften Auftritten, insbesondere durch die Plattencover bestimmt, die er teils nun selbst in naiver Manier malt. Klaus Theweleit hat die frühen Moment-Identitäten Dylans im permanenten „Umbau seiner Statur“ via Plattencover pointiert: Vom fahrenden Hobo zu James Dean, vom „hübschen intellektuellen Jüngling“ zur sophistication einer gestylten Upperclass und weiter zum frankophilen Dichter im Stil der Nouvelle Vague usw.
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Abb.6 Gestaltung: Norman Eschenfelder
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Abb.6 (Fortsetzung)
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(Theweleit 2011). Für Dylan gilt immer, was Todd Haynes in seinem Biopic ohne Dylan in den für Dylans stage persona kongenialen Titel Im Not There (2007) gepackt hat: Wo ihr ein Bild von mir seht, da bin ich nicht mehr ich selbst.
5.3 Der Film
Michael Wadleighs Woodstock (1970) erhielt 1971 den Oscar als Best Feature Documentary. Der Film ist eine passende Illustration der Mutmaßung von Erwin Panofsky, einen echten Dokumentarfilm könne es gar nicht geben (Kracauer und Panofsky 1996, S.11).
Das Ereignis Woodstock war zunächst der Triumph einer Graswurzel-Revolution, die neue Kommunikationsplattformen zur Attraktion von Interessenten nutzte: die Organe des Underground Press Syndicate, das zur Mitte der 60er Jahre hin organisiert war und einen Strauß bunter Blätter der Free Press zusammenhielt. Ab einem bestimmten Punkt der Off-Promotion des über ein Jahr entwickelten Festivalgedankens genügte dann word of mouth. Betrachtet man das Publikum genauer, ist als durchschnittlicher Besucher ein etwas über 20-jähriges college kid weißer Hautfarbe auszumachen, das die Sommerferien es ist Mitte August nutzt, um beim ersten großen Festival der Ostküstenregion dabei zu sein. Woodstock schickt sich an, die Besucherzahl des Festivals von Monterey (im Einzugsgebiet von San Francisco) um das mindestens 15-fache zu übertrumpfen.
Die Nähe zu New York ist ausschlaggebend für den Zulauf, der das Ereignis Woodstock freilich rasch überfordert. Nicht Hippies, kids kommen zu Hunderttausenden, um sich als „Wochenend-Hippies“ (Iles 2005, S.78) zu camouflieren. Für sie, wohl oft mit dem Auto des Vaters angereist, spielt es keine Rolle, ob das Ereignis in der alten Künstlerkolonie der New Yorker Arts-and-Crafts-Bewegung stattfindet, ob es sich um eine unbebaute Industriebrache in Walkill handelt, oder dass man dann tatsächlich ein natürliches Amphitheater in Sullivan County, auf einer Milchfarm der Catskill Mountains, nutzt, wenige hundert Meter nördlich des Ortes Bethel und 70 Meilen weit vom echten Woodstock. Die „biblische“ Lage befördert die Geburt des Mythos; sie wird in der Ouvertüre des Films weidlich visualisiert. 20 Minuten ist Musik nur over zu hören, sieht man zum Motto Goin up the Country Pioniere bei der Rodung des Landes, erste Siedler, archaisch anmutende Zimmermannskunst das ikonografische Arsenal der Besiedlung des Westens, far-off und spaced out (Gordon 2008). „Ein Großteil der Poesie des Wochenendes [ist] schlicht geliehen“ (Schäfer 2009, S.156).
Die Beschwörung des amerikanischen Gründungsmythos bleibt Programm bis hinein in den Bildschnitt. Dylans Mitstreiter The Band hätten dieses Programm
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gut vertreten; doch obwohl sie in Sullivan County spielen, bleibt ihre archaische Präpotenz, bleibt die Großfamilienromantik, die zukunftsweisende Back-to-theRoots-Idee von The Band außen vor (Marcus 1998b). Überhaupt ist bemerkenswert, dass einige der angesagtesten Acts der Zeit in Woodstock auftreten, den Film aber nicht bereichern: Creedence Clearwater Revival; Grateful Dead; Janis Joplin; Johnny Winter; Blood, Sweat & Tears. Grund ist die geringe Vergütung der Filmrechte, deren Abtreten bereits jetzt, vor Ort, zu unterschreiben gewesen wäre. Hier verweigerte sich mancher Manager.
Es gehört zur Mythologie von Woodstock, das Unternehmen wirtschaftlich erst durch die Intervention von Warner Bros. gerettet zu wissen, die das ursprüngliche Veranstalter-Quartett für wenige Dollars um die Filmrechte erleichtern. Tatsächlich schließen die Veranstalter vor Ort einen 50:50-Vertrag mit dem Vertriebsriesen ab und forcieren den entscheidenden Verlauf noch selbst: Nicht das Festival, der Film soll die angestrebten schwarzen Zahlen der Bilanz erbringen. Daher gilt es, eine große Filmcrew vor Ort zu versammeln. Am Ende nehmen etwa 30 Kamera- und Tonleute rund um Michael Wadleigh vieles auf, nicht nur das Geschehen auf der Bühne wie daneben, sondern auch das Dahinter und Davor. So entsteht neben der Rockumentary umfassendes Material vom sozialen Event Woodstock, erfochten vom Engagement neugierig nachfragender Interviewer-Units, und insgesamt mehr einer TV- als einer filmischen Arbeitsweise zu verdanken. Beeindruckend ist die Auflistung des technischen Equipments, das die umfassende Reportage ermöglicht. An den Festivalort gebracht wurden u.a. neun Eclair-, drei Bolex- und drei ARRI-Kameras (16mm, später aufgeblasen), vier Steadicam-Systeme avant la lettre, sieben Nagra-Tonaufnahmegeräte und etwa 115000m filmisches Rohmaterial (Bell 1999, S.7172). Und doch muss die kreative Leistung des Films weniger in den Aufnahmen und damit beim Regisseur Wadleigh als in der kreativen Aneignung gesehen werden, die im Lauf des Winters 1969/1970 am Schneidetisch vollzogen wird. Warner Bros., inzwischen allein im Besitz der Rechte, heuert ein Team von Cuttern an, aus dem die Namen Thelma Schoonmaker und Martin Scorsese hervorstechen. Mithilfe eines aus Frankfurt a.M. eingekauften KEM-Schneidetisches erreicht man die Aufsplittung des Filmbildes, eine lange Folge von Diptychen und Triptychen, Kaschierungen und anderen Extravaganzen des Bildformats. Der räumlichen Auflösung der Kino-Vision entspricht eine raumzeitliche Neuordnung. Entscheidender plot point wird das große Unwetter, das nun einen Tag früher „auftritt“; Ziel und Ergebnis ist ein rhythmisch perfekter „Spielfilm“ mit Steigerungen und Retardierungen, nach Themen geclustert, mit einer Forcierung im zweiten Teil, die das Finale am Morgen des vierten Tages/ Aktes vorbereitet (chronologisch treu dagegen die Woodstock Diaries [TV; 1989; R: Chris Hegedus, Erez Laufer und D.A. Pennebaker]). Zeigt die erste Hälfte des
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Films commitment gegenüber der Außenwelt, gewürzt durch drei britisch-professionelle Performances, ereignet sich nach dem Unwetter etwas komplett Neues: die Woodstock Nation erhebt sich (aus dem Schlamm), die Welt wird von hier aus neu gesehen. Drogenrock, Minderheitenmusik, Anti-Regierungs-Statements, der Aktivismus der Hog-Farm und andere karitative Show-offs gehen in der Interaktion mit dem Publikum eine äußerst attraktive Mixtur ein, zusätzlich abgesegnet vom väterlichen Landeigner und final ins Recht gesetzt durch den Vater, der in Woodstock ohne Verbitterung Toiletten säubert und dabei über den eigenen Sohn in Vietnam spricht. Den Abschluss bilden Hendrix nie gehörte, tastende Töne über Bildern wie von einer bereits vergehenden, vermüllten, zerstörten Galaxie.
Woodstock geriet durch Augenzeugen-, Zeitungs- und TV-Berichte rasch zum Mythos. Diesen bediente eine Künstlerin, die selbst nicht dabei gewesen war, mit einer visuellen Metapher: Joni Mitchell schwärmte von einer „Nation“, über der sich Bomberschwaden wundersam in Schmetterlinge verwandeln. Keine andere Transzendenz hatte Präsident Woodrow Wilson im Sinn, als er das Geburtshaus Lincolns zum Nationaldenkmal erhob. Er sprach dabei von einer Nation, deren „reichste Früchte aus einem Boden wachsen, den kein Mensch bestellt hat, und unter Bedingungen, die es am wenigsten erwarten ließen“ (Marcus 1998a, S.164). Mit Woodstock wurde ein Film zum dauerhaften Mo(nu)ment eines einmaligen Ereignisses, das sich selbst medial überschrieb. Erst durch sein Erscheinen auf der Leinwand errang dieses Ereignis den Status der gültigen Artikulation jugendbestimmter, „alternativer“ Kultur.
6 Coda
Für jeden Film gilt die Formel der Gestalttheorie, dass die Summe einer Gestalt mehr als die Addition aller einzelnen Teile sei. Die vielen, ja fast ausschließlich repräsentierten gesellschaftlichen Minderheiten von Woodstock ergeben nur im Ganzen das Panorama des umfassend Neuen. Der Werkbegriff des Gemäldes entspricht daher eher der Komposition eines Gesamtfilmes als der einzelnen Einstellung. Wird eine solche aus dem Ganzen isoliert, kann sie als pars pro toto für das Gesamtbild stehen, auch attraktiv wirken; hingegen wird die Gesamters­chei­ nung, die Komposition, nicht zuletzt durch einen Wechsel des Mediums vom Bewegt- zum Standbild in der Tendenz auf solche Weise verfremdet.
Nichts anderes tut ein so attraktives „Standbild“ wie Caravaggios Medusa. Auch hier ist eine Erzählung zugerichtet auf eine singuläre, allerdings „extreme Expression“ (Hibbard 1983, S. 67) seitens des Malers, spezifischer aber, auf die viel weiter greifende Medialität von Bildern im Allgemeinen hin formuliert, die
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„Repräsentation der Versenkung [ins Bild] sogar nach einem gewaltsamen Tod“ (Fried 2010, S.63). Nicht länger ist das Ungeheuer handelndes Subjekt; vielmehr scheint jeder Betrachter gezwungen, sich angesichts der Medusa zu seinem Eindruck zwischen Abscheu und Mitleid zu bekennen. Dazu verhilft die Zurichtung des Bildes: Es zeigt keinen Verlauf, keine Handlung, nur mehr das Resultat der vorangehenden Mord-Tat. Wie Woodstock mit dem Phänomen Dylan arbeitet auch Caravaggio mit dem Mittel der erzählerischen Ellipse, und nicht zum letzten Mal, wie Rudolf Preimesberger an der Grablegung Christi in den Vatikanischen Museen gezeigt hat, der als zentrale Figur Joseph von Arimathia fehlt, sonst in dieser Szene obligatorisch (Preimesberger 2016, S.73). Nimmt die Pop-Moderne ein solches Bild einmal direkt auf (was nicht sehr häufig vorkommt), tritt das Arsenal der ikonografisch eingeführten Figuren außer Kraft. Es geht allein um den Ausdruck im Ganzen, hier wohl: das überzeitliche Einfühlen und Mitleiden nicht zuletzt des Betrachters im Angesicht des Verlustes einer charismatischen Führerfigur für eine größere Gruppe von Gläubigen (vgl. Abb.7).
Bilder bergen keine Gefahren, weil sie die Dinge nicht selbst beherbergen. Sie handeln nur davon. Ein Film wie Amy: The Girl Behind the Name (Amy; 2015; R: Asif Kapadia) handelt von den Gefahren, denen eine junge weiße Soulsängerin ausgesetzt ist, die ungeheuren Erfolg hat und von diesem Erfolg weiß. Das Medium, das von diesem Erfolg erzählt, ist in erster Linie der Handyfilm, für den Amy Winehouse im privaten Rahmen anscheinend unaufhörlich zur Verfügung stand. Viele Protagonisten des Summer of Love trieben ihre Selbstdarstellung im Medium ähnlich bewusst auf die Spitze und erlitten am Ende ähnliche Konsequenzen: Feast of Friends (1968; R: Paul Ferrara), der eigenproduzierte Film der Doors, ist dafür ein markantes Beispiel, zuletzt auch die Dokumentation Janis: Little Girl Blue (2015; R: Amy Berg).
Caravaggio malt mit der Medusa etwa zeitgleich mit dem Knaben, von einer Eidechse gebissen, der den gleichen Effekt aufweist erstmals einen seiner dezidiert „unentschiedenen“ Momente das, was die neoformalistische Filmwissenschaft eine dangling cause nennt, ein schwebendes, noch nicht entschiedenes Innehalten der Erzählung, die sich von hier aus in diese oder jene Richtung entwickeln kann. Die Medusa zeigt eine heftige Emotion, insbesondere das Entsetzen über die eigene Verwundbarkeit, den unmittelbar bevorstehenden Tod. Unbezweifelbar da ist aber immer noch auch die Inversion des orrore der Schrecken, den das Ungeheuer einmal selbst verbreitete. Die Begründung ist bereits eine andere, aber vom Bild geht dieser Horror immer noch aus gleichsam verdoppelt.
Mit Michael Fried möchte ich von hier aus von einer Theorie zweier Handlungsmomente ausgehen, die Caravaggio in der Medusa zueinandergesellt hat. Im
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Abb.7 Alfred Leslie: The Killing Cycle, No. 6 The Loading Pier (1975). (Aus LucieSmith 1994, S.209)
Zusammenhang mit dem Knaben, von einer Eidechse gebissen spricht Fried erstmals von einer immersiven Tendenz des Bildes der Maler zieht uns durch ein außergewöhnliches Ereignis dauerhaft in das Bild „hinein“ und einen spekularen Moment, indem der Künstler sich selbst als painter-viewer einbringt, indem
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er das Fried verfolgte Prinzip des right-angle-self-portrait variiert; des Malers, der sich selbst im Akt des Malens im Spiegel erblickt und porträtiert (Fried 2010, S.3951); mit anderen Worten, diesen Bildern Caravaggios haftet durchaus dominant eine medien- und eine selbstreflexive Ebene an. Mit einer weiteren Beobachtung Frieds lässt sich das an der Medusa stützen. Die Idee gilt einem vom mythischen Kern abgesetzten Fakt: Bei Caravaggio fixiert die Medusa den Betrachter nicht länger, ihre Pupillen sind bereits leicht nach unten gerutscht, der Blick ist im Begriff zu brechen (Fried 2010, S.115f.). Der Blick des/der Bösen war zum „bösen Blick“ geworden, der seinen Fluch auf den Betrachter übertragen kann: dies ist die kulturträchtige Geschichte des malocchio (Hausschild 1982). Bei Caravaggio geschieht dagegen Neues: Das apotropäische Moment wird durch die Senkung des Blicks gebrochen und ins Live-Hafte gewendet. Was hat die Medusa als Handelnde nun vor sich? Nichts. Sie ist nur noch auf dem Weg, zum abgeschnittenen Kopf, zur amorphen Masse, bestenfalls zum angeblickten Bild zu werden. Den Topos hebt Fried hervor; er unterstreicht ihn mit dem Verweis auf Caravaggios Holofernes-Enthauptung durch eine Judith, die, anders als Artemisias Judith, nicht freudig erregt, vielmehr angeekelt und doch auch sexualisiert erscheint. Nicht allein die Fixierung des spektakulär Momenthaften ist wesentlich, sondern auch die Delegierung der medialen Aufmerksamkeit. Severing, das Abschneiden, wird von Fried verstanden als „eine extreme Form von Spekularität“, und damit auch als Reverenz an das „Dahinter“ des Bildes, den Maler, seine Ausrüstung, seine Modelle, sein Studio“ und damit die „innere Struktur der Kunst der Malerei“ (Fried 2010, S.206).
Drama und Rettung manch traditionell verstandener Kunstgeschichte ist der Rückzug auf das Historische. Fasst man Caravaggios Bildkunst unter dem Begriff des Populären, eines Pop, der noch ein Publikum des 21. Jahrhunderts zu packen vermag, tritt zu den beiden zentralen Aufgaben einer Bildwissenschaft eine andere hinzu: der unmittelbare Schock des ästhetischen Erlebens, die distanzierende Literalisierung (das „Lesen“ der bildlichen Information), zuletzt die historisierende Einordung. Hier ist Caravaggio dem Kino ganz nahe. Es bliebe weiter zu begründen, warum die historische Figur dabei im Hintergrund verbleiben kann. Vorerst, mit Sibylle Ebert-Schifferer: „Im Verlaufe dieses Prozesses der Marktbildung sollte dann in der pekuniären und ästhetischen Wertschätzung der Stellenwert der Komposition zugunsten der Reputation des Malers schwinden“ (Ebert-Schifferer 2012, S.103). Wie für manchen Nachfolger im spektakulären Mediengeschäft kann eine allzu enge Koine von Künstler und Werk dem Menschen geradezu tödlich werden. Dafür ist Caravaggio ein frühes Beispiel. Zwingend an die biografische Referenz gebunden erscheint die Übersetzung ins Mediale nicht.
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Ein letztes Beispiel, ein scheinbar unspektakuläres Gemälde, so wenig auffällig, dass es vielleicht des labelings mit dem Namen Caravaggios bedarf, um zum Stadium genauerer Lektüre zu gelangen: die Wahrsagerin im Louvre (Abb.8).
Caravaggesk erscheint auf den ersten Blick lediglich das Streiflicht, das einen sonst unauffälligen Farb-Raum anfüllt. Es handelt sich um eine Genre-Szene mit zwei Personen, die als solche figurenreichere Nachfolger gefunden hat (Treves 2016, Kat. Nr. 6). Der Clou der Erzählung ist, dass die Frau (in der Literatur oft eine „Zigeunerin“) dem Mann scheinbar die Zukunft voraussagt, in einem zweiten Handlungsmoment aber einen Diebstahl begeht, indem sie ihm einen heute selbst im Museum kaum noch sichtbaren Ring vom Finger streicht. Der zutrauliche Augenkontakt der beiden Figuren kaschiert den kriminellen Akt, eines der frühen Mini-Dramen Caravaggios, das sich medial nur uns eröffnet, dem distanzierten, dafür umso aufmerksameren Publikum. Jonathan Crary beschreibt in seiner Studie zur Aufmerksamkeit in der Kultur der Moderne ein für das letztendliche Verstehen des Bildes notwendiges Double-entendre: „Bei Caravaggio findet
Abb.8 Caravaggio: Die Wahrsagerin (15941600); Paris, Louvre
Caravaggios Medusa, Woodstock …
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ein intensiver optischer und taktiler Kontakt statt, ein reziprokes Engagement im Handlungs-, im transaktionalen Charakter der Begegnung, das vom Wechselspiel sozialer, libidinaler und ökonomischer Differenz erfüllt ist. Die auffälligste Übereinstimmung zeigt wohl der junge Edelmann, der die eine Hand entblößt hat und mit der anderen, bekleideten, den Handschuh hält. In der Wahrsagerin bietet dieser hitzige Jüngling seine Handfläche einer Frau dar, für welche die Hand zu einem Feld wird, auf dem ein Leben von Begehren und Verlust schicksalhaft eingeschrieben ist“ (Crary 2002, S.95; Herv.i.O.). Ist dies anders zu verstehen denn als Ausgangspunkt zu einem Film, der noch im Nadelöhr des Bildes steckt?
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Depräsentieren: Auf der Suche nach der Gegenwart des Computers
Jan Distelmeyer
1 Einleitung
Wir leben in den Ausläufern eines gewaltigen Widerspruchs. Beim Tippen dieses Satzes in eine Form jener Maschinen, um die es dabei geht, frage ich mich unwillkürlich, wie ich hier „wir“ schreiben kann. Vielleicht so: als das verzerrte Echo einer Rhetorik, die Allgemeinheit anstrebt, wenn von dem „digitalen Zeitalter“ (Mitchell 2008, S.196; Lanier 2015) die Rede ist, von der „digitalen Welt“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016; Beckedahl und Lüke 2012, S.12) von „our world“ der „networks and media environments“ (Hansen 2015, S.24) oder von „der Technosphäre“ (Hörl 2016, S.43). Nichts soll sich diesem Anspruch der Epoche entziehen. Mit diesem konstruierten Wir beginne ich, wohl wissend, wie viele Unterschiede und Alternativen unsichtbar werden, damit eine bestimmte technische, kulturelle, ökonomische und mythische Entwicklung als Zeitbestimmung, Weltstandard und alles umfassende Kraft bestätigt werden kann.
Der Widerspruch, den ich damit ansprechen will, betrifft die gegenwärtige Anund Abwesenheit des Computers. Seine Omnipräsenz scheint gleichbedeutend mit seinem Verschwinden zu sein. Während einerseits eine Allgegenwart vorbe­ reitet, angelegt und diskutiert wird, was in Begriffen wie Ubiquitous Computing, Internet of Things, Ambient Intelligence oder Smart Environments zum ­Ausdruck kommt, wird zugleich auf eine Unmerklichkeit eben jener Technologie gesetzt, die diese Omnipräsenz ausmacht. Welche Politiken, welche Formen zielgerichteten Handelns werden damit möglich?
J. Distelmeyer(*) Potsdam, Deutschland E-Mail: distelm@uni-potsdam.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
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I. Ritzer und H. Steinwender (Hrsg.), Politiken des Populären, Neue
Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22923-8_3
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J. Distelmeyer
Die besondere Kombination von „Unsichtbarkeit und Zuhandenheit“ (Sprenger 2015, S.115) seit den ersten Schritten der Entwicklung sogenannter Calm Technologies ist bekannt, und ein besonders schönes Beispiel der U­ nmerklichkeit des allgegenwärtig Wirkenden lieferte Steve Jobs mit seiner Abschiedsvorstel­ lung. Als er am 6. Juni 2011 in seinem letzten öffentlichen Auftritt als AppleVorstandsvorsitzender den Service iCloud in San Francisco vorstellte, pries Jobs die Autonomie einer Technik, die wir nicht zu verstehen und nicht mal zu bedienen brauchen: „Because all these new devices have communications built into them. They can all talk to the cloud whenever they want. […] And now everythings in sync with me not even having to think about it. I dont even have to take the devices out of my pocket. I dont have to be near my Mac or PC. […] And so everything happens automatically and theres nothing new to learn. It just all works. It just works“ (zit.n. Dayaratna 2011).
Das Populäre entzieht sich, um populär zu werden. Von den ersten ­Plänen eines Ubiquitous Computing bis zu aktuellen Vorstellungen „intelligenter“ Umgebungen wirkt gerade in „den Texten der Entwickler“ die „Betonung von Allgegenwart und Unsichtbarkeit“ (Adamowsky 2015, S.245). Diese Rhetorik zeigt, dass der Zusammenhang von Omnipräsenz und Verschwinden hier in keiner Weise als verstörender Widerspruch wirkt. Er wird vielmehr als Garant einer bestimmten Effektivität gedacht und vorangetrieben.
Bemerkenswert ist an diesem Hoffen auf eine Technologie, die nicht auf unser Beobachten oder Be-Greifen angewiesen sein wird, sondern deren Funktionalität sich gerade durch die Abwesenheit etablierter Zugänge und Subjekt-Objekt-Verhältnisse auszeichnen soll, dass diese Vorstellungen nicht allein von einer Industrie produziert werden, die mit einem nachvollziehbaren Interesse an solchen Hoffnungen identifiziert werden kann. Auch im medienwissenschaftlichen Diskurs um Fragen wie Techno-Ökologie und -Intimität ist dieses Denken präsent: z.B. in der „Sinnverschiebung des Ökologischen“, bei der die Technosphäre als „Explosion umweltlicher Handlungsmacht“ nunmehr „das absolute Jenseits allen Zwecks“ offenbare (Hörl 2016, S.44); in der Abschaffung eines objektzentrierten Modells von Medien zugunsten eines „environmental one“ als Kennzeichen von „twenty-first-century-media“ (Hansen 2015, S.210); sowie in dem Versuch, die „Medialität einer paradoxalen Nähe“ als „Post-Interface“ zu bezeichnen (Andreas etal. 2016, S.12).
Es geht um viel in diesem Zusammenhang von Technik-Entwicklung und Medienwissenschafts-Diskurs, und mir scheint, dass hier sehr grundsätzlich nicht nur die (auch politischen) Fragen des Technischen verhandelt werden müssen, sondern ebenso die Standpunkte der Medienwissenschaft und deren Ziele.
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Eine Revision des Denkens ist ja auch eine Forderung der Debatte um MedienÖkologie.
Mich interessieren hier zwei Probleme, die aus der Durchsetzung jener Betonung von Allgegenwart und Unsichtbarkeit zu folgen drohen: Zum einen ist dies der Eindruck, man habe es bei dieser Form des Technischen mit einer Art Naturgewalt, einer magischen oder göttlichen Instanz zu tun, worauf ich später noch zurückkommen möchte. Zum anderen ist dies die drohende Eilfertigkeit eines Denkens, das bereits komplett mit/in einer Zukunft operiert, an deren aufwendiger Konstruktion es somit auch dadurch beteiligt ist, als das eine Beschäftigung mit gegenwärtigen Verhältnissen (oder gar der jüngsten Vergangenheit) nicht mehr ganz satisfaktionsfähig erscheint. Futur Perfekt forever: Wir werden immer schon ganz vorne gewesen sein.
Beide Probleme gehören zusammen, stärken sich gegenseitig z.B. durch eine Betonung ewiger Neuheit (New Media) und Immaterialität (Bits statt Atome) dessen, was ich als das mythische Digitale mit dem Neologismus Digitalizität ein wenig auf Abstand zu halten versuche (vgl. Distelmeyer 2012, 2017). Im Sinne dieser Mythologie, deren Mantra Wendy Chun (2011, S.94, 2016, S.73) mit Ursula Frohne als „to be is to be updated“ auf den Punkt gebracht hat, erscheint eine zeitgemäße Beschäftigung mit der (All-)Gegenwart des Computers als eine, die das Unmerkliche, Eingebettete, Vernetzte anpeilt und dabei eine radikale Verabschiedung von Konzepten wie Interaktion und Interface konzediert.
Das Cover der Zeitschrift Interactions vom November 2016 zeigt es an (Abb.1). Hier wird die, wie es dann im Leitartikel heißt, „era of human-computer interaction“ schlicht zugunsten einer „era of human-computer integration“ (Farooq und Grudin 2016, S.27) ausgestrichen.1
Der erklärte Abschied „no longer a delimited temporal object that we engage with focally through an interface such as a screen, media become an environment that we experience simply by being and acting in space and time“ (Hansen 2013, S.73) trifft zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Der Interaktionsbegriff ist in Bezug auf Computer seit jeher problematisch gewesen, weil er ein Miteinander, ein wechselseitiges Reagieren, auf klar vorgeschriebene Funktionen „kybernetisch gedachter Regelkreise“ (Neitzel und Nohr 2006, S.15) reduziert. Ungleich hilfreicher hingegen ist der Interface-Begriff.
1Integration erklärt der Leitartikel von Umer Farooq und Jonathan Grudin (2016, S. 27) als „partnership or symbiotic relationship in which humans and software act with autonomy, giving rise to patterns of behavior that must be considered holistically“. Hier lebt ein weiterer symptomatischer Widerspruch: der einer kybernetisch vernetzten Unabhängigkeit.
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Abb.1 Wende zur Vereinigung: das Cover der Zeitschrift Interactions Nov/Dez 2016
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Ich möchte ihn hier in seiner unterschätzten Komplexität stärken, um zu zei­ gen, wie wertvoll er für die Diskussion der historischen, aktuellen und auch zukünftigen Gegenwart des Computers sein kann. Er führt seit dem späten 19. Jahrhundert zu Fragen der Energieübertragung und insbesondere seit den frühen 1980er Jahren zu Erscheinungsformen, die bis heute zu den w­ irkmächtigsten Politiken des Populären gehören: die Leit- und Weltbilder von InterfaceInszenierungen, die Blockbuster der operativen Bilder auf unzähligen Screens.
2 Interfaces: von Leitfähigkeit zu Leitbildern
Der Interface-Begriff, der zugunsten einer neuen Ökologie, Integration und Intimität verabschiedet sein soll, meint ganz bestimmte Verbindungsprozesse: Human Computer Interfaces, die zumeist in Form von Bildschirminszenierungen vor uns treten, um uns eine programmierte Beziehung zu den computerbasierten Geräten zu erlauben. Diese Form vorgesehener Subjekt/Objekt/TechnikBeziehung, so heißt es, werde den neuen unmerklichen Vernetzungen und der Autonomie agierender Apparate nicht gerecht. Der durch „digitale Medien“ betriebene „Distanzabbau“ und deren „Unscheinbarkeit in Form sensorischer Umgebungen und intuitiver Usability“ hänge mit der „zunehmenden Auflösung des historischen Konzeptes des Interface als klar definierbarer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine“ zusammen, dem „Unschärfe“ attestiert wird (Andreas etal. 2016, S.11f.).
Die Unschärfe resultiert jedoch aus einem alltagssprachlichen Gebrauch, der den Begriff nicht ganz erfasst. Interfaces stellen in unterschiedlicher und miteinander wirkender Form Verbindungen her zwischen (a) Hardware und User, (b) Hardware und Hardware, (c) Hardware und Software, (d) Software und Software sowie (e) Software und User. Es ist diese fünfte Form von Interfaces, die nach der Zählung und Einschätzung von Florian Cramer und Matthew Fuller (2008, S.149) als Graphical User Interface so oft mit dem komplexeren InterfaceBegriff verwechselt wird: „symbolic handles, which, in conjunction with (a), make software accessible to users; that is, user interfaces, often mistaken in media studies for interface as a whole“.
Diese missverständliche Reduktion des Interface-Begriffs, dessen unterschiedliche Aspekte Wulf Halbach (1994, S.169) als Hardwareschnittstellen, Softwareschnittstellen, Hardware-Software-Schnittstellen und Mensch-MaschineSchnittstellen zusammengefasst hat, ist schon an sich problematisch. Das verschärft sich allerdings noch, wenn die Begründung dieses „historischen Konzeptes“ ernst genommen wird. Die Einführung und Förderung der Bezeichnung
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„interface“ durch die Physiker James und William Thomson seit Ende der 1860er Jahre folgte dem Wunsch, Formen von Verbindungen in Natur und Industrie zu beschreiben (Schaefer 2011, S.166; Hookway 2014, 5979). Der InterfaceBegriff ihres Forschungszusammenhangs, der für die Geschichte der Telegrafie bedeutend wurde, bezog sich auf Verbindungen, die Transmissionen von Energie ermöglichen (Schaefer 2011, S.169). „The interface“, so Branden Hookway (2014, S.59) mit Bezug auf diese historische Begriffsdimension, „would define and separate areas of unequal energy distribution within a fluid in motion, whether this difference is given in terms of velocity, viscosity, directionality of flow, kinetic form, pressure, density, temperature, or any combination of these. From difference the interface would produce fluidity.“
Hinsichtlich solcher Fragen von Leitfähigkeit und Übertragung verband William Thomson, der spätere Baron Kelvin, in einem Brief an George Gabriel Sto­ kes vom 9. Dezember 1884 den Begriff des Interface mit dem des Mediums: „By interfacial wave I mean a wave which runs along the interface, and of which the amplitude diminishes logarithmically according to distance from the interface in each or either medium“ (zit.n.Wilson 1990, S.575).
Daraus folgt, dass mit dem Interface-Begriff sehr viel erschlossen werden kann, was die historische, aktuelle und künftige Gegenwart von Computer-Technologie ausmacht. Mit ihm können zunächst die „inneren“ Prozessualitäten des Computers beschrieben werden, das Fließen von elektronischen Impulsen und Organisieren von Schaltzuständen, deren Gesamtheit Hartmut Winkler (2004, S.213) als die „innere Telegrafie“ des Computers bezeichnet hat. Davon ausgehend und diese Prozesse erweiternd führt die Frage nach Interfaces zu Vermittlungsprozessen zwischen Mensch und Maschine und zu all jenen Vernetzungen, die unmerklich oder nicht Computer und Dinge verbinden. Der Weg zur Medialität des Computers führt so oder so über Interfaces. Und der Vorteil des Interface-Begriffs ist dabei, dass er stets auch an die Materialität dieser Vernetzungen gemahnt, an das Wirken von Programmierung und Elektrizität einer Integration, die sehr spezifische technische Bedingungen hat (Distelmeyer 2017, S.4045).
Zu diesen Bedingungen gehören weiterhin auch jene Verbindungen, die operativ mit den diversen Formen des Computers eingehen. Mark B. Hansens (2015, S.162) Beschreibung von „twenty-first-century media“ benennt es: „Thus, well before we even begin to use our smart phones in active and passive ways, the physical devices we carry with us interface in complex ways with cell towers and satellite networks; and preparatory to our using our digital devices or our laptops to communicate or to acquire information, the latter engage in complex connections with wireless routers and network hosts.“ So wichtig der Verweis
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auf die „stille“ Arbeit der Geräte untereinander ist, die eben Interface-Prozesse sind, so wichtig ist auch der zweite Aspekt, der hier allerdings keiner weiteren Beschreibung wert ist: dass und wie wir our smart phones oder our laptops benutzen.
Gerade hier, an der Stelle unseres mannigfaltig vorbereiteten Umgehens mit dazu angelegten Gebrauchsoberflächen, erweisen sich die Politiken der Interfaces als wirkmächtige Politiken des Populären. Die gegenwärtige Intensivierung gleichsam eingebetteter Interfaces, die mich z.B. dank RFID-Chips und diverser Sensoren nicht mehr als „User“ anrufen und konstruieren, läuft parallel zu einer Extensivierung der Präsenz von User Interfaces, die genau das tun: mich adressieren, einplanen und unterrichten, was ich wie (nicht) tun kann und wie dadurch mein Verhältnis zur computerisierten Welt zu verstehen sein mag. Ganz zu schweigen davon, dass auch Programmieren insbesondere dank „höherer Programmiersprachen“ ein Interface-Agieren ist und infolgedessen der Unterschied „between users and programmers“ nicht zuletzt „an effect of software“ (Chun 2004, S.38).
User Interfaces, von der Gesten- über die Sprachsteuerung bis zu Gebrauchsoberflächen zum um es mit einer Windows-Reklame von 2013 zu sagen Tippen, Wischen, Drücken, Klicken, prägen noch immer Mensch-Computer-Verhältnisse. Sie von dem Radar einer Medienwissenschaft zu nehmen, der es um die Beschreibung, Analyse und Kritik einer Kybernetisierung der Welt geht, wäre mehr als voreilig. Nicht nur weil die Inszenierungen von Verhältnissen über User Interfaces andauert, sondern auch, weil die Analyse ihrer Eigentümlichkeit zentrale Merkmale des Computers zu erschließen hilft.
Noch einmal anders zu den User Interfaces und sogar zu ihren augenfälligsten Ausformungen als Graphical User Interface zurückzukehren, ist also alles andere als eine Retourkutsche. Sie eingedenk der weiter reichenden Komplexität des Interface-Begriffs zu fokussieren, hilft dabei, an eine Spezifik des Computers zu erinnern: an die Programmierbarkeit zur Zweckmaximierung jenes „general-purpose computer“ (Haley 1956, S.6). Eben darauf, auf „programmierbare Zweckbestimmung“ (Coy 1994, S.19), setzt jede Form rechnerbasierter Vernetzung, die wie z.B. das „Citizen Sensing“ in programmierten Umgebungen und programmierten Partizipationsformen „smarter“ Städte (Gabrys 2015, S.633637) Teil hat an der „environmentalen Kontrollkultur“ (Hörl 2016, S.36). Und genau das, programmierbare Zweckbestimmung, zeigte sich als Problem und „Verwundbarkeit“ einer „Gesellschaft, die sich zunehmend digitalisiert“, als der Hackerangriff mit dem Verschlüsselungstrojaner „Wanna Cry“ Mitte Mai 2017 etwa 200000 Computersysteme in 150 Ländern neuen Zwecken unterstellte.
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3 Operative Bilder
Das Besondere jener Bilder, zu denen wir uns klickend, tippend, wischend, drückend und verstehend in Beziehung setzen, ist ihre Operativität. Ich wende damit das Konzept der operativen Bilder, mit dem sich Harun Farocki seit Ende der 1990er Jahre immer wieder auseinandergesetzt hat, in Richtung von InterfaceInszenierungen.
Diese computerisiert-operativen Bilder (re-)präsentieren nicht nur als ­Zeichen, die ikonisch oder symbolisch etwas zur Darstellung bringen. Vielmehr sind sie auch an einer Realisierung des Angezeigten/Versprochenen beteiligt, indem sie immer schon indexikalisch sind. Sie legen notwendig eine Spur in die innere Prozessualität des Rechners. Wie der Index nach Peirce (1986, S.199) „mit seinem Objekt physisch verbunden“ ist, sind diese Interface-Zeichen physisch mit der internen Telegrafie des Computers verknüpft. Nur dadurch können sie gewährleisten, was Interaktion mit dem Computer genannt wird: befehlen und gehorchen.
Touchscreens zeigen es an: An den mit operativen Bildern belegten Stellen dieser Oberflächen kommt es durch Berührung zu veränderten elektrischen Spannungsverhältnissen bzw. Kapazitäten, wodurch die den operativen Bildern zugeschriebenen Befehle/Programmabläufe gestartet werden. Diese Indexikalität dank Interface-Schaltungen Strom fließt! bezeugt zugleich den besonderen Status des Visuellen im Taktilen. „[T]ouchscreen technology invites one to touch in order to see“ (Verhoeff 2012, S.84) handelsübliche Touchscreens können eben „nicht blind von einem geübten Nutzer verwendet werden“, weil „visuelle Unterstützung seiner Oberfläche zwingend erforderlich ist“ (Kaerlein 2013, S.15) (vgl. Abb.2).
Operativ sind diese Bilder, die uns z.B. als App-Zeichen in den omnipräsenten Rasteranordnungen der Homescreens von Smartphones und Tablets, als Launchpad in Mac-Betriebssystemen seit 2011, als die Kacheln von Windows 8 (2012) und Windows 10 (2015) oder als Activities Overview im Linux-­ Interface Gnome 3 seit 2011 erwarten, gerade durch eine Indexikalität, die auf unser Zutun angewiesen ist. Harun Farocki hatte operative Bilder als solche Bilder beschrieben, „die im technischen Vollzug aufgehen, die zu einer Operation gebraucht werden“ (Farocki 2004, S.61). Bilder, die z.B. „industrielle Produktionsabläufe kontrollieren, die architektonische Vermessungsdaten in Algorithmen umwandeln, die Autos, Roboter oder Drohnen steuern“ (Eschkötter
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Abb.2 „Touch in order to see“ Werbung für Windows 8 von 2013
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und Pantenburg 2014, S.207) und also „zu operativen Zwecken […] und zu keiner Erbauung oder Belehrung“ (Farocki 2004, S.61) entstanden sind.2
Im letzten Punkt jedoch unterscheiden sich die operativen Bilder der Interface-Inszenierungen ein wenig von jenen operativen Bildern, denen sich Farocki gewidmet hat. Auch wenn sie nicht im klassischen Sinne zur „Erbauung“ dienen und vielleicht auch darum bis heute kaum Analysen der mit Bildern befassten Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften oder den Feuilletons provozieren,3 weil sie eben als Werkzeuge unterschätzt werden, dienen sie dennoch in gewisser Weise einer „Belehrung“. Sie sind Teil der Einübung „impliziten Wissens“ (Ernst und Schröter 2017).
Die operativen Bilder der Interface-Inszenierungen zeigen an, was mit ihnen zu tun ist und dementsprechend was der Computer als universelle Maschine je für uns sein kann/soll. Diese Interfaces adressieren und konstruieren uns und unser Verhältnis zu Computern. Sie fragen nach und nennen uns bei unserem Namen, sie rufen uns an mit Dialogfenstern, Warntönen und personalisierten Bezeichnungen. Und sie bereiten Computer auf uns vor, indem wir in Form von eingeplanten Steuerungsoptionen und Handlungsräumen angelegt werden.4
Interface-Inszenierungen bilden darum nicht nur Schwellen zwischen Mensch und Computer aus: Sie sind zugleich Ausdruck dafür, wie hier Mensch, Computer und ihre wechselseitigen Beziehungen gedacht werden und zu verstehen sind. Branden Hookway (2014, S.12) unterstützt diese Perspektive, der zufolge das Interface eben nicht nur definiert ist, sondern auch aktiv definiert, was der Mensch und was die Maschine ist.
Zu den ideologischen Qualitäten dieser operativen Bilder zählen aber nicht nur derartige Selbst- und Weltbilder, die von Cynthia und Richard Selfe (1994, S.486) mit Blick auf die Desktop-Metapher schon 1994 als „constituted by and for white middle- and upper-class users“ diskutiert worden sind. Das Einzigartige
2Hierin unterscheiden sich operative Bilder von der „operativen Bildlichkeit“, die Sybille Krämer (2009, S.95) auf dem Weg zu einer Diagrammatologie mit dem Fokus auf „Schriften, Diagramme[n] bzw. Graphen sowie Karten“ bestimmt hat. Operative Bilder meinen bei Harun Farocki durchaus eben jene „Gebrauchsbilder“ im „Kontext ferngesteuerten Bildhandelns“, die Sybille Krämer (2009, S.95) „nicht zum Phänomen der operativen Bildlichkeit“ zählt.
3Ausnahmen bilden hier u.a. die Arbeiten von Christian Ulrik Andersen und Søren Pold (2012), Margarete Pratschke (2008), Lev Manovich (2013), Marianne van den Boomen (2014) sowie Florian Hadler und Joachim Haupt (2016).
4„Interfaces and operating systems“, hat Wendy Chun (2013, S.6768) diese sehr konkrete Subjektkonstitution beschrieben, „produce users one and all“.
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dieser immer noch unterschätzten operativen Bilder liegt ja darin, dass sie Aktivitäten (an-)leiten, an denen sie teilhaben. Als inszenierte Schwellen vermitteln sie zwischen uns und, im ersten Schritt, einem Prozessor, dessen arbeitsteilig funktionierenden „Schaltnetze“ von einem Programm auf „das zu lösende Problem“ eingestellt werden (Winkler 2016, S.259). Daraus folgt, dass ihre vollkommen arbiträre ästhetische Erscheinung ein besonderes Verhältnis zu dem entwickelt hat, was sie vermittelt. Dieses Verhältnis ist das der Depräsentation: ein Herzei­ gen und Verbergen zugleich.
Denn während diese Inszenierungen uns in die Funktionalität des Computers einweisen und die universelle Maschine als eine je spezifische in Szene setzen, die wir so zu bestimmten Zwecken bedienen können, indem operative Bilder mit der inneren Prozessualität/Telegrafie des Rechners verbunden sind, verschleiern diese Präsentationen freilich genau das: die Prozessualität/Telegrafie des Rechners. Das braucht uns, wenn es um eine bestimmte Zweck- und Effektivitätsbe­ stimmung geht, nicht zu interessieren.
So geben diese Zeichen Anzeichen, was wir mit ihnen tun können (z.B. einen Internetbrowser starten), während sie gleichzeitig die Vielzahl jener Prozesse unpräsentiert lassen, die sie damit in Gang setzen und auf die sie angewiesen sind (z.B. das Wirken von Protokollen, die Auswertung personenbezogener Daten, die Akzeptanz von Cookies usw.). Interface-Inszenierungen bieten „an imaginary relationship to our hardware“ (Chun 2006, S.20) und damit das, „was Datenverarbeitung in einer Doppelbewegung zugleich unsichtbar macht und auf andere Weise wieder erscheinen lässt“ (Pias 2002, S.51).
Darauf hat Marianne van den Boomen (2014, S.36) mit dem großartigen Begriff der Depräsentation reagiert. Depräsentieren changiert zwischen Anzeigen und Verbergen: „[T]he icons on our desktops do their work by representing an ontologized entity, while depresenting the processual and material complexity involved. This is the way icons manage computer complexity, this is the task we as users (in tacit conjunction with designers) have delegated to them.“
4 Depräsentieren
Mich interessiert dieser Begriff des Depräsentierens, weil er einer Komplexität auf der Spur ist, die zu den diversen Formen/Aspekten von Interfaces führt, deren Kombination die Gegenwart des Computers (in all seinen Ausprägungen) auszeichnet. Sie umfassen Verbindungen und Vermittlungsprozesse, die auch die beschriebenen Interface-Inszenierungen bedingen, aber nicht mit ihnen identisch
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Abb.3 „Domestizierung des PC“ Screenshot aus Microsoft BOB (1995)
sind. Mein Verständnis von Depräsentation betrifft alle Konstellationen, die unser Verhältnis zu Computern anleiten.
Die Unterschiede, die beispielsweise zwischen dem seit Mitte der 1980er Jahre durchgesetzten Desktop und jenem Haus existieren, das Microsoft im Software-Paket BOB 1995 als eine Art Kontrollraum dagegensetzte, sind bemerkenswert. In diesem Eigenheim als Schaltstelle führte ein dauerpräsenter Hütehund namens Rover durch mit Programmen ausgestattete Räume und forderte mit Dialogfenstern zum Agieren im Interface auf. Das Konzept scheiterte krachend. Und die vernichtenden Kritiken „den PC-Nutzer zu derangieren und auszubremsen“ (Hillenbrand 2004) durch eine „Domestizierung des PC“ (Johnson 1999, S.74) erzählten dabei auch von den Erwartungen an operative Bilder, eben als Werkzeuge im Prozess des An- und Überleitens aufzugehen (vgl. Distelmeyer 2017, S.141151) (vgl. Abb.3).
Interfaces leiten. Und gerade ihre populärsten Formen geben Aufschluss über dominante Fiktionen zur Gegenwart der (zugänglichen) Computer. Dazu gehören z.B. Interface-Inszenierungen, die als Ordnung der Auswahl ­traditionell
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­Überblicke auf Angebotsstrukturen liefern. Übersichten in Gestalt von u.a. Homescreens, Launchpads, Kacheln usw. bieten die Fülle einer Kontrolle, die über Auswahl reguliert (ist).5
Die lange Kulturgeschichte des Tableaus als ein „Zentrum des Wissens im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert“ (Foucault 1974, S.111), das „dem Denken gestattet, eine Ordnungsarbeit mit den Lebewesen vorzunehmen“ (1974, S.19), kommt hier auf eine neue Ebene. Als Ensemble operativer Bilder erlaubt es eine „Freiheit als Auswahl“ (Distelmeyer 2013), die an spezielle Bedingungen geknüpft ist.
Denn eben weil jede Interface-Inszenierung auf den verschiedenen InterfaceAnlagen einer programmierbaren Maschine basieren, wirkt deren „Ästhetik der Verfügung“ gleichzeitig ermächtigend wie restringierend. Jede Schnittstel­ leninszenierung realisiert sich als eine Kombination von Software und Hardware, die auf Programmierung beruht. Letztere hat überall dort, wo ich in und mit Interfaces aktiv sein will, sowohl Wege als auch Mittel an- und festgelegt, Interface-Prozesse vorbereitet. Der Spielraum, der damit eingerichtet ist, ist ein Regelrefugium und die „Menge möglicher Interaktionen […] durch mathematisch festgelegte Regeln vollständig definiert“ (Maresch 2004, S. 280). Darum ist die Verfügung über das, was Computer bieten, stets an ein Sich fügen gebunden.
Doch dieses Sich fügen und das ist wesentlich ist keineswegs als Effekt unabdingbarer Herrschaft oder als Einbahnstraße der Macht zu verstehen. Es gibt vielmehr Aus- und Seitenwege, durch die sich Verhältnisse ändern können. Gerade weil diese Art des Regelns auf Grundlage der Programmierbarkeit läuft, kann sie auf genau dieser Basis auch verändert werden als Aktualisierung von Herrschaftstechnik. Jede Praktik des Hackens bezeugt, dass diese Form von Vorschrift stets zugleich ein Einfallstor des Widerspruchs unter freilich unveränderten Bedingungen ist.
Dass wir uns im Akt des Verfügens stets in die damit vorgegebene Ordnung des Kalküls, der Programmierung, fügen müssen und gleichwohl Veränderungen
5Dass Interface-Inszenierungen immer wieder die paradigmatische Geste des Auswahlreichtums variieren, die „Freiheit als Auswahl aus Gegebenem mit Gegebenem“ (Distelmeyer 2013, S. 84) ausstellen, wirkt fast wie eine Dramatisierung jener kybernetischen Gouvernementalität, die Dieter Mersch (2013, S. 9495; Herv.i.O.) so beschrieben hat: „Es kommt dann auch nicht länger auf die Auslotung dessen an, was das gute Leben, Gerechtigkeit oder Alterität bedeuten könnte, sondern allein darauf, sich zu entscheiden, sich ständig und immer wieder entscheiden zu müssen oder sich nur noch entscheiden zu können und nichts anderes zu können als sich unablässig weiter entscheiden zu müssen.“
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auf gleicher Basis möglich sind, ist eine Erfahrung, die im Umgang mit Computern jederzeit zu machen ist. Auch dieses Verhältnis, das immer schon ein Ringen um Macht ist, wird von den Interface-Inszenierungen und den damit eingeräumten Handlungsoptionen depräsentiert. So wie „Computerdinge“ stets doppelt existieren „doppelt in dem Sinne, dass sie eine uns sinnlich zugängliche und eine uns sinnlich nicht zugängliche Seite aufweisen“ (Nake 2001, S. 2) sind auch unsere Widerspruchsoptionen abwesend und präsent zugleich. Sie sind es, indem im ausgestellt Universellen des Computers genau diese Flexibilität mitschwingt.
Im Nachweis ihrer Flexibilität als universelle Maschine summen Computer die jederzeit mögliche Rejustierung durch neue Vorschriften permanent mit. Interface-Inszenierungen sind damit auch Depräsentationen einer Ästhetik der Verfügung, die den Computer als besondere Machtmaschine ausmacht.
In der Gleichzeitigkeit von Verfügen und Sich fügen ist also zu erfahren, was eine Grundbedingung der depräsentierten Effektivität von Computern ist: ihre Programmierbarkeit. Sich mit der Präsenz von User Interfaces zu beschäftigen, ist darum nicht nur wegen ihrer ideologischen Bedeutung, wegen ihrer je unterschiedlichen und sich historisch wandelnden Inszenierungen von MenschMaschine-Welt-Verhältnissen wichtig. Die Analyse von User Interfaces ist auch ein Weg zur Frage, mit was für einer Form von Technik Menschen da eigentlich Kontakt aufnehmen und vernetzten Dingen die besagte Autonomie einräumen.
Oberflächeninszenierungen, diese spezielle, merkwürdig ziel- und irreführende Form von Interfaces, die von allen anderen Aspekten (den Hardwareschnittstellen, Softwareschnittstellen, Hardware-Software-Schnittstellen und Mensch-MaschineSchnittstellen) so sehr abhängig ist, führen besonders deutlich die Besonderheit vor Augen, Ohren und Finger, die Computertechnik von anderen Formen des Technischen unterscheidet: die Programmierbarkeit einer universellen Rechenmaschine, die einen Unterschied macht zwischen „interface and database“ (Manovich 2001, S.48), zwischen „Daten und Display“ (Pias, 2002, S.51) sowie zwischen Daten und Befehlen, die auf der Grundlage programmierter Daten-Produktion und -Interpretation an vernetzte Maschinen gegeben werden.
5 Politiken der Interfaces: Strukturen, Programme, Zwecke
Wir, um noch ein letztes Mal zum verallgemeinernden Ausgangspunkt zurückzukommen, werden unter dem Einfluss vom Internet der Dinge, „smarten“ Umwelten usw. die Frage nach der Programmierung nicht los. Was uns im Umgehen mit angelegten User Interfaces offensiv angeht die programmierten Bedingungen
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und die Bedingungen der Programmierung , geht uns auch im Modus der vernetzten Einbettung etwas an: „The more regulated by software everyday things become, the less accessible they are to sensory perception in our everyday dealings with them. However, the fact that they are vanishing from sight does not mean that they are not there. On the contrary: the increasingly programmed world surrounding us means that rules, conventions and relationships, which are basically ­changeable and negotiable, are being translated into and fixed in software“ (Arns 2011, S. 257).
Indem die Projekte von Ubiquitous Computing und „intelligenter“ Umgebungen wie einer „Smart City“ immer wieder „the programming of autonomous agents of various kinds“ (Ekman 2015, S. 199) voraussetzen, stellen sich mehrere Fragen zugleich. Was ist das für eine Autonomie, mit der sich „the question of the in- or ahuman, the question of our inexistence“ (Ekman 2013, S. 21) stellt? Was sind das für Programmierungen, und von wem/was werden sie zu welchem Zweck vorgenommen? Wenn es bei der Programmierung dieser „selbstständig“ handelnden Softwareagenten „für den Programmierer und den Betreiber unmöglich [wird], sämtliche Situationen im Vorhinein zu erfassen und mit spezifischen Handlungsanweisungen zu verknüpfen“ (Hofmann und Hornung 2015, S. 355), welche Verantwortung kommt dann den abstrakten Regeln zu, die diese Programmierung vorschreibt?
Weil die computerbasierte Vernetzung von Dingen also die Expansion von Interfaces neue Formen von Handlungsmacht erzeugt, indem „Dinge zu Stellvertretern werden und somit über Agency verfügen“ (Sprenger und Engemann 2015b, S. 54), stellt sich die Frage nach den Bedingungen umso dringlicher. Florian Sprenger und Christoph Engemann (2015b) weisen zu Recht darauf hin, dass es hier um „kontrollierte und kontrollierende Handlungsmacht in industriellen Infrastrukturen“ geht. Das „Environment des Internets der Dinge“ ist eben kein ubiquitärer Raum, „sondern an konkrete Infrastrukturen und Praktiken gebunden“, die auch „von den Verteilungsnetzen für Energie, Materie und ­Information her“ (2015b, S. 48) gesehen werden müssen.
Gerade für diese Perspektive bietet sich der Interface-Begriff an, weil er nach den Verbindungen fragt, ohne die materielle, elektrifizierte Dimension dieser Verteilungsnetze auszublenden. Er stellt Bezüge her zwischen den merklichen, z.B. „interaktiven“ Verbindungen zu Computern und jenen Verhältnissen, in denen Computer mit Computern, Dingen und Menschen auf andere, „intimere“ Weise verbunden sind.
Die Frage nach den Bedingungen zielt somit sowohl auf die Infrastruktur als auch auf die Programmierung. Beides ist mit der Frage nach einem Zweck verbunden, die heute desto unaufdringlicher wird, je mehr Computerverhältnisse
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nicht mehr jene User Interfaces inszenieren (müssen), die das Zweckmäßige als wesentlichen Teil dieser Inszenierungen verstehen. Nicht nur für Mark Weiser (1994, S. 17) sollten User Interfaces die Aufmerksamkeit auf das zu erreichende Ziel und eben nicht auf „the machine itself“ lenken. Hinzu kommt, dass auch die neu zugestandene Handlungsmacht der computerisierten Dinge die Frage nach dem Zweck zu verabschieden scheint. Vor der aktuellen Technosphäre, so Erich Hörl (2016, S. 34),
diente die Technik stets gegebenen und zu gebenden Zwecken, gehorchte sie unablässig einer instrumentellen Logik von Mittel-Zweck-Relationen und schien sie diese zu implementieren, eine wenn auch zunehmend verzweigte und verschlungene Strukturierung von Zwecken darzustellen und damit jedenfalls Teil und Träger einer ganz bestimmten, nämlich eben teleologischen Rationalität zu sein. Sondern umgekehrt wird nun gerade das Fehlen jeglicher gegebener Zwecke unabweisbar, zeigt sich die Technik als der absolute Agent dieses Fehlens, beginnt Natur genau darin offensichtlich der Technik zu unterstehen, zeichnet sich schließlich sogar eine wesentliche Technizität von Natur ab, die fortan je schon aller Zwecke bar gewesen sein wird.
Tatsächlich aber muss eine Aufmerksamkeit für die Infrastrukturen dieser Entwicklung unweigerlich Fragen nach den Zwecken und Wunschkonstellationen stellen. Das gilt für umfassende oder kleinteilige Aktivitäten, wie z.B. Serverparks zu betreiben, Kabelnetze zu verlegen, unter skandalösen Bedingungen Hardware-Rohstoffe abbauen und aus Computerschrott wieder herauskochen zu lassen, Geräte zu konstruieren, Netzwerke anzulegen, Hard- und Software mit Menschen und Dingen zu verbinden und Programme aufzusetzen. All dies gehört zu den Politiken der Interfaces, die das Wirken der gegenwärtigen Computertechnologie in seinen diversen Formen, Einsätzen und Verbindungen ermöglichen. Ein Abschied von der Frage nach dem Zweck könnte so letztlich den Eindruck unterstützen, mit diesem spezifisch Technischen eine Kraft vor,an und um sich zu haben, die wie eine magische oder göttliche Größe Unergründlichkeit beanspruchen darf. It just all works.
Letztlich scheint mir gerade die Erinnerung an die Bedeutung der Programmierbarkeit, die z.B. Interface-Inszenierungen als Depräsentationen einer Ästhetik der Verfügung anstoßen, zur Unausweichlichkeit der Zweck-Frage zu führen. Computer, auch wenn sie im Modus und Diskurs der Einbettung/ des Verschwindens derzeit selbst eine Form von Depräsentation erfahren, sind an diese Frage gebunden. Das Universelle dieser programmierbaren Maschinen besteht darin, umfassenden (erträumt: allen) Zwecken zu dienen.
General purpose bleibt das Versprechen; und zwar ausgehend von der Eigenschaft „ein umfassender Zweck“ zu rechnen, „weil diese semiotische Maschine
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im Prinzip alles berechnen kann, was im mathematischen Sinne berechenbar ist“ (Coy 1994, S. 19). Dass sie für „jede Anwendung passend programmiert“ werden können, so hat es 1950 Alan Turing (2007, S. 45) formuliert, macht die „spezielle Eigenschaft digitaler Computer“ aus. Die Variabilität der Zwecke war und ist untrennbar mit den Funktionsweisen und Wunschkonstellationen von Computertechnologie verbunden. Die Frage, welchen Zwecken die gegenwärtige Computerisierung der Welt dient, ist auch aus diesem Grund unvermeidlich.
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Zirkulierende Bildformeln zwischen Ost und West: Politiken des Populären und Shakespeare: The Animated Tales
Hannah Schoch
Thus, in writing of shaping fantasies, I mean to suggest the dialectic character of cultural production: the fantasies by which the text of A Midsummer Nights Dream has been shaped are also those to which it gives shape. Louis Montrose (1983, S.61)
1 „Shaping Fantasies“ (A Midsummer Nights Dream)
Als sich das sowjetische Regime schon im Zusammenbruch befindet, kommt es 1989 zu einer kuriosen Koproduktion zwischen der walisischen Filmproduktionsfirma S4C und dem führenden sowjetischen Animationsstudio Soyuzmultfilm, mit dem Ziel, William Shakespeares Stücke als Animationsfilme neu zu adaptieren. Shakespeare: The Animated Tales besteht aus insgesamt zwölf halbstündigen Animationsfilmen, die sich insbesondere durch ihre innovative Herangehensweise auszeichnen, sowohl in ihrer radikal gekürzten Adaptionen1 der Stücke wie auch
1Während die Produzenten darauf beharrten, eine Adaption zu bieten, die sehr nahe an Shakespeares Sprache bleibe, suggeriert das Produkt selbst einen komplexeren Adaptionsbegriff schon durch das gewählte Medium des Animationsfilms. Trotzdem scheinen die Produzenten kurioserweise in eine moralistische Rhetorik der Treue gegenüber dem ­Original zu verfallen. Laurie E. Osborne stellt hingegen fest, dass „For Shakespeare: The
H. Schoch(*) Zürich, Schweiz E-Mail: hannah.schoch@es.uzh.ch
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
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I. Ritzer und H. Steinwender (Hrsg.), Politiken des Populären, Neue
Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22923-8_4
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in ihren unterschiedlichen animationstechnischen Verfahren.2 Das erklärte Ziel: Eine neue Generation von Kindern soll für Shakespeare begeistert werden aber nicht nur.3 So kommentierte Prince Charles: „I welcome this pioneering project which will bring Shakespeares great wisdom, insight and all-encompassing view of mankind to many millions from all parts of the globe who have never been in his company before“ (zit. n. Osborne 1997, S.105).
Zum einen besticht dieses Projekt also durch einen überraschend unverfrorenen kulturhegemonialen Anspruch im Moment des Zusammenbruchs der bipolaren vermeintlichen Weltordnung und der Zeit der Neuordnung Anfang der 1990er Jahre, welcher eine Utopie der Zusammenarbeit und gemeinsamen globalen Kultur (unter englischer Vorherrschaft) aufruft.4 Shakespeare wird als kulturelles Kapital gesetzt, das global zirkuliert und als kulturelle Währung überhaupt erst einen internationalen Austausch ermöglicht, der sofort als humanistisch-universell markiert wird.
Zum anderen und dies verkompliziert diesen kulturhegemonialen Anspruch bestand der S4C-Produzent Christopher Grace darauf, dass sie nur mit Soyuzmultfilm zusammenarbeiten konnten, denn: „In my view, frankly, there was only one country that could do it in the style that we wanted, that came at it from a different angle, a country to whom Shakespeare is as important as it is to our own“ (Edwards in BBC 1992, Herv. H.SCH.). Zwei Anliegen sind hier bemerkenswert: zum einen nämlich das Anerkennen einer Shakespeare-Tradition, die nicht die britische/westeuropäische ist, zum anderen und daran geknüpft die Feststellung, dass die Soyuzmultkünstler durch diesen anderen Zugang etwas möglich machen etwas sichtbar
Animated Tales, the paradoxical union between stillness and movement underwrites the ongoing debates about how Shakespeares ostensibly inviolate texts are being rewritten and re­-­established as classics“ (1997, S. 118).
2Die erste Staffel und somit die ersten sechs Kurzfilme wurden 1992 von der BBC bzw. HBO in den USA gesendet, im Zuge ihres Erfolges folgte die zweite Staffel zwei Jahre später.
3Ein zentraler Aspekt dieser Animationsserie war deren Nutzung im Schulwesen, wo sie programmatisch als Einführung in Shakespeares Werk genutzt wurde. So wurden zusammen mit den Filmen auch Skripte und study guides für Lehrpersonal verteilt. Hier zeigt sich auch einer der größten Erfolge der Animated Tales: Sie sind „one of the most widely used didactic tools in British primary and secondary schools“ (Pennacchia 2013, S. 60).
4Edwards spricht von „a remarkable example of collaboration between East and West“ (zit. n. Pennacchia 2013, S. 59). In der Fernsehprogrammzeitschrift Radio Times wurde sogar Shakespeares kulturelles Überleben an diesen Animationen festgemacht: „As a result of pre-sales alone, tens of millions of people are guaranteed to see it and Shakespeare is guaranteed for his best year since the First Folio was published in 1623“ (Anon. 1992, zit. n. https:// en.wikipedia.org/wiki/Shakespeare:_The_Animated_Tales [Zugegriffen: 21.01.2018]).
Zirkulierende Bildformeln zwischen Ost und West …
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machen das sonst nicht möglich gewesen wäre. Die kulturelle Verfremdung wird sozusagen als notwendig gesetzt, um sich Shakespeare wieder neu anzueignen. Grace fügt dem denn auch hinzu, dass er unbedingt die westlich-globale Disney-Ästhetik verhindern wollte: „Disney has conditioned a mass audience to expect sentimentality; big, gooey-eyed creatures with long lashes, and winsome, simpering female characters. This style went with enormous flair and verve and comic panache; but a lot of it was kitsch“ (zit. n. Osborne 1997, S.105). Insofern wurde auch stilistisch eine Verfremdung angestrebt, um sich innerhalb einer global konditionierten Massenkultur durch Differenz abzuheben, während man gleichzeitig genau diese Massenkultur ansprechen möchte.5
An Shklovsky (1991) anlehnend könnte man sagen, dass eine Verfremdungsstrategie/Entfremdungsstrategie (ostranenie) eingesetzt wird, um das Vertraute über das Fremde wieder sichtbar zu machen und es sich so neuerlich aneignen zu können. Paradoxerweise ist der Versuch einer kulturimperialistischen Besitznahme also erst durch diesen globalen Austausch möglich, wobei das Allgemeine, Globale, Universale dabei durch das Partikulare der spezifischen Kulturen produktiv gestört wird. Was bedeutet es, die „kulturelle Währung“ Shakespeare in dieser Form und in dieser komplexen geopolitischen Aufstellung zu zitieren und erneut zum Zirkulieren zu bringen? Und welcher Shakespeare wird denn jetzt genau als global, als hegemonial ausgerufen? Ein britischer? Ein sowjetischer? Wird das Werk dadurch subversiv oder affirmativ?
Die gleiche „Verfremdungsstrategie“ kann man auch auf die Wahl des Mediums übertragen. So mag Shakespeare für eine Elitekultur stehen, Animationen hingegen für das Populäre. Während in der westlichen Feuilletonkultur Animationsfilme als apolitische, reaktionäre Produktionen gelten mögen, sind Sowjetanimationen für ihr politisches, subversives Potenzial bekannt, auch wenn sie simultan als eine der zentralen identitätsstiftenden Kunstformen funktionieren (Katz 2016, S.1). Gleichzeitig erlaubt die inhärent multimediale Ausrichtung der Animationen (sie bewegen sich zwischen Film, Malerei und [Puppen-]Theater)
5Einzuwenden ist hier, dass dies eine starke Simplifizierung der Strategien Disneys ist, dessen Animationsfilme selbst komplexe Produkte der Massenkultur sind und häufig auch implizit auf komplexe Weise reale politische Problemstellungen ansprechen und kulturell verhandeln (Bronfen 2009, S.141ff.). Zudem macht dies ein weiteres (europäisches) Paradox sichtbar, das sich durch den ganzen Diskurs zu den Adaptionen zieht, nämlich den zwischen einem künstlerischen Anspruch, welcher vermeintlich nicht massentauglich ist, und einem kommerziellen Ansatz, bei dem ein möglichst breites Publikum im Vordergrund steht.
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wichtige Traditionen von kulturellen Shakespeare-Adaptionen und -Appropriationen der Malerei, des Kinos, der Oper und des Balletts verfremdet zu evozieren. Parallel wird auf Shakespeares eigene Strategien verwiesen und diese reflektiert.6
Während zwar Erziehung und Bildung erklärte Ziele dieser populärkulturellen Produktionsweise sind, unterzieht sie gleichzeitig die klassische kulturelle Bildung, für die Shakespeare steht, einer radikalen Transformation und Reformation, indem sie diese in das Medium des 21. Jahrhunderts überführt, nämlich Animation (Wells 2002, S.1). Paradoxerweise wird dadurch aber der mit Shakespeare verbundene Anspruch infrage gestellt, „high-culture“ zu sein. Shakespeare soll nicht nur einer gebildeten Elite als exklusive Kunst zur Verfügung stehen, sondern popularisiert werden.7 In der gängigen Rezeption geht die Form des Animationsfilms und des Kurzfilms einher mit der Idee, dass diese die Attraktivität Shakespeares für „bildungsferne Schichten“ (fürs „Volk“ also) und für Schichten, die erst noch in die „Kultur“ eingeführt werden müssen (sprich für Kinder) steigern solle und implizit nur für diese , sodass dadurch eine Marginalisierung im akademischen Diskurs stattfindet.
Denn noch etwas kennzeichnet die Entstehungsjahre dieser Animationsserie: Die frühen 1990er Jahre gelten als Ausgangspunkt einer neuen Welle von Shakespeare-Verfilmungen, die im akademischen Diskurs als Moment der
6Dies wird von Terence Hawkes als Kritik vorgebracht: „They will be of no use. They are packages of stories based on the Shakespearean plots, which themselves were not original. So they arent going to provide much insight into Shakespeare“ (zit. n. Osborne 2003, S. 144). Wobei man diese Aussage auch wenden und feststellen könnte, dass diese Animationen im Gegenteil ein metareflexiver Kommentar sowohl auf Shakespeares eigenes Vorgehen des „repackagings“ wie auch auf die Funktionsweise von Adaptionen im Allgemeinen darstellen (Osborne 2003, S. 144). Oder wie Hutcheon dies radikaler formuliert: „all art is derived from other art“ (2004, S. 109). Dafür spricht auch die gewählte Form der Animation als Urform des endlosen „Neuverpackens“, wie dies für Eisenstein zentral ist: „This plasmaticness, or formal ecstasy presents rejection of once-and-forever alloted form, freedom from ossification, the ability to dynamically assume any form“ (zit. n. Bahun 2014, S. 186). Zudem erlaubt Animation auch auf das visuelle Potenzial von Shakespeares Sprache selbst und die inhärente Multimedialität seiner Stücke aufmerksam zu machen (Osborne 2003).
7Ein Anliegen der Produzenten war „to educate their audience into an appreciation and love of Shakespeare, out of a conviction of Shakespeare as a cultural artifact available to all, not restricted to a narrowly defined form of performance“ (zit. n. Holland 2007, S.44). Zudem sollte man anmerken, dass Shakespeare seine Stücke sowohl für die aristokratische Oberschicht wie auch für die Massen konzipiert hat und sie daher zu einem gewissen Grad immer auch schon den Anspruch hatten, Teil der populären Kultur (also der Kultur des populus, des Volkes) zu sein.
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­„großen“ Filmadaptionen gefeiert wird.8 Die Animationsfilme dieser Jahre jedoch werden in den wenigsten der zahlreichen Bände zu Shakespeare, Film und ­Adaption überhaupt erwähnt.9 Es scheint, als würde ihnen aufgrund ihres offen kommunizierten Bildungsanspruchs (zusätzlich zu manifesten künstlerischen Ambitionen) und ihrer Zielgruppe sowie damit verbunden ihres gewählten Mediums (Animation) ein akademisch-kultureller Mehrwert abgesprochen.10 Die diskursive Positionierung dieser Animationsserie zeichnet sich also insbesondere durch überraschende Doppelstrategien aus, die in einem scheinbaren Widerspruch zueinander stehen. So vereint sie die Dichotomie des (kulturell) Universalen mit dem Partikularen oder auch die gegenläufigen Ansprüche von U- und E-Kunst.
Mit Rancière (2006) könnte man hier auch von drei Regimen sprechen, die sich überkreuzen, sich dadurch aber auch überhaupt erst gegenseitig sichtbar machen: zum einen das Regime der Politik, das eine Verknüpfung mit dem geopolitischen Moment der Entstehung dieser Werke aufruft und sich einer kulturhegemonialen Appropriation aussetzt. Diese wird aber schon aufgrund der Notwendigkeit einer kulturellen Verfremdung unterlaufen. Zum anderen das ästhetische Regime: wie das Werk selbst als Kunstwerk funktioniert, seine Form des Animationsfilms stets selbstreferenziell ins Spiel bringt und dabei immer auf frühere Shakespeare-Adaptionen und -Appropriationen referenziert; das kulturelle „Shakespeare-Archiv“, das sich nicht eindeutig einer Kultur zuweisen lässt,
8Hindles Kapitelüberschrift lautet z.B.: „The Nineties: Branagh Revives Film Shakespeare“ (2007, S.49).
9In Cartmell (2000), Henderson (2006), Hindle (2007) und Jackson (2007) werden die Adaption nicht einmal erwähnt, ungeachtet ihres großen Medienechos bei der Veröffentlichung. Zur Marginalisierung des Animationsfilms aufgrund seines Status als „Kinderunterhaltung“, als „apolitisch“ und „passiv konsumiert“ vgl. Wells (2002), Friedrich (2007) und Reinerth (2016).Coursen (2002) widmet der zweiten Staffel zwar ein Kapitel in seiner Übersicht zu „recent Shakespeare productions on screen“, kann der Form der Animation aber keinen Mehrwert abgewinnen, außer dass sie sich an Kinder richtet.
10Hinzu kommt, dass Shakespeare: The Animated Tales als Fernsehfilme konzipiert und verbreitet wurden. Wie Stephen Purcell anmerkt: „Indeed, televised Shakespeare productions have rarely been as high-profile or as widely-discussed as their cinematic counterparts, and certainly academic discussions of screen Shakespeare has been emphatically weighted towards the latter“ (2011, S.522). Dies ist umso erstaunlicher, als das Verhältnis von Fernsehproduktionen und Kinoproduktionen etwa 8:5 beträgt (2011, S.522). Unter Umständen führen aber genau diese intersektionalen Verstrickungen zu ihrer wissenschaftlichen Marginalisierung. Seit dem Erscheinen der Filme Anfang der 1990er Jahre wurden gerade einmal vier wissenschaftliche Aufsätze darüber verfasst. Alle vier halten jedoch fest, wie komplex und interessant diese Werke sind sowohl als Shakespeare-Adaptionen als auch in ihrer geopolitischen Verstrickung und nicht zuletzt aufgrund ihrer Form als Animationsfilme.
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also stets mitzitiert und reflektiert. Und nicht zuletzt das Regime der Wissenschaft, in welchem es aufgrund seiner Form des Animationsfilms als U-Kunst kategorisiert und der damit verbundenen Zielgruppe der Kinder marginalisiert wird.11 Durch die Interaktionen zwischen den verschiedenen Regimes werden zugleich die Grenzen der einzelnen Regimes offengelegt, da das Werk gleichzeitig sowohl hegemonial wie auch subversiv, zentral wie auch marginal positioniert wird. Man könnte sagen, dass die unterschiedlichen Regimes also den „sozialen habitus“ und dessen kontingente Bedingung beim jeweils anderen offenlegen, insbesondere da alle Regimes mit der doppelten Strategie von Verfremdung und Aneignung verfahren.
Dadurch, dass Shakespeare: The Animated Tales diese paradoxe Doppelstrategie auf den Ebenen aller drei Regimes anspricht und dies auf der formalen Ebene mitreflektiert, wird auch klar, dass es diesen Regimes nicht einfach passiv ausgeliefert ist, sondern diese aktiv mitgestaltet und mitverhandelt. Ähnlich schlägt Tanja Prokić in ihrem Aufsatz „Intermediale Konstellationen/ Transmediale Annexionen“ vor, eine „Genealogie des Films“ in den Vordergrund zu rücken, die den Film als „historischen Ort des Wissens über sein Entstehen und sein Bestehen in einer medienkulturellen Konstellation“ befragt, um nicht in den „starren Grenzen eines Ästhetizismus verhaftet“ zu bleiben (2015, S.302). Wichtig scheint mir dabei insbesondere ihre Betonung, dass „Filme ein Wissen über diese Prozesse haben“ und diese auf genau dieses Wissen hin befragt werden müssen (2015, S.302).12
11Die Vernachlässigung dieser Adaptionen aufgrund der Zielgruppenzuschreibung ist doppelt paradox, da gerade mit dem Erziehungsanspruch dieser Filme und ihrem großflächigen Gebrauch an Schulen ihre zentrale kulturelle Rolle nach einer genaueren akademischen Untersuchung verlangen würde (Pennacchia 2013). Hier wird deutlich, dass z.T. noch immer ein gewisser akademischer bias hin zu „subversiver“ E-Kunst besteht, die vermeintlich „apolitische“ oder „reaktionäre“ Werke als nicht untersuchungswürdig empfindet. Nicht überraschend besteht die Strategie der vier bisher zu diesen Animationen publizierten Aufsätzen jeweils in einer Aufwertung der Adaptionen durch das Herausarbeiten ihres subversiven Potentials, so z.B. Pennacchia (2013, S.59).
12Dies scheint mir ein ähnliches Anliegen, wie es auch vom New Historicism angelsächsischer Prägung seit den 1980er Jahren vertreten wird, Literatur nämlich als historisches, gesellschaftliches und ästhetisches Produkt zu verstehen, das mit diesen Regimes immer auch interagiert. Es geht also darum, die Wechselwirkungen in einem dynamischen System zu beschreiben, wie dies von Louis Montrose im eingangs verwendeten Zitat auf den Punkt gebracht wird. Auch Hall (2009) macht sich für ein solches Verständnis der Politiken des „Populären“ stark.
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Diese Adaptionen funktionieren also explizit über die doppelten Bewegungen von Hegemonialisierung und Marginalisierung, von Shakespeares Zeitlosigkeit, die immer auf die Zeitlichkeit der spezifischen Adaption trifft, und der ästhetischen Strategie des Fremdmachens, um eine erneute (hegemoniale) Aneignung überhaupt erst zu ermöglichen. Dadurch, so scheint mir, decken diese Adaptionen eine der zentralen Funktionsmechanismen von Populärkultur gemäß Stuart Hall (2009) auf: Populärkultur nämlich als doppelte Bewegung von Integration und Opposition, die sich nur über die Wechselwirkungen in einem System, das als dynamisch gefasst wird, beschreiben lässt.
Dieser Essay stellt den Versuch einer Auslegeordnung dar,13 um einige der komplexen Verschachtelungen der unterschiedlichen und widersprüchlichen intra- und intertextuellen Politiken, die von dem untersuchten Werk aufgerufen werden, sichtbar zu machen und die Komplexität des soziohistorischen, geopolitischen und medienkulturellen Spannungsfelds aufzuzeigen, in dem sich diese Produktion bewegt. Der ursprünglich militärische Begriff der Auslegeordnung ist insbesondere deshalb nützlich, weil in ihm die Idee einer räumlichen Anordnung mitschwingt, bei der die einzelnen Aspekte neu arrangiert und zusammengestellt werden können, je nachdem, welche Verbindungslinien hervorgehoben werden sollen. Diese Vorgehensweise kann zusätzlich als grundsätzlicher Versuch aufgefasst werden, der Frage nachzugehen, in welcher Form es überhaupt möglich ist, dem Anliegen dieses Sammelbandes gerecht zu werden und diese Bewegtbildproduktionen „in ihrer ganzen diskursiven Komplexität als Produkte der Lebenswirklichkeiten und Kulturen ihrer produzierenden und rezipierenden Gesellschaften zu betrachten“ (Ritzer und Steinwender, siehe Einleitung).
Dabei ist die These nicht, dass diese Verstrickungen sozusagen von außen an das Werk herangetragen werden müssen, sondern dass diese von ihm selber schon mitreflektiert werden; dass es als Kunstwerk stets sich selber darüber befragt, was die Konsequenzen dieser medienkulturellen Konstellation sind, und dieses Wissen um seine ganzen diskursiven Komplexitäten im Kontext der sie produzierenden und rezipierenden Gesellschaften mitträgt. Gleichzeitig ist es als Werk der
13Im Schweizerdeutschen wird von Auslegeordnung gesprochen, wenn man alle Fakten vor sich ausbreitend auf den Tisch legt, um diese von allen Seiten zu beleuchten und sich eine Übersicht zu verschaffen.
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Kunst, im Gegensatz zur Wissenschaft oder Philosophie,14 bereit, darauf unterschiedliche Antworten zu geben, eben weil es sich in einem stets veränderlichen System bewegt, mit dem es selbst in Wechselwirkung steht.
Genauer sollen im Folgenden zwei Auslegeordnungen geboten werden: Im ersten Teil des Essays wird der Fokus auf die medienkulturelle Konstellation der BBC-Serie The Animated Shakespeare gelegt,15 um deren Verortung in den von Rancière genannten Regimes mit ihren paradoxen Doppelstrategien herauszuarbeiten und das komplexe Netz von textuellen, medialen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Politiken auszulegen, in deren Interaktionsfeld dieses Werk der Populärkultur verstrickt ist. In einem zweiten Schritt soll dies dann an einem Beispiel genauer ausgeleuchtet werden, um dieses möglichst konkret im Sinne Prokićs als „historischen Ort des Wissens über sein Entstehen und sein Bestehen in einer medienkulturellen Konstellation“ auf genau diese Prozesse hin zu befragen (2016, S.302). Während dies mit allen zwölf Adaptionen gemacht werden könnte, beschränke ich mich hier bewusst auf nur einen der Filme, The Animated Hamlet, um die komplexen Bild- und Textpolitiken dieses einzelnen Werks mit seinen poetischen Reflektionen auf die kulturelle Bedeutung und Funktion von Shakespeare-Adaptionen und -Appropriationen zumindest in Ansätzen aufzufächern.16 Es soll hier aber weder suggeriert werden, dass diese eine Analyse synekdochisch für die anderen einsteht17 noch dass dieses eine
14Rancière (2014) scheint mir ein ähnliches Anliegen zu vertreten, wenn er auf die Politiken der Literatur aufmerksam macht und dies in einen Gegensatz zur Politik stellt, die von einem Autor vertreten wird.
15Die Serie wird sowohl unter dem Titel Shakespeare: The Animated Tales und The Animated Shakespeare geführt. Im Folgenden werden die beiden Titel jeweils synonym verwendet.
16Osborne (1997, 2003) versucht in ihren Aufsätzen in knappen individuellen Lektüren der Filme eine möglichst große Breite abzudecken, um das beeindruckende künstlerische Spektrum dieser Werke zu verdeutlichen. Im Gegensatz dazu beschränkt sich auch Pennacchia (2013) in ihrem Aufsatz auf The Animated Julius Caesar als Fallstudie, da nur so die Komplexitäten dieser Adaptionen präzise herausgearbeitet werden können. Ihr Begriff der Fallstudie ist jedoch zu problematisieren, da er suggeriert, dass die herausgearbeiteten textuellen Anliegen sich auf die anderen übertragen lassen.
17Die Episoden unterscheiden sich sowohl jeweils in den Animationsstilen (Cel, Puppen, Öl auf Glas) und Genres und wurden von unterschiedlichen Regisseuren und Animationskünstlern realisiert. Dadurch sind die einzelnen Adaptionen formal zu unterschiedlich und verfolgen divergente medienkulturelle Anliegen. Obwohl als Serie ausgestrahlt und unter dem Titel Shakespeare: The Animated Tales zusammengefasst auf DVD vertrieben, kann eine Fallstudie nicht als repräsentativ für das Gesamtwerk dienen.
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Kunstwerk dies für eine verallgemeinerbare ästhetische oder philosophische Position der Populärkultur tut.18
2 „Every age creates its own Shakespeare“ andso does every culture (Marjorie Garber)
Für den Produzenten Christopher Grace schlägt sich die historische Dimension dieser Adaption vor allem in der gelebten Erfahrung des geschichtlichen Zeitpunkts nieder: „Of course, it was completely mad to do what we did. We began working with the Soviet Union and ended up working with Russia. In Armenia, where we were filming A Midsummer Nights Dream, civil war broke out and we had to move the whole crew up to Moscow. You dont usually make films in a country thats disintegrating or in a civil war. In hindsight, I wouldnt have done it if I had known how fragile the political situation would become“ (Grace 2016). Allerdings ist die, wenn auch zu einem gewissen Grad kontingente, Kombination von Shakespeare-Verfilmung und historischem Moment passender, als es auf den ersten Blick scheint, denn Shakespeare-Adaptionen wurden häufig eingesetzt, um den jeweiligen aktuellen politischen Moment zu kommentieren. So stellt Irena Makaryk fest: „Shakespeare offers one of the most consistently accurate barometers of the volatile terrain of Soviet politics“ (zit. n. Sheen 2016, S.4). Erica Sheen erweitert das Argument um die Feststellung, dass dies für Shakespeare und den Kalten Krieg grundsätzlich zutreffend ist. Und weiter: „To study the Cold War through Shakespeare is to insist not only on varying realities, different horizons, and multiple expressions, but necessarily on the languages and acts of translation that constitute them“ (2016, S.4). Dies hat zur Konsequenz, dass Shakespeares Universalität mit einem spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Milieu zusammengebracht wird und somit auch auf die absolute Zeitlichkeit dieser Adaptionen insistiert wird (Courtney, zit. n. Sheen 2016, S.5). Andererseits seien diese Feststellungen auch nur möglich, weil Shakespeare als gemeinsamer Ausgangspunkt fungiert; die Differenzen lassen sich nur feststellen,
18Vgl. dazu auch Badious Insistieren auf einer „Inästhetik“ als eine Bestimmung der Kunst als singuläre Denkart gegenüber der Philosophie (2012).
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wenn es auch Berührungspunkte gibt.19 Das Universale trifft also immer auf eine absolute Spezifizität, die gleichzeitig eine allgemeine Zugänglichkeit verunmöglicht, also einen Moment des Widerstands darstellt, der aber wiederum auf einen universalen Anspruch rekurriert. In anderen Worten: Der Widerstand wird auch nur dann festgestellt, wenn überhaupt erst ein universaler Anspruch besteht, in dem Moment jedoch, in dem es als universal verstanden wird, wird es paradoxerweise immer schon von seinem Spezifischen eingeholt.
Grace bestand denn auch darauf, über den Rekurs zur Sowjetunion etwas explizit „Europäisches“ schaffen zu wollen und setzte diese Spezifizität in Gegensatz zu den „universalen“ kommerziellen US-amerikanischen Produkten, nur um einen neuen Anspruch von Universalität, ein europäisches Globales zu formulieren. Shakespeare fungiert also einerseits als globales Gemeinsames, auf das alle Zugriff haben. Andererseits kann der jeweilige Zugriff nur über die eigenen Traditionen stattfinden. Zudem ruft Grace in dieser Gegenüberstellung Anfang der 1990er Jahre implizit noch einmal die politischen und kulturellen Oppositionen aus dem Kalten Krieg auf und etabliert diese als einen diskursiven Referenzrahmen. Interessanterweise kann man während des Kalten Krieges eine doppelte Bewegung der Rivalität zwischen der Sowjetunion und der USA festmachen, die auch über filmische Produkte ausgetragen wurde. So wird auf der einen Seite argumentiert, dass „this rivalry between the two superpowers was mostly about the USSRs catching up with the US advances in technology and adapting Western-style generic models Soviet ideology. […] Soviet cultural producers, in other words, developed prestige productions in response to Hollywood blockbusters“ (Prokhorov und Prokhorova 2017, S.23). Andererseits galt paradoxerweise: „While the United States emerged as a dominant global economic and military power after World War II, Cold War competition with the Soviet Union would highlight insecurities and trigger anxieties. The launch of Sputnick is the best known example of the Soviet challenge to U.S. national self-image. Less spectacular, but in many ways more alarming to Americans was the perceived superiority of Soviet high culture“ (Aune 2009, S.423).
19Auch Shurbanov und Sokolova (2001) argumentieren in ihrer Fallstudie zu osteuropäischen Shakespeare-Appropriationen allgemeiner, dass es ein Zeichen von Shakespeares außergewöhnlichem Status sei, wie sich jedes politische Regime, egal welcher Ausrichtung, über eine Vereinnahmung und Besitznahme von Shakespeare zu legitimieren versucht. In Sheen wird diese Lesart erweitert, um genau auch das Gemeinsame dieser Shakespeare-Tradition in den Blick zu nehmen: „Precisely because Shakespearian culture so effectively traces the presence of what Vowinkel, Payk, and Lindenberger call older traditions, these engagements not only present us with seeing communism and capitalism as varying realities, they also make us aware of the extent to which this presiding Cold War binary must be seen as a dispersion through the historical prism of a shared intellectual tradition, not as simple opposition“ (2016, S.5).
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Es lassen sich interessanterweise drei Wellen von Shakespeare-Verfilmungen feststellen. Eine erste während des frühen Films, insbesondere in den 1910er und frühen 20er Jahren, dominiert von westeuropäischen und US-amerikanischen Produktionen. Eine zweite Welle manifestiert sich Ende des Zweiten Weltkrieges bis Mitte der 60er Jahre, in der Shakespeare zu einem globalen Produkt wird, das in Großbritannien, der BRD, der DDR, Indien und Japan verfilmt wird. Interessanterweise produzieren die USA und die Sowjetunion häufig zur gleichen Zeit Adaptionen der gleichen Stücke. So z.B. Othello mit Orson Welles The Tragedy of Othello: The Moor of Venice (Orson Welles Othello; 1952) und Sergej Jutkewitschs Otello (Der Mohr von Venedig; 1955); Hamlet mit Grigori Kozintsevs Gamlet (Hamlet; 1964) und Bill Collerans und John Gielguds Hamlet (1964) mit Richard Burton; oder The Taming of the Shrew mit Sergej Kosolovas Ukroshchenie stroptivoy (1961) und Franco Zeffirellis The Taming of the Shrew (Der Widerspenstigen Zähmung; 1967). Bei der dritten Welle beginnend in den späten 80er Jahre ist die Sowjetunion/Russland nur noch mit den Animated Shakespeare Tales vertreten. In dieser Konstellation zwischen Sowjetunion und USA scheint Großbritannien, obwohl eigentliches Heimatland des Barden, als das Dritte zu fungieren, das gleichzeitig versucht, das Eigene (als seinerseits global, hegemonial) über Rekurse auf das Andere zu etablieren, sei es die US-amerikanische oder aber die sowjetisch/russische Tradition.20
Vielleicht kann und muss man für (diese) Shakespeare-Adaptionen feststellen, dass das „Eigene“ immer schon das „Andere“ ist, in das sich durch den
20Diese Positionierung ist selbst noch einmal deutlich ambivalenter, als die vom Produzenten Grace vorgeschlagene Allianz mit der Sowjetunion/Russland. In Abgrenzung zur USA, so Shaughnessys Argument, insistieren die britischen Filmadaptionen auf eine Theatralität und „Bühnenhaftigkeit“. Gleichzeitig datiert die akademische Geschichtsschreibung der Shakespeare-Adaptionen den Beginn des modernen Shakespearefilm mit Kenneth Branagh, der jedoch dezidiert eine Hollywood-Ästhetik einsetzt, um die Massen zu erreichen und zu begeistern: „the theatricality of these films […] once seen in the light of history, is more complex and nuanced than is often credited; theatricality, in these instances, designates a variety of forms of national self-consciousness […]. There is, it seems to me, considerably more at stake in the prospect of a post-historical epoch of post-theatrical Shakespearean film than much current film scholarships endorsement would appear to allow. If one aspect of this moment has been the increasing tendency (within pedagogy and scholarship) to identify the start date of modern Shakespearean film as, at the earliest, 1989 (the year of Branaghs Henry V), the limit thus marked effectively confines critical discussion to the cinematic products of mainstream postmodernism that, for the most part, encourages a predominantly American film idiom to function as a global currency“ (Shaughnessy 2006, S.74f.).
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Sukkurs auf Shakespeare immer schon ein Moment der Störung, des Fremden einschleicht, da er gemeinsamer Bezugspunkt ist. Was hier in ShakespeareAdaptionen spezifisch angelegt zu sein scheint, stellt Badiou allgemein für das Medium Film fest: „Ich denke in der Tat, dass der Film ein neues Denken des Anderen ist, eine neue Art und Weise, dem Anderen zur Existenz zu verhelfen“ (zit. n. Ritzer 2017, S.79).
Diese paradoxen Doppelstrategien einer Positionierung zwischen Eigenem und Anderen, zwischen Hegemonie und Marginalisierung, zwischen Zentrum und Peripherie lassen sich auf den jeweiligen nationalen Ebenen einem Miseen-abyme-Effekt ähnlich weiterverfolgen, wobei dies die Brüchigkeit selbst eines kleinsten Nenners des Eigenen/Nationalen/Hegemonialen unterstreicht. So lassen sich diese paradoxen Wechselwirkungen von (vermeintlich) hegemonialer Identitätsbildung über das „Andere“ (das eigentlich Marginalisierte, das Periphere) auch für Soyuzmultfilm beschreiben.21 Denn auf der einen Seite funktionierten die Filme des Studios als eines der identitätsstiftenden kulturellen Produkte: „Few know the studio outside of the former Soviet Union, but the films that the studio produced were as embedded in Soviet culture as Disneys were in American culture. […] The Soyuzmultfilm studio became the largest and most prestigious animation operation in Eastern Europe, producing the majority of childrens media in the country and becoming so pervasive in the broader national ethos that scholars have analyzed the medium as one of the Soviet Unions national programs for identity“ (Katz 2016, S.1).22 Gleichzeitig arbeiteten interessanterweise überproportional viele Künstler und Techniker mit einem jüdischen Hintergrund im Animationsfilm im Allgemeinen und für Soyuzmultfilm im Speziellen (Katz 2016, S.2).23 Die Konsequenz davon ist, so Katz: „If
21Zusätzlich dazu müsste dies einmal für die geopolitisch nicht uninteressante Konstellation BBC und S4C bzw. London/England und Wales aufgearbeitet werden.
22Hier lässt sich natürlich noch einmal eine Potenzierung der akademischen Marginalisierung feststellen, da sich die Marginalisierung von osteuropäischer/sowjetischer Kunst und Kultur intersektional mit der von Animationsfilmen überschneidet: „Animated films made in the region [Central and Eastern Europe] in this period […] belong among the highest and most innovative accomplishments in the history of animation, and yet they have received relatively little scholarly attention in animation studies“ (Bahun 2014, S. 187).
23Womit sich hier noch eine weitere interessante (implizite) Parallele zu Hollywood auftut; selbst auch eine Industrie, die überdurchschnittlich viele Immigranten beherbergte, während es zu einem der Vehikel für die Produktion nationaler Mythen und sinnstiftenden Ideologien wurde.
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indeed a multicultural and multilingual group of civilian employees mined their own non-Russian traditions of the Jewish, Ukrainian, Georgian, Uzbek, and Lithuanian peoples (narodnost) to create one of the most popular forms of Soviet culture, then the said image of a Russo-centric Soviet culture requires substantial revision“ (Katz 2016, S.3). Diese Animationsfilme im Sinne des New Historicism als Produkte der Lebenswirklichkeiten und Kulturen ihrer produzierenden und rezipierenden Gesellschaften zu betrachten, verdeutlicht, wie brüchig jegliche ideologische Verortung immer schon ist. Gleichzeitig inszenieren sich die Adaptionen dadurch, dass sie Animationen sind, als Moment eines radikalen Bruchs, der gleichzeitig alles Vorgängige mitaufgreift. So sind sie zwar die ersten ihrer Art davor gab es noch keine Shakespeare-Animationen , greifen aber die ganze 400-jährige Tradition von Adaptionen und kulturellen Appropriationen auf und reflektieren kritisch die Bedingungen von Adaptionen.24 So passen sie weder ins binäre System von High Culture und Low Culture, noch ist klar, ob sie zentral oder marginal zu positionieren sind. Was sich aber herauskristallisiert, ist, wie von Laclau und Mouffe beschrieben, dass Diskurse und Hegemonien stark durch Ambivalenzen und Heterogenitäten geprägt sind, wenn wir sie tatsächlich innerhalb ihrer sozialen Wirklichkeiten betrachten, womit sie aber inhärent unabschließbar und veränderlich sind: „Political identities are not pre-given but constituted and reconstituted through debate in the public sphere. Politics, we argue, does not consist in simply registering already existing interests, but plays a crucial role in shaping political subjects“ (Laclau und Mouffe 2001, S.xvii). Dies anhand einer Shakespeare-Adaption herauszuarbeiten, mag einer weiteren Mise-en-abyme gleichkommen.
24Osborne arbeitet in ihrem Aufsatz heraus, wie die Animationen das Vorgehen von (filmischen) Adaptionen sichtbar machen: „I am most interested in the juncture between the strategies of filming and the editing of the plays which animation so tellingly reveals. The mechanics of the animation process underscore the connections between textual editing and the construction/editing of Shakespearean films. Equally importantly, the mediums effects on its various audiences bring to the forefront film techniques which operate less visibly in the realistic cinema of other Shakespearean films. As these cartoons introduce children to Shakespeares plays, they also establish the conventions and strategies of film as the condition of the plays current value and interest“ (1997, S. 106).
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2.1 „Shakespeare our Contemporary“ (Jan Kott/Grigori Kozintsev)
Shakespeare wird im 20. Jahrhundert von den jeweiligen Regimes also eingesetzt, um jeweils die eigene kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren (Aun 2009). Gleichzeitig wurde Shakespeare stets auch von den jeweiligen politischen Gegnern eingesetzt, um das System zu kritisieren.25 Wie von Alfred Thomas detailliert in Shakespeare, Dissent, and the Cold War (2014) herausgearbeitet, lassen sich interessante Parallelen zwischen Shakespeares England und den (totalitären) Regimes und dem ideologischen Extremismus des 20. Jahrhunderts ziehen: „Notwithstanding the immense differences between Shakespeare and the totalitarian regimes of the twentieth century, some of the measures conceived against religious dissenters in Shakespeares England foreshadows modern forms of oppression“ (S.32). Was diese Verbindungslinien prägt, seien strukturelle Parallelen. Alfred Thomas Anliegen ist auch: „to draw a structural parallel between the polarized politics of Shakespeares England and the politics of the Cold War […]. Shakespeares exploration of the Elizabethan and Jacobean culture of denunciation and surveillance also anticipates the contemporary US governments practice of spying on its own citizens and allies. I shall be arguing that Shakespeares plays resonate through the ages not just because of his insights into the human condition but because of his encounter with the proto-modern state. His experience as a playwright in the polarized world of early modern England anticipated the fate of writers on both sides of the ideological divide during the Cold War. […] [Hamlet] anticipated the predicament of the Cold War artist in the ideologically fraught atmosphere of McCarthys America and Communist Russia“ (2014,
25Alfred Thomas beschreibt diese paradoxe Konstellation wie folgt: „The Soviet state had itself long since appropriated Shakespeare as a socialist champion of the working class. Dissenting artists like Kozintsev were simply reclaiming Shakespeare (and Hamlet) as a hero in their own image. In this way, Russian Shakespeare became an object of contestation, a site of ideological struggle between the renegade artist and the Communist state. But Kozintsevs film […] is also a brilliant synthesis of defiance and compliance. […] Like Kott, Kozintsev appropriates Hamlet for political purposes but in doing so he recalls Shakespeares equivocal strategy in mediating carefully between defiance and conformity. Fusing political allegory and poetic-lyrical atmosphere […] the film garnered official praise from the Soviet authorities as well as acclaim from foreign critics“ (2014, S.20f.). Ähnliche Spannung lässt sich auch für amerikanische Künstler konstatieren, wie z.B. Orson Welles Shakespeare-Adaptionen und -Appropriationen oder die Mankiewicz-Adaption von Julius Caesar (1953).
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S.2f.). Was alle diese Kulturen verbindet, ist, dass sie einen „political context of circumspection“ (2014, S.5) hervorbringen und die damit verbundene künstlerische Strategie der Äquivokation, der Doppelzüngigkeit, des „double talks“, um überhaupt das Risiko, Dissens zu artikulieren, eingehen zu können. Hierfür lieferte Shakespeare selbst schon die Vorlage: „In spite of his elite status, even Shakespeare was suspect […], what made him Shakespeare a source of discomfort to the authorities was precisely his tendency to be evasive about his own beliefs“ (2014, S.14).
Shakespeare wird während des Kalten Krieges also mehrfach paradox besetzt: Zum einen steht er sowohl für den politischen Widerstand wie auch für Konformität, zum anderen fungiert er als Marker von kultureller Appropriation und Zeichen einer hegemonialen Position, aber auch der Zirkulation und des Austauschs zwischen den Kulturen. Dies jeweils auch auf zwei Ebenen, einmal suprastaatlich und global, andererseits aber auch innerhalb der einzelnen Nationen. In der Konsequenz bedeutet dies primär, dass keiner der Rivalen „Shakespeare“ genügend stabilisieren konnte. Gleichzeitig spiegelt die „politische Realität“ stets schon, was in seinen Stücken selbst angelegt ist.26
Die Strategie der Äquivokation ist auch eine treffende Bezeichnung dafür, was Animation macht: „Due to its capacity to reposition the relationship between reality and the imaginary (or the possible), animation is a particularly valuable subject of inquiry for a scholar reconsidering the cinema under state socialism“ (Bahun 2014, S.187). Ausgehend von Eisensteins These, dass sich Animationen insbesondere durch ihre „Plastizität“ auszeichen, entwickelt Bahun das Konzept der „Possibilization“: „The unwritten contract that the viewers and producers of animation forge stipulates an engagement with beyond-the-possible, be it the phantastic, phantasmagoric, or quasi-real. At least in the case of animation for adults, and even when the films in question are perceived as irrelevant or lacking political import, this temporary sojourn beyond the border of the possible routinely brings reality into sharper focus“ (2014, S.189). Animationen tragen also einen kontinuierlichen Diskurs zum „Möglichen“ (ontologisch, politisch) mit, bewirken dadurch aber auch „a pointed onsettling of the boundaries between ideologically compliant and non-compliant cinematic practices“ (2014, S.187). „Possibilization“ für Bahun ist gleichzeitig „consonant and dissonant
26Diese paradoxe Position bzw. doppelte Bewegung entspricht aber auch dem, was Stuart Hall grundsätzlich für die Populärkultur konstatiert: „In the study of popular culture, we should always start here: with the double stake in popular culture, the double movement of containment and resistance, which is always inevitably inside it“ (2009, S. 375).
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with the ideological parameters of the socialist project, moving the discussion of the cinemas and practices under consideration beyond the binary of conformist and dissident practices, and supplanting it with thinking about cinema in terms of (unfinished) projects and the variables of the possible“ (2014, S.6).27 Bahun fügt an, dass binäre Leseversuche der Animationsfilme als entweder subversiv oder apolitisch bzw. ideologisch konform problematisch sind, da die narrative Strategie immer in zwei entgegengesetzte Richtungen zieht: „The problem here resides in the operation of narrative convolution, or textual complication, itself: if we take it to be an authors socio-political strategy, such as narrative framework is envisioned precisely to function simultaneously in two opposing modes that is, as both a critique (through the subversivness of its form) and a non-critique (through hindered legibility of its form) and consequently to avoid not only any visible, but also any stable referent or critique“ (2014, S.191).
Dies ist interessant, wenn man Animationen grundsätzlich als Produkt der Populärkultur einordnen möchte, da dafür „Zugänglichkeit“ (access/accessibility) häufig als Kriterium aufgeführt wird: „Popular cinema […] is importantly a category of access identifying films whose comprehension and enjoyment require only such skills, knowledges and understandings as are developed in the ordinary process of living in society“ (Perkins, zit. n. Ritzer und Steinwender 2017, S.10).28 Wie im Zitat von Bahun auf den Punkt gebracht, ist die Idee eines „einfachen“ Zugangs eine trügerische. Denn die Einordnung der animierten Shakespeare-Adaptionen innerhalb des politischen wie auch medialen Kontextes zeigt, wie diese Produkte sich stets in einem spannungsgeladenen Feld bewegen, in welchem unterschiedliche Regime miteinander agieren und sich dadurch verkomplizieren. Stuart Hall hebt in seinem Aufsatz zur Populärkultur insbesondere
27Diese Strategie mag auch erklären, warum Animationen grundsätzlich als apolitisch klassifiziert werden. Interessant ist auch, dass die sowjetische Zensur Animationsfilme weniger rigoros überwachten. Eine Begründung, die immer wieder angeführt wird, ist die Vermutung, dass sie als Kinderfilme nicht politisch und daher weniger ernst genommen werden müssen. Ein anderer Erklärungsversuch ist, dass es dem Staatsapparat nicht möglich war, die Botschaften der Animationsfilme zu kategorisieren (Bahun 2014,S. 190).
28Dieses Argument wird auf mehreren Ebenen gemacht. So gelten Animationen als leicht zugänglich im Sinne von leicht verständlich und darum apolitisch und für Kinder geeignet. Auch die Distribution ermöglicht einen leichten Zugang zu diesen Produkten, insbesondere durch das Fernsehen; für die Animated Tales wurde proklamiert, dass alleine schon aufgrund der Presales davon ausgegangen werden kann, dass Millionen von Zuschauer*innen diese Adaptionen sehen werden (Anon. 1992, siehe auch Fußnote 4).
Zirkulierende Bildformeln zwischen Ost und West …
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Schulen und Akademien als zwei zentrale Institutionen hervor, welche eine (vermeintliche) Definitionsmacht darüber haben, was als kulturell bestimmt wird: „The school and education system is one such institution distinguishing the valued part of the culture, the cultural heritage, the history to be transmitted, from the valueless part. The literary and scholarly apparatus another marking off certain kinds of valued knowledge from others“ (2009, S.381). Die Intersektion dieser Regime sowohl mit politischen wie auch medialen Regimes hat zur Konsequenz, dass Erziehung/Bildung stets produziert, aber nicht hegemonial gesichert ist. Oder, wie Stuart Hall dies mit Rückgriff auf Lotman formuliert: „That is to say, the structuring principle of the popular in this sense is the tensions and oppositions between what belongs to the central domain of elite or dominant culture, and the culture of the periphery“ (2009, S.380). Womit es auch nicht mehr möglich ist, die Rezipienten der Populärkultur als entweder passiv oder widerständig und nur an bedürfnisorientierter Umdeutung interessiert zu kategorisieren. Dabei reflektiert das Medium der Animation die Strategien der Äquivokation und des Verfremdens mit, was jegliche monolithische Ideologie-Zuschreibung von Anfang an bricht. Dieses gleichzeitige Offenlegen und Verschleiern funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen für die Animated Shakespeare Tales: Zum einen wird die Art und Weise, wie kulturelles Kapital produziert wird, offengelegt, andererseits findet eine Interpellation in eine bestimmte Form von Kultur statt. Zugleich wird den Rezipienten dadurch eine Handlungsmöglichkeit und ein Spielraum in dieser kulturellen Hegemonie ermöglicht, wodurch sie zu handlungsfähigen Subjekten werden.
Mit Rancière könnte man auch sagen, dass das „ästhetische Regime der Kunst“ alle anderen Regime produktiv stört. Er schreibt dieser Kunst dabei das Potenzial zu, eine Position der Autonomie und Freiheit einnehmen zu können, welche es erlaubt, die jeweils herrschenden Einteilungen des Sinnlichen zu vermischen, wobei Unterscheidungen zwischen Aktivität und Passivität, Denken und Wahrnehmen, Sinn und Unsinn, Kunst und Nicht-Kunst gestört werden. Dies geschieht gemäß Rancière insbesondere durch den Modus des „Als-ob“ (2006, S.25ff). Diese Fähigkeit beschreibt auch, was Rancière mit den Politiken der Literatur meint: „The expression politics of literature thereby implies that literature intervenes as literature in […] the relationship between practices and forms of visibility and modes of saying that carve up one or more common worlds“ (2014, S.4). Das Medium des Animationsfilms bietet dabei eine Metareflektion dieser Fähigkeit der Kunst.