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# Heidis Lehr- und Wanderjahre
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Johanna Spyri
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## Zum Alm-Öhi hinauf
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Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
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baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
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und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
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beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
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Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
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steil und direkt zu den Alpen hinauf.
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Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
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ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
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ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
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sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
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flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
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war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
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bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
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Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
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nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
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Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
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Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
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völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
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beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
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hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
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gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
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der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
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Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
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einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
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war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
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sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
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ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
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der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
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"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
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hinaufgehst."
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Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
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Hand los und setzte sich auf den Boden.
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"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
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"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
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"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
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anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
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oben", ermunterte die Gefährtin.
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Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
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gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
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wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
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lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
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vieler umherliegender Behausungen.
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"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
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jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
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sein, das hinterlassene."
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"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
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muss dort bleiben."
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"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
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recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
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wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
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"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
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habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
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Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
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dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
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Seinige tun."
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"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
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kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
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einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
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nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
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"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
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Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
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ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
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schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
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fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
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und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
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"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
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Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
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ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
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jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
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dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
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und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
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Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
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alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
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allein begegnet."
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"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
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für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
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verantworten, nicht ich."
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"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
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auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
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mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
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blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
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auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
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"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
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an!"
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Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
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Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
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ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
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redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
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doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
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der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
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konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
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sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
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Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
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ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
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hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
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und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
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besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
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Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
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gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
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da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
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hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
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guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
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von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
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fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
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das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
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Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
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sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
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man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
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sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
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wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
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solcher Menschenhasser war."
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"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
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bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
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ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
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Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
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herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
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meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
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"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
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zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
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und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
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Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
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"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
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sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
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was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
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musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
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gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
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bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
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machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
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hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
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"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
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wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
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Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
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heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
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recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
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besser erzählen."
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"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
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bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
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seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
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an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
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nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
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"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
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"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
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entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
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Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
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einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
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nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
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bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
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verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
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und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
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Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
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Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
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nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
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Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
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Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
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ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
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wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
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diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
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schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
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ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
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er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
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mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
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dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
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musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
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ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
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Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
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traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
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wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
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natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
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Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
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Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
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nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
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wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
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Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
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nur noch der 'Alm-Öhi'."
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"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
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die Barbel.
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"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
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erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
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und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
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Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
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gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
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sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
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nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
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herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
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nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
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ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
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sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
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gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
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Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
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die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
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traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
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sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
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und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
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ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
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immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
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ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
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auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
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seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
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Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
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es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
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und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
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gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
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konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
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ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
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Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
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und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
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Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
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"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
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nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
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vorwurfsvoll.
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"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
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dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
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ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
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Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
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ja schon halbwegs auf der Alm?"
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"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
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"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
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So leb wohl, Dete, mit Glück!"
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Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
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diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
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Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
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Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
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Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
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kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
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baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
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Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
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Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
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und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
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Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
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unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
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Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
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unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
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hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
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lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
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Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
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schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
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Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
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die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
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den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
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seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
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hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
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er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
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spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
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Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
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viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
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ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
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und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
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genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
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gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
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Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
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Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
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Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
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Großmutter.
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Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
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Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
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sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
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ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
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konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
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Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
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Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
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der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
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und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
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seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
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mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
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Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
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kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
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seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
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her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
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Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
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hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
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nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
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wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
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Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
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auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
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über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
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es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
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und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
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aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
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hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
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nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
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her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
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Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
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zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
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nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
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auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
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Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
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auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
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er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
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fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
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zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
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wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
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was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
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samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
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Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
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erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
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siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
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Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
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und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
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was machst du, wo hast du alles?"
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Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
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folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
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roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
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"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
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dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
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sein?"
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"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
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aus über seine Tat.
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"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
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gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
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sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
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Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
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und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
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festgenagelt."
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"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
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zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
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in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
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hatte.
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"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
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ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
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her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
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neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
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sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
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kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
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packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
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rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
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Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
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glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
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ihm nicht oft zuteil.
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"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
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auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
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den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
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Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
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folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
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sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
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Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
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her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
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wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
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allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
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mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
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standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
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Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
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alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
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dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
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Felsen hinan.
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An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
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Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
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seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
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und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
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nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
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ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
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sagte: "Guten Abend, Großvater!"
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"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
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Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
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durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
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Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
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den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
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den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
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waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
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anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
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auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille
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stand und zusah, was sich da ereigne.
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"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
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"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
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werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
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es nie mehr gesehen."
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"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
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dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
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bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
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Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
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angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
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"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
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zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
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Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
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einmal zu tun."
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"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
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"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
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wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
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"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
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es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
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anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
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Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
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hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
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Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
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was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
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und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
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Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
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sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
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gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
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er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
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streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
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hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
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bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
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wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
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hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
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Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
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Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
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die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
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wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
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war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
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Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
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unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
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hört's ja!"
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Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
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zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
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und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
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und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
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konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
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ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
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das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
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könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
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Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
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allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
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Verdienst kommen konnte.
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## Beim Großvater
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Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
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die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
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dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
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schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
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der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
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drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
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Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
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stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
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stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
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um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
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Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
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erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
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legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
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schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
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immer noch unbeweglich vor ihm stand.
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"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
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"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
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hinein.
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"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
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"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
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Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
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dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
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drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
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sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
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laut hinzu.
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"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
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Beinchen."
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"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
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kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
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Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
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ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
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ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
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einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
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Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
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es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
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Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
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anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
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ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
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Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
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Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
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hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
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weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
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leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
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Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
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"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
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Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
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und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
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In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
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Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
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Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
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durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
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"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
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Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
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"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
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"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
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geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
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ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
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und darauf liegt man."
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"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
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an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
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seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
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sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
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dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
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Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
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Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
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traf.
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"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
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kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
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dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
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Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
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damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
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es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
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denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
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durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
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das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
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Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
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aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
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"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
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"Was denn?", fragte er.
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"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
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Leintuch und die Decke hinein."
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"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
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"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
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man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
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den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
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"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
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an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
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schweren, leinenen Sack auf den Boden.
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"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
|
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Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
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aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
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Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
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da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
|
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seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
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ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
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hineinliegen."
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"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
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Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
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Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
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kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
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noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
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paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
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gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
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"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
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folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
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schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
|
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hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
|
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davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
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sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
|
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großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
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auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
|
|
Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
|
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gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
|
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da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
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Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
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Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
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denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
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dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
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"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
|
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Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
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fehlt noch etwas auf dem Tisch."
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Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
|
|
schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
|
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Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
|
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standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
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Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
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"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
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dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
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pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
|
|
setzte sich drauf.
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"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
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unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
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kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
|
|
so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
|
|
stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
|
|
so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
|
|
legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
|
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darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
|
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Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
|
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Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
|
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Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
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es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
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den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
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"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
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"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
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|
"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
|
|
noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
|
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vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
|
|
darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
|
|
das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
|
|
seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
|
|
Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
|
|
allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
|
|
wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
|
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die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
|
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Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
|
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einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
|
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Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
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|
wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
|
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an, sprachlos vor Verwunderung.
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|
"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
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|
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"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
|
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sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
|
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"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
|
|
der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
|
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hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
|
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zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
|
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von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
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wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
|
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hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
|
|
Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
|
|
kurzweilig anzusehen.
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So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
|
|
alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
|
|
durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
|
|
Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
|
|
hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
|
|
unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
|
|
und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
|
|
hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
|
|
herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
|
|
mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
|
|
das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
|
|
einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
|
|
und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
|
|
weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
|
|
denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
|
|
seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
|
|
Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
|
|
Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
|
|
zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
|
|
"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
|
|
den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
|
|
hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
|
|
sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
|
|
hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
|
|
der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
|
|
|
|
Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
|
|
gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
|
|
Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
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|
Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
|
|
Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
|
|
brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
|
|
|
|
"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
|
|
heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
|
|
den Geißen nach.
|
|
|
|
"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
|
|
zurück.
|
|
|
|
"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
|
|
Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
|
|
setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
|
|
seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
|
|
herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
|
|
zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
|
|
herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
|
|
konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
|
|
auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
|
|
schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
|
|
Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
|
|
Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
|
|
und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
|
|
ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
|
|
es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
|
|
in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
|
|
hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
|
|
trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
|
|
leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
|
|
hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
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|
leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
|
|
Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
|
|
schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
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Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
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sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
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friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
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trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
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|
## Auf der Weide
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Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
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die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
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hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
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golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
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wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
|
|
Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
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es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
|
|
nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
|
|
meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
|
|
Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
|
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müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
|
|
es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
|
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manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
|
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es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
|
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erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
|
|
wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
|
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Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
|
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wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
|
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wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
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hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
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|
Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
|
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dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
|
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entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
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"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
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Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
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"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
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wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
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sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
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einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
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Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
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|
Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
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Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
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mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
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hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
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"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
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und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
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Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
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beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
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eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
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"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
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"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
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es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
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denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
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herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
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hinunterfällt, hörst du?"--
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Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
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auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
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mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
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aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
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der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
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Großvater stand. Er lachte ein wenig.
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"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
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was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
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den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
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bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
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Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
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letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
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allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
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und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
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Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
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entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
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denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
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beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
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Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
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goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
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flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
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auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
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Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
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alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
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und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
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heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
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werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
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Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
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schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
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bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
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liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
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rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
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zusammenzutreiben.
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"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
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grimmiger Stimme.
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"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
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denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
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duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
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Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
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hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
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vollen Zügen ein.
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"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
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Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
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"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
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von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
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Kinde lieblicher entgegen.
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"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
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oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
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Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
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seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
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"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
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weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
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nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
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ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
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wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
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So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
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alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
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Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
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Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
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und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
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Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
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kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
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Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
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Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
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nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
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Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
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Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
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kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
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sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
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sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
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Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
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zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
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Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
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ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
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unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
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Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
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und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
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Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
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Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
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nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
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weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
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ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
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goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
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ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
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Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
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kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
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zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
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Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
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und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
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verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
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hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
|
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sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
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hernieder, so wie gute Freunde.
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Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
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Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
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|
großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
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ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
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kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
|
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über Heidis Kopf.
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"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
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ist da, sieh! Sieh!"
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Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
|
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der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
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endlich über grauen Felsen verschwand.
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"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
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Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
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"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
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"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
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schreit er so?", fragte Heidi weiter.
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"Weil er muss", erklärte Peter.
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"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
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schlug Heidi vor.
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"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
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Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
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der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
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Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
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Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
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aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
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anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
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grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
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Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
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gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
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war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
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das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
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die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
|
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Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
|
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persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
|
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Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
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hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
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waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
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Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
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er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
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Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
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und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
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Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
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das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
|
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und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
|
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und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
|
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zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
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nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
|
|
dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
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"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
|
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sitz und fang an."
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Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
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das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
|
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betrachtend.
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"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
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auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
|
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Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
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"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
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"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
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mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
|
|
sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
|
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zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
|
|
das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
|
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eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
|
|
reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
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|
sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
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|
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|
Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
|
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nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
|
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Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
|
|
es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
|
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hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
|
|
sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
|
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nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
|
|
Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
|
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schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
|
|
Peter?", fragte es.
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Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
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seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
|
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Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
|
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immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
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mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
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|
gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
|
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und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
|
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Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
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musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
|
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große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
|
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gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
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|
kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
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kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
|
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aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
|
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hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
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Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
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Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
|
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Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
|
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eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
|
|
ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
|
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jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
|
|
hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
|
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den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
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Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
|
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sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
|
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Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
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er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
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die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
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vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
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"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
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"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
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"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
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"Hat keine."
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"Und der Großvater?"
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"Hat keinen."
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"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
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zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
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ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
|
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verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
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|
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Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
|
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und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
|
|
Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
|
|
Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
|
|
hatte.
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Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
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waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
|
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Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
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besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
|
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begegneten.--
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Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
|
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hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
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einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
|
|
die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
|
|
Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
|
|
leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
|
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stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
|
|
Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
|
|
der größten Aufmerksamkeit zu.
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"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
|
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"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
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"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
|
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und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
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Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
|
|
Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
|
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begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
|
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durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
|
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schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
|
|
wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
|
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konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
|
|
Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
|
|
das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
|
|
packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
|
|
ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
|
|
Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
|
|
Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
|
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gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
|
|
nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
|
|
und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
|
|
erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
|
|
einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
|
|
Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
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|
"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
|
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kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
|
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weh."
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|
Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
|
|
die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
|
|
seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
|
|
an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
|
|
erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
|
|
Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
|
|
Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
|
|
zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
|
|
zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
|
|
laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
|
|
wie er sich fürchtet!"
|
|
|
|
"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
|
|
fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
|
|
tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
|
|
|
|
Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
|
|
Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
|
|
niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
|
|
deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
|
|
Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
|
|
|
|
"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
|
|
brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
|
|
dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
|
|
nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
|
|
Geiß."
|
|
|
|
"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
|
|
eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
|
|
Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
|
|
hinein.--
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|
|
|
So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
|
|
Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
|
|
wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
|
|
die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
|
|
alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
|
|
an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
|
|
schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
|
|
und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
|
|
Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
|
|
Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
|
|
Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
|
|
|
|
"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
|
|
seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
|
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|
"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
|
|
es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
|
|
schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
|
|
rief Heidi wieder.
|
|
|
|
"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
|
|
|
|
"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
|
|
sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
|
|
spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
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|
|
|
"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
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|
|
|
"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
|
|
oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
|
|
Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
|
|
setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
|
|
wirklich alles zu Ende.
|
|
|
|
"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
|
|
wir heim."
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Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt
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|
angetreten.
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"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
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|
sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
|
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horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
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"Meistens", gab dieser zur Antwort.
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"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
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"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
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Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
|
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aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
|
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nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
|
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Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
|
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angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
|
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dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
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Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
|
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Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
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morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
|
|
dass das Heidi wiederkomme.
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Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
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Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
|
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es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
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das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
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Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
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du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
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Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
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und sprang dann fröhlich der Herde nach.
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Heidi kam unter die Tannen zurück.
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"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
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war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
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Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
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seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
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Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
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erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
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Kelchlein stand mehr offen.
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"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
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"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
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"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
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hinein", sagte der Großvater.
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"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
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hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
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"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
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nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
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dann sag ich dir's."
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So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
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vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
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das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
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Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
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"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
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zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
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hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
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und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
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Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
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Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
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Erinnerung.
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"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
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wieder.
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"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
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beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
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heißt."
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Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
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so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
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"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
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gesehen?"
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Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
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ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
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war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
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"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
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Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
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Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
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besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
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sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
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gewusst.
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"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
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den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
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schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
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Morgen wiederkommt."
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Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
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ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
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wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
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schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
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seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
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roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
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Sprüngen.
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## Bei der Großmutter
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Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
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und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
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Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
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diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
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gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
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einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
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allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
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lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
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Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
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kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
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Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
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aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
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Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
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ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
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waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
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Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
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Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
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nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
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unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
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Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
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Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
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erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
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das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
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unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
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schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
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musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
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merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
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bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
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allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
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und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
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es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
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auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
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dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
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stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
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bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
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rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
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mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
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hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
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wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
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dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
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nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
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Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
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früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
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über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
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schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
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und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
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Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
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fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
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und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
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hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
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mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
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Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
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zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
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ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
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ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
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am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
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nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
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große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
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dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
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die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
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am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
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seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
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Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
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immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
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war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
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gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
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die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
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von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
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durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
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auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
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nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
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jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
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"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
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als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
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ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
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ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
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überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
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wie ein gelinder Wasserfall.
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"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
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du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
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"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
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mit Wissbegierde.
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"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
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"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
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hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
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General?"
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"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
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Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
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sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
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zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
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viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
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musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
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Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
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die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
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hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
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zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
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unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
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Satz als Antwort erforderten.
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Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
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Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
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gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
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"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
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halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
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aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
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Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
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Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
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allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
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dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
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und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
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Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
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mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
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ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
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lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
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es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
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nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
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der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
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komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
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zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
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Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
|
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sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
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folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
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jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."
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"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
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Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
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hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
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mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
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jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
|
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mich."
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Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
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jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
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war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
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hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
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Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
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währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
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Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
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Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
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großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
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hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
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Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
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funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
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hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
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"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
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Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
|
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hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
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Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
|
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man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
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stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
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Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
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beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
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und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
|
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fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
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kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
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und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
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die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
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meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
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Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
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Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
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wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
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"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
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komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
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mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
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Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
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sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
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einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
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eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
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hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
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wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
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war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
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dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
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Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
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erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
|
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Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
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geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
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jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
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komme?"
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Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
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ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
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dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
|
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sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
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"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
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Großvater im Schlitten heruntergefahren."
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"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
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Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
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Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
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aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
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bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
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selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
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Kind wird's nicht recht wissen."
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Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
|
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es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
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Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
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ist der Großvater."
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"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
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|
Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
|
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recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
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können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
|
|
drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
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|
das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
|
|
wohl berichten konnte, wie es aussah.
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"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
|
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Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
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es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
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|
den zweien gleich."
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|
Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
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|
alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
|
|
Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
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|
Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
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wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
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sieh, sieh, wie er tut!"
|
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|
|
"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
|
|
nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
|
|
den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
|
|
und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
|
|
in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
|
|
und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
|
|
drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
|
|
an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
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|
|
|
"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
|
|
Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
|
|
zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
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"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
|
|
Laden nicht", klagte die Großmutter.
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|
|
"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
|
|
recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
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|
|
|
"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
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|
|
|
"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
|
|
dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
|
|
zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
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|
fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
|
|
dass es ihr nirgends hell wurde.
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|
|
|
"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
|
|
auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
|
|
Augen."
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|
"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
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ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
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wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
|
|
Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
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gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
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|
"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
|
|
goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
|
|
mehr."
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|
Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
|
|
es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
|
|
niemand? Kann es gar niemand?"
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|
|
|
Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
|
|
nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
|
|
dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
|
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Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
|
|
beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
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schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
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hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
|
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sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
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höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
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|
erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
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macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
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|
manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
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der sagt nicht viel."
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Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
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Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
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alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
|
|
dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
|
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Ordnung machen."
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Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
|
|
großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
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und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
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mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
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Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
|
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Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
|
|
im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
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wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
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auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
|
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dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
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einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
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Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
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"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
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Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
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Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
|
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sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
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erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
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allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
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Abend, Peter!"
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"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
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die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
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manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
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geht es mit dem Lesen?"
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"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
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"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
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gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
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dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
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"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
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gleich mit Interesse.
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"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
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die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
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Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
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ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
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nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
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|
so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
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lernen, es ist ihm zu schwer."
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"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
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sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
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hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
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merkte."
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Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
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Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
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heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
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seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
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rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
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der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
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Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
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es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
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"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
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schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
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behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
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rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
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erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
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Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
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Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
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Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
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ihnen.
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"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
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fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
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hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
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Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
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angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
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und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
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Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
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andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
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Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
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hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
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kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
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Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
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"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
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der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
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jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
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der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
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Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
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gewusst."
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Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
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Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
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Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
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"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
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Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
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Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
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morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
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Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
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einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
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"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
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der Großvater.
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"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
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Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
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Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
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tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
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unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
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hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
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es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
|
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im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
|
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ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
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helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
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Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
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zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
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Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
|
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machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
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können wir; morgen tun wir's."
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Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
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ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
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Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
|
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Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
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Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
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"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
|
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den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
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Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
|
|
hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
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kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
|
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los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
|
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aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
|
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nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
|
|
schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
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erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
|
|
Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
|
|
fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
|
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jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
|
|
um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
|
|
du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
|
|
alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
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|
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"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
|
|
doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
|
|
"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
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|
es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
|
|
ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
|
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hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
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Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
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Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
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|
sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
|
|
wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
|
|
und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
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es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
|
|
denken, denn sicher--"
|
|
|
|
"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
|
|
haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
|
|
ich selber."
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|
Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
|
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sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
|
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ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
|
|
unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
|
|
Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
|
|
auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
|
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heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
|
|
hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
|
|
Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
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Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
|
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ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
|
|
erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
|
|
warm in seinem Arm.
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|
So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
|
|
Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
|
|
Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
|
|
nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
|
|
konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
|
|
trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
|
|
wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
|
|
"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
|
|
plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
|
|
der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
|
|
sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
|
|
früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
|
|
wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
|
|
der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
|
|
sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
|
|
Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
|
|
der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
|
|
Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
|
|
"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
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|
|
|
Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
|
|
und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
|
|
der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
|
|
wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
|
|
wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
|
|
Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
|
|
seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
|
|
fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
|
|
mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen
|
|
herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
|
|
krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
|
|
Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
|
|
schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
|
|
|
|
## Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
|
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|
|
Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
|
|
darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
|
|
Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
|
|
und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
|
|
da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
|
|
würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
|
|
hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
|
|
das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
|
|
Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
|
|
allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
|
|
umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
|
|
treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
|
|
seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
|
|
vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
|
|
das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
|
|
schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
|
|
sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
|
|
wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
|
|
nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
|
|
überbracht.
|
|
|
|
Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
|
|
überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
|
|
Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
|
|
wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
|
|
von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
|
|
dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
|
|
größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
|
|
und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
|
|
erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
|
|
mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
|
|
|
|
Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
|
|
wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
|
|
Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
|
|
stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
|
|
anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
|
|
"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
|
|
mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
|
|
|
|
"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
|
|
Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
|
|
|
|
Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
|
|
gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
|
|
Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
|
|
Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
|
|
|
|
Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
|
|
entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
|
|
seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
|
|
Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
|
|
|
|
Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
|
|
Nachbar", sagte er dann.
|
|
|
|
"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
|
|
|
|
"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
|
|
Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
|
|
Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
|
|
will, was Ihr im Sinne habt."
|
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|
|
Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
|
|
stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
|
|
|
|
"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
|
|
Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
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|
|
|
Heidi verschwand sofort.
|
|
|
|
"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
|
|
die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
|
|
Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
|
|
gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
|
|
|
|
"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
|
|
Antwort.
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|
Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
|
|
gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
|
|
aussah.
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|
|
|
"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
|
|
Pfarrer.
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|
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|
"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
|
|
denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
|
|
|
|
"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
|
|
Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
|
|
Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
|
|
etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
|
|
zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
|
|
könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
|
|
so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
|
|
zur Schule, und zwar jeden Tag."
|
|
|
|
"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
|
|
|
|
"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
|
|
bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
|
|
beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
|
|
"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
|
|
vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
|
|
Nachbar."
|
|
|
|
"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
|
|
in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
|
|
Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
|
|
Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
|
|
hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
|
|
heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
|
|
fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
|
|
dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
|
|
Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
|
|
Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
|
|
soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
|
|
Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
|
|
|
|
"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
|
|
Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
|
|
Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
|
|
tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
|
|
kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
|
|
Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
|
|
Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
|
|
wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
|
|
Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
|
|
das zarte Kind es nur aushalten kann!"
|
|
|
|
"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
|
|
Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
|
|
und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
|
|
darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
|
|
Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
|
|
Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
|
|
Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
|
|
voneinander, so ist's beiden wohl."
|
|
|
|
"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
|
|
sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
|
|
Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
|
|
Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
|
|
wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
|
|
Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
|
|
|
|
Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
|
|
und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
|
|
nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
|
|
alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
|
|
Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
|
|
darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
|
|
ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
|
|
|
|
Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
|
|
bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
|
|
erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
|
|
Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
|
|
|
|
"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
|
|
Tür hinaus und den Berg hinunter.
|
|
|
|
Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
|
|
wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
|
|
ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
|
|
fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
|
|
von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
|
|
bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
|
|
schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
|
|
hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
|
|
Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
|
|
lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
|
|
sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
|
|
hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
|
|
fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
|
|
fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
|
|
nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
|
|
auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
|
|
ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
|
|
aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
|
|
können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
|
|
das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
|
|
heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
|
|
zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
|
|
wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
|
|
und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
|
|
das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
|
|
eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
|
|
im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
|
|
Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
|
|
einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
|
|
allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
|
|
Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
|
|
eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
|
|
Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
|
|
Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
|
|
Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
|
|
eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
|
|
sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
|
|
nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
|
|
denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
|
|
und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
|
|
Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
|
|
Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
|
|
bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
|
|
mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
|
|
man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
|
|
eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
|
|
ja das unerhörteste Glück--
|
|
|
|
"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
|
|
Wort dazwischengeredet hatte.
|
|
|
|
"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
|
|
wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
|
|
durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
|
|
Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
|
|
gebracht habe."
|
|
|
|
"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
|
|
trocken.
|
|
|
|
Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
|
|
Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
|
|
es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
|
|
weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
|
|
keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
|
|
unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
|
|
es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
|
|
erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
|
|
dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
|
|
Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
|
|
ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
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mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
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kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
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Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
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denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
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manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
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"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
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Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
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ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
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Mund wie dich heut!"
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Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
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"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
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seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
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"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
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deine Kleider?"
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"Ich komme nicht", sagte Heidi.
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"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
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wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
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du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
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nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
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hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
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Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
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setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
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"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
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"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
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abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
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hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
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Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
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jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
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wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
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gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
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ist der Großvater dann wieder gut."
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"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
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Heidi.
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"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
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wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
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morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
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Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
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Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
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die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
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Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
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Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
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und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
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gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
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und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
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So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
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sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
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ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
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stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
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ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
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"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
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Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
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auf mich."
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"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
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eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
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kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
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zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
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sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
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es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
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Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
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Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
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und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
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aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
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"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
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und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
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war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
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warum tust so wüst?"
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"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
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"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
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mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
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die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
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gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
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Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
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nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
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Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
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ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
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was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
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gerufen, ich will zu ihr."
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Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
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es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
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kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
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dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
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mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
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gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
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heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
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ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
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"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
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Welle.
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"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
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wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
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Brot fast nicht mehr essen."
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"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
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zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
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"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
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vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
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mit den Brötchen."
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Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
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dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
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so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
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Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
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die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
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sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
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Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
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willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
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Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
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nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
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das Kind pressiert und wir haben noch weit."
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"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
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Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
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So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
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Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
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kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
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Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
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Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
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Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
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ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
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Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
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sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
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etwas tun!"
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Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
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und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
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Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
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im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
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zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
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gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
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Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
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überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
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entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
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fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
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ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
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unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
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spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
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immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
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gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
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manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
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seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
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diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
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vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
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Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
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werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
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Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
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war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
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blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
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Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
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an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
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und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
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ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
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## Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
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Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
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Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
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sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
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Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
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Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und -lagen,
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die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
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gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
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den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
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und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
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tägliche Unterricht erteilt wurde.
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Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
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blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
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Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
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schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
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mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
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nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
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Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
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stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
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Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
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feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
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von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
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Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
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Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
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hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
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Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
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Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
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Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
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dessen Wunsch geschehen dürfe.
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Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
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Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
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die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
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Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
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vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
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noch stören dürfe.
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"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
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den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
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Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
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Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
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und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
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"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
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stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
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"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
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die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
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weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
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Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
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Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
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Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
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"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
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wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
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wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
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Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
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Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
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an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
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war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
|
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so fremden Boden.
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Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
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näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
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betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
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hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
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zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
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harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
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Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
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|
"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
|
|
einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
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Auge von ihr verwandte.
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"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
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|
"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
|
|
bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
|
|
Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
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"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
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|
"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
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"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
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"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
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|
reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
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nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
|
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die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
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nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
|
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es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
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|
kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
|
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ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
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|
Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
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"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
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Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
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sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
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habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
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|
ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
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überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
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|
zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
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"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
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|
mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
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|
ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
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so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
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noch etwas dazu sein, nehm ich an."
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"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
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Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
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und wurde keineswegs verlegen.
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|
"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
|
|
Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
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|
was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
|
|
Unterricht?"
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"Keine", sagte Heidi.
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|
"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
|
|
weiter.
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"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
|
|
Heidi.
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|
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|
"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
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|
lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
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|
es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
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|
|
|
"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
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|
"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
|
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denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
|
|
konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
|
|
nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
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|
Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
|
|
haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
|
|
ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
|
|
nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
|
|
und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
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|
Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
|
|
will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
|
|
nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
|
|
Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
|
|
Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
|
|
der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
|
|
eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
|
|
wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
|
|
sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
|
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|
Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
|
|
an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
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|
schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
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Heidi trat an den Rollstuhl heran.
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|
"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
|
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"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
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|
"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
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|
mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
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ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
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kurzes, krauses Haar gehabt?"
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|
"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
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"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
|
|
|
|
"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
|
|
Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
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|
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"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
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dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
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bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
|
|
nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
|
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ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
|
|
schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
|
|
Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
|
|
und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
|
|
so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
|
|
ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
|
|
geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
|
|
Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
|
|
hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
|
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ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
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|
sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
|
|
so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
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|
nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
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|
gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
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|
Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
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|
lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
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|
kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
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Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
|
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Lesenlernen hörte.
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"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
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|
müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
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und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
|
|
erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
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und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
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|
verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
|
|
gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
|
|
hat."
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|
Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
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Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
|
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davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
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können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
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nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
|
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machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
|
|
Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
|
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hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
|
|
wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
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eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
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sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
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"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
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heut noch zu Tische komme."
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|
Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
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rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
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|
Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
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als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
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hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
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anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
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"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
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sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
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nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
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"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
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Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
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ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
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|
sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
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|
Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
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um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
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Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
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vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
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einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
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schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
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hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
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Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
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siehst dem Geißenpeter gleich."
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Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
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Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
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Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
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Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
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hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
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Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
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sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
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Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
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auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
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guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
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Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
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Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
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für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
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rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
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und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
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Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
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warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
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wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
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Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
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Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
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er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
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unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
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er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
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hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
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es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
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gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
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Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
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fing an gefährlich zu zittern.
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"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
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wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
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Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
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überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
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Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
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dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
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Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
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"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
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du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
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dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
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richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_
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oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
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höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst
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du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
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sollst, wird sie selbst bestimmen."
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"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
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von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
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Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
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und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
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vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
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lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
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längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
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Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
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recht begriffen?"
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"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
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Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
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kurzweilig verflossen.
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"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
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rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
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dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
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trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
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Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
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gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
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Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
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zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
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## Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
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Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
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konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
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gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
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saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
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weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
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Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
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und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
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runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
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darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
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auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
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gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
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Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
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nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
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an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
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und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
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Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
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um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
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nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
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konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
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Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
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war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
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und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
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früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
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Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
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wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
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sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
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offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
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glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
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Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
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Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
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Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
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könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
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Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
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letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
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Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
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verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
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suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
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Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
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sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
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Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
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nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
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bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
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gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
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klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
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Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
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Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
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dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
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ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
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geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
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richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
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empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
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ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
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mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
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wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
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"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
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ist? Komm herüber!"
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Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
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Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
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machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
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denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
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würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
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anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
|
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wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
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Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
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bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
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Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
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sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
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hinunter auf den Boden?"
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"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
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belustigt.
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"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
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"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
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dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
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macht er dir schon eines auf."
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Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
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die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
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unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
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fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
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Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
|
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und allem, was ihm lieb war.
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Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
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Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
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denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
|
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Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
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großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
|
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diese hineingekommen war.
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Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
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geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
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gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
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werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
|
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Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
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Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
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Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
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dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
|
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abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
|
|
Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
|
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Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
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allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
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in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
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Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
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Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
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erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
|
|
Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
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jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
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Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
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sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
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beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
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Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
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verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
|
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ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
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Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
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so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
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zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
|
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aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
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das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
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niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
|
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mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
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einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
|
|
geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
|
|
Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
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Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
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|
übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
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und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
|
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zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
|
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einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
|
|
und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
|
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Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
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|
sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
|
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musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
|
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beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
|
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ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
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|
Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
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und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
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auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel,
|
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Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
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Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
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|
die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
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|
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"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
|
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"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
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nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
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|
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Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
|
|
Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
|
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bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
|
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ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
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erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
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muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
|
|
fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
|
|
hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
|
|
vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
|
|
eine Kutsche gesehen."
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"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
|
|
Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
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Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
|
|
hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
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fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
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|
Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
|
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unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
|
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die Straße auf und ab.
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|
"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
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davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
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"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
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stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
|
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enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
|
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das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
|
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geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
|
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war.
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"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
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herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
|
|
Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
|
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sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
|
|
gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
|
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hören.
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"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
|
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sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
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sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
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nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
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festbinden. Kannst du das verstehen?"
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"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
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|
jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
|
|
Unterrichtsstunde still zu sitzen.
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|
Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
|
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wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
|
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weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
|
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heute gar keine Zeit gewesen.
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Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
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|
hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
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Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
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Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
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Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
|
|
war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
|
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Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
|
|
unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
|
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vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
|
|
die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
|
|
nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
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|
Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
|
|
Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
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|
auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
|
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hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
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Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
|
|
sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
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|
|
"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
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|
wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
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merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
|
|
komme noch von der Tinte am Boden her.
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"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
|
|
zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
|
|
|
|
"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
|
|
Rottenmeier hat es befohlen."
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Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
|
|
ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
|
|
Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
|
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befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
|
|
fahre die Mamsell nur zu."
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|
"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
|
|
wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
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|
"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
|
|
Mamsell sage", erklärte Sebastian.
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|
|
|
"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
|
|
Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
|
|
musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
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|
"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
|
|
hinzu.
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|
"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
|
|
jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
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Schrank zurechtlegte.
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|
"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
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|
"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
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|
Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
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es langte nur bis zum Gesims hinauf.
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|
"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
|
|
unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
|
|
herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
|
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und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
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mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
|
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wieder zurück.
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"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
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das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
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|
was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
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"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
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"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
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kann über das ganze Tal hinab?"
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|
"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
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so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
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guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
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Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
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hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
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die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
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dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
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über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
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ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
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konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
|
|
Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
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Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
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|
alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
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Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
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Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
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ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
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fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
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"Weiß nicht", war die Antwort.
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"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
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"Weiß nicht."
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"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
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"Freilich weiß ich eine."
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"So komm und zeige mir sie."
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"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
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Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
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Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
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gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
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reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
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geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
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"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
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Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
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"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
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Bildchen wieder ein.
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"Geld."
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"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
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willst du?"
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"Zwanzig Pfennige."
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"So komm jetzt."
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Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
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fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
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erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
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eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
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Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
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Junge stand still und sagte: "Da."
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"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
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verschlossenen Türen sah.
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"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
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"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
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"Weiß nicht."
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Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
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allen Kräften daran.
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"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
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jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
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"Was gibst du mir dann?"
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"Was muss ich dir dann wieder geben?"
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"Wieder zwanzig Pfennige."
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Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
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Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
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verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
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"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
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nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
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Turm besteigen wollen'?"
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Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
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Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
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"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
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geschickt?"
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"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
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hinuntersehen kann."
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"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
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oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
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der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
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Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
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ein einziges Mal!"
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Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
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dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
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sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
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mir!"
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Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
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und zeigte, dass er nicht mitwollte.
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Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
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dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
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enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
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Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
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"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
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Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
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es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
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gar nicht, wie ich gemeint habe."
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"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
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komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
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Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
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die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
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Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
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bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
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und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
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wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
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warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
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stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
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hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
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Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
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halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
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sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
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Jungen ansehen."
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Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
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"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
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ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
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alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
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oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
|
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übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
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"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
|
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Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
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"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
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das große Glück fast nicht glauben.
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"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
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zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
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recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
|
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Leid antun musste.
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Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
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Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
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sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
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"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
|
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schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
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sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
|
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erschrocken zurückfuhr.
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"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
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die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
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sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
|
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Turm gelebt.
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"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
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goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
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Heidi.
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Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
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seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
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und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
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"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
|
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bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
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Sesemann?"
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"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
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Kätzchen kommen!"
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Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
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unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
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"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
|
|
und eins für Klara, kann ich nicht?"
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"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
|
|
behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
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Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
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|
nun nimm zwei!"
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Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
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|
gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
|
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eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
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Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
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hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
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Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
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"Weiß nicht", war die Antwort.
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Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
|
|
die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
|
|
Kopf, es war ihm alles unbekannt.
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"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
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|
Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
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so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
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Luft hinaus.
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Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
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seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
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hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
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Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
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|
Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
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|
drängend: "Schnell! Schnell!"
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Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
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Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
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|
"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
|
|
Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
|
|
sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
|
|
Mamsell an, so fortzulaufen?"
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|
Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
|
|
auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
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Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
|
|
seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
|
|
und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
|
|
mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
|
|
wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
|
|
fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
|
|
bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
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"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
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|
Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
|
|
immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
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Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
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ich dir!"
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"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
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Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
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|
"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
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Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
|
|
das Zimmer."
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Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
|
|
einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
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|
|
|
"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
|
|
Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
|
|
'miau'?"
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|
"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
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|
ungestört hervorbringen.
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"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
|
|
auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
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|
sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
|
|
riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
|
|
für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
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|
Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
|
|
eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
|
|
einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
|
|
sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
|
|
nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
|
|
Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
|
|
Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
|
|
Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
|
|
Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
|
|
mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
|
|
|
|
"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
|
|
helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
|
|
Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
|
|
will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
|
|
behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
|
|
kann man sie hintun?"
|
|
|
|
"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
|
|
bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
|
|
stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
|
|
kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
|
|
Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
|
|
wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
|
|
wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
|
|
|
|
Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
|
|
nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
|
|
und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
|
|
fortgeschafft?"
|
|
|
|
"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
|
|
schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
|
|
leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
|
|
damit.
|
|
|
|
Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
|
|
halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
|
|
fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
|
|
Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
|
|
unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
|
|
schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
|
|
sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
|
|
|
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## Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
|
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|
|
Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
|
|
geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
|
|
jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
|
|
die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
|
|
der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
|
|
sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
|
|
Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
|
|
|
|
"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
|
|
lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
|
|
|
|
"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
|
|
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"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen
|
|
'Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
|
|
Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
|
|
|
|
"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
|
|
|
|
"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
|
|
dass ein Fräulein Klara hier ist?"
|
|
|
|
"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
|
|
wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
|
|
|
|
"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
|
|
geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
|
|
wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
|
|
|
|
Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
|
|
stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
|
|
ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
|
|
schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
|
|
kann nicht reden wie wir."
|
|
|
|
"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
|
|
die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
|
|
den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
|
|
und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
|
|
dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
|
|
gern."
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|
|
|
Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
|
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|
|
"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
|
|
zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
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|
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|
Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
|
|
|
|
"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
|
|
Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
|
|
|
|
Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
|
|
seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
|
|
auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
|
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einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
|
|
so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
|
|
Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
|
|
und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
|
|
Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
|
|
Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
|
|
immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
|
|
Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
|
|
|
|
"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
|
|
hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
|
|
auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
|
|
Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
|
|
ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
|
|
Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
|
|
Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
|
|
"Sebastian! Sebastian!"
|
|
|
|
Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
|
|
Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
|
|
offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
|
|
wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
|
|
Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
|
|
|
|
"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
|
|
sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
|
|
zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
|
|
drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
|
|
Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
|
|
damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
|
|
wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
|
|
Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
|
|
um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
|
|
wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
|
|
Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
|
|
|
|
Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
|
|
Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
|
|
der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
|
|
|
|
"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
|
|
sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
|
|
|
|
Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
|
|
dann eilig wieder.
|
|
|
|
"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
|
|
ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
|
|
|
|
Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
|
|
schaute sehr verlangend nach dem Korb.
|
|
|
|
"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
|
|
unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
|
|
zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
|
|
|
|
"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
|
|
entgegnete der Herr Kandidat; "_dafür_ spräche der Grund, dass,
|
|
wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
|
|
ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
|
|
Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
|
|
zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
|
|
darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
|
|
unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
|
|
als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
|
|
über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
|
|
Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
|
|
krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
|
|
kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
|
|
rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
|
|
lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
|
|
Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
|
|
Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
|
|
den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
|
|
entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
|
|
in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
|
|
"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
|
|
aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
|
|
alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
|
|
|
|
Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
|
|
herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
|
|
Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
|
|
Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
|
|
|
|
Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
|
|
Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
|
|
Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
|
|
erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
|
|
herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
|
|
Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
|
|
seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
|
|
herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
|
|
da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
|
|
winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
|
|
sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
|
|
stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
|
|
|
|
"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur _eine_
|
|
Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
|
|
aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
|
|
und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
|
|
einfallen lässt."
|
|
|
|
Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
|
|
schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
|
|
in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
|
|
fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
|
|
anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
|
|
keine gesehen.
|
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|
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
|
|
Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
|
|
geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
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erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
|
|
|
|
Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
|
|
einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
|
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Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
|
|
werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
|
|
Zimmer.
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Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
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|
Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
|
|
ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
|
|
erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
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Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
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hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
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denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
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Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
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konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
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Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
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zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
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Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
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ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
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Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
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keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
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wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
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Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
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so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
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ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
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beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
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doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
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schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
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nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
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Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
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noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
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zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
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Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
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hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
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Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
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mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
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lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
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es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
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Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
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Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
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nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
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Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
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ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
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höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
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verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
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So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
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nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
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Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
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der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
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es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
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sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
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wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
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aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
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Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
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schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
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Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
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zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
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Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
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gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
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"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
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dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
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probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
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Landstreicherin."
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"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
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entgegnete Heidi erschrocken.
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"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
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Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
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Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
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nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
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seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
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verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
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ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
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gehabt, wie du hier hast? Sag!"
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"Nein", entgegnete Heidi.
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"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
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gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
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lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
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Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
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hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
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muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
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mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
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keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
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gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
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obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
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so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
|
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nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
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"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
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Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
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sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
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|
"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
|
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ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
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|
"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
|
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sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
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|
|
Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
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zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
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"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
|
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aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
|
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freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
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muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
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|
das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
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in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
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|
Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
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|
befohlen."
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|
Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
|
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nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
|
|
sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
|
|
ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
|
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tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
|
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hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
|
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zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
|
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auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
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|
tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
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schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
|
|
|
|
Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
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|
Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
|
|
nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
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|
|
|
Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
|
|
fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
|
|
als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
|
|
aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
|
|
nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
|
|
Tasche gesteckt.
|
|
|
|
Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
|
|
winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
|
|
und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
|
|
Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
|
|
hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
|
|
Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
|
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Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
|
|
beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
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|
die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
|
|
allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
|
|
richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
|
|
erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
|
|
er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
|
|
nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
|
|
nicht zu fassen imstande sei.
|
|
|
|
Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
|
|
Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
|
|
Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
|
|
sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
|
|
Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
|
|
Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
|
|
an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
|
|
Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
|
|
verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
|
|
zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
|
|
und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
|
|
wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
|
|
Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
|
|
Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
|
|
Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
|
|
ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
|
|
aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
|
|
"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
|
|
und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
|
|
|
|
"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
|
|
Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
|
|
nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
|
|
|
|
"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
|
|
sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
|
|
Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
|
|
weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
|
|
ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
|
|
Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
|
|
fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
|
|
wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
|
|
Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
|
|
weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
|
|
nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
|
|
Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
|
|
heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
|
|
wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
|
|
nur nicht mehr so!"
|
|
|
|
Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
|
|
aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
|
|
gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
|
|
mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
|
|
letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
|
|
so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
|
|
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|
Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
|
|
sei nur wieder froh!"
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|
Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
|
|
es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
|
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aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
|
|
verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
|
|
machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
|
|
Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
|
|
dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
|
|
sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
|
|
|
|
Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
|
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lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
|
|
Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
|
|
Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
|
|
Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
|
|
Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
|
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gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
|
|
als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
|
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Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
|
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heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
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schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
|
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forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
|
|
was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
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## Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat
|
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Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
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Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
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eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
|
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bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
|
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anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
|
|
schöner Sachen mit nach Hause.
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Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
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um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
|
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späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
|
|
begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
|
|
sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
|
|
liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
|
|
sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
|
|
"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
|
|
Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
|
|
zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
|
|
weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
|
|
|
|
"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
|
|
|
|
"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
|
|
Klara schnell ein.
|
|
|
|
"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
|
|
"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
|
|
heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
|
|
dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
|
|
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|
Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
|
|
Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
|
|
Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
|
|
genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
|
|
sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
|
|
denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
|
|
Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
|
|
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|
"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
|
|
mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
|
|
|
|
"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
|
|
Schluck Wein.
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|
|
|
"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
|
|
Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
|
|
sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
|
|
umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
|
|
gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
|
|
sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
|
|
Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
|
|
das Leben gehen."
|
|
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|
"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
|
|
Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
|
|
wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
|
|
|
|
"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
|
|
fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
|
|
Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
|
|
uns vorüberziehen."
|
|
|
|
"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
|
|
Fräulein Rottenmeier?"
|
|
|
|
"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
|
|
als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
|
|
getäuscht worden."
|
|
|
|
"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
|
|
sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
|
|
|
|
"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
|
|
was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
|
|
Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
|
|
|
|
"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
|
|
|
|
"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
|
|
wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
|
|
Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
|
|
|
|
Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
|
|
gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
|
|
für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
|
|
schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
|
|
erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
|
|
bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
|
|
Herr Kandidat angemeldet.
|
|
|
|
"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
|
|
rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
|
|
Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
|
|
entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
|
|
mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
|
|
keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
|
|
mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
|
|
ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
|
|
den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
|
|
Verstand?"
|
|
|
|
Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
|
|
glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
|
|
er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
|
|
Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
|
|
Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
|
|
aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
|
|
aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
|
|
Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
|
|
vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
|
|
Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
|
|
durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
|
|
ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
|
|
längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
|
|
Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
|
|
|
|
"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
|
|
geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
|
|
Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
|
|
was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
|
|
|
|
"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
|
|
begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
|
|
Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
|
|
mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
|
|
junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
|
|
Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
|
|
Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
|
|
teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
|
|
Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
|
|
|
|
"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
|
|
stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
|
|
sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
|
|
wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
|
|
Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
|
|
nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
|
|
einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
|
|
bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
|
|
mir doch mal ein Glas Wasser."
|
|
|
|
"Frisches?", fragte Heidi.
|
|
|
|
"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
|
|
Heidi verschwand.
|
|
|
|
"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
|
|
sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
|
|
"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
|
|
Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
|
|
denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
|
|
das sagen?"
|
|
|
|
Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
|
|
Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
|
|
einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
|
|
der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
|
|
Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
|
|
Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
|
|
Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
|
|
Vater.
|
|
|
|
"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
|
|
"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
|
|
kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
|
|
Heidi erzählt mir auch so viel."
|
|
|
|
"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
|
|
schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
|
|
Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
|
|
|
|
"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
|
|
|
|
"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
|
|
Klara.
|
|
|
|
"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
|
|
am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
|
|
ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
|
|
ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
|
|
Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
|
|
|
|
"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
|
|
denn der Herr?"
|
|
|
|
"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
|
|
'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
|
|
trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
|
|
'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
|
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sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
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schmecken lassen."
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"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
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der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
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"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
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goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
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seinem Stock ist ein Rosskopf."
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"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
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Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
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noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
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dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
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sich zuführen zu lassen.
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Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
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Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
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Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
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werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
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Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
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angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
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Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
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freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
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Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
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nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
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gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
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ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
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mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
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Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
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"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
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nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
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angezeigte Hilfe.--
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Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
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schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
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Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
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nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
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der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
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Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
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der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
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alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
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auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
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geschickt würde, um sie abzuholen.
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Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
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demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
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dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
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worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
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aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
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unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
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später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
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Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
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habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
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wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
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Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
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Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
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abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
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erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
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## Eine Großmama
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Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
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Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
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bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
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mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
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empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
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Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
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und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
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gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
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setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
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sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
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auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
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am Erlöschen sei.
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Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
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stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
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Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
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Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
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in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
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würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
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diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
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und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
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die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
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sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
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Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
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der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
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denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
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nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
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Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
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mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
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mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
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Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
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deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
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"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
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Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
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"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
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"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
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Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
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Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
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kannst du wohl behalten, wie?"
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"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
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immer so gesagt."
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"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
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lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
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von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
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ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
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dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
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dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
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so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
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Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
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und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
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Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
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"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
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"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
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ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
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wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
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Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
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nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
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Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
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"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
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Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
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aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
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Dienstboten willen."
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"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
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einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
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nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
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Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
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beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
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da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
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|
Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
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fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
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bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
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Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
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Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
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Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
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schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
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Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
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sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
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klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
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fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
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"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
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wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
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"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
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wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
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sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
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ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
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Gesellschaft kaum erzählen könnte."
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"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
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dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
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Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
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holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
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ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
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"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
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Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
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Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
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das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
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_einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
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Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
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Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
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"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
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das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
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Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
|
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ansehen."
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Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
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|
Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
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Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
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Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
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mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
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willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
|
|
zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
|
|
eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
|
|
werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
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Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
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|
als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
|
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welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
|
|
laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
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glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
|
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plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
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schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
|
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schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
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grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
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langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
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|
Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
|
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eben die Sonne im Untergehen.
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Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
|
|
sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
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dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
|
|
Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
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viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
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wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
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trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
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|
hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
|
|
wieder fröhlich."
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|
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Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
|
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konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
|
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nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
|
|
sind wir wieder froh zusammen."
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Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
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|
was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
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Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
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"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
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man es nicht lernen kann."
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"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
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"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
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"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
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"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
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wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
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"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
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muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
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muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
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Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
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angesehen."
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"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
|
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Ergebung in das Unabänderliche.
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"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
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Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
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nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
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dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
|
|
von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
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nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
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du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
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du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
|
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Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
|
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alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
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|
merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
|
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nicht?"
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Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
|
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leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
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nur schon lesen könnte!"
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"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
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ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
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komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
|
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Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
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Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
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|
Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
|
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wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
|
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Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
|
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davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
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hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
|
|
ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
|
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habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
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|
dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
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heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
|
|
Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
|
|
dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
|
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mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
|
|
das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
|
|
die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
|
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essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
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es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
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und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
|
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die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
|
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endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
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Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
|
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dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
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der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
|
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so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
|
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oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
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niemand es höre.
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Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
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einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
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das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
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aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
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|
sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
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|
Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
|
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großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
|
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du einen Kummer?"
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Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
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undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
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freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
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"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
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"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
|
|
unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
|
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"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
|
|
Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
|
|
dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
|
|
kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
|
|
wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
|
|
dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
|
|
Bösen behüte?"
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"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
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"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
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"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
|
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lang, und jetzt habe ich es vergessen."
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"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
|
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gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
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|
wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
|
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quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
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ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
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niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
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uns wieder froh macht."
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Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
|
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alles sagen?"
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"Alles, Heidi, alles."
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Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
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"Kann ich gehen?"
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"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
|
|
hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
|
|
nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
|
|
in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
|
|
und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
|
|
Großvater.--
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Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
|
|
Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
|
|
Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
|
|
merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
|
|
auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
|
|
Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
|
|
Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
|
|
hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
|
|
was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
|
|
|
|
"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
|
|
etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
|
|
der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
|
|
nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
|
|
völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
|
|
geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
|
|
gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
|
|
|
|
"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
|
|
setzte hier Frau Sesemann ein.
|
|
|
|
In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
|
|
|
|
"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
|
|
dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
|
|
und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
|
|
auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
|
|
mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
|
|
und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
|
|
die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
|
|
sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
|
|
einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
|
|
selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
|
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Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
|
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Tatsache als Möglichkeit vermutete."
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|
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"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
|
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Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
|
|
Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
|
|
neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
|
|
Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
|
|
guten Fortgang hoffen."
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Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
|
|
rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
|
|
Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
|
|
las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
|
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Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
|
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eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
|
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schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
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gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
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Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
|
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das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
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nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
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nun gehört es dir."
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"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
|
|
Freude.
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"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
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an zu lesen."
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"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
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Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
|
|
du erst recht bei mir bleiben."
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Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
|
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schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
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über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
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lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
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die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
|
|
beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
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Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
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verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
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und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
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immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
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Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
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dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
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ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
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Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
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der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
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geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
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Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
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war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
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Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
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Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
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ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
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zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
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es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
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Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
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Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
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dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
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schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
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zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
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## Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
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Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
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Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
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wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
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einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
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Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
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ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
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Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
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kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
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Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
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und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
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Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
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prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
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wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
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größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
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wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
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Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
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sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
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sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
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Augen waren nie mehr zu sehen.
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Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
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wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
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komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
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seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
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ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
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komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
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immer noch denselben Kummer im Herzen?"
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"Ja", nickte Heidi.
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"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
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"Ja."
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"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
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mache?"
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"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
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"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
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denn nicht mehr?"
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"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
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es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
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Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
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kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
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gewiss gar nicht gehört."
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"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
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"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
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liebe Gott hat es nie getan."
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"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
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du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
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was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
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nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
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er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
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so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
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alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
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erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
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der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
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einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
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Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
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wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
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Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
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wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
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Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
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doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
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dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
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nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
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gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
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niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
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kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
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da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
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und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
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einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
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unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
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wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
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'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
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Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
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selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
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Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
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lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
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weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
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dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
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ein frohes Herz bekommen kannst?"
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Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
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in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
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"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
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Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
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Heidi reumütig.
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"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
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sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
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in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
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Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
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zu ihm niederschauen möge.--
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Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
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trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
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sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
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trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
|
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gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
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Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
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saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
|
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nun weiter kommen sollte.
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Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
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war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
|
|
Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
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|
vorlesen; willst du, Klara?"
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Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
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mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
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schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
|
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lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
|
|
es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
|
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und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
|
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war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
|
|
sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
|
|
lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
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zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"
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Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
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Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
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Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
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dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
|
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sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
|
|
denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
|
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könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
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auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
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sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
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könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
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|
|
Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
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hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
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mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
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zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
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Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
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|
grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
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ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
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den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
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immer!"
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Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
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war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
|
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Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
|
|
so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
|
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Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
|
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hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
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nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
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|
du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe."
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|
Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
|
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Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
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verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
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wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
|
|
Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
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|
bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
|
|
mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
|
|
schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
|
|
wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
|
|
eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
|
|
vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
|
|
und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
|
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aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
|
|
legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
|
|
und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
|
|
hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
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|
|
So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
|
|
oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
|
|
Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
|
|
hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
|
|
Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
|
|
sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
|
|
So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
|
|
kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
|
|
schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
|
|
aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
|
|
Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
|
|
steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
|
|
eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
|
|
schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
|
|
Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
|
|
und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
|
|
am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
|
|
Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
|
|
Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
|
|
ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
|
|
einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
|
|
die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
|
|
sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
|
|
niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
|
|
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|
## Im Hause Sesemann spukt's
|
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|
Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
|
|
schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
|
|
der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
|
|
Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
|
|
auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
|
|
jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
|
|
zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
|
|
herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
|
|
aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
|
|
etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
|
|
jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
|
|
Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
|
|
unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
|
|
Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
|
|
von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
|
|
ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
|
|
irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
|
|
sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
|
|
herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
|
|
Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
|
|
die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
|
|
wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
|
|
könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
|
|
dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
|
|
jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
|
|
Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
|
|
denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
|
|
stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
|
|
schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
|
|
|
|
Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
|
|
und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
|
|
herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
|
|
niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
|
|
konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
|
|
mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
|
|
sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
|
|
im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
|
|
entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
|
|
Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
|
|
doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
|
|
vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
|
|
und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
|
|
Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
|
|
ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
|
|
allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
|
|
sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
|
|
dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
|
|
dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
|
|
erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
|
|
des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
|
|
Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
|
|
könne, wo sie nötig sei.
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|
|
|
Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
|
|
gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
|
|
und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
|
|
Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
|
|
zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
|
|
der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
|
|
legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
|
|
und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
|
|
nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
|
|
von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
|
|
nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
|
|
Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
|
|
und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
|
|
droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
|
|
und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
|
|
sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
|
|
sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
|
|
hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
|
|
Nur mir nach."
|
|
|
|
Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
|
|
hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
|
|
scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
|
|
der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
|
|
stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
|
|
dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
|
|
Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
|
|
Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
|
|
wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
|
|
breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
|
|
empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
|
|
Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
|
|
Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
|
|
Sebastian teilnehmend.
|
|
|
|
"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
|
|
eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
|
|
husch und verschwunden."
|
|
|
|
Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
|
|
sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
|
|
dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
|
|
zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
|
|
stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
|
|
Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
|
|
auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
|
|
Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
|
|
vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
|
|
schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
|
|
hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
|
|
Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
|
|
ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
|
|
fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
|
|
Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
|
|
offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
|
|
könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
|
|
sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
|
|
unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
|
|
kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
|
|
auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
|
|
so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
|
|
fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
|
|
würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
|
|
und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
|
|
Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
|
|
dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
|
|
Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
|
|
her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
|
|
einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
|
|
gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
|
|
weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
|
|
Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
|
|
darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
|
|
Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
|
|
die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
|
|
|
|
Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
|
|
Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
|
|
hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
|
|
gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
|
|
Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
|
|
sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
|
|
Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
|
|
mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
|
|
Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
|
|
mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
|
|
Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
|
|
Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
|
|
einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_
|
|
Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
|
|
Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
|
|
müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
|
|
gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
|
|
die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
|
|
Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
|
|
beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
|
|
schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
|
|
mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
|
|
Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
|
|
müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
|
|
fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
|
|
das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
|
|
es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
|
|
Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
|
|
Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
|
|
Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
|
|
zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
|
|
schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
|
|
plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
|
|
solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
|
|
dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
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Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
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schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
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und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
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nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
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Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
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geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
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noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
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Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
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die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
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hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
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auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
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Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
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lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
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sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
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hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
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wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
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ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
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er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
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"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
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fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
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Mundwinkeln.
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"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
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Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
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mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
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Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
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verheimlicht worden sein."
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"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
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bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
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Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
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allein mit ihm reden."
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Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
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Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
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sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
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Gedanken.
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"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
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sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
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Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
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machen, he?"
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"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
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mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
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Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
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"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
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Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
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Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
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Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
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Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
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heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
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hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
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wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
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Sebastian?"
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"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
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mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
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seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
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zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
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Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
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Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
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unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
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lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
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ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
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helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
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klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
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noch leidlich aus, Alter."
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"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
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du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
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abgefangen haben."
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"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
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werden muss?"
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"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
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bei mir spukt's!"
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Der Doktor lachte laut auf.
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"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
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dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
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fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
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Schauertaten abbüßt."
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"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
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immer sehr erheitert.
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Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
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wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
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Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
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Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
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das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
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unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
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Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
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Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
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ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
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es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
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Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
|
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sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
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gute Waffe auch nicht schaden.
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Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
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hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
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Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
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Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
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konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
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musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
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Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
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so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
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erwarten.
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Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
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nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
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verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
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|
Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
|
|
hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
|
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Uhr, eh sie sich's versahen.
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"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
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|
sagte der Doktor jetzt.
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"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
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Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
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war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
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Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
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"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
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Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
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Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
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umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
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der Hand nach seinem Revolver.
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"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
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"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
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Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
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Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
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Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
|
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hinaus.
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Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
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und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
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stand.
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"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
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ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
|
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und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
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leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
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Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
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auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
|
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von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
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Erstaunen an.
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"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
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|
Wasserträgerin", sagte der Doktor.
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"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
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wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
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Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
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"Ich weiß nicht."
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Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
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|
Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
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will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
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Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
|
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Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
|
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"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
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|
Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
|
|
dabei, nur getrost sein."
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|
In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
|
|
auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
|
|
und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
|
|
Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
|
|
an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
|
|
sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
|
|
noch, wo wolltest du denn hin?"
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|
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"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
|
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gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
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|
|
|
"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
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|
du deutlich etwas sahst und hörtest?"
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"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
|
|
sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
|
|
denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
|
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geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
|
|
Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
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fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
|
|
Hals hinaufstieg.
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|
|
|
"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
|
|
oder im Rücken?"
|
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"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
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|
|
|
"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
|
|
lieber wieder zurückgeben?"
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"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
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"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
|
|
|
|
"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
|
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|
"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
|
|
Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
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|
"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
|
|
eher das Gegenteil.
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|
"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
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|
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"Immer auf der Alm."
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"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
|
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langweilig, nicht?"
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|
"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
|
|
die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
|
|
verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
|
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stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
|
|
heftiges Schluchzen aus.
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Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
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|
Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
|
|
nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
|
|
morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
|
|
|
|
Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
|
|
harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
|
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dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
|
|
Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
|
|
allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
|
|
Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
|
|
wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
|
|
Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
|
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schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
|
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stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
|
|
dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
|
|
zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_
|
|
Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
|
|
das ist mein Rezept."
|
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Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
|
|
Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
|
|
Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
|
|
Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
|
|
meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
|
|
schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
|
|
Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
|
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ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
|
|
mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
|
|
ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
|
|
|
|
"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
|
|
Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
|
|
heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
|
|
gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
|
|
gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
|
|
willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
|
|
mehr zurückkomme?"
|
|
|
|
Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
|
|
redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
|
|
werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
|
|
Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
|
|
zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
|
|
denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
|
|
die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
|
|
der helle Morgenschimmer herein.
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## Am Sommerabend die Alm hinan
|
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Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
|
|
wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
|
|
Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
|
|
Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
|
|
hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
|
|
im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
|
|
werden."
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Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
|
|
Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
|
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aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
|
|
angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
|
|
durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
|
|
hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
|
|
|
|
Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
|
|
aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
|
|
Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
|
|
betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
|
|
verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
|
|
sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
|
|
dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
|
|
schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
|
|
mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
|
|
munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
|
|
ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
|
|
und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
|
|
Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
|
|
den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
|
|
Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
|
|
und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
|
|
zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
|
|
die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
|
|
als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
|
|
den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
|
|
unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
|
|
sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
|
|
sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
|
|
Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--,
|
|
dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
|
|
Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
|
|
Besinnen vor sich gehen.
|
|
|
|
Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
|
|
eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
|
|
erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
|
|
schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
|
|
und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
|
|
gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
|
|
sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
|
|
nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
|
|
ein Weiteres.
|
|
|
|
Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
|
|
Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
|
|
Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
|
|
im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
|
|
vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
|
|
den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
|
|
Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
|
|
nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
|
|
besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
|
|
Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
|
|
solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
|
|
müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
|
|
könne.
|
|
|
|
Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
|
|
erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
|
|
fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
|
|
Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
|
|
und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
|
|
Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
|
|
in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
|
|
hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
|
|
bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
|
|
Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
|
|
und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
|
|
ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
|
|
Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
|
|
erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
|
|
möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
|
|
Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
|
|
erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
|
|
ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
|
|
vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
|
|
bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
|
|
nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
|
|
sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
|
|
völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
|
|
weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
|
|
allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
|
|
nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
|
|
Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
|
|
Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
|
|
Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
|
|
fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
|
|
umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
|
|
werde diesem alles erklären.
|
|
|
|
"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
|
|
"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
|
|
ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
|
|
meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
|
|
für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
|
|
erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
|
|
vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
|
|
das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
|
|
denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
|
|
in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
|
|
aufmachen wollte; versteht Er das?"
|
|
|
|
"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
|
|
größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
|
|
aufgegangen über die Geistererscheinung.
|
|
|
|
"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
|
|
kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
|
|
lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
|
|
setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
|
|
|
|
Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
|
|
wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
|
|
doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
|
|
hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
|
|
was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
|
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beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
|
|
voller Klarheit.
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|
|
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Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
|
|
Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
|
|
Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
|
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dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
|
|
sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
|
|
ihr zu gering.
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|
|
|
Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
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Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
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Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
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'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
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Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
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Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
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"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
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heut gehst du heim, jetzt gleich."
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"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
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kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
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sein Herz von dem Eindruck gepackt.
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"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
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lächelnd.
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"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
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dunkelrot geworden.
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"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
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und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
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und hernach in den Wagen und fort."
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Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
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zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
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dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
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vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
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Haustür stehen werde.
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"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
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Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
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essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
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vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
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Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
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war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
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offen.
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"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
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habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
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Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
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Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
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hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
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sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
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weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
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vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
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sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
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"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
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Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
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Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
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unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
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trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
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Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
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das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
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alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
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erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
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anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
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rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
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schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
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Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
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Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
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Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
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verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
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nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
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"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
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diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
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mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
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Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
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aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
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Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
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"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
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Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
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junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
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darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
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Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
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Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
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Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
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sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
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ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
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Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
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"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
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vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
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Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
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gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
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Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
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Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
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noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
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davon.
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Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
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seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
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Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
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Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
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Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
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saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
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recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
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auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
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vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
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alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
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Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
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auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
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"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
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noch am Leben sein."
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Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
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guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
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Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
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längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
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sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
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"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
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schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
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Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
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der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
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schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
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tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
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Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
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Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
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wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
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Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
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denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
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einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
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"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
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Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
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draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
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hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
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so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
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Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
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Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
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gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
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wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
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um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
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dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
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stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
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diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
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aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
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trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
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zum Dörfli vor.
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"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
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Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
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könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
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Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
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schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
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dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
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auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
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gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
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der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
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nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
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die Alm geschickt werden.
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"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
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Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
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zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
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als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
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entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
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überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
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Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
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Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
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noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
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dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
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ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
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sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
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"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
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steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
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Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
|
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samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
|
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hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
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Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
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Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
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besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
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an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
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neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
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während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
|
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Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
|
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zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
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Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
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Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
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jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
|
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gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
|
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vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
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tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
|
|
wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
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Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
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beim Großvater?"
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"Ja."
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"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
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her heimkommst?"
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"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
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man es in Frankfurt hat."
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"Warum läufst du denn heim?"
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"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
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heimgelaufen."
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"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
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dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
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"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
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sonst alles auf der Welt."
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"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
|
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Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
|
|
"es kann wissen, wie's ist."
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Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
|
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um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
|
|
erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
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Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
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wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
|
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Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
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es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
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bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
|
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sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
|
|
ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
|
|
eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
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ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
|
|
Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
|
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Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
|
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wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
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heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
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dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
|
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Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
|
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alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
|
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solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
|
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unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
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anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
|
|
Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
|
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Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
|
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mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
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wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
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wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
|
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nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
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das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
|
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und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
|
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nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
|
|
auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
|
|
noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
|
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sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
|
|
selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
|
|
brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
|
|
ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
|
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daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
|
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allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
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|
|
|
Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
|
|
Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
|
|
Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
|
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ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
|
|
nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
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|
Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
|
|
gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
|
|
Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
|
|
noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
|
|
war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
|
|
doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
|
|
stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
|
|
|
|
"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
|
|
Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
|
|
könnte! Wer ist hereingekommen?"
|
|
|
|
"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
|
|
stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
|
|
heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
|
|
konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
|
|
so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
|
|
fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
|
|
nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
|
|
Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
|
|
das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
|
|
große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
|
|
bist du auch sicher wieder da?"
|
|
|
|
"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
|
|
"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
|
|
zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
|
|
hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
|
|
|
|
Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
|
|
aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
|
|
hatte.
|
|
|
|
"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
|
|
rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
|
|
und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
|
|
doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
|
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und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
|
|
Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
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|
|
|
Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
|
|
ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
|
|
nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
|
|
mehr zu ihr gehen.
|
|
|
|
Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
|
|
unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
|
|
das Heidi, wie kann auch das sein!"
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|
Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
|
|
gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
|
|
das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
|
|
könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
|
|
aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
|
|
dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
|
|
ich sehen, wie du drin aussiehst."
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|
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"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
|
|
brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
|
|
machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
|
|
daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
|
|
vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
|
|
Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
|
|
Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
|
|
sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
|
|
denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
|
|
Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
|
|
prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
|
|
Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
|
|
bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
|
|
bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
|
|
Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
|
|
auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
|
|
in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
|
|
und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
|
|
ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
|
|
Nacht, Großmutter."
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|
|
|
"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
|
|
Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
|
|
das Kind fast nicht loslassen.
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|
"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
|
|
Brigitte.
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|
|
"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
|
|
vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
|
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darin."
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Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
|
|
sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
|
|
anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
|
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dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
|
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bös und rede kein Wort mehr."
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Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
|
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seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
|
|
Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
|
|
Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
|
|
alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
|
|
hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
|
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roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
|
|
--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
|
|
nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
|
|
Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
|
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darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
|
|
Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
|
|
das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
|
|
Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
|
|
die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
|
|
Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
|
|
es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
|
|
sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
|
|
wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
|
|
der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
|
|
Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
|
|
Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
|
|
hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
|
|
Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
|
|
und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
|
|
Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
|
|
raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
|
|
bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
|
|
das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
|
|
umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
|
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nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
|
|
Großvater!"
|
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Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
|
|
erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
|
|
Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
|
|
setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
|
|
"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
|
|
das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
|
|
fortgeschickt?"
|
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"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
|
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nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
|
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und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
|
|
fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
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könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
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hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
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undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
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Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
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schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
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sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
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aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
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"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
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die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
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zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
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"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
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fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
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einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
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ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
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"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
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Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
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dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
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"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
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brauchen können."
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Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
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hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
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und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
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in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
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Bett mehr!"
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"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
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dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
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Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
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Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
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Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
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gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
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hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
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auf der Welt, Großvater."
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Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
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Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
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springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
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Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
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völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
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rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
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hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
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mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
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Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
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und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
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wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
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Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
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die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
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mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
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Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
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seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
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Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
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haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
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wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
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großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
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geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
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demselben Platze stand.
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"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
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Heidi jetzt zu.
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"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
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heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
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schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
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getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
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"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
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ich zur Großmutter."
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"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
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sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
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schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
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schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
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Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
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sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
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Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
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wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
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Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
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Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
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die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
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prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
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hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
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sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
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hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
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geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
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zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
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ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
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nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
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noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
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an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
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schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
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sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
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alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
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Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
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## Am Sonntag, wenn's läutet
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Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
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der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
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es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
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die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
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geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
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denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
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Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
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Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
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Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
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um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
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gehen."
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Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
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alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
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das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
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genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
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so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
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|
Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
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hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
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ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
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Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
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noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
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|
Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
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hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
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meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
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Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
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zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
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|
gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
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Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
|
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essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
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blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
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Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
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es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
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schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
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oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
|
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im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
|
|
gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
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|
|
|
"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
|
|
denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
|
|
Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
|
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ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
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Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
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habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
|
|
hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
|
|
mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
|
|
Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
|
|
|
|
"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
|
|
das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
|
|
geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
|
|
|
|
Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
|
|
hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
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|
kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
|
|
ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
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du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
|
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ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
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|
|
|
Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
|
|
trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
|
|
Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
|
|
freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
|
|
soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
|
|
|
|
"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
|
|
wirklich, Kind, kannst du das?"
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|
Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
|
|
dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
|
|
gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
|
|
auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
|
|
solle.
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|
|
|
"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
|
|
saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
|
|
geschoben.
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Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
|
|
etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
|
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begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
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las:
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> "Die güldne Sonne Voll
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|
> Freud und Wonne
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|
> Bringt unsern Grenzen
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> Mit ihrem Glänzen
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|
> Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
|
|
>
|
|
> Mein Haupt und Glieder
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|
> Die lagen darnieder;
|
|
> Aber nun steh ich,
|
|
> Bin munter und fröhlich,
|
|
> Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
|
|
>
|
|
> Mein Auge schauet,
|
|
> Was Gott gebauet
|
|
> Zu seinen Ehren,
|
|
> Und uns zu lehren,
|
|
> Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
|
|
>
|
|
> Und wo die Frommen
|
|
> Dann sollen hinkommen,
|
|
> Wenn sie mit Frieden
|
|
> Von hinnen geschieden
|
|
> Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
|
|
>
|
|
> Alles vergehet,
|
|
> Gott aber stehet
|
|
> Ohn alles Wanken,
|
|
> Seine Gedanken,
|
|
> Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
|
|
>
|
|
> Sein Heil und Gnaden
|
|
> Die nehmen nicht Schaden,
|
|
> Heilen im Herzen,
|
|
> Die tödlichen Schmerzen,
|
|
> Halten uns zeitlich und ewig gesund.
|
|
>
|
|
> Kreuz und Elende--
|
|
> Das nimmt ein Ende,
|
|
> Nach Meeresbrausen
|
|
> Und Windessausen
|
|
> Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
|
|
>
|
|
> Freude die Fülle
|
|
> Und selige Stille
|
|
> Darf ich erwarten
|
|
> Im himmlischen Garten,
|
|
> Dahin sind meine Gedanken gericht'."
|
|
|
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Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
|
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unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
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lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
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herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
|
|
einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
|
|
|
|
> 'Kreuz und Elende
|
|
> Das nimmt ein Ende'--"
|
|
|
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Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
|
|
Verlangen:
|
|
|
|
> "Kreuz und Elende--
|
|
> Das nimmt ein Ende,
|
|
> Nach Meeresbrausen
|
|
> Und Windessausen
|
|
> Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
|
|
>
|
|
> Freude die Fülle
|
|
> Und selige Stille
|
|
> Darf ich erwarten
|
|
> Im himmlischen Garten,
|
|
> Dahin sind meine Gedanken gericht'."
|
|
|
|
"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
|
|
hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
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|
|
|
Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
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Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
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|
hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
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alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
|
|
als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
|
|
himmlischen Garten hinein.
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Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
|
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der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
|
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ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
|
|
wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
|
|
Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
|
|
und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
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allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
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|
sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
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lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
|
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Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
|
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kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
|
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hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
|
|
ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
|
|
Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
|
|
was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
|
|
im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
|
|
und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
|
|
und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
|
|
wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
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|
Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
|
|
doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
|
|
Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
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"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
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|
dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
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|
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Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
|
|
auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
|
|
Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
|
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und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
|
|
dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
|
|
lang Brot holen dafür."
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Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
|
|
hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
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|
so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
|
|
auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
|
|
die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
|
|
ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
|
|
Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
|
|
nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
|
|
hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
|
|
nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
|
|
schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
|
|
Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
|
|
bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
|
|
jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
|
|
sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
|
|
tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
|
|
gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
|
|
viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
|
|
Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
|
|
Gott uns auch nicht vergisst."
|
|
|
|
"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
|
|
|
|
"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
|
|
auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
|
|
geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
|
|
alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
|
|
lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
|
|
|
|
"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
|
|
|
|
"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
|
|
|
|
Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
|
|
seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
|
|
dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
|
|
hat, den hat er vergessen."
|
|
|
|
"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
|
|
Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
|
|
meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
|
|
daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
|
|
ist."
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|
|
|
Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
|
|
Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
|
|
Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
|
|
Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
|
|
Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
|
|
heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
|
|
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
|
|
sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
|
|
du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
|
|
hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
|
|
so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
|
|
an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
|
|
Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
|
|
die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
|
|
Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
|
|
stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
|
|
Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
|
|
für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
|
|
Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
|
|
nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
|
|
Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
|
|
Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
|
|
er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
|
|
welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
|
|
wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
|
|
gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
|
|
und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich
|
|
will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
|
|
sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
|
|
nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
|
|
das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
|
|
herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
|
|
Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
|
|
und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
|
|
hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
|
|
lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
|
|
zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
|
|
dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
|
|
Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
|
|
und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
|
|
Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
|
|
schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
|
|
mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
|
|
verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
|
|
fröhlich zu sein."
|
|
|
|
"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
|
|
Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
|
|
hatte, er werde sich freuen und verwundern.
|
|
|
|
"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
|
|
sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
|
|
seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
|
|
Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
|
|
mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
|
|
frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
|
|
sein Sohn.
|
|
|
|
Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
|
|
stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
|
|
Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
|
|
schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
|
|
beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
|
|
lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
|
|
Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
|
|
sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
|
|
Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
|
|
gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
|
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vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
|
|
große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
|
|
|
|
Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
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Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
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Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
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Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
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sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
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Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
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er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
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Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
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Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
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dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
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heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
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voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
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schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
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es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
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noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
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Sonntagsrock."
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Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
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du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
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und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
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Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
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und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
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und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
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Fest."
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Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
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eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
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hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
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Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
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Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
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der Kirche!"
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Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
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kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der
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Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
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umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
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der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
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aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
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predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
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warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
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ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
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widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
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mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
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alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
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schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
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sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
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sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
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Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
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war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
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Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
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Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
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den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
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Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
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einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
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sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
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Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
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immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
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so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
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übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
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zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
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essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
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alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
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und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
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liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
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jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
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manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
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Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
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das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
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so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
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bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
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Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
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und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
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Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
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können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
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Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
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ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
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größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
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konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
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Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
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"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
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vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
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er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
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seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
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gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
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folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
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denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
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zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
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ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
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nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
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Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
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noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
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mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
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eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
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wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
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gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
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Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
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fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
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lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
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finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
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Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
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indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
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Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
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Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
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einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
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er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
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sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
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Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
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und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
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entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
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ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
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Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
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"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
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geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
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wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
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gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
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Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
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rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
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beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
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Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
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Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
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wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
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bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
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Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
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schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
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Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
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schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
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heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
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"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
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mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
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und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
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Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
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Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
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die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
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"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
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Herbstwind kommt."
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"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
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freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
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Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
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Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
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Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
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aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
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indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
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auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
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straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
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bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
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das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
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sich schon an sie geschmiegt.
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"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
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Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
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will's Gott, noch lange so."
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Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
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hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
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wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
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einem Kinde nicht abnehme.
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Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
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sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
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tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
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nur."
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Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
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ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
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Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
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Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
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schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
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wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
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Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
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dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
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Gelegenheit dazu abwarten.
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Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
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mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
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davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
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mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
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auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
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einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
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übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
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Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
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ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
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Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
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geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
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aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
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Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
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habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
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das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
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die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
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alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
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diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
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er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
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so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
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Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
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Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
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Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
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bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
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sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
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in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
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Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
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Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
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das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
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wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
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und das Kind morgen schon?"
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Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
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war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
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Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
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sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
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das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
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Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
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entgegenglänzte.
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Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
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manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
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Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
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Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
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Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
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wie nach innen. |